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1 1 DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 03.06.2014 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 – 20.00 Uhr Ausnahmezustand? Das spanische Baskenland nach dem Ende der ETA Von Raul Zelik URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

1 DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur ... · 3 3 Hochgeschwindigkeitstrassen zu reden. Die Ministerpräsidentin von Navarra, Yolanda Barcina, war dabei und so haben

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DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 03.06.2014 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 – 20.00 Uhr

Ausnahmezustand?

Das spanische Baskenland nach dem Ende der ETA

Von Raul Zelik

URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

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Atmo Straßenumzug

Mann zählt auf Baskisch, große Kuhglocken, Parolen

Erzähler

Eine baskische Kleinstadt in der Nähe von Bilbao: Es ist mild, von der Biskaya

streicht Seeluft herein, an den Berghängen hinter der Stadt verfängt sich der Dunst.

Eine Gruppe von Frauen und Männern läuft in Schafsfellen und mit großen

Kuhglocken auf dem Rücken durch die Straßen. Dahinter folgen einige hundert

Personen. Was wie ein Folkloreumzug aussieht, ist in Wirklichkeit eine politische

Demonstration.

Proteste gehören zum baskischen Alltag – kaum eine andere Region Europas ist so

politisiert. Und seit die ETA ihren blutigen Kampf gegen den spanischen Zentralstaat

beendet hat, nehmen die Demonstrationen auch wieder an Größe und Häufigkeit zu.

Anfang des Jahres kamen in Bilbao 130.000 Menschen zur größten Kundgebung seit

drei Jahrzehnten zusammen. Die Forderungen: ein Ende von Ausnahmejustiz,

Parteiverboten und politischen Prozessen.

Parteiverbote? Politische Prozesse? In der Europäischen Union?

Ansage

Ausnahmezustand?

Das spanische Baskenland nach dem Ende der ETA

Ein Feature von Raul Zelik

O-Ton

Vosotros habeis tenido un juicio por … a dos años de cárcel y en total tenemos que

pagar una multa de tres mil euros también.

Erzähler

Sie sind dieser Tage wegen eines Tortenwurfs auf die Ministerpräsidentin von

Navarra verurteilt worden. Was war das für ein Fall?

Sprecher 1

Die Aktion selbst fand vor 2 Jahren im französischen Toulouse statt. Dort trafen sich

einige Regionalregierungen, um unter anderem über den Bau spanisch-französischer

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Hochgeschwindigkeitstrassen zu reden. Die Ministerpräsidentin von Navarra,

Yolanda Barcina, war dabei und so haben wir beschlossen, eine Torte auf sie zu

werfen. In diesem Verfahren sind wir jetzt zu zwei Jahren Haft und 3000 Euro

Geldstrafe verurteilt worden.

O-Ton

Entiendo que el juicio y los medios hablaron de un “atentado”… lo consideraron

atentado a la autoridad.

Erzähler

In der Berichterstattung der Medien und auch im Urteil selbst war von einem

„Attentat“ die Rede ...

Sprecher 1

Ja, der spanische Staat ist vielleicht das einzige Land der Welt, wo ein Tortenwurf als

Anschlag betrachtet wird. Und was noch absurder ist: Die Aktion fand überhaupt

nicht in Spanien statt. Die französische Justiz hat das Verfahren sofort eingestellt.

Aber daraufhin haben Madrider Behörden den Fall an sich gezogen.

Wir haben es in unserem Land mit Polizei- und Justizorganen zu tun, die noch aus

der Zeit der Franco-Diktatur stammen. Und so kommt es, dass eine Aktion, die

anderswo als humoristisch betrachtet und mit einer Geldstrafe geahndet wird, hier als

Angriff auf die staatliche Autorität gilt.

Erzähler

Julio Villanueva ist ein Veteran der Umweltbewegung in Navarra. Mit dem Klischee

des gewaltbereiten Staatsfeinds hat er nichts gemein. Der freundliche 55-Jährige

kämpft seit vielen Jahren mit Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen den Bau von

Staudämmen und Hochgeschwindigkeitstrassen.

Dass die spanische Justiz so hart gegen ihn vorgeht, hat nicht zuletzt damit zu tun,

dass Villanueva aus Navarra stammt. Die Region gehört offiziell zwar nicht zum

Baskenland, steht aber im Mittelpunkt des baskischen Konflikts. Der Zentralstaat

fürchtet den Anschluss Navarras an das Baskenland und beobachtet die sozialen

Bewegungen in der Region mit besonderem Argwohn.

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O-Ton

Frage: Dónde era? En Madrid? Antwort: Sí, el juicio se celebró en la Audiencia

Nacional …. Se toman las sentencias, las decisiones al poder del momento que

interesan al poder del momento.

Erzähler

Wo waren Sie angeklagt? In Madrid?

Sprecher 1

Ja, in der Audiencia Nacional. Das ist, so würden wir das ausdrücken, ein

Gerichtshof der politischen Ausnahmejustiz, der seine Wurzeln ebenfalls in der

Diktatur hat. Da wird nicht Recht gesprochen, sondern da werden die Urteile je nach

politischem Interesse gefällt.

O-Ton

En cuanto a la persecución de la protesta político o social, ¿tú crees que el ambiente

después de la lucha armada de ETA se ha hecho más duro o mejor?

Erzähler

Hat sich die Situation für politische Proteste nach dem Ende der ETA nicht

verbessert?

O-Ton

El problema es que el Estado español se está armando también contra este tipo de

desobediencia ... que en otros países no se criminalizan de esta manera.

Sprecher 1

Der spanische Staat schafft sich gerade eher noch mehr Gesetze, um gewaltfreie

direkte Aktionen zu bekämpfen. Es ist zum Beispiel ein neues Sicherheitsgesetz

verabschiedet worden, um zivilen Ungehorsam mit hohen Geldstrafen zu

kriminalisieren. Der Aufruf, das Parlament in Madrid mit einer Menschenkette zu

umzingeln, soll mit Geldstrafen von bis zu 600.000 Euro geahndet werden. Und es

sind auch Strafen dafür vorgesehen, wenn man prügelnde Polizisten fotografiert.

Atmo Zäsur

Atmo Autobahn

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Erzähler

An Wochenenden trifft man auf spanischen Autobahnraststätten immer wieder auf

baskische Familien, die für einen einzigen Tag 1000 oder 2000 Kilometer

zurücklegen. Ihre Fahrten führen sie allerdings nicht an die Strände des Mittelmeers.

Die Familien besuchen ihre Angehörigen im Gefängnis.

530 Männer und Frauen aus den baskischen Provinzen sind nach wie vor wegen

politisch motivierter Straftaten in Haft – so viele wie am Ende der Diktatur Mitte der

1970er-Jahre. Und eine wachsende Zahl von ihnen sitzt nicht wegen

Gewaltverbrechen, sondern wegen politischer Aktivitäten. Ende der 1990er-Jahre

etablierte der Ermittlungsrichter Baltasar Garzón eine Rechtsauslegung, mit der die

gesamte baskische Unabhängigkeitsbewegung der ETA zugeordnet werden kann.

Als Folge dieser Doktrin Todo es ETA, „Alles ist ETA“, wurden Hunderte Basken

wegen der Mitarbeit in Zeitungen oder politischen Organisationen angeklagt. Unter

ihnen auch Arnaldo Otegi, der Vorsitzende der zweitgrößten baskischen Partei

SORTU, die sich selbst als sozialistisch-feministische Unabhängigkeitspartei

versteht.

O-Ton Hodei Otegi (Sohn)

Hilabetero joaten naiz eta gero, batzutan, dauzkate, ez dakit, puntu bezala ... (endet

mit dem Wortwechsel zwischen Mutter und Sohn)

Sprecher 2

Ich fahre einmal im Monat zu meinem Vater. Manchmal kriegen die Gefangenen,

man könnte sagen als Belohnung ihre Teilnahme an Ausbildungsprogrammen, noch

einen weiteren Besuchstermin. Dann fahr ich zweimal ... Als Angehörige dürfen wir

Besuche ohne Trennscheibe machen ... Die dauern dann eine Stunde 40 Minuten.

Früher konnten wir was zu essen und zu trinken mit reinnehmen, aber das ist jetzt

verboten.

Atmo Im Auto, Straßengeräusche, kurzer Dialog

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Erzähler

Ich begleite die Familie Otegi beim Besuch des Vaters und Ehemanns im Gefängnis

von Logroño. Im Auto sitzen der 31-jährige Sohn Hodei und Otegis Ehefrau Julia

Arregi. Das feucht-grüne Baskenland liegt hinter uns. Südlich der Sierra de

Cantabria, eines Gebirgszugs, der die trockene Hochebene Kastiliens von den

grünen Küsten der Biskaya trennt, erstreckt sich das dünn besiedelte, rotstichige

Weinland der Rioja.

Wie so oft hat sich auch an diesem Tag das Wetter am Pass schlagartig gewandelt.

Der baskische Nieselregen hat sich verflüchtigt, über der Hochebene strahlt die

Sonne.

O-Ton Julia Arregi (Ehefrau)

Bueno, nosotros al final somos privilegiados. Estamos a una hora y media de casa

… sin estar con nadie. Salió tocadito.

Sprecherin 1

Wir sind Privilegierte, das Gefängnis ist nur eineinhalb Stunden von Zuhause

entfernt. Früher als wir nach Almeria oder Huelva gefahren sind, waren wir ein

ganzes Wochenende unterwegs ... Nach Ciudad Real, nach Madrid ...

Als mein Mann in der Extremadura im Gefängnis saß, da ging es ihm wirklich

schlecht. 23 Stunden in der Zelle, eine Stunde im Hof – die ganze Zeit allein. Er war

angeschlagen, als er dort rauskam.

Atmo Gespräch auf Baskisch zwischen Mutter und Sohn

Erzähler

Die Otegis unterhalten sich über die Haftbedingungen: Private Briefe würden vom

Geheimdienst abgefangen und schon mal zur Veröffentlichung an Zeitungen

weitergegeben. Interviews hingegen seien untersagt. Den Gefangenen sind

politische Stellungnahmen zwar nicht ausdrücklich verboten, aber Texte werden nicht

durchgelassen und Besuche von Journalisten ganz einfach nicht genehmigt.

Auch der Alltag sei für die Gefangenen alles andere als einfach: Im Winter, so erzählt

der Sohn Hodei, werde es in den Zellen so feucht und kalt, dass sich die Häftlinge

auch tagsüber in Decken einwickelten. Ratten und Ungeziefer gehörten zum Alltag,

die Gesundheitsversorgung sei miserabel.

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O-Ton Gespräch Interviewer, Arregi und ihr Sohn

Arnaldo antes qué? Ya estaba en la cárcel hace un par de años, no?...

Erzähler

Ihr Mann war schon vorher einige Jahre im Gefängnis...

Sprecherin 1

(lacht) Das war so oft – ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr genau...

Sprecher 2

Insgesamt elf Jahre ...

Sprecherin 1

Bald zwölf ...

Sprecher 2

Wenn man es zusammen zählt, vier oder fünf Mal ... fünf Mal.

O-Ton

Julia Arregi:

El suele decir en broma que si no estaba en la cárcel, estaba al punto de entrar …

Sprecherin 1

Arnaldo sagt manchmal im Spaß, dass er, wenn er nicht im Gefängnis saß, auf dem

Weg war ins Gefängnis. Das erste Mal ... war 1979. Seitdem ging es die ganze Zeit

so.

Atmo („Rede Otegis“)

Rede Otegis 2008 auf einem Platz in Elgoibar

Erzähler

Für die spanische Justiz ist der Fall Otegi klar: Als Sprecher der

Unabhängigkeitspartei Batasuna habe der Politiker Otegi für Positionen der ETA

geworben und wurde dementsprechend als Terrorunterstützer verurteilt.

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Doch die Geschichte kann auch ganz anders erzählt werden: Ende der 1970er-

Jahre, die Spuren der frankistischen Diktatur waren noch allgegenwärtig, schloss

sich Otegi als 20-jähriger der ETA an und floh nach Frankreich. 1987 wurde er

ausgeliefert und in Spanien zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, die er bis auf den

letzten Tag absaß. Nach seiner Entlassung stieg er zum Sprecher der

Unabhängigkeitspartei Batasuna auf.

Es folgten Verurteilungen wegen Meinungsdelikten. 2006 saß Otegi wegen

„Majestätsbeleidigung“ ein Jahr in Haft. Er hatte den spanischen König Juan Carlos

nach der Misshandlung eines baskischen Journalisten durch die Guardia Civil als

„Chef der Folterer“ bezeichnet. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in

Straßburg gab Otegi gleich doppelt recht: Die Foltervorwürfe seien nicht untersucht

worden, Otegis Aussagen von der Meinungsfreiheit gedeckt gewesen.

2009 wurde Otegi mit anderen baskischen Politikern erneut verhaftet – darunter auch

der langjährige Vorsitzende des Gewerkschaftsverbandes LAB Rafa Díez. Otegi und

seine Mitstreiter hatten versucht, eine neue Linkspartei zu gründen, die sich von der

Gewalt der ETA erstmals unmissverständlich distanzierte. Paradoxerweise ist diese

Partei, nämlich Sortu, heute legal. Otegi und andere Parteigründer jedoch wurden zu

sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Und unterschlagen wird in der spanischen Öffentlichkeit auch, dass nicht nur die ETA

zum Terror griff. In den 1980er-Jahren baute die Regierung in Madrid eine von

Söldnern gebildete Todesschwadron namens GAL auf, die im Auftrag des

Innenministeriums dreißig mutmaßliche ETA-Anhänger im französischen Baskenland

ermordete.

O-Ton Julia Arregia

Los dos vivimos la guerra sucia en Iparralde. Nosotros vivimos el GAL allá ... Que se

arregle de una forma que sea justa para todos.

Sprecherin 1

Wir haben den schmutzigen Krieg miterlebt. Die Anschläge der GAL. Unser Sohn

Hodei war damals ungefähr drei Jahre alt. Wenn ich ihn in die Schule gefahren habe,

ich hatte ein uraltes Auto, habe ich ihn in der Nähe erst mal auf eine Bank gesetzt.

Ich habe unters Auto geschaut. Ich wusste gar nicht genau, wie ein Sprengsatz

aussieht. Ich habe den Motor gestartet, bin ein paar Mal vor und zurück gerollt, und

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dann erst habe ich den Jungen ins Auto gesetzt. Neben unserem Haus sind ein paar

Freunde von uns umgebracht worden. Galdeano, der Journalist war und mit uns in

St. Jean de Luz gewohnt hat. Txapela haben sie vor seiner Tochter ermordet. Sie ist

ungefähr so alt wie Hodei. Das war eine schlimme Zeit.

Deswegen verstehen wir sehr gut, wie die Opfer der ETA sich fühlen. Weil wir das

Gleiche erlebt haben. Und deshalb wollen wir auch, dass der politische Konflikt im

Baskenland gelöst wird – auf eine gerechte Art und Weise, die für alle akzeptabel ist.

O-Ton Erzähler, Julia Arregi und Hodei Otegi

Erzähler

Was waren denn die GAL?

O-Ton Julia Arregi

Sprecherin 1

Eine Art Todesschwadron: Die PSOE hat die Gruppe aufgebaut, die spanischen

Sozialisten, als Felipe González Regierungschef war ...

O-Ton Hodei Otegi

Grupos antiterroristas de liberación, pero … // Amedo también dijo que esto de los

GAL se montó de la forma de Estado. El Partido Popular lo sabía, el rey lo sabía.

Todos lo sabían y todos lo aprobaron entre todos. Fue una guerra sucia contra los

vascos y ya está.

Sprecher 2

Antiterroristische Befreiungsgruppen ... Der Polizist José Amedo, der wegen den

GAL verurteilt wurde, hat später erklärt, das wäre eine Staatsangelegenheit

gewesen. Die konservative Opposition, der König Juan Carlos – alle seien

eingeweiht gewesen. Es war ein schmutziger Krieg gegen die Basken.

O-Ton Julia Arregi

Un par de veces salimos corriendo también. Una estábamos en el Carrefour con mis

padres y mis suegros … El GAL de la segunda parte fue más chapucero.

Sprecherin 1

Ein paar Mal mussten wir rennen. Einmal waren wir in einem Carrefour-Supermarkt –

mit meinen Eltern, den Schwiegereltern, unserem Sohn und Arnaldo. Jemand gab

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uns Bescheid, dass wir verfolgt würden. Auf allen vieren sind wir raus aus dem

Supermarkt ... Glücklicherweise haben die GAL das Geld, das die Regierung ihnen

gezahlt hat, bald verprasst. Am Anfang waren sie ziemlich effizient, aber in einer

zweiten Phase haben sie die Mittel veruntreut.

Atmo Fußgängerzone Leute laufen vorbei

Erzähler

Vitoria oder Gasteiz wie es auf Baskisch heißt: Die Stadt ist Sitz der baskischen

Autonomieregierung. Ein kühler, aber sonniger Feiertag. Auf den Straßen flanieren

die Menschen.

Der Sitz der Partei Eusko Alkartasuna befindet sich am Rand der Fußgängerzone.

Die Büros erreicht man über ein großes, modernes Restaurant.

Essen und Trinken spielen eine zentrale Rolle in der baskischen Alltagskultur.

O-Ton Rafael Larreina

Cuando se produce por ETA la decisión de abandonar las armas, el Estado se pone

nervioso … contra partidos radicalmente democráticos como lo es Eusko

Alkartasuna, no?

Sprecher 1

Der spanische Staat ist sehr nervös, seit die ETA die Waffen niedergelegt hat. Man

hat den Eindruck, er schlägt wild um sich und denkt eher an Rache als an Recht und

Gesetz. Mittlerweile geht die Polizei sogar gegen durch und durch demokratische

Parteien wie Eusko Alkartasuna vor.

Erzähler

Der 58-jährige Ökonom Rafa Larreina ist Abgeordneter in Madrid. Seine Partei, die

sozialdemokratische „Baskische Solidarität“ – Eusko Alkartasuna –, hat die Aktionen

der ETA immer scharf verurteilt und gehörte in den vergangenen Jahrzehnten

verschiedenen Regierungen der baskischen Autonomieregion und Navarras an.

Seit die ETA den bewaffneten Kampf beendet hat, sind sich Larreinas Baskische

Solidarität und die Linkspartei Sortu von Arnaldo Otegi näher gekommen. Mit zwei

kleineren Parteien hat man ein linkes Bündnis geschlossen, das bei den

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Regionalwahlen 2012 aus dem Stand auf 25% kam und heute die zweitstärkste

Fraktion im Autonomieparlament stellt.

Seitdem befindet sich auch Larreinas Partei zunehmend im Fadenkreuz der

spanischen Justiz.

O-Ton Rafael Larreina

Pues resulta que la Guardia Civil entra en una sede de Eusko Alkartasuna sin

mandamiento judicial … que en cualquier estado democrático no tendrían ningún

sentido.

Sprecher 1

Vor einigen Wochen ist die Guardia Civil ohne richterlichen Beschluss in unserer

Parteibüro in Bilbao eingebrochen und hat die Büros durchsucht. Sie hat danach

behauptet, man habe das Büro verwechselt. Aber an dem Lokal sind große Plakate

befestigt: draußen zur Straßen hin, im Aufzug und dann noch mal an der

Eingangstür.

Etwas Ähnliches ist auch dem Bürgermeister von Gernika passiert. José María

Gorroño ist Mitglied unserer Partei und hat sich immer für Frieden und

Menschenrechte eingesetzt. Die spanische Justiz hat jetzt ein Verfahren gegen ihn

eingeleitet, weil er den Politikern Jesus Egiguren von der Sozialistischen Partei

Spaniens und Arnaldo Otegi den Friedenspreis von Gernika verliehen hat. Egiguren

und Otegi haben den Preis erhalten, weil sie sich für eine friedliche Lösung im

Baskenland eingesetzt haben. Und wegen dieses Friedenspreises wird jetzt gegen

Bürgermeister Gorroño ermittelt.

O-Ton Dialog Erzähler / Larreina

Entiendo que le impidieron viajar, no? Larreina: Si, bueno, estaba invitado

precisamente a ir a Argentina … a un político socialista y a Arnaldo Otegi por trabajar

por la paz, por trabajar para que no haya violencia.

Erzähler

Ich habe gelesen, die spanischen Behörden hätten den Bürgermeister daran

gehindert, das Land zu verlassen...

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Sprecher 1

Ja, Gorroño sollte in Argentinien als Zeuge aussagen. Die argentinische Justiz hat

ein Verfahren wegen der während der Franco-Diktatur in Spanien verübten

Verbrechen eröffnet. Aber die Audiencia Nacional hat ihm untersagt, Spanien zu

verlassen ... Weil er Otegi für seine Bemühungen um den Frieden gewürdigt hat.

O-Ton Dialog Erzähler / Larreina

En Argentina que juicio se está llevando a cabo? … y precisamente a este proceso

iba el alcalde de Gernika.

Erzähler

Warum wird in Argentinien über Menschenrechtsverletzungen verhandelt, die in

Spanien begangen wurden?

Sprecher 1

In Argentinien leben viele Verfolgte des Frankismus. Auch Folteropfer. Deswegen hat

die dortige Justiz die Auslieferung von zwei spanischen Polizisten beantragt, die hier

unbehelligt leben.

Es ist natürlich kurios, dass der Prozess nicht hier geführt wird – und das, obwohl

sich Spanien als Rechtsstaat begreift und vom Frankismus losgesagt hat. Es ist in

Spanien bis heute kein Verfahren gegen die Täter des Frankismus eröffnet worden.

O-Ton Dialog Erzähler / Larreina

Pero no entiendo muy bien. Como no es posible que en España nunca se ha abierto

ningún juicio … Larreina: …. y comete auténticias injusticias como es, insisto,

procesar a dirigentes políticos por hacer política, por trabajar por la paz.

Erzähler

Das verstehe ich nicht. Der spanische Ermittlungsrichter Baltasar Garzón ist doch

weltweit dafür berühmt geworden, dass er südamerikanische Militärs wegen

Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gestellt hat. Und auch im Fall der GAL hat

er zumindest einige der Verantwortlichen angeklagt.

Sprecher 1

Richter Garzón hat eine widersprüchliche Haltung. Er ist verantwortlich für die

Inhaftierung von Arnaldo Otegi und misst mit zweierlei Maß: eines für die

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lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Da profiliert sich Garzón als Verteidiger der

Menschenrechte. Aber wenn es um den baskischen Konflikt geht, unterwirft er sich

der Staatsräson und schreckt auch vor Unrecht nicht zurück.

O-Ton Larreina

Garzón es uno de los que ha promovido la teoría de que todo es ETA … como es el

derecho a la asociación y participación política o como es el derecho a la libre

expresión y la libertad de prensa.

Sprecher 1

Er ist mit verantwortlich für die Theorie „alles ist ETA“, mit der die

Unabhängigkeitsbewegung mit der ETA gleichgesetzt wurde. Alles, was den

spanischen Staatsinteressen widerspricht, ist ETA. Garzón hat die ersten

Parteiverbote durchgesetzt und ist für die Schließung der Tageszeitungen Egin und

Egunkaria mitverantwortlich. Dabei hat sogar das Verfassungsgericht festgestellt,

dass die Schließung von Egunkaria illegal war.

Auf dem internationalen Parkett mag Richter Garzón ein Verteidiger der

Menschenrechte sein. Aber im Baskenland hat er anders agiert. Hier hat er

Grundrechte wie die Organisations- und Meinungsfreiheit außer Kraft gesetzt.

O-Ton Dialog Erzähler

Cómo describiría el papel o el personaje de este político …. Qué papel ha jugado en

los últimos diez, quince años?

Erzähler

Weil Sie Arnaldo Otegi gerade erwähnt haben: Wie würden Sie seine Rolle

beschreiben? Er hat die Anschläge der ETA ja über Jahrzehnte verteidigt oder

zumindest nicht verurteilt.

O-Ton

Larreina: Desde Eusko Alkartasuna llevamos dieciocho años trabajando con

personas … una sociedad más cohesionada, más unida que resuelve sus conflictos

como se resuelve en democracia, no?

Sprecher 1

Unsere Partei Eusko Alkartasuna spricht seit 18 Jahren regelmäßig mit Leuten wie

Arnaldo Otegi, um die von ihm repräsentierte Linke davon zu überzeugen, dass

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Gewalt in einer Demokratie keinen Sinn hat. Meiner Ansicht nach teilte Otegi diese

Überzeugung schon seit vielen Jahren.

Er hat auf einen Politikwechsel hingearbeitet, und das ist die große Ungerechtigkeit

an dem Fall. In fast allen Parteien, auch in den pro-spanischen, gibt es Personen, die

früher einmal in der ETA waren und dann einen wichtigen Beitrag zur Demokratie

geleistet haben. In der PSOE, auch bei den Konservativen – überall.

Arnaldo Otegi hat viel für die demokratischen Freiheiten geleistet. Gemeinsam mit

vielen anderen, auch mit uns, hat er dafür gesorgt, dass die ETA ihren Kampf

eingestellt hat – und dass wir im Baskenland jetzt über Befriedung, Versöhnung,

Normalisierung sprechen können.

Atmo Zäsur

Atmo Musik, Messehalle, Menschenansammlung

Erzähler

Buchmesse in Durango, dreißig Kilometer östlich von Bilbao.

Es herrscht Volksfeststimmung, die Messe ist eine Publikumsveranstaltung. Der

baskische Buchmarkt ist so klein, dass die Verlage ohne Direktverkauf nicht

überleben können.

So kommen in den Messehallen jedes Jahr mehr als Hunderttausend Menschen

zusammen – um Bücher und Platten zu kaufen, gut zu essen, zu feiern...

... und ihren Protest kundzutun. An diesem Tag trägt ein Drittel der Besucher

orangefarbene T-Shirts und Karnevalsmasken.

O-Ton Dialog Erzähler / Ion Tellería

Nos puedes explicar esto? .... a que se haga imposible al estado espanol volver a

encarcelar a ningún joven más.

Erzähler

Was hat es damit auf sich?

Sprecher 2

40 Personen stehen zurzeit wegen der Mitgliedschaft in einer Jugendorganisation in

Madrid vor Gericht. Vier von uns haben sich entschieden, nicht zum Prozess zu

erscheinen. Sie haben erklärt, dass sie frei im Baskenland leben wollen. Das heißt,

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sie verstecken sich seit dem Prozessbeginn im Oktober vor der Polizei, versuchen

aber gleichzeitig, weiter ein öffentliches Leben zu führen. Sie haben an

Demonstrationen und Stadtfesten teilgenommen, waren auf Bürgerversammlungen

in ihrem Viertel.

Die vier wollen auch bei der Buchmesse dabei sein, und deswegen haben wir alle

Besucher aufgerufen, sich gleich anzuziehen: mit orangefarbenen T-Shirts und

Karnevalsmasken. Damit die vier nicht erkannt werden. Wir wollen zeigen, dass wir

zusammengehören. Sie sind wir und wir sind sie. Und wir möchten erreichen, dass

der zivile Ungehorsam zu einer kollektiven Praxis wird. Damit die Prozesse gegen

Jugendorganisationen bald der Vergangenheit angehören.

Erzähler

Seit dem Ende der ETA-Gewalt wird ziviler Ungehorsam als Aktionsform der

Unabhängigkeitsbewegung immer wichtiger. Tausende haben sich in den

vergangenen Jahren an so genannten „Menschenmauern“ beteiligt und haben auf

diese Weise versucht, die Verhaftungen von politischen Aktivisten friedlich zu

behindern.

Ausgangspunkt der Bewegung war die Vollstreckung eines Haftbefehls gegen die

französische Baskin Aurore Martín im Jahr 2011. Als die Unabhängigkeitspartei

Batasuna 2002 in Spanien verboten wurde, blieb sie im französischen Nord-

Baskenland legal. Die Madrider Justiz erwirkte daraufhin 2011 einen Euro-Haftbefehl

gegen Martín. Doch viele Freunde und Nachbarn solidarisierten sich mit der

französisch-baskischen Politikerin. Ein Versuch der Gendarmerie, Martín in Bayonne

zu verhaften, musste abgebrochen werden, weil zu viele Passanten

zusammenströmten, um die Politikerin zu schützen.

O-Ton

Tellería

Vemos que siguen aplicando recetas de otros tiempos, de tiempos de guerra... la

mayoría de la población vasca tome una posición desobediente hacia esta legalidad

española.

Sprecher 2

Unserer Ansicht nach setzt der spanische Staat weiter auf Rezepte der

Vergangenheit. Wir wollen diese Zeiten überwinden, und wir glauben, dass die

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einzige Möglichkeit darin besteht, dass wir, dass das ganze Volk oder zumindest eine

Mehrheit der Bevölkerung zivilen Ungehorsam gegen die spanischen Gesetze

praktiziert.

O-Ton Telleria

Esperemos que dentro de poco tiempo, cuando hablemos … llega el momento en el

que el Estado no puede actuar.

Sprecher 2

Unsere Hoffnung ist, dass sich diese Praxis auf alle Bereiche ausweitet: auf

Institutionen, den Alltag, die Kultur. Wenn das weiter wächst, dann wird der

spanische Staat das irgendwann nicht mehr unterdrücken können.

Atmo Menschenansammlung Flashmob mit Silvesterraketen

Erzähler

Am Nachmittag desselben Tages kommen mehrere Tausend Menschen auf den

Straßen Durangos zu einem Flashmob zusammen, der die Situation der baskischen

Gefangenen zum Thema macht. Das Feuerwerk symbolisiert den Festcharakter des

Protests.

Auch dieser Flashmob könnte jederzeit von der Polizei aufgelöst werden. Die

spanische Justiz hat Ende 2013 die Organisation Herrira verboten, die sich für die

Rechte baskischer Gefangener einsetzt. Auch diese Gruppe gehöre zur ETA, so der

Ermittlungsrichter. Der Flashmob wiederum ist von Herrira organisiert. Sind im

Umkehrschluss all diese Menschen Terrorunterstützer?

Der spanische Staat hat sich in eine Sackgasse manövriert. Mit den Partei- und

Zeitungsverboten ist der Kampf gegen die ETA zu einem Kampf gegen die baskische

Gesellschaft geworden. Zwar hat der überwiegende Teil der Bevölkerung die Gewalt

der ETA immer abgelehnt, doch für die Ziele der ETA haben viele Basken durchaus

Sympathien: den Bruch mit dem Franco-Faschismus, eine an den Bedürfnissen der

Menschen orientierte Sozial- und Wirtschaftspolitik und nicht zuletzt das Recht auf

Selbstbestimmung. Die baskische Bevölkerung will über das Verhältnis zu Spanien

selbst entscheiden können. Sie wünscht sich ein demokratisches Referendum, wie

es z.B. im September dieses Jahres in Schottland geplant ist oder 2006 in

Montenegro umgesetzt wurde. Doch die spanischen Parteien – die regierenden

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Konservativen ebenso wie die sozialdemokratische PSOE – haben ein solches

Plebiszit unter Strafe gestellt.

Musik Traditionelles Holzxylophon

O-Ton Verleger Mikel Soto

Los golpes que me dieron en la parte de la cabeza …

… normalmente todas las torturas fueran bastante cuidadosas para procurar no dejar

marcas.

Sprecher 3

Die Schläge, die sie mir auf den Hinterkopf gaben, haben mein Gesicht stark

anschwellen lassen. Außerdem habe ich einmal, als die Polizisten mir eine

Plastiktüte über den Kopf zogen, so starke Atemnot bekommen, dass ich

aufgesprungen bin. Dabei ist auch ein Beamter gestürzt. Das hat sie wütend

gemacht, so dass sie mich noch stärker geschlagen haben – stärker, als sie

eigentlich vorhatten. Die ganze Folter war ansonsten darauf angelegt, so wenig

Spuren wie möglich zu hinterlassen.

Erzähler

Mikel Soto ist Verleger und lebt in Pamplona, der Hauptstadt Navarras. 2002 wurde

er bei einem Gefängnisbesuch verhaftet und mehrere Tage im Hauptquartier der

Guardia Civil in Madrid verhört. In dieser Zeit unterschrieb er ein Geständnis, in dem

er behauptete, für die ETA einen Lokalpolitiker erschossen zu haben. Doch in

diesem Fall schenkte das Gericht dem schriftlichen Geständnis keinen Glauben. Soto

wurde vom Mordvorwurf freigesprochen. Um den Skandal wegen der durch Folter

erzwungenen Aussagen nicht weiter anzufachen, verurteilte ihn das Gericht

schließlich wegen eines anderen Deliktes: Er sei zwar kein ETA-Mitglied gewesen,

aber habe beabsichtigt, eines zu werden.

O-Ton Mikel Soto

Cuando a uno le ponen la bolsa … cubra, cubra toda la cabeza (Stammeln)

Sprecher 3

Wenn sie einem die Plastiktüte überziehen, bleibt man nicht einfach still sitzen. Es ist

eine gewisse Gewalt dafür nötig. Ich konnte nicht sehen, was es für Tüten waren,

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aber wenn es einfache Mülltüten waren, haben sie in einer Sitzung sicher mehrere

verbraucht. Sie müssen über den ganzen Kopf reichen.

O-Ton Mikel Soto

Ocurren muchos tipos de tortura y no los conozco todos … estarás lejos de morirte

físicamente pero como estás a punto de desmayarte sientes que la cabeza y los

sentidos se te van, y es (Stammeln) muy angustioso.

Sprecher 3

Ich kenne natürlich nicht alle Arten von Folter, aber ... am schrecklichsten fand ich

die Bolsa, die Plastiktüte. Zu einem anderen Gefangenen hat ein Polizist einmal

gesagt: „Mit der Tüte habe ich dieselbe Person dreimal umgebracht.“ Ich finde, das

beschreibt es sehr gut. Das Gefühl des Erstickens ist grauenhaft, du glaubst wirklich,

du stirbst. Wahrscheinlich ist man physisch noch weit vom Tod entfernt. Aber du hast

den Eindruck, dass dich deine Sinne verlassen. Das macht furchtbare Angst.

O-Ton cuanto más efectivo es, más al límite llega. Cuanto más sufres, cuanto más

miedo pasas. Entonces, claro, cuando más juegas con el límite, a veces te pasas por

un lado, y a veces por el otro.

Sprecher 3

Sie gehen dabei sehr professionell vor. Sie stoppen die Zeit, prüfen deinen Puls,

haben Erfahrung, wer in welcher physischen Verfassung wie viel erträgt. Und wenn

sie nicht wollen, dass du ohnmächtig wirst, dann wirst du auch nicht ohnmächtig.

Ich habe einmal das Bewusstsein verloren, aber ich glaube nicht, dass das ihre

Absicht war. Es ist eine Art makabres Spiel: Sie versuchen bis an die Grenze zu

gehen. Weil es umso effizienter ist, je näher sie an diese Grenze kommen. Je mehr

du leidest, je größer die Angst ist. Aber klar, wenn man mit der Grenze spielt, geht

man manchmal über sie hinaus.

O-Ton Dialog Erzähler / Soto

Frage: Recuerdas más o menos cuantas veces te pusieron la bolsa? Antwort:

Muchas, muchas …

... no me atrevería decir cincuenta veces pero más de treinta sí.

19

19

Erzähler

Erinnern Sie sich, wie oft man Ihnen die Plastiktüte übergezogen hat?

Sprecher 3

Oft ...

...Oft ... sehr oft.

Ich habe im Bericht eines Gefolterten einmal gelesen, man habe ihm 7 oder 8 Mal die

Plastiktüte übergezogen. Bei mit waren es Dutzende Mal. Mehr als dreißig Mal

bestimmt.

Erzähler

Die Foltervorwürfe gehören zu den strittigsten Aspekten des baskischen Konflikts.

Die Stiftung Euskal Memoria spricht von 10.000 Folterfällen seit 1960 – ein Drittel

davon seit Einführung der Demokratie 1978. Die spanische Regierung weist diese

Berichte zurück. Die ETA-Mitglieder seien angewiesen, sich als Folteropfer

auszugeben.

Doch im Fall Mikel Sotos stellte das spanische Verfassungsgericht 2008 immerhin

fest, dass den Hinweisen auf eine Misshandlung nicht ausreichend nachgegangen

worden sei. Das zuständige Gericht wurde angewiesen, den Fall neu aufzurollen.

Doch seitdem sind weitere 6 Jahre verstrichen, ohne dass etwas geschehen wäre.

O-Ton Dialog Erzähler / Soto

Frage: Por qué no hay una fuga de informaciones … que lo plantea ante la

sociedad?

... hablarán mucho para ver si todos están bien, si están de acuerdo con lo que está

ocurriendo o si les parece bien.

Erzähler

So wie Sie das schildern, scheinen eine ganze Menge Personen von den

Misshandlungen zu wissen – nicht nur die verhörenden Polizisten, sondern auch

Gerichtsmediziner, Pflichtanwälte usw. Wenn das so ist – warum lässt sich das dann

nicht nachweisen?

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O-Ton Soto

Yo creo que una de las cosas que más transcedencia ha tenido ...

... me imagino que es todo más controlable si es centralizado.

Sprecher 3

Ich glaube, ein wichtiger Grund ist die Verlegung der Verhöre nach Madrid. Früher, in

den achtziger und am Anfang der neunziger Jahre wurde dort gefoltert, wo die

Verdächtigen verhaftet wurden: in den Polizeikasernen im Baskenland. Und hier gab

es Gerichtsmediziner und Richter, die nicht alles mitgemacht haben. Dann hat eine

Anzeige auch einmal zu einer Anklage vor Gericht geführt.

Aber jetzt werden Verhaftete sofort nach Madrid verlegt, und ich denke, dass es

immer dieselbe Einheit ist, die dort verhört. Das ist einfacher zu kontrollieren. Ich

habe auch den Eindruck, dass die Einheit, die das macht, sehr geschult ist. Ich

vermute, sie werden intensiv betreut und reden über das, was sie tun – um überzeugt

zu bleiben von dem, was sie tun. Sie glauben, der Gesellschaft einen wichtigen

Dienst zu leisten. Es ist alles einfacher, wenn es zentralisiert ist.

Atmo Meeresrauschen

Erzähler

San Sebastián oder wie es auf Baskisch heißt: Donosti.

Wer an der Strandpromenade der Küstenstadt flaniert, kann sich kaum vorstellen,

dass in den angrenzenden Kleinstädten und Dörfern 50 Jahre lang ein blutiger

Konflikt gewütet hat. Nirgends hatte die ETA so starke Unterstützung wie im

Hinterland von San Sebastián, nirgends wurden so viele Polizisten, Politiker und

Industrielle von ihr getötet wie hier.

Der Ombudsmann des baskischen Parlaments Iñigo Lamarca unterhält sein Büro

unweit der Strandpromenade. Seine Aufgabe besteht darin, über die Einhaltung von

Bürger- und Menschenrechten in der Region zu wachen.

O-Ton Dialog Erzähler / Lamarca

Frage: No hay dudas ...

... si ha existido la tortura en el País Vasco?

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Erzähler

Die Menschenrechtsverletzungen der ETA liegen auf der Hand. Die Organisation hat

mehr als 700 Menschen umgebracht. Umstritten ist hingegen, was es an staatlichen

Menschenrechtsverletzungen gegeben hat. Ist in Spanien gefoltert worden?

O-Ton Bueno, nadie puede dudar que la tortura ha existido porque hay condenas

judiciales.

Lo que no está demostrado es el alcance de la tortura y de los malos tratos … que

se han archivados o que han concluido en su procedimiento judicial en una

sentencia absolutoria.

Sprecher 1

Dass die Folter existiert, kann niemand in Frage stellt, denn es gibt Verurteilungen.

Wir reden in diesem Sinne von einer juristischen Wahrheit. Umstritten ist hingegen

das Ausmaß der Misshandlungen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

in Straßburg hat Spanien in den letzten Jahren einige Male verurteilt, weil die Justiz

möglichen Folterungen nicht ausreichend nachgegangen ist. Der bekannteste Fall ist

der von Martxelo Otamendi, dem Chefredakteur der Tageszeitung Egunkaria.

Wir haben also zumindest zwei juristische Wahrheiten: Es hat Folterungen gegeben,

und die Justiz ist entsprechenden Hinweisen in vielen Fällen nicht ausreichend

nachgegangen. Außerdem kann man festhalten, dass es Hunderte von Anzeigen

gab, die mit einer Einstellung der Verfahren oder mit Freisprüchen für die

Beschuldigten endeten.

O-Ton

Frage Erzähler : Haciendo referencia al caso de Martxelo Otamendi ...

Erzähler

Was ist dem Zeitungsredakteur Otamendi passiert, den Sie gerade erwähnt haben?

O-Ton Antwort Ombudsmann Lamarca

Este caso tuvo dos vertientes …

… (bis Ende des Tracks).

22

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Sprecher 2

Der Fall hat zwei Aspekte. Zunächst mal muss man festhalten, dass die Zeitung

Egunkaria 2002 nicht aufgrund eines Gerichtsurteils, sondern mit einem

ermittlungsrichterlichen Beschluss geschlossen wurde. Das erschien uns völlig

unangemessen, weil die Meinungs- und Pressefreiheit in jeder Demokratie

besonderen Schutz genießen sollte.

Martxelo Otamendi, der Chefredakteur der Egunkaria, hat über die Polizeiverhöre

ausgesagt, er sei sexuell gedemütigt worden. Dazu muss man wissen, dass

Otamendi homosexuell ist und dies auch öffentlich bekannt ist. Seinen Aussagen

zufolge zwangen ihn die Beamten, sich nackt ausziehen und auf alle vieren

hinzuknien. Dann haben sie ihn beschimpft und damit gedroht, ihn mit einem

Knüppel zu vergewaltigen.

O-Ton Frage Interviewer

Si ha habido tantos casos, tantas denuncias – ¿por qué … un escándalo público

mucho más grande?

Erzähler

Wenn es zu derartigen Fällen kommt, warum wird das nicht viel stärker skandalisiert?

O-Ton Antwort Lamarca

En primer lugar ocurre que ... que, hay que decirlo, ha sido absolutamente vil,

bárbara y cruel.

Sprecher 2

Die öffentliche Meinung spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Die

spanischen und auch die baskischen Medien waren durch die Morde der ETA sehr

sensibilisiert. Wir dürfen nicht vergessen, wie grausam und brutal die Aktionen der

ETA waren. Tausende wurden bei Anschlägen verletzt, viele Tausend Menschen

mussten von Leibwächtern geschützt werden – weil sie bestimmten Parteien

angehörten, Richter oder Polizisten waren. Es gab sogar Morddrohungen gegen

Intellektuelle und Journalisten.

Vor diesem Hintergrund hat der Staat seine Anti-Terror-Gesetzgebung erlassen. Die

Medien standen möglichen Exzessen unkritisch gegenüber, weil für sie die Effizienz

der Anti-Terror-Maßnahmen wichtiger war.

23

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Erzähler:

Solange es die ETA gab, schien Spaniens Problem klar definiert: Die Demokratie

musste verteidigt werden. Doch inzwischen stellt sich die Frage, ob die Demokratie

nicht vielleicht auch ein Problem mit dem eigenen Staat hat. Das autoritäre

Vermächtnis des Frankismus liegt wie ein Schatten über den Institutionen des

Zentralstaats, und die Parteien in Madrid scheinen nicht gewillt, daran etwas zu

ändern.

O-Ton Dialog Erzähler / Ombudsmann Frage des Erzählers

Erzähler

Umstritten ist auch die Gefangenenfrage. Gibt es im Baskenland „politische

Gefangene“ im engeren Sinne – also Personen, die allein wegen politischer Arbeit

verurteilt wurden?

O-Ton Dialog Erzähler / Ombudsmann

Lamarca: En España se consolidó por parte de los tribunales …

Sprecher 2

In der Rechtsprechung der spanischen Gerichte, vor allem der Audiencia Nacional

hat sich vor einigen Jahren eine Doktrin durchgesetzt, die von Experten als „Alles-ist-

ETA“ bezeichnet wird. Es gibt im Baskenland eine Vielzahl von Organisationen, die

für die Unabhängigkeit eintreten und die Aktionen der ETA in der Vergangenheit

nicht verurteilt haben – die bekannteste unter ihnen war die Partei Batasuna.

Die Doktrin „Alles ist ETA“ geht nun davon aus, dass all diese Organisationen mit der

ETA kollaborieren. Man nimmt an, dass es kontinuierliche Absprachen zwischen den

Führern dieser Organisationen und der ETA gab.

Diese Doktrin hat zum Verbot von Batasuna und zur Verurteilung von Politikern wie

Arnaldo Otegi geführt. Die Jugendorganisation Segi wurde von den Richtern sogar

als „terroristische Vereinigung“ eingestuft, so dass hier bereits eine einfache

Mitgliedschaft ein Delikt darstellt.

Unserer Ansicht nach sind die Gesetze und die Auslegung durch die Richter

exzessiv. Strafrecht sollte eine ultima ratio sein. Vor allem in der jetzigen Situation, in

der die ETA ihre kriminellen Aktivitäten eingestellt hat, sollten die Gesetze verändert

oder aber zumindest nur noch sehr restriktiv angewandt werden.

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Erzähler

Der Ombudsmann ist um eine neutrale Schilderung bemüht, denn auch er steht

massiv unter Druck. Die konservative Presse fordert, seine Stelle zu streichen und

die Aufgaben in Madrid zu zentralisieren.

Absage:

Ausnahmezustand –

Das spanische Baskenland nach dem Ende der ETA

Ein Feature von Raul Zelik

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014

Es sprachen: Volker Risch, Thomas Balou Martin, Hendrik Stickan, Robert Dölle und

Hildegard Meier

Ton und Technik: Hendrik Manook und Katrin Fidorra

Regie: Axel Scheibchen

Redaktion: Karin Beindorff