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Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München. (Version 11/2018) S. 1 1 Phonetik und Phonologie Die PHONETIK befasst sich mit konkreten Sprachschallereignissen. Phonetisch-physikalische Dar- stellungen lautsprachlicher Ereignisse zeigen einen kontinuierlichen, nicht-diskreten (ganzheitli- chen) Charakter. Dagegen beschäftigt sich die PHONOLOGIE mit dem Abstrakten, dem Funktiona- len (wie der Bedeutungsunterscheidung) und diskretisiert zu diesem Zweck. Allerdings ist auch die Phonetik eine Abstraktion, da selbst naturwissenschaftliche Schallereigniserfassungen (So- nogramme etc.) nie „alles“ darstellen können. Eine andere Sichtweise unterscheidet anstatt zwischen Phonetik und Phonologie zwischen REA- LISATIONSPHONOLOGIE und THEORETISCHER PHONOLOGIE. Denn auch eine phonetische Umschrift wie [kʰi:.nɑ] abstrahiert und diskretisiert. Ob Sie Phonetik oder Realisationsphonologie bzw. Phono- logie oder Theoretische Phonologie sagen, überlasse ich Ihnen. Worauf es ankommt, ist es, die Ebene der Daten (z. B. [hʊnt]) und die Ebene des anzunehmenden Zugrundeliegenden (z. B. /hʊnd/) zu unterscheiden! Die PHONETIK befasst sich mit den Sprechvorgängen bzw. Sprechereignissen, die man dann be- obachten (auch messen) und beschreiben kann, wenn Menschen in einer Sprache miteinander kommunizieren. Meist werden dabei drei Phasen unterschieden: (i) Artikulation (Arbeitsweise der Sprechorgane wie die Zunge oder die Lippen), (ii) Übertragung (akustische Eigenschaften des Schallereignisses) und (iii) Rezeption (Aufnahme im Gehör, Verarbeitung Gehör/Gehirn). In neuerer Zeit erweitert sich die Perspektive der phonetischen Forschung auch auf die MASCHI- NELLE SPRACHVERARBEITUNG und die lautsprachliche Mensch-Maschine-Kommunikation. Die Phonetik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die mit der Biologie, den Kognitionswissen- schaften, der Medizin (v. a. der Anatomie und Neurologie), der Physik, aber auch mit der Ma- thematik und der Informatik in Beziehungen steht. Die Phonologie arbeitet mit einer DISKRETISIERUNG des Sprachschallkontinuums und setzt unter anderem Einheiten wie das Phonem oder die Silbe an. Man nimmt an, dass solch eine Diskreti- sierung während der Sprachverarbeitung im Gehirn stattfindet. (Die geschriebene Sprache ist auch eine diskretisierende Bearbeitung des holistischen Schallereignisses.) Wichtig ist es, die funktional relevanten Eigenschaften der Lautsprache herauszuarbeiten. Funktional ist z. B. die Bedeutungsunterscheidung, die man auf Phonemkontraste wie /p/ und /b/, vgl. Pass und Bass, zurückführt bzw. in diesem Fall auf die Kontrastbildung von [– stimmhaft] und [+ stimmhaft]. Die Phonologie entwickelt eigene phonologischen Theorien, 1 z. B. die Teiltheorie der phonolo- gischen Merkmale (auch: distinktive Merkmale) und der Phoneme. Weitere phonologische Ebenen, die wir näher ansehen werden, betreffen die SILBE (abgekürzt σ = Sigma wegen Silbe), 1 Einflussreiche Theorien sind u. a. die STRUKTURALISTISCHE PHONOLOGIE (z. B. die Prager Schule, s. Trubetzkoys „Grundzüge der Phonologie“ von 1939), die GENERATIVE PHONOLOGIE (The Sound Pattern of English (SPE) = Chomsky/Halle 1968), die METRISCHE PHONOLOGIE (Liberman, M. Y & A. Prince 1977: On Stress and Linguistic Rhythm, in: LI 8.3, 249-336), die AUTOSEGMENTALE PHONOLOGIE (John Goldsmith 1976, autosegmental phonolo- gy), die MERKMALSGEOMETRIE (Clements, G. N. (1985): The Geometry of Phonological Features, Phonology Year- book 2, 225-252) und die OPTIMALITÄTSTHEORIE (Prince, Alan & Paul Smolensky. 1993. Optimality Theory: Con- straint Interaction in Generative Grammar. RuCCS-TR-2. 262 pp. ROA-537), abgekürzt: OT.

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Dr. W. Schindler. PS Phonologie und Graphematik. LMU München. (Version 11/2018) S. 1

1 Phonetik und Phonologie

Die PHONETIK befasst sich mit konkreten Sprachschallereignissen. Phonetisch-physikalische Dar-

stellungen lautsprachlicher Ereignisse zeigen einen kontinuierlichen, nicht-diskreten (ganzheitli-

chen) Charakter. Dagegen beschäftigt sich die PHONOLOGIE mit dem Abstrakten, dem Funktiona-

len (wie der Bedeutungsunterscheidung) und diskretisiert zu diesem Zweck. Allerdings ist auch

die Phonetik eine Abstraktion, da selbst naturwissenschaftliche Schallereigniserfassungen (So-

nogramme etc.) nie „alles“ darstellen können.

Eine andere Sichtweise unterscheidet anstatt zwischen Phonetik und Phonologie zwischen REA-

LISATIONSPHONOLOGIE und THEORETISCHER PHONOLOGIE. Denn auch eine phonetische Umschrift wie

[kʰi:.nɑ] abstrahiert und diskretisiert. Ob Sie Phonetik oder Realisationsphonologie bzw. Phono-

logie oder Theoretische Phonologie sagen, überlasse ich Ihnen. Worauf es ankommt, ist es, die

Ebene der Daten (z. B. [hʊnt]) und die Ebene des anzunehmenden Zugrundeliegenden (z. B.

/hʊnd/) zu unterscheiden!

Die PHONETIK befasst sich mit den Sprechvorgängen bzw. Sprechereignissen, die man dann be-

obachten (auch messen) und beschreiben kann, wenn Menschen in einer Sprache miteinander

kommunizieren. Meist werden dabei drei Phasen unterschieden:

(i) Artikulation (Arbeitsweise der Sprechorgane wie die Zunge oder die Lippen),

(ii) Übertragung (akustische Eigenschaften des Schallereignisses) und

(iii) Rezeption (Aufnahme im Gehör, Verarbeitung Gehör/Gehirn).

In neuerer Zeit erweitert sich die Perspektive der phonetischen Forschung auch auf die MASCHI-

NELLE SPRACHVERARBEITUNG und die lautsprachliche Mensch-Maschine-Kommunikation.

Die Phonetik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die mit der Biologie, den Kognitionswissen-

schaften, der Medizin (v. a. der Anatomie und Neurologie), der Physik, aber auch mit der Ma-

thematik und der Informatik in Beziehungen steht.

Die Phonologie arbeitet mit einer DISKRETISIERUNG des Sprachschallkontinuums und setzt unter

anderem Einheiten wie das Phonem oder die Silbe an. Man nimmt an, dass solch eine Diskreti-

sierung während der Sprachverarbeitung im Gehirn stattfindet. (Die geschriebene Sprache ist

auch eine diskretisierende Bearbeitung des holistischen Schallereignisses.) Wichtig ist es, die

funktional relevanten Eigenschaften der Lautsprache herauszuarbeiten. Funktional ist z. B. die

Bedeutungsunterscheidung, die man auf Phonemkontraste wie /p/ und /b/, vgl. Pass und Bass,

zurückführt bzw. in diesem Fall auf die Kontrastbildung von [– stimmhaft] und [+ stimmhaft].

Die Phonologie entwickelt eigene phonologischen Theorien,1 z. B. die Teiltheorie der phonolo-

gischen Merkmale (auch: distinktive Merkmale) und der Phoneme. Weitere phonologische

Ebenen, die wir näher ansehen werden, betreffen die SILBE (abgekürzt σ = Sigma wegen Silbe),

1 Einflussreiche Theorien sind u. a. die STRUKTURALISTISCHE PHONOLOGIE (z. B. die Prager Schule, s. Trubetzkoys

„Grundzüge der Phonologie“ von 1939), die GENERATIVE PHONOLOGIE (The Sound Pattern of English (SPE) =

Chomsky/Halle 1968), die METRISCHE PHONOLOGIE (Liberman, M. Y & A. Prince 1977: On Stress and Linguistic

Rhythm, in: LI 8.3, 249-336), die AUTOSEGMENTALE PHONOLOGIE (John Goldsmith 1976, autosegmental phonolo-

gy), die MERKMALSGEOMETRIE (Clements, G. N. (1985): The Geometry of Phonological Features, Phonology Year-

book 2, 225-252) und die OPTIMALITÄTSTHEORIE (Prince, Alan & Paul Smolensky. 1993. Optimality Theory: Con-

straint Interaction in Generative Grammar. RuCCS-TR-2. 262 pp. ROA-537), abgekürzt: OT.

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den FUSS (vgl. trochäisch ˈO.pa vs. jambisch O.ˈpal, abgekürzt: F) und das PHONOLOGISCHE WORT

(abgekürzt ω = Omega, sieht wie „w“ in Wort aus.

Weitere Ebenen, die wir im Seminar nicht detaillierter behandeln, sind: die PHONOLOGISCHE PHRA-

SE (Abkürzung: φ = Phi, vgl. Phrase) und die INTONATIONSPHRASE, das ist jeder Abschnitt einer Äu-

ßerung, der eine eigene Intonationskontur, einen eigenen Tonhöhenverlauf aufweist (Abkür-

zung: IP). Oberhalb von IP wird als oberste Ebene die ÄUßERUNGSPHRASE (Abkürzung: U/UP, von

engl. utterance) angesetzt.

2 Phonologische Hierarchie und Ebenen

(1) IP

φ φ

ω ω ω ω

F F F F F

σ σ σ σ σ σ σ

Herr Hu ber liebt Haus kat zen

(2) Phonologisches Wort ( = Omega)

F Fuß (hier: trochäisch = (s w))

w s w Silbenschicht ( = Sigma)

O N O N C O N Silbenkonstituentenschicht

(onset, nucleus, coda)

C V C V C V CV-Schicht (CV-tier, skeletal tier)

f o ʀ ɛ l ə Segmentschicht

+ kons - kons

- son - hint Distinktive Merkmale

+ kont - hoch

- nas - tief

+ lab - rund

+ lang

Werfen wir zuerst einen Blick auf die Elementareinheiten, die PHONEME, die wir zu komplexeren

Einheiten (wie die Silben) zusammenfügen. Die Phoneme ermittelt man durch Prozeduren wie

die Prüfung, ob in Minimalpaaren bei Austausch eines Segments ein Bedeutungsunterschied

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hervorgerufen wird oder nicht. Eine Bedeutungsunterscheidung nehmen wir z. B. bei [taə],

[kaə], [gaə], [maə] und bei [bʀu:t] und [blu:t] wahr. Bei [bʀu:t] versus [bru:t] empfinden

wir keinen Bedeutungsunterschied. Wir werten den uvularen und den alveolaren Vibranten als

Allophone und nehmen hier Aussprachevarianten desselben Wortes wahr.

Die Phoneme werden als Mengen bzw. Bündel phonologischer Merkmale beschrieben. Diese

Merkmale sind die Elementareinheiten der Phonologie! Auf die Merkmalsmengen, die einen

Laut oder eine Lautklasse repräsentieren, greifen die phonologischen Regeln (Assimilation, Aus-

lautverhärtung etc.) zu. Die Phonemsymbole dienen uns als Abkürzungen für die Merkmals-

mengen, wenn es auf Explizitheit nicht ankommt. Ein Beispiel: Dem /p/ entsprechen der traditi-

onelle [(+kons,) bilabial, plosiv, -stimmhaft] bzw. der moderne [+kons, -son, labial, -stimmhaft, -

kontinuierlich, -nasal] Merkmalsatz. Näheres in Kap. 6.

Merkmale dienen zudem dazu, die bedeutungsunterscheidenden Kontraste zwischen zwei Pho-

nemen zu erfassen:

(3) [pas] versus [bas] = /p/ versus /b/ = [-sth] versus [+sth]

[mi:tə] vs. [mɪtə] = /i/ vs. /ɪ/ = [+gesp] (oder [+lang]) vs. [-gesp] (oder [-lang])

[fas] vs. [nas] = /d/ vs. /n/ = [frikativ] vs. [nasal]

In (4) sehen Sie eine Skizze dessen, was eine Phonologie im Kern behandelt. Ausgehend von

den segmentalen Grundrepräsentationen kommen wir einerseits über die Phonem-Graphem-

Korrespondenzen (über das phonographische Modul) zur graphematischen Grundrepräsentati-

on, sofern wir diese ableiten und nicht einfach in einen Speicher, ins Lexikon hineinschreiben

wollen. Andererseits können wir aufgrund der segmentalen Repräsentation die Silbifizierung

und die Akzentuierung ermitteln und phonologische Prozesse durchführen, indem die Merk-

malsmengen entsprechend bearbeitet werden und das bis hin zu der Komponente (nennen wir

sie „phonetisch“ oder „Motorprogramm“), die dann die Anweisungen an die Artikulatoren gibt.

Intermezzo: Einige Notationskonventionen

/…/ Phonologische Transkription (Schreibweise)

[…] Phonetische Transkription (Schreibweise)

<…> Graphematische Schreibweise

+ Morphologische Grenze [ɪn+aktsɛpt+ɑbil+itɛ:t] {in} {akzept} {abil} {ität}

<.> Silbengrenze [ko:.ma] vs. [kɔma]; vgl. [ɪn.+ak.tsɛp.t+ɑ.bi.l+i.tɛ:t]

< > Sonorkonsonanten als Silbennuklei wie in [lɑ:.kn] < /lɑ:.kən/

Diphthonge und Affrikaten: [ pfail] (Bogen über beide Teile), [ pfail] (Diphthong auch: Halbbogen

unter dem unsilbischen Vokal)

Griech. Sigma <> beginnt wie SILBE mit „s“ (kleines Sigma, das große ist <Σ>)

Griech. My <μ> beginnt wie MORPHEM mit „m“

Griech. kleines Omega <ω> sieht wie ein <w> (für „PHONOLOGISCHES WORT“) aus

Griech. kleines Phi <φ> klingt wie „f“ in (PHONOLOGISCHEM) FUß (Trochäus etc.)

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(4) Phonematische /gebən/ bzw. {[sth, vel, plos] [gesp, vorn, …} (Merkmalsmengen)

Grundrepräsentation PGK-Umsetzung

Phonem-Graphem- <geben> (wegen /g/ → <g>, /e/ → <e> etc.)

Korrespondenzen /ʀobən/ → <roben> (phonographisch)

Silbifizierung /ge.bən/ /ʀɔḅən/ → <robben> (silbisch)

Akzentuierung /'ge:.bən/2 (gespannter Vokal wird unter Akzent lang)

Phonologische Schwa-Tilgung /ə/ → 0 / [+kons, -son] __ [+kons, +son]

Prozesse Nasalassimilation

/ge:.bm/ [lab, -son, -kont, +sth] [kor lab, +son, nasal]

/b/-Totalassimilation

/ge:m/

Ausspracheanweisungen [ge:.bn]3 oder [ge:.bm] oder [ge:m] oder sogar(?) [gεm]

3 Die Standardlautung

Analog zur Orthographie („normgemäß schreiben“, Standardschreibung) gibt es eine normierte

STANDARDLAUTUNG des Deutschen („normgemäß sprechen“), die Sie in einem Aussprachewörter-

buch nachschlagen können, z. B. im Band Nr. 6 der Duden-Reihe (Das Aussprachewörterbuch, 6.

Aufl. 2005). Hinweis: Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (http://www.dwds.de/)

und – allerdings in geringerem Umfang – auch Duden online (http://www.duden.de/) bieten die

Standardaussprachen zu vielen Wörtern als Audiodateien!4

Die Standardlautung ist wie die Standardschreibung Grundlage des Unterrichts an öffentlichen

Schulen und des Deutschunterrichts im Bereich Deutsch als Zweit-/Fremdsprache. Im Gegen-

satz zur Orthographie ist sie in öffentlichen Behörden (meines Wissens) nicht verbindlich.

Die STANDARDLAUTUNG ist

- überregional (weitgehend ohne regionale Aussprachebesonderheiten)

- einheitlich (Varianten werden vermieden bzw. stark beschränkt)

- schriftnah und

- deutlich (auf klare Lautunterscheidung abzielend).

2 Der Akzent kann nur auf die vorletzte Silbe fallen, da die letzte Silbe eine Schwa- bzw. Reduktionssilbe ist.

3 Standardaussprache mit Schwa-Tilgung, aber ohne Assimilation etc.

4 Das DWDS kooperiert bezüglich der Aussprachen mit dem Max-Planck-Institut für Psycholinguistik (MPI-

Nijmegen) und dem Institut für Sprechwissenschaft und Phonetik der Universität Halle-Wittenberg. Der Du-

den kooperiert mit der Aussprachedatenbank der ARD.

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Die Standardlautung liegt zwischen der BÜHNENAUSSPRACHE (z. B. Siebs 1898; auch: REINE HOCHLAU-

TUNG nach Siebs 1969), die heutzutage kaum mehr verwendet wird (eventuell noch bei sehr

feierlichen Anlässen oder Inszenierungen klassischer Dramen), und der UMGANGSLAUTUNG (nach

Siebs: GEMÄßIGTE HOCHLAUTUNG). In der normierten Bühnenaussprache wird eine extrem deutli-

che Aussprache angestrebt, z. B. wird auf die Schwa-Tilgung verzichtet.

In der Umgangslautung finden sich vor allem REGIONALE Einflüsse sowie Assimilationen (fünf >

fümf) und Verkürzungen (Hast Du mal … > Haste mal …). Bisweilen wird der stimmlose alveola-

re Sibilant durch den postalveolaren ersetzt („inschpirieren“ oder „Schemie“), Langvokale wer-

den in norddt. Varianten kurz ausgesprochen ([at], [bat]), es kommt zu Verschleifungen wie

bei Tust du es? > Tust dus? > Tuastas?, Haben Sie nicht > Habn Se nich > Hamse nich?

Die Grenzziehung zwischen UMGANGSSPRACHE, REGIONALSPRACHE (REGIOLEKT) und DIALEKT/MUNDART

möchte ich nicht näher diskutieren.

(5) Genormte Lautungen Ungenormte Lautung

Bühnenaussprache Standardlautung Umgangslautung

China [i:n] [i:n] [ki:na], [i:na]

# /z.../ stimmhaft [z] stimmhaft [z] auch stimmlos [z/s]

<er> [b, b] [b] [b]

// erhalten ([gɑ:.bl]) eher getilgt ([gɑ:.bl]) getilgt

/ pf/ u. /ʀ/ [pfe:ʀt] [ pfe:ɐt] [fe:ɐt]

<ig> [pre:d] [pre:d] [pre:dk] Langvokale lang gesprochen [bt] lang gesprochen ggf. gekürzt [bat]

Gesp. Kurz-V [as.pi.ˈri:n] [as.pi.ˈri:n] → Schwa [as.pə.ˈri:n]5

/n/ vor Labial [anpas, ainbau] [anpas, ainbau] [ampas, aimbau] /sp, st/ [] [] []

Stimmhaftigkeit voll [apzt] voll – schwach [apz/t] schwach/nicht [ap/st]

Charakteristika der Standardlautung bieten Altmann/Ziegenhain (2002: Kap. 2.5., v.a. 2.5.2.). Zu-

dem kann man heranziehen: das Aussprachewörterbuch der Duden-Reihe (Bd. 6).

4 Laut(um)schrift

Wir verwenden das IPA, das Internationale Phonetische Alphabet.6 Diese Umschrift können wir

mit Sonderzeichen (Diakritika etc.) anreichern, um mehr Details des Schallereignisses abzubil-

den. Wir können auch weniger Details notieren, etwa in der phonologischen Umschrift, wenn

es auf Detailliertheit nicht (so sehr) ankommt. Die phonologische Umschrift bildet auch die

Verbindung mit der Graphematik, etwa bei der Umsetzung der Phoneme in Grapheme oder bei

der Verschriftung von Silbengelenken.

5 Das gelegentlich als „pretonic laxing“ bezeichnete Phänomen betrifft einen gespannten Kurzvokal, der

(un)mittelbar vor der Hauptbetonung geschwächt wird, entweder hin zum ungespannten Vokal ([kri.ˈti:k →

krɪ.ˈti:k]) oder bis zu Schwa [as.pi.ˈri:n] → [as.pɪ.ˈri:n] → [as.pə.ˈri:n]. 6 Webseite der internationalen phonetischen Vereinigung: https://www.internationalphoneticassociation.org/

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(6) Enge Umschrift („näher am Konkreten“): [de:ɐ] [ˈʰt s. :ɐ]7

Breite/Weite Umschrift („eher funktional“): [de:ɐ] [ˈt s.:ɐ] (Standardlautung)

Phonologische Umschrift: /deʀ/ /ts.bæʀ/

Graphematische Grundrepräsentation (PGK): <der> <tanzbär>

Für das Arbeiten in unserem Seminar und für viele linguistische Zwecke sollte man vor allem

wissen: (i) Was charakterisiert eine phonologische Umschrift?8 (ii) Wie stellt man eine (breite)

Umschrift des sog. Standarddeutschen her? Hierzu sollte man die Charakteristika der Standard-

lautung kennen (wie die Schwa-Tilgung, die r-Vokalisierung). Dazu später mehr.

Achten Sie bei Ihrer IPA-Verschriftung vor allem auf:

- Vokalquantität und (Un-)Gespanntheit: er log [lo:k], Lokomotive [lo.ko.mo.ti:.və], Lok [lɔk]

- Öffnungsgrad bei Vokalen: v. a. Beeren [be:.ʀən] vs. Bären [bɛ:.ʀən] oder [bæ:.ʀən]

- Schwa vs. gespannt-kurzes e: edle [e:.dlə], edler [e:.dlɐ]; elegant [e.le.gant] (Standard)

- s-Laute ([rai.zn] vs. [rai.sn ]); r-Vokalisierung; Auslautverhärtung (/vand/ vs. [vant]);

Aufgaben

A 1) Verschriften Sie in Standardlautung und direkt darunter phonologisch:

Haben Sie die Hakenkappen zerschneiden wollen? Weiter lassen wir Susis Seereise los! Unweg-

same Strecken mit Handgas unwuselig fahren! Auf Bänken keine Angeber angeln! Zitronenele-

gante Komitees in Kommission nehmen!

Beispiel: beleidigter [b ə l a i d ɪ ç t ɐ] Standardaussprache

/b ə l a i d ɪ g t ə ʀ/ phonologisch

A 2) Transkribieren Sie phonetisch (Standardlautung mit Silbenstruktur u. Hauptakzenten)! Gibt

es hier eine „affrikatenverdächtige“ Lautfolge?

Lustig schöner grübeln und sozial in Asien auf Dschunken schunkeln

5 Segmentale und suprasegmentale Phonologie

Die Phonologie lässt sich grob in einen SEGMENTALEN (Phoneme und Phonotaktik) und eine SUPRA-

SEGMENTALEN Bereich aufteilen. Suprasegmentale Eigenschaften sind beispielsweise:

- AKZENT: die relative Prominenz einer Silbe gegenüber benachbarten Silben, vorwiegend im

Sinne größerer Lautheit und/oder stärkerer Längung. Der Akzent wird nicht als segmentale Ei-

genschaft (etwa: [+ voc, + akz, …]), sondern als silbenbezogene angesehen. Zur Darstellung rela-

7 Die stimmhaften Plosive werden nicht-stimmhaft artikuliert (kleiner Kreis unter Plosiv). Das [t] wird behaucht

(hochgestelltes h). Geknarrte Aussprache der letzten beiden Vokale (Tilde als Subskript). 8 Sie können die phonologische Umschrift aus der Schreibung „zurückrechnen“. Es lautet standardsprachlich

[ʃæ:fɐhʊnt], man schreibt Schäferhund und folglich rechnen Sie vom a-Schwa auf e-Schwa + /r/ und abzüglich

Auslautverhärtung auf /d/ zurück, also phonologisch auf /ʃæfəʀhʊnd/.

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tiver Prominenzverhältnisse werden metrische Bäume oder Gitter verwendet. Die Kürzel „s“

und „w“ bedeuten „strong“ und „weak“:

(7) ω Phonolog. Wort

* Fs Fw Füße * *

* * * * σs σw σs σw Silben

Stra ßen bah nen Stra ßen bah nen

/. . . /

METRISCHES GITTER METRISCHER BAUM

- INTONATION: Die Veränderung der Tonhöhe, des TONHÖHENVERLAUFs, z.B. steigender Verlauf am

Satzende bei ‚Frage’, fallender Verlauf bei ‚Feststellung’.

- PHRASIERUNG: Pausenstruktur, Bildung von Intonationseinheiten; man vgl. etwa (Computer),

(Tastatur) (und Bildschirm) versus (Computertastatur) (und Bildschirm).

- SANDHI-Lehre:9 Beschreibung phonologischer Erscheinungen, die bei der Zusammenfügung von

Wörtern zu Wortgruppen (v. a. an Wortgrenzen) vorkommen, z. B.

(8) (a) engl. a cat, an apple (b) frz. allez les bleu = [aleleblø] und allez y = [alezi]

(9) Hast du … = [hast.du …] [has.tu …]

- TON: Im Deutschen spielt lexikalischer bzw. Wortton keine Rolle. Nur im Bereich der Interjekti-

onen finden sich ansatzweise bedeutungsdifferenzierende Toneme. Ehlich (1986, Interjektio-

nen, Tübingen) beschreibt, wie eine unterschiedliche Tonzuweisung z. B. bei (m)hm und aha zu

unterschiedliche Funktionsmarkierungen wie ‚Zustimmung‘ oder ‚Divergenz, Zweifel‘ führt.

Die AUTOSEGMENTALE PHONOLOGIE bietet die Möglichkeit, phonologische Informationen wie seg-

mentale, silbische oder tonale Informationen in eine eigene Schicht zu verlagern. Diese Schich-

ten werden dann gemäß Assoziationsprinzipen durch Assoziationslinien aufeinander bezogen:

(10) σ σ σ σ Silbenschicht

V C V V C V CV-Schicht

ɑ. h ɑ ɑ. h ɑ Segmentschicht

T H H T Tonschicht

‚Überraschung‘ ‚Zustimmung‘

9 Sandhi ist ein Sanskrit-Wort und bedeutet ‚Verbindung’.

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6 Die phonologischen Merkmale

Die Menge der Sprachlaute lässt sich in Subklassen wie die Obstruenten (wichtig z. B. für die

Auslautverhärtungsregel) oder die hinteren Vokale (vgl. Verteilung bei /ç/ und seinen Allopho-

nen [ç] und [x]) aufteilen, über die sich Regeln formulieren lassen. Diese Subklassen werden

über gemeinsame Merkmale wie [±son(orant)] oder [±hint(en)] gebildet. Als lautsprachliche

Grundeinheiten setzen wir nicht die Laute, sondern deren Merkmale an: Ein Laut ist die Menge

der ihn definierenden Merkmale! Im folgenden Versprecher wirkt das Ortsmerkmal [bilabial]

von /b/ auf das Merkmal [velar] von /k/ in Becker ein (Perseveration) und überschreibt [velar]

durch [(bi)labial], so dass /p/ artikuliert wird.

(11) Auch Boris Bepper, da sag‘ ich Bepper – Boris Becker hat keine Schwierigkeiten10

Auch Boris Be [b] ck [k] er Be pp [p] er hat (...)

[bilabial] [velar] [bilabial]

[plosiv, stimmhaft] [plosiv, stimmlos] [plosiv, stimmlos]

Eine ORTSASSIMILATION erleichtert die Artikulation (führt hier allerdings zu einem „Fehler“).

Derartige Merkmalsbeschreibungen sind nützlich, um phonologische Regeln zu formulieren.

Stellen Sie sich die Auslautverhärtungsregel vor, die wir aus den folgenden Daten ermitteln:

(12) Plosive ([- kont]) Frikative ([+ kont])

[+ sth] [– sth] [+ sth] [– sth]

[kɛl.bɐ] [kalp] [bʀɑ:.və] [bʀɑ:f]

[vɛl.dɐ] [valt] [gɑ:.zə] [gɑ:s]

[bɛl.gɐ] [balk] [o.ʀaŋ.ʒə] [o.ʀaŋʃ]

Zweisilbler Einsilbler Zweisilbler Einsilbler

Zunächst könnten wir aufzählen, welche Laute in welche anderen transformiert werden:

(13) /b d g v z ʒ/ → [p t k f s ʃ] / __ ]σ

Ausgesprochen lautete (13): „Am Silbenende werden die Laute b, d …. zu den Lauten p, t …!“

Das ist unökonomisch! Aufzählungen sind schwerer zu lernen als Generalisierungen (Regeln)!

Fragen wir, was den betroffenen Lauten im Zweisilbler gemeinsam ist: (a) [+ stimmhaft] und (b)

[– sonorant] und (c) ihre Position im Silbenanfangsrand. Und was geschieht mit ihnen: Sie

wechseln im Einsilbler in den Silbenendrand und werden [– stimmhaft].

Treffend und elegant ist es dann so: [– sonorant] → [– sth] / __ ]σ

Interpretation: Wenn ein Laut ein Obstruent ist, dann ist er im Silbenendrand stimmlos!11

10

Studierenswerte Versprechersammlungen und -analysen legte Helen Leuninger vor mit „Reden ist Schweigen,

Silber ist Gold“, Zürich 1993 und mit „Danke und Tschüss fürs Mitnehmen“, Zürich 1996. 11

Wenn ein Segment grundständig stimmlos ist (wie in bunt gegenüber Hund), interessiert das diese Regel

nicht, da sie nur auf Merkmalsmatritzen reagiert, die wie bei /d/ [+ sth] enthalten.

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Phonologische Merkmale bilden sich Erfahrungen heraus. Beispiel: Eine bestimmte Lautmenge

bildet eine relevante Klasse, etwa weil genau diese Lautmenge der Input für eine bestimmte

phonologische Regel ist. Solche Klassen sind u. a. die Sonoranten und die Obstruenten ([+kons,

±son]), die Plosive ([+kons, -son, -kont)], hintere Vokale ([-kons], [±hint]) etc.12

So kann ein

Merkmal(ssatz) den Input eines Lautwandelvorgangs beschreiben. Beispiel: Bei der zweiten

Lautverschiebung (Germanisch > Althochdeutsch) kam es u. a. zu einer Frikativierung (vgl. pep-

per > Pfeffer, water > Wasser), die man mit einem Merkmalswertwechsel [-kont] > [+kont] be-

schreiben kann. Der vormals im Ansatzrohr blockierte, diskontinuierliche Lautstrom kann nun

kontinuierlich, dabei eine Engstelle passierend, oral entweichen (bei Nasalen, auch [-kont] we-

gen Blockade im Ansatzrohr, nicht, dafür aber dann durch die Nase).

Modernere Phonologien arbeiten mit feineren Merkmalssätzen, da man mit den traditionellen

Merkmalen nicht immer eine beschreibungsadäquate Genauigkeit erreicht. Ich folge im We-

sentlichen Hall (Phonologie, 2. Aufl. 2011, Kap. 4)!

In der folgenden Übersicht fehlen die Affrikaten. Die für das Deutsche diskutierten Aggregate

/pf/ und /ts/ verhalten sich teils monophonematisch, teils biphonematisch. Eine Darstel-

lungsoption bietet die NICHTLINEARE PHONOLOGIE, die diese „Zweideutigkeit“ dadurch repräsen-

tiert, dass man zwei Segmente/Merkmalsbündel einer C-Position zugeordnet und nicht zweien.

(14) σ Pflock (gegen Vampire etc.)

C C V C CV-Schicht/Ebene

p f l ɔ k Segmentschicht

Großlautklassenübersicht für das Gegenwartsdeutsche

(15) kons son sth

Vokale – + +

Sonorkonsonanten + + +

Konsonanten + +/– +/–

Glottale [ʔ, h] – – – (im Dt. gibt es keine stimmhaften Glottale)

Die Merkmale und die Ordnung der standarddeutschen Konsonanten lässt sich folgenderweise

darstellen:

12

Im Deutschen (und auch in manch anderen Sprachen) verhalten sich vordere Frikative mit zischenden (hoch-

frequenten) Geräuschanteilen gerne gegen die Sonoritätshierarchie (zu der später), vgl. Stein, Skelett, Lachs.

Also könnte man ggf. ein Merkmal [± sibil(ant)] aufstellen.

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(16) [LABIAL] [KORONAL] [DORSAL] [GLOTTAL]13

[–sth] p f t s ʃ ç k h (ʔ)

[+sth] b m v l d z n ʒ ʝ14

g ŋ ʀ

[kons] + + + + + + + + + + + + –15

[son] – + – + – – + – – – + + – –

[kont] – – + – – + – + + – – + + –

[nas] – + – – – – + – – – + – – –

[anterior] + –

Damit lassen sich auch feinere Unterschiede ausdrücken, vgl. Sie etwa

/p/ [+kons, -son, -sth, lab, -kont, -nas] /l/ [+kons, +son, +sth, kor, -kont, -nas]

/f/ [+kons, -son, -sth, lab, +kont, -nas] /n/ [+kons, +son, +sth, kor, -kont, +nas]

Die Vokalphoneme weisen die Merkmale [–kons] und [+son] auf:16

(17) i ɪ y ʏ u ʊ e ø œ o ɔ ε æ17

ə ɑ a

[hinten] – – – – + + – – – + + – – –18

+ +

[lab]/[rund] – – + + + + – + + + + – – – – –

[gesp] + – + – + – + + – + – – + – + –

Öffnungsgrad g g g g g g hg hg hg hg hg ho ho – o o19

Das Merkmal Gespanntheit ([gesp]) ist umstritten. Phonetisch ist es m. W. so, dass für die offe-

neren Vokale /ε, æ/ und /ɑ, a/ keine Gespanntheitsunterschiede nachgewiesen werden kön-

nen. Das Problem: In Minimalpaaren wie Rate/Ratte oder schälen/schellen unterscheiden sich

13

Ähnlich, aber etwas traditioneller: Duden-Grammatik, 7. Aufl. 2005, S. 34. 14

Es wird diskutiert, ob dem <j> im deutschen Phonemsystem wie in der Tabelle oben dargestellt ein dorsaler

Frikativ /ʝ/ („Zungenrücken-Engelaut“) oder ein dorsaler Approximant /j/ entspricht. Approximanten (Halbvo-

kale) weisen eine schwache Engebildung auf (Vokale: keine Enge, Frikative: deutliche Enge mit „Verwirbelung“

des Lautstromes, was zum Reibegeräusch führt), die weder vokal- noch konsonantentypisch ist. Auch der La-

teral /l/ wird manchmal als Approximant diskutiert. 15

Nach der Definition von [+kons] liegt eine Verengung im Ansatzrohr vor. Bei Glottalen liegt die Enge nicht im,

sondern am Anfang des Ansatzrohres (an/in der Glottis) vor! Als Glottis wird im engeren Sinne nur die STIMM-

RITZE (der Spalt, den die Stimmbänder umgrenzen) bezeichnet. 16

Vgl. Duden-Grammatik, 7. Aufl. 2005, S. 36! 17

Nicht wenige verneinen einen Gespanntheitsunterschied bei /ɛ/und bei /a/! Dann wird nur mittels [lang] (mit

<:>) und [kurz] (ohne <:>) unterschieden. Wenn man als grundlegend [+/– gespannt] ansetzt – mit der An-

nahme, dass nur gespannte Vokale unter Akzent lang werden, vgl. ['ʀɑ:.tə] Rate und ['ʀaə] Ratte) –, dann

arbeitet man mit æ(:)/ε und ɑ(:)/a. 18

Hall (2011: 131) vergibt an Schwa [+hint]. Dem folge ich nicht, sondern folge der Annahme, dass Schwa bzgl.

aller Werte unmarkiert ist, da das e-Schwa der der zentrale (anstrengungsärmste) Vokal ist. 19

Kürzel: g(eschlossen), h(alb)g(eschlossen), h(alb)o(ffen), o(ffen.

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diese Vokale in der Länge. Die Vokallänge scheint kein zugrundeliegendes, sondern ein sekun-

däres Merkmal zu sein, vgl. Drama ['drɑ:.mɑ] und dramatisch [drɑ.'mɑ:.tɪʃ]! Diese a-Variante

wird unter Akzent lang (wie der „ä“-Laut in schälen, nicht aber der in schellen)! Es müsste folg-

lich einen zugrundeliegenden Faktor X geben, der diesen Unterschied ausmacht, aber die Länge

ist es wohl nicht. Ich persönlich setze diesen Faktor mit der Gespanntheit gleich, weiß jedoch,

dass das gegen die phonetischen Einsichten ist. Insofern ist das Problem damit nicht gelöst!

(18) [–hint] [+hint]

[+gesp] [–gesp] [+gesp] [–gesp] [+gesp] [–gesp]20

[+hoch] i ɪ y ʏ u ʊ [lab] bzw. [+rund]

[–hoch] e –21

ø œ o ɔ

ə Zentral-/Neutralvokal

[+tief] ε/æ ε

ɑ a

Eine alternativ diskutierte Lösung besteht darin, anstelle eines Merkmalsunterschieds einen

prosodischen Unterschied anzusetzen, bei dem sich Paare wie Koma und Komma nicht in einer

Vokalqualität (und -quantität), sondern im sog. Silbenschnitt unterscheiden. Hierbei werden in

Vollsilben nur acht Vokale (nicht in IPA: /a, e, i, o, u, ä, ö, ü/) angenommen, die sich des Weite-

ren durch den einem Wort zugeordneten Silbenschnitt unterscheiden. Vollsilben werden als

Abfolgen von Energieverläufen, von steigender (Crescendo, <) und fallender Energie (Decres-

cendo, >) charakterisiert. Ein Paar „< >“ indiziert die Anwesenheit einer Vollsilbe. (Reduktions-

silben weisen einen wenig charakteristischen gleichmäßigen Verlauf auf, =.) Bei Koma liegt

sanfter Schnitt vor, wobei Crescendo und Decrescendo mit /o/ verbunden sind; bei Komma

liegt scharfer Schnitt vor, bei dem das Decrescendo dem /m/ zugeordnet wird, was dem Ein-

druck entspricht, dass der Übergang vom o-Vokal zum Nasal abrupt vor sich geht.22

(19) < > < > < > < >

K o m a K o m(m) a (kein IPA)

Sie werden sich jetzt fragen: Und was nun? Meine Antwort ist die eines theoretischen Phonolo-

gen. Für die Klassifikation und „Bemerkmalung“ von Phonem(klass)en werden theoretische

20

Oder eben: mit bzw. ohne „Faktor X“. 21

Ein ungespanntes (bzw. ein kurzes) Pendant zu /e/ wird im Deutschen nicht angenommen. 22

Theo Vennemann (1991, Skizze der deutschen Wortprosodie, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 10:1, 86-

111) hat die Theorie des Silbenschnitts wiederbelebt und mit weiteren modernen phonologischen Ideen ver-

bunden. Unter anderem finden Sie in diesem Aufsatz auch die diesem Handout zugrundeliegende Akzentthe-

orie. Weitergedacht wird dieser Ansatz u. a. von Thomas Becker (1998, Das Vokalsystem der deutschen Stan-

dardsprache, Frankfurt/M.) und David Restle (2003, Silbenschnitt – Quantität – Koppelung: zur Geschichte,

Charakterisierung und Typologie der Anschlußprosodie, München).

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Kriterien aufgestellt, etwa die Bedeutungsunterscheidende Potenz, vgl. Rate, Ratte. Den Unter-

schied vermerke ich als /ʀɑtə/ vs. /ʀatə/. Das kann man mit den Merkmalen [gespannt] vs.

[ungespannt] oder, wie Neef (2005) das möglicherweise überzeugender vornimmt, mit [peri-

pher] vs. [zentralisiert] erfassen. Neef (ebd.) nennt distributionelle Unterschiede: Gespannte

bzw. periphere Vokale kommen im Standard in offenen Silben vor (Abend, Butanol/Butan),

aber nicht vor velarem Nasal (/laŋ/ vs. */lɑŋ/). Das scheint mir relevant. Aber nun genug hier-

von. Sie kennen meine Position und suchen sich bitte selbst diejenige, die Sie am meisten über-

zeugt bzw. für Sie am besten zu handhaben ist.

Zu den Merkmalen im Einzelnen:

[konsonantisch], [kons]: Verengung im Ansatzrohr (oberhalb Glottis bis Lippen)

[– kons]: Vokale; Gleitlaute /j, ʋ/w/; Glottale wie /h, ʔ/

[+ kons]: Typische Konsonanten: Plosive, Frikative, Lateral /l/, Vibrant /r/, Nasale

[sonorant], [son]: Sonorante Laute sind spontan stimmhaft, weil die Artikulationskonfiguration,

die den Kehlkopf und das nicht (wesentlich) verengte Ansatzrohr betrifft, natürlicherweise

zur Stimmbandvibration führt.

[– son] sind Plosive und Frikative (die OBSTRUENTEN), die typischerweise in Stimmhaft-stimmlos-

Paaren vorkommen. Affrikaten wie /pf, ts/ kann man auch hierzu rechnen.

[+ son] sind Nasale, Laterale, Vibranten (dorsales /ʀ/ oder koronales /r/), ggf. (wenn man mit

ihnen arbeitet) Approximanten (j, ʋ/w) und die Vokale

[stimmhaft], [sth]: mit Stimmbandvibration. [+ sth] sind in der Regel Vokale, Approximanten,

Nasale, Laterale und Vibranten sowie die stimmhaften Obstruenten /b, d, g, v, z/ (/j/?).

[kontinuierlich], [kont]: [– kont] liegt vor, wenn ein Verschluss in der Passage oberhalb der Glot-

tis und bis einschließlich der Lippen vorliegt. Das kommt vor bei Plosiven, Nasalen (!) und Late-

ralen. [+ kont] sind Laute ohne (vollständige) Verschlüsse: Frikative, Vibranten ([r, R]), Approxi-

manten (Gleitlaute) und Vokale

[nasal], [nas]: Velum (Gaumensegel) gesenkt bzw. nicht gesenkt (Nasenraum verschlossen).

[+ nas]: im Dt. /m, n, ŋ/; im Frz. z. B. auch /ã, õ/

[– nas]: alle Oralvokale mit nicht gesenktem Velum; Plosive, Frikative, Laterale (man be-

trachte die Opposition /n/ und /l/, beide stimmhaft und alveolar)

Das traditionelle Merkmal [plosiv] ([plos]) ist in der hier verwendeten Merkmalsklassifikation

äquivalent mit [– son, – kont] und betrifft die Lautmenge /b, p, t, d, g, k/.

Das traditionelle Merkmal [frikativ] ([frik/fric]) ist äquivalent mit [– son, + kont]): /f, v, s, z/ etc.

[sibilantisch], [sibil]

[+ sibil] sind Laute mit intensivem hochfrequentem Geräuschanteil, im Dt. /s, z, ʃ, ʒ/

[labial], [lab]: mit (+)/ohne (–) Lippenbeteiligung

[+ lab] sind /f, v, p, b, m/ und Vokale mit Lippenrundung wie /u, o/ und deren Umlaute.

Für die Vokale speziell können wir [+ lab] oder [+ rund] schreiben (betrifft /ʏ, y, ʊ, u, ø, œ, ɔ, o/.

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[koronal], [kor]: [+ kor] sind apikale (Zungenspitzenlaute) und laminale (Zungenblatt-

/Zungenkranzlaute) Laute wie /t, d, s, z, n, l, r, ʃ, ʒ/

[anterior], [ant]: [+ ant] sind alveolare (/t, d, s, z, n/) und dentale (engl. „th“, also /, /) Laute,

also im weiteren Sinne „Schneidezahn- oder Zahndamm-Laute“. [– ant] sind z. B. die postal-

veolaren (am vorderen harten Gaumen gebildeten) Laute /ʃ, ʒ/. Das Merkmal ist im Dt. ei-

ne Möglichkeit, um die Sibilanten (fett) zu differenzieren.

[dorsal]: [+ dors] werden mit dem Zungenrücken artikuliert wie /ç, ʝ, (j,) x, k, g, ŋ, ʀ, ʁ/

[hinten], [hint]: Das Merkmal wird zur Subklassifikation der Dorsalen verwendet: [+ hint] (Dor-

sum/Zungenrücken zurückgezogen) sind velare und uvulare Konsonanten wie /k, g, x, ŋ, ʀ/

und die Vokale /a, o, u/, wobei nur /o/ und /u/ unumstritten zugeordnet werden; [- hint]

(Dorsum nach vorne geschoben) sind die palatalen /ç, ʝ/. – Bei den Vokalen trennt das

Merkmal die Vokalen mit deutlichem Zurückziehen der Zunge wie /u, o, .../ von den übri-

gen. Im Deutschen korrespondiert die Verteilung [hinten] mit der Kombinatorik der Allo-

phone von /ç/: [+hint] mit [x] wie in [ax], [–hint] mit [ç] wie in [ç]!

[hoch]: Bei den Vokalen werden im Deutschen die hohen (Zunge angehoben) /i, ɪ, y, u, .../ von

allen übrigen (/e, o, .../) unterschieden.

Aufgaben:

A 3) Welche Phoneme mit dem Merkmal [alveolar] bzw. [koronal] (ohne Postalveolare) gibt es

im Deutschen? Beschreiben Sie die Laute auch nach Artikulationsart und Stimmhaftigkeit!

A 4) Welchen IPA-Lauten (Zeichen angeben) entsprechen folgende Merkmalsmatrizen?

(a) [labial, frikativ, + sth] (b) [vorn, halbgeschlossen, + rund, – gespannt]

(c) [hinten, geschlossen, +rund, +gesp] (d) [glottal, frikativ, + sth]

7 Vokal- und Konsonantenphoneme des Deutschen

(a) Konsonanten verbinden sich mit der komplementären Klasse der Vokale, wobei sie einzel-

sprachlichen Abfolgerestriktionen unterliegen, z. B. dt. plV (platt), klV (klein), *tlV (*tl…). Im

Ansatzrohr erfolgen vor allem Enge- oder Verschlussbildungen. Friktionsengen entsprechen

auditiv Geräuschen, Verschlüsse Schlaggeräuschen. Stimmhafte Sonorkonsonanten weisen kei-

ne Geräuschanteile nach Art der Frikative auf. So bilden beispielsweise bei /m/ beide Lippen

einen oralen Verschluss, aber dem Luftstrom ist bei vibrierenden Stimmbändern eine freie Pas-

sage durch den Nasenraum möglich, da das Velum gesenkt ist. Eine Beschreibung von Konso-

nanten beinhaltet traditionell: (a) Stimmhaftigkeit, (b) Artikulationsort (Artikulatoren) und (c)

Artikulationsart. Detaillierter und z. B. für Regelformulierungen vorzuziehen sind modernere

Merkmalsbeschreibungen, auch wenn sie etwas aufwändiger erscheinen.

(20) /b/ traditionell: stimmhafter bilabialer Plosiv [+sth, bilab, plos]

moderner: [+kons, –son, +sth, LAB, -kont, –nas]23

23

Ortsmerkmale wie LAB(IAL), KOR(ONAL), DORS(AL) werden teils groß, teils klein geschrieben.

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/m/ stimmhafter bilabialer Nasal

moderner: [+kons, +son, +sth, LAB, -kont, +nas]

/k/ stimmloser (dorso-)velarer Plosiv

moderner: [+kons, –son, –sth, DORSAL, –kont, –nas]

/s/ stimmloser (koronal-)alveolarer Frikativ

moderner: [+kons, –son, –sth, KOR, +ant, +kont, –nas]

/ʃ/ stimmloser (koronal-)postalveolarer Frikativ

[+kons, –son, –sth, KOR, –ant, +kont, –nas]

(b) Vokale weisen Stimmton auf, der Phonationsstrom versetzt die Stimmbänder in Vibrationen

und passiert das offene (engelose) Ansatzrohr. Traditionell differenziert man die Vokale mittels

(a) horizontaler Zungenbewegung, (b) mittels vertikaler Zungenbewegung oder relativer Kiefer-

öffnung, (c) Rundung und (d) Länge oder Gespanntheit (vgl. Mie[i:]te und Mi[ɪ]tte). Wieder se-

hen Sie eine traditionelle und eine modernere Merkmalsbeschreibung:

(21) /i:/ vorderer hoher (geschlossener) ungerundeter gespannter Langvokal

moderner: [–kons, +son, –hint, –lab/–rund, +hoch, +gesp]

/œ/ nicht-hinterer halbhoher (halbgeschlossener) gerundeter ungespannter Kurzvokal

moderner: [–kons, +son, –hint, +lab/+rund, –hoch, –tief, –gesp]

oder: [–kons, +son, –hint, +lab/+rund, halbgeschlossen,24

–gesp]

/a/ hinterer tiefer (offener) ungerundeter ungespannter Kurzvokal

moderner: [–kons, +son, +hint, –lab/–rund, +tief, –gesp]

(c) GLEITLAUTE/APPROXIMANTEN wie /j/ (engl. yes, yet, wohl auch in Uni[j]on) oder // (engl. water,

well) weisen eine sehr geringe Engebildung auf und stehen artikulatorisch den Vokalen nahe

(manche nennen sie HALBVOKALE, z. B. auch in mhd. lewe). Im Deutschen sind /ja/ oder /mai/,

/maj/, eventuell auch /au/, /a/ (Haus) diskutierte Kandidaten. Es ist umstritten, ob man für das

Deutsche Approximanten ansetzen soll. Andere nehmen an, es handle sich um die Vokale /i/

bzw. /u/, nur dass diese nicht im Silbennukleus stünden, vgl. etwa national. In anderen Fällen

wie ja ist ein Frikativ /ʝ/ diskutabel.

7.1 Die Vokale des Deutschen

In (15) sehen Sie zur Groborientierung ein traditionelles Vokalsystem nach Hall (2000: 68):

(22)

24

Es besteht die Diskussion, ob man phonologische Merkmale strikt binär oder binär und, wo nötig (z. B. LAB,

ALV, DORS, GLOT) nicht-binär notieren soll.

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- Länge: Gespannte Vokale werden unter Akzent lang:25

(23) /muzik/ > [mu.zi:k], [mu:.zi.k], [mu.zi.kant]; /kɑnu/ > [kɑ:.nu], [kɑ. nu:.tə]

- Im heutigen Deutsch ist mit folgender Verteilung (un)gespannter Vokale zu rechnen: In offe-

nen Silben ist ein Vokal in nativen Wörtern und in Lehnwörtern in der Regel gespannt! Ist diese

Silbe akzentuiert, wird er als Langvokal realisiert, sonst (gespannt-)kurz. In Fremdwörtern liegt

in offenen Silben, die nicht akzentuiert sind, in der Regel ein gespannt-kurzer Vokal vor:

A[ɑ].na[ɑ].kon.da (und nicht „A[a]nnakonda“) ele[e].26gant, [bi.ki:ni]). In nativen Wörtern sind

offene Schwa-Silben häufig; diese sind jedoch nie akzentuiert (Hase, sagen).

- Eine Silbe mit einem ungespannten Monophthong muss im heutigen Deutsch geschlossen sein

wie in Wäl.der oder Mil.de. Folgt nur ein intervokalischer Konsonant, wird dieser zum Gelenk-

konsonanten wie in Wel.le, Mit.te (vs. Mie[+gesp].te), Rog.gen.

- Lässt sich im Wortparadigma eine geschlossene Silbe in Beziehung zu einer offenen Langvokal-

silbe setzen, wird der Vokal lang realisiert: [zɑ:kt] wegen [zɑ:.gən], [fu:s] wegen [fy:.se].

- Ist der Endrand mit CC(C) besetzt, ohne dass in einer anderen Paradigmenform eine offene

Silbe vorkommt, so ist der Vokal kurz: Land (Län.der), bunt (bun.te).

- Die seltenen Ausnahmen von den genannten Regularitäten gehen öfters auf eine frühere

Mehrsilbigkeit zurück wie bei Mond (mhd. mōne, vermischt mit mhd. mānōt ‚Monat‘), Kre:bs <

mhd. krebes, Ja:gd < jaget.

- Folgt nur ein Konsonant im Stammmorphem, so wird die Länge/Kürze öfters durch entspre-

chende Graphien gekennzeichnet: Kahn, kann, Beet, Bett; vgl. auch Mahne! vs. (dem) Manne.

Das Diphthongproblem: mono- oder bisegmental?

Zu unterscheiden sind zunächst silbische und unsilbische Vokale:

(24) [.] (von /e.əʀ/) versus [] (von /eʀ/)

eher er

Deutsche Diphthonge zeigen eine erhebliche Variationsbreite (König 1989): <au> als [, , ,

aw, , ] oder <ei> als [, , , , aj, ] oder <eu> als [, , , oj, oʏ, ]. Lassen Sie sich

nicht beirren und folgen Sie einem Gebrauch aus einem etablierten Werk!

Diphthonge sind Vokalkombinationen, die innerhalb einer Silbe auftreten, vgl. Laib (tautosylla-

bisch) versus na.iv (heterosyllabische Vokale). Man unterscheidet (i) nach der Kieferbewegung

öffnende (z. B. bair. liab) und schließende (z. B. nhd. Laib) sowie (ii) fallende und steigende

Diphthonge nach dem Energie- bzw- Lautheitsverlauf (der „Druckstärke“).

25

Über die Frage, ob Länge, Gespanntheit oder Zentralisierung im Vokalbereich bedeutungsunterscheidend

wirkt, vgl. /kim/ > [ki:.m] Kieme und /k/ > [k] Kimme, wird schon länger diskutiert. Nach meiner Be-

obachtung folgt man derzeit tendenziell dem Merkmal [ gespannt], vgl. etwa Duden-Grammatik (2005). Für

praktische Zwecke (Deutsch als Fremdsprache) kann man mit [ lang] arbeiten. – Die o-Laute in (er) log ([o:],

gespannt, lang), Lokomotive ([o], gespannt, kurz) und Lok ([Ɔ], ungespannt, kurz) sind nicht die gleichen! 26

Realisationsphonologisch kommen Aussprachen wie [e.lɛ.gant] (Ersetzung durch ähnlichen ungespannten

nativen Vokal) oder [e.lə.gant] vor! Solches „laxing“ bis hin zu Schwa kommt nicht selten vor, vgl. Aspi[i]rin >

Aspi[ɪ]rin > Aspi[ə]rin.

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(25) fallend: Haus [hs] schließender Falldiphthong

Schnur [nu:] sekundärer öffnender Falldiphthong, vgl. [ny:.ʀ]

steigend: Nation [ntso:n] öffnender Steigdiphthong (nicht natives Wort!)

Die sich infolge einer /r/-Vokalisierung ergebenden öffnenden Diphthonge kann man (nicht

ganz unumstritten) als „sekundäre Diphthonge“ ansehen.

Zur //-Variation: Das Zungenspitzen-r gilt heute als regionale Realisierung oder als Bühnenlau-

tung (Eisenberg 2004: 90). Das anlautende Zäpfchen-r kann als Vibrant [] oder als Frikativ [ʁ]

realisiert werden, doch weil sich das deutsche „r“ tendenziell wie ein Sonorant verhält (wegen

[vak] etc.), liegt es nahe, // als Phonem anzusetzen.

(26) [// e:.], [k// e:.] Regel, kregel Variation im Anfangsrand

(27) Meer [m] Meere [me:./] Endrand vs. Anfangsrand

Lehrer [:.] Lehrerin [le:..]

(28) irren [, , , ] Silbengelenk

(29) [, ; , ; , ] ver-, zer-, er- Verbpräfixe mit Vollvokal

(30) [bə-, gə-] be-(legen), ge-(legen) Verbpräfixe mit Reduktionsvokal

(31) [.], [] klettere, kletterst <er> hetero- bzw. tautosyllabisch

(32) /t/ > [tm] > [u:] Postvokalisch kann // vokalisiert

// > [] > [] oder gar elidiert werden

Im Anfangsrand wird /r/ teils als Vibrant ([ʀ, r]), teils frikativisch ([ʁ]) realisiert. Postvokalisch im

Endrand wird /r/ überwiegend vokalisiert, vor allem nach Langvokal (/bir/ > []). Nach Lang-

vokal kann das /r/ getilgt werden, vgl. [..] vs. [..]; nach langem [] wird es ge-

tilgt, wobei das /a/ „sehr lang“ wird. – Nach Kurzvokal ist die Variationsbreite etwas größer,

vgl. wirr /vɪʀ/ --> [vɪʀ], [v] oder [v].

Aufgabe A 5: Beschreiben Sie den Reim in folgendem Gedichtausschnitt:

(33) … wenn dein Fahrrad vorne quakt, hast du᾽s auf ᾽nem Frosch geparkt!

Monosegmentale Diphthongwertung

1. Wegen der allophonischen Streubreite der Diphthong-Realisierungen lassen sich (vor allem

zweite) Diphthongteile nicht ohne weiteres Phonemen zuordnen (dazu: Becker 1998: 138).

2. Der Wortausgang <-ig>-/g/ in einig, lustig, König etc. wird standarddeutsch [] ausgespro-

chen, <Zweig> allerdings nicht *[tsva ], sondern *[tsva k], ebenso Teig /tag/ und [tak], *[ta]

(vgl. Teich). Unterbleibt die g-Spirantisierung, weil das zweite Segment nicht-silbisch (nicht

nuklear) ist?

Bisegmentale Diphthongwertung

1. Diphthongsegmente wirken in Minimalpaaren wie Greis, Graus, Eile, Eule und läuten, leiten,

lauten bedeutungsunterscheidend!

2. Versprecher wie Und dass du dann um droi – drei dort bist! (das o wird antizipiert) deuten auf

zwei Segmente hin.

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Die e-Laute sind nicht immer leicht einzuordnen/zu erfassen. Es geht um folgende Laute:

(34) e-Laute

nativ/fremd beides v. a. fremd beides v. a. nativ beides

/e:/ /e/ /:/ // //

Leitformen und Beeren Genetik Bären Bett beliebt

Graphien wehren Begonie währen lässt leben

leben elegant Welt Beruf

Requiem Dekade Trochäus Menthol Dekade

Thema Trophäe Trophäe

er-, ver-, zer- beladen, geladen (Präfixe!)

Zu er-, ver- etc. vergleiche Standard [ɛɐ.le:.gn], [fɛɐ.le:.gn], [tsɛɐ.le:.gn], umgangssprachlich

wohl auch reduziert zu [ɐ.le:.gn], [tsɐ.le:.gn]. Evtl. größere Variationsbreite schon im Standard!

Zwischen dem standarddeutschen und dem „norddeutschen“ Lautsystem besteht der Unter-

schied, dass in letzterem kein Kontrast /e:/ versus /æ:/ wie in Beeren [] vs. Bären

[æ] besteht. Es heißt hier (und z. T. auch in der Umgangssprache) beide Male [].

7.2 Konsonanten

Bei Hall (2000: 62) sieht das (traditionell erfasste) Konsonantensystem wie folgt aus (wobei die

Paare erst den stimmlosen, dann den stimmhaften Laut enthalten):

(35)

Affrikaten: mono- oder bisegmental?

Eine Affrikate ist eine homorgane Plosiv-Frikativ-Sequenz, bei der der Plosiv in einen Frikativ

übergeht. Dabei muss mindestens der aktive Artikulator gemeinsam sein, etwa die Lippe(n),

die/der Zungenspitze/-kranz oder der Zungenrücken. Was wird als Affrikate gewertet?

(36) unumstritten: [pf], [ts] umstritten, da entlehnt: [] Dschungel

teilweise umstritten: [t] tschilpen Deutsch in der Schweiz: [kx] [kxɑˈri:bɪkx]

Zweitens: Wie sind Affrikaten zu repräsentieren (mono-, bisegmental)?

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monosegmental:

1. Wenn CCVCC das maximale Silbenschema des Deutschen darstellte, dann verletzt ein Wort

wie Pflug wegen CCC = /pfl/ dieses Schema. Als Affrikate wäre /pf/ mit einem C der Skelett-

schicht verbunden, das /l/ mit der zweiten C-Position, so dass CCVCC befolgt würde.

(37) σ Silbenschicht

C C V C C CV-/Skelettschicht

/p f l u: g/ Segmentschicht

2. Wenn K1+K2 im AR möglich ist, ist spiegelbildliches K2+K1 im ER möglich, vgl. Kran, Werk;

Kloß, Schalk; aber: Pfote, *Tofp (es geht nur: Topf K1+K2).

3. Im Spracherwerb ersetzen manche Kinder Affrikaten durch Plosiv oder Frikativ, aber nie

durch Lautkombinationen.

bisegmental:

1. Wenn es die Einzelsegmente der Affrikaten, also z.B. /p/ und /f/, ohnehin im Phonemsystem

gibt, warum sollte man das System um zusätzliche Phoneme erweitern?

2. Minimalpaare wie Hopfen und hopsen?

3. Versprecher wie Afpel (Apfel) oder Nets (statt Nest) deuten auf zwei Phoneme hin.

//: Sind [] und [x] einem Phonem (Allophonie) oder zwei Phonemen zuzuordnen? Die Mini-

malpaare vom Typ Kuchen – Kuhchen oder tauchen – Tauchen werden zurecht kritisiert, weil

Simplizia mit morphologisch komplexen Formen (-chen, //) verglichen werden. Die Mor-

phemgrenze verhindert die kombinatorische Anpassung des Frikativs! Die systematische Varia-

tion bei Umlautung etwa in /bu/: [bu:x], [by:.] spricht ebenfalls für eine Allophonie.

Die komplementäre Distribution von [] und [x] stellt sich so dar (die Morphemklammern {…}

sollen klarstellen, dass sich keine Morphemgrenze zwischen Vokal und // befinden darf):

(38) Regel der //-Velarisierung: // [x] / { [+ voc, + hinten] __ }

Das heißt: Das Phonem wird // wird als Allophon [] realisiert, außer nach hinterem

Vokal, dann wird das Allophon [x] realisiert!

Die s-Laute

Die Angaben beschreiben die Verhältnisse in der Standardlautung!

C C V Beispiele

(i) /z/-<s> – + Sonne, Ga.se

(iia) /ʃ/-<sch> +/– + Schluss/Schuss

/ʃ/-<s> p, t + Stiel, Spiel

(iib) /s/-<s> + + Skelett, Slalom (Fremdwörter!)

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Silbe 1 Anfangsrand Silbe 2 (iii)

(iii) i r r e l e v a n t /V: od. VV/ . /z/-<s> Mu:.se, rei.sen

i r r e l e v a n t /V: od. VV/ . /s/-<ß> Mu:.ße, rei.ßen

(iv) Bei Silbengelenk nach Kurzvokal: /s/-<ss> Gasse (vgl. nach Langvokal: Gase)

(i) Im einfachen Anfangsrand liegt in nativen Wörtern /z/, [z] vor (Graphem: <s>)! Beispiele:

s[z]agen, satt, Sinn, sicher, Sonne, suchen. In assimilierten Lehnwörtern kann die Aussprache

zwischen ursprünglich [s] und assimiliert [z] schwanken, vgl. Sex (engl. /s/, dt. [z] oder [s]).

(ii) Folgt dem Sibilant ein weiterer Konsonant ([+sibil]CVX), wird nie stimmhaft gesprochen,

sondern [s] wie in Skelett, Sklave, Skonto, Slalom, Smaragd, Sphinx oder [ʃ] Schlange. Liegen die

Kombinationen <sp> und <st> vor, dann liegt in der Regel /ʃ/ vor. Ab und zu schwankt die Aus-

sprache wie bei Sticker ‚Anstecker‘ mit [s] und [ʃ]. Bei Sticker ‚jmd., der stickt‘ liegt /ʃ/ vor!

Das Phonem // wird in nativen Wörtern im Anfangs- und im Endrand meist mit <sch> ver-

schriftet: Schal, schnell, Schwein, Schuh, Pschorr (Bierfirma), rasch, falsch; nur vor den Plosiven

/p, t/ (Spiel, Stiel) wird, möglicherweise, um den Anfangsrand der Schreibsilbe nicht zu lang

werden zu lassen (*<schtrumpf>, <strumpf>), einfaches <s> geschrieben.

(iii) Im Endrand wird ebenfalls <s> für /z/ geschrieben, aber wegen der Auslautverhärtung stets

[s] artikuliert. Das Phonem kommt in verwandten mehrsilbigen Formen zum Vorschein, wenn

der Laut in den Anfangsrand wandert: Gas[s], aber Ga.s/z/e! Wenn wir z. B. Fuß/Füße/*Fus und

Gas/Gase/*Gaß vergleichen, so wissen wir bei Gas, dass /z/ zugrunde liegt, da nach Langvokal

und Diphthong <ß> für /s/ (wie bei /fu:s/) geschrieben wird!

Im Wort kann man am Schreibungsunterschied rei.s/z/en vs. rei.ß/s/en die Phoneme /s/ und

/z/ unterscheiden, vgl. auch kreise [z], kreiße [s] (kreißen ‚(veraltend) gebären‘), kreische []. (iv) Das Phonem /s/ kommt im Standarddeutschen am Wortanfang im Silbenanfangsrand vor

Vokal nicht vor, denn dies ist die Domäne von /z/; vor weiterem C wie in Skala, Skelett, Slalom,

Slawe, Sphinx kommt es in Lehnwörtern vor. Postvokalisch (bzw. intervokalisch) kommt /s/ im

Silbengelenk vor und wird dann <ss> verschriftet wie in Flüsse, nasse, was gemäß morphologi-

scher Schreibung auch in den Einsilbler übernommen wird (Fluss, nass), obwohl hier kein Sil-

bengelenk vorliegt. In nichterster Wortsilbe wie in Füße kann /s/ im Silbenanfangsrand vor-

kommen. Post- bzw. intervokalisch unterscheiden wir graphematisch /s/-<ß> und /z/-<s> wie in

reisen, reißen; Gase (vgl. Gasse) und Füße (vgl. Küsse).

Bei Funktionswörtern und bei Lehnwörtern wird im Silbenendrand <s> geschrieben: falls/s/,

indes (aber: indessen), des, bis bzw. Ananas, Bus, Zirkus.

Aufgabe A 6: Beschreiben und kommentieren Sie die s-Lautungen und Schreibungen von Blase,

blasse; Muse, Muße; Hindernis, Hindernisse; Bus, Boss; Gase, Gaze ‚Gewebe‘.

[]: Das Vorkommen ist vorhersagbar, [] tritt wortinitial im AR vor Vokal sowie intervokalisch

vor akzentuiertem Vokal auf. Der Glottisplosiv füllt (bestimmte) leere Anfangsränder, vgl.

[i:.gl], [i.de:], [te.'ɑ:.tɐ]. Er tritt wie der Glottisfrikativ /h/ nicht im Endrand auf.

Regel der []-Epenthese: 0 [] / ω[__V Wortanfang vor Vokal ([]Eklat) oder

(39) V _ V intervokalisch (The[]'ater)

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In Worten (gilt für beide Fallgruppen): Besetze eine akzentuierte nackte Silbe (= eine akzentu-

ierte Silbe ohne Anfangsrand) mit einem Glottisplosiv!

Und noch etwas: [] wäre der einzige deutsche Plosiv, für den es keine PGK-Verschriftung gibt!

Aufgaben

A 7) Die folgenden Beispiele (Hall 2000) sind Wörter aus dem Südkongo:

[zenga] [kunezulu] [lolonʒi] [nzwetu] [kesoka] [aʒimola]

[ʒima] [nkoʃi] [kasu] [zevo]

Beschreiben Sie, in welchen Umgebungen die Frikative [s], [z], [ʃ] und [ʒ] hier auftreten! Deutet

das Verhalten auf Phonem- oder auf Allophonstatus hin?

A 8) Wie sind im Griechischen [ç] und [x] verteilt? Spricht das eher für zwei Phoneme oder eher

für Allophonie (und welches Phonem läge dann zugrunde)?

[xanɔ] verlieren [çinɔ] gießen [katɛxɔ] besitzen

[xali] Teppich [ɔçi] nein [xtipo] schlagen

[xufta] Handvoll [xrima] Geld [ixa] hatte

8 Phonologische Prozesse

8.1 TILGUNG

- am Anfang: PROKOPE (altgr. episkopos > Bischof)

- im Inneren: SYNKOPE (z. B. dun.kel > dunkler)27

- am Ende: APOKOPE (ugs. ich ha.be > ich hab)

Z. B. Vokaltilgungen: Schwa-Synkope [le:.bən] > [le:.bn], Hafen oder lat. tabula > frz. table,

Schwa-Apokope (Auge > Aug, böse > bös)

(40) Schwa-Synkope: (a) /ə/ → Ø / [+kons] __ [+cons, +son]

(b) /ə/ → Ø / [-son] __ [+cons, +son]

Das heißt (Fassung (b)): Du kannst Schwa in einer Silbe tilgen, wenn der Endrand mit einem

Sonorkonsonanten (Sonoranten) und der Anfangsrand mit einem Obstruenten besetzt ist!

(a) und (b) sind Annäherungen an eine Regel, wobei (a) ungenau ist, denn was geschieht, wenn

im Anfangsrand und im Endrand Sonorkonsonanten auftreten wie in Rahmen (das ist bei

Schwa-Tilgung interessant – ob da etwas wie Rahm herauskommt?), dunklem (bleibt Schwa

[dʊŋ.kləm] oder [dʊŋ.klm] mit [l] als Nukleus)? (b) beschreibt zumindest musterhaft ablaufen-

de Tilgungsprozesse, bei denen links nur Obstruenten (haben, Gabel, Tafel, Haken, Besen) ste-

hen und rechts Sonorkonsonanten, die dann vom Endrand in die Nukleusposition wechseln.

27

Will man Synkope und Apokope fachleutisch aussprechen, so betone man die Antepänultima und nicht wie

bei Synkope (Musik, Rhythmik) die Pänultima.

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8.2 EPENTHESE (trad. z. T. SPROßVOKAL, SPROßKONSONANT)]

- Anfang = PROTHESE wie in lat. scola > span. escuela, lat. spiritus > frz. esprit

- Im Inneren (und Oberbegriff): EPENTHESE (übrigens > übrigen[t]s, Senf > [zɛmf] > [zɛm[p]f])

- Ende: EPITHESE (nieman > niemand, mhd. ackes > Axt, sec > Sekt)

Sproßvokale: ahd. burg > burug, durh > duruh, senwa > senewa, Sehne;

Sproßkonsonanten: eigen+lich > eigentlich, hoffen+lich > hoffentlich

(41) Epentheseregel im Ansatz: Ø → […] / x __ y

Ersetze „nix“ („Ø“) durch […] in der Umgebung zwischen x und y! (Stilistisch besser: Füge

einen Laut mit der Charakteristik […] zwischen x und y ein.)

Aufgabe A 9: Die folgenden Daten zeigen einen fakultativen (umgangssprachlichen) phonologi-

schen Prozess. Wie beschreiben Sie diesen?

(42) Daten: Lexem SG (evtl. GEN) Epenthese PL

[ʀamʃ] [ʀampʃ] [ʀam.ʃə]

[gans] [gants] [gɛn.zə]

[fɛʀs] -----28

[fɛʀ.zə]

[vams] [vamps] [vɛm.zɐ]

[hals] [halts] [hɛl.zə]

[falʃ] [faltʃ] [fal.ʃə]

[bal.kɔŋ+s] [bal.kɔŋks] [bal.kɔŋə]

[mɛnʃ] [mɛntʃ] [mɛn.ʃən]

[maʀʃ] ----- [mɛʀ.ʃə]

[zɪms] [zɪmps] [zɪm.sə]29

8.3 ASSIMILATIONen bewirken, dass zwei Laute (der auslösende Laut wird TRIGGER, der betroffene

TARGET genannt) ähnlicher werden; im Grenzfall werden Trigger und Ziellaut identisch.

- Betroffene Eigenschaft: z. B. Ortsassimilation in fümf ([labial]) oder die Stimmhaftigkeit bei der

Pluralbildung im Englischen (/kæt/ + /z/-PL > /kæts/ mit [- stimmhaft])

- Richtung: progressiv (geben > gebn > gebm) vs. regressiv (fünf > fümf)

- Grad: total (reg. Günter > Günner) vs. partiell (fünf > fümf)

- Distanz: Kontakt- (fünf > fümf) vs. Fernassimilation (ahd. lamb > lambir > lembir)

Fallbeschreibung: Wenn wir fünf und fümf vergleichen, dann hat eine regressive (Trigger rechts

wirkt nach links) partielle Kontakt-Ortsassimilation stattgefunden.

28

Es wird nicht etwas wie *[fɛʀts] artikuliert. 29

Es könnte auch [zɪm.zə] lauten. Ich beziehe mich darauf, dass der Sibilant wohl auf germ. /t/, per 2. Lautver-

schiebung zu /s/, beruht, z. B. DWDS online unter Sims: ahd. simiʒ (ʒ!) und mhd. gesimeʒe (Gesims). Doch die

tatsächliche Aussprache heutzutage wäre empirisch zu ermitteln.

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Beispiele: uncool [ˈʔʊn.+ku:l] → [ˈʔʊŋ.ku:l], wobei der alveolare Nasal /n/ trotz Morphemgren-

ze (<+>) einer durch den velaren Plosiv /k/ ausgelösten regressiven partiellen Kontaktassimila-

tion unterliegt, die den Ort betrifft ([nasal] und [stimmhaft] sind nicht betroffen).

Trigger: /k/ (verschriftet <c>); Target: /n/

Eigenschaft: Ort ([alveolar] > [velar] Richtung: regressiv; Grad: partiell; Distanz: Kontakt

Gelegentlich kommt es auch zur Assimilation an den folgenden Labialplosiv, etwa in un[n >

m]besiegt, un[n > m]persönlich.

ineffektiv, impotent, imbezil, immateriell, illegal, irregulär: Das Negationspräfix {in-} weist Allo-

morphie auf. Der erste Stammkonsonant triggert die regressive Assimilation. Die von velaren

Plosiven getriggerte Assimilation ist umgangssprachlich: in[n > ŋ]kompetent, in[n > ŋ]gressiv,

die Standardlautung ist hier [n] (vgl. z. B. DWDS online: inkompetent).

Umlaut: ist ein vom Ahd. ins Mhd. reichender Assimilationsprozess, der heute in der Morpholo-

gie als Mittel (Mutation: Umlaut) wirken kann: Tochter > Töchter oder beim K II: nahm+st >

nähm+e+st. Der Umlaut kommt auch als Begleitumstand vor: Mann > Männ+chen (Mittel: Suf-

figierung). Beim PRIMÄRUMLAUT bewirkten /i/ oder /j/ (das sind [vordere] Segmente) in der Folge-

silbe eine FRONTIERUNG (hier mit Hebung) des zugrunde liegenden /a/ zu /ɛ/. Vermutlich kam es

bereits in ahd. Zeit auch zum RESTUMLAUT30

(/o/ /ø/, /u/ /y/), doch verfestigte sich dieser

erst in mhd. Zeit (nachvollziehbar an den Verschriftlichungen, denn verschriftet werden primär

Phoneme, keine Allophone). – Beispiele: ahd. lambir > lembir (Lämmer) (Primärumlaut); wahsit

> wächst (SEKUNDÄRUMLAUT); vorahd. satjan > (altsächs. settian >) ahd. sezzen > setzen.

Aufgaben A 10 und A 11:

(43) Luganda (Bantusprache): Wann wird das Morphem (Präfix, 1SG) wie realisiert (Regel)?

[mbala] ‚ich zähle‘ [ɲɟagala] ‚ich mag‘

[ɲɲumja] ‚ich unterhalte mich‘ [ndaga] ‚ich zeige‘

[ɲcoppa] ‚ich werde mittellos‘ [nsika ] ‚ich ziehe‘

[ŋkola] ‚ich arbeite‘ [ŋgula] ‚ich kaufe‘

[nneɲa] ‚ich tadle‘ [mpa] ‚ich gebe‘

[ntema] ‚ich schneide‘ Erläuterungen: [c] = stl. palataler Plosiv, [ɟ] = sth. palataler Plosiv, [ɲ] = palataler Nasal; [ŋ] =

velarer Nasal

30

Die Terminologie ist hier unterschiedlich. Traditionell werden unter SEKUNDÄRUMLAUT sowohl der später nach-

geholte, zu den Zeiten von gasti > gesti etc. jedoch gehemmte Umlaut /a/ > /e/ (mahtig > mehtig zunächst

wegen /x/ verhindert oder faterlih > väterlich zunächst wegen übernächster Silbe verhindert) als auch <o> >

<ö> und <u> > <ü> zusammengefasst. Manche, auch ich, differenzieren in Primär- (lembir, gesti), Sekundär-

(mähtig) und Restumlaut (ö, ü, äu).

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(44) (A 11) Substantivplural Englisch: Wie sind die Realisations- bzw. Allomorphieregeln?

[hæts] hats [feɪsɪz] faces [bi:z] bees

[weɪvz] waves [lɪps] lips [dɪʃɪz] dishes

[fænz] fans [sneɪks] snakes [bɹɪdʒɪz] bridges

[mɪs] myths [feɪzɪz] phases [si:dz] seeds

Progressive Nasalassimilation: Bei /n/ z. B. in /kɪpən/ kippen kann es nach, erstens, einer

Schwa-Tilgung und, zweitens, einer progressiven Kontaktassimilation zu der Aussprache [m]

vorkommen, desgleichen [ɔfm] offen, [ʀɔbm] robben bzw. [] schicken, [kɔxŋ] kochen,

[zɑgŋ] sagen sehen. Eine Regel hierfür sieht etwa so aus:

(45) [+nas, kor] → [α Ort] / [-son, α Ort] __

Passe das Ortsmerkmal des koronalen Nasals (= /n/) im Einklang mit dem Ortsmerkmal des fol-

genden nicht-sonoren Konsonanten an! Dabei ist [α Ort] eine formale abkürzende Schreibwei-

se für das anzugleichende Ortsmerkmal.

8.4 DISSIMILATIONen (lat. dissimilis ‚unähnlich, verschieden‘) vergrößern Unterschiede bei ähnli-

chen Lauten bzw. Lauten mit gleichen Merkmalen. Vgl. z. B. lat. arbor ‚Baum‘ und span. arbol,

wobei der zweite orale Sonorant /r/ ([vibrant]) zu /l/ ([lateral]) ferndissimiliert wird.

Eine dissimilatorische Allomorphie des Morphems {1SG.PRÄS} zeigt die Sprache (Ki-)Rundi31

(Burundi, Afrika), bei der das Allomorph tu- nur vor Stämme gesetzt wird, die mit stimmhaften

Konsonanten anlauten, während das Allomorph du- nur vor solche gesetzt wird, die stimmlos

anlauten, vgl. [va] ‚stammen aus‘ > [tuva] ‚ich stamme aus‘ bzw. [te:ka] ‚kochen‘ > [dute:ka] ‚ich

koche‘. Der erste Konsonant des Präfixes und der erste Konsonant des Verbstamms müssen

hinsichtlich der Stimmhaftigkeit unterschiedlich markiert sein!

Aufgaben

A 12) Im Ungarischen gibt es ein Suffix mit der Bedeutung ‚über‘. Beschreiben Sie anhand der

Daten, wie das Suffix in welcher Umgebung realisiert wird und welcher phonologische Prozess

hier seine Wirkung entfaltet!

[te:rke:prø:l] Landkarte [lɑ:ɲro:l] Mädchen

[u:rro:l] Herr [føldrø:l] Land

[yjrø:l] Geschäft [fogro:l] Zahn

[si:nrø:l] Farbe

A 13) Erläutern Sie den engl. Versprecher (Umschrift, Silbenposition, betroffene Merkmale)

pink slip → pick slimp!

31

Die Sprache heißt Rundi, ki- ist ein sog. (bantusprachentypisches) Klassenpräfix, das wir auch bei (Ki-)Swahili

bzw. (Ki-)Suaheli finden.

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9 Phonotaktik

Die PHONOTAKTIK befasst sich mit der Kombinatorik phonologischer Segmente. Generell steuert

die SONORITÄTSHIERARCHIE die Verteilung der Segmente über die Silbe (vgl. Eisenberg Kap. 4.2.).

Als Korrelate von SONORITÄT gelten: Schallfülle, Lautheit, Stimmhaftigkeit, Öffnungsgrad des Kie-

fers, Grad der Hindernisbildung (Enge/Weite der Passage).

Sonorität zunehmend >>> Maximum Sonorität abnehmend >>>

Plosive Frikative Nasale Liquide Vokale Liquide Nasale Frikative Plosive

stl sth stl sth

k v ɪ r l

k v a l m

p s a l m

ɛ ʀ n s t

k n a s t

Phonotaktische Beschränkungen (CONSTRAINTS) kann man teils universell, teils aber nur einzel-

sprachlich formuliert werden. Uns interessieren vor allem Restriktionen für das Deutsche. Ein

Beispiel: Im Anfangsrand der wortinitialen Silbe sind im Deutschen Segmentfolgen von Plosiv

und /l/ überwiegend möglich (labiale Plosive: Platz, Block; velare Plosive: klein, glatt), doch für

die alveolaren Plosive sind diese ausgeschlossen: Weder /tl…/ noch /dl…/ kommen im Anfangs-

rand einer wortinitialen Silbe vor.32

Das gilt nicht nur für lexikalisierte, das gilt ebenso für po-

tentielle Wörter wie Blip oder klatt. Neuwörter mit */tl/ (*Tlip) oder */dl/ vermeiden wir! Die

Umkehrung /l/ + Plosiv gibt es im Anfangsrand deutscher Silben nicht: *Lpatz oder *lgatt be-

werten wir als ungrammatisch. Diese Lateral-Plosiv-Folgen verstoßen (stark) gegen die Sonori-

tätshierarchie! Ob die Restriktion *#/l/ + Plosiv universal ist,33

entzieht sich meiner Kenntnis.

32

Der Zusatz wortinitial ist insofern wichtig, als wortmediale Anfangsränder mit Alveolarplosiv + /l/ vorkommen

wie bei Han.dlung oder A.dler (und An.tlitz? Oder Ant.litz?). 33

Das „Gartenzaunsymbol“ <#> markiert in der Phonologie Grenzen, z. B. die linke oder die rechte Wortgrenze

und gelegentlich auch Silbengrenzen, die aber bevorzugt anstelle <#> mit <σ> (Sigma für ‚Silbe‘) angegeben

werden. Die Tilgung des „alten“ /g/ (in der Schrift erhalten) nach /ŋ/, vgl. <lang> und /laŋ/, kann man durch

die Regel /g/ → Ø / /ŋ/ __ # beschreiben („Überführe /g/ in nichts bzw. tilge /g/ in der Umgebung, wenn

/g/ nach velarem Nasal und vor einer folgenden Grenze steht.

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10 Phonologie oberhalb der Segmentebene

Man nimmt an, dass die phonologische Struktur hierarchisch organisiert ist und u. a. aus der

Silbe (σ), dem Fuß (F) und dem phonologischen Wort (ω) besteht:34

(46) phonologisches Wort ( = Omega)

F Fuß (hier: trochäisch = (s w))

w s w Silbenschicht ( = „Sigma“)

O N O N C O N Silbenkonstituentenschicht

(onset, nucleus, coda)

C V C V C V CV-Schicht (CV-tier, skeletal tier)

f o ʀ ɛ l ə Segmentschicht

Wir sehen: /l/ist ein ambisyllabischer Konsonant, /ʀɛl/ die relativ prominenteste Silbe, Pänulti-

ma und Ultima bilden einen trochäischen Fuß und die Antepänultima einen Auftakt“ etc.

11 Die Silbe

1. Eine Silbe ist durch genau einen Öffnungs- und Schließungsprozess gekennzeichnet:

(47)

f a n t o : m

Öffnung Schließung Öffnung Schließung

Silbengrenze

Anlaut Gipfel Auslaut Anlaut Gipfel Auslaut

Silben wie dada, gugu, mama, papa fallen uns artikulatorisch leicht. Die ersten Silben, die klei-

ne Kinder produzieren, sind oft von diesem Typ CV.

2. Jede Silbe weist in ihrem Zentralbereich Stimmton auf. Mindestens der Silbenkern, ggf. aber

auch ein kleiner Block stimmtoniger Laute wie oben /n/ und /m/, ist dort vorzufinden.

3. Die Silbe () besitzt eine innere Struktur, die mehrheitlich wie folgt angegeben wird (Kürzel:

R(eim), On(set)/Anfangsrand, Nu(kleus)/K(ern), Co(da)/Endrand). Im Deutschen nehmen ei-

nige (ich zurzeit auch) als maximale Silbe CCVCC an:

34

Das Beispiel Forelle und der folgende Text ist angelehnt an: http://www.ids-mannheim.de/gra/wortphonolo-

gie.html. Grundlegend zur prosodischen Phonologie Selkirk (1978), Booij (1983) und Nespor/Vogel (1986).

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(48)

R

On/AR Nu/K Co/ER

C C V C C

k R a f t Kraft

k R a u t Kraut

R ɑ: t Rat

Weitere Beschreibungsbegriffe für die Silbe liegen vor mit:

(49) Kraft

AR K ER Kr a ft

KÖRPER Kra

REIM aft

SCHALE Kr ft

OFFENE SILBE: ohne ER da GESCHLOSSENE SILBE: mit ER dass

NACKTE SILBE: ohne AR Ass BEDECKTE SILBE: mit AR dass

(50) nackt bedeckt

offen oh, Ei so, Mai

geschlossen ob, Eis Sohn, Mais

12 Silbifizierung (Zuweisung/Ermitteln von Silbengrenzen)

Gehen wir davon aus, dass die zugrundeliegende phonologische Repräsentation im Lexikon nur

nicht-vorhersagbare Informationen enthält (nur die Folge der Phoneme, z. B. /hauz/)! Nur wenn

ein Wort unvorhersagbare Eigenschaften besitzt, muss man diese im Lexikon vermerken. So

weist der Monatsname August wegen der schweren Ultima Ultimaakzent auf. Doch wenn Au-

gust ‚Clown‘ bedeutet, hat es eine abweichende Pänultimabetonung. Sonst gilt, dass die weite-

ren phonologischen Operationen (wie Silbifizierung, Akzentuierung, Tilgung oder Assimilation)

aus Regeln bzw. Prinzipien abgeleitet werden wie die Silbifizierung im Deutschen:

1. Assoziiere die Vokale mit der Konstituente Nukleus! Wenn zwei Vokalsegmente einen Diph-

thong bilden, beide mit einem Nukleus assoziieren wie bei Laib!35

Liegt kein Diphthong vor, so

assoziiere zwei benachbarte Vokalsegmente heterosyllabisch (wie bei na.iv)!

35

Ein bisegmentaler Nukleus (N = VV) stellt nur eine der diskutierten Möglichkeiten dar. Eine andere Möglich-

keit (die ich bevorzuge!) ist es, mit nur einer V-Position zu arbeiten und das zweite Diphthongsegment unter

der ersten C-Position im Endrand (CCVCC, vgl. bleib) zu positionieren!

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2. Der nächste Schritt wird von zwei Prinzipien gesteuert, die gelegentlich in Konflikt geraten. In

solchen Fällen steht das Sonoritätsprinzip über dem Prinzip der Onsetmaximerung! (Optimali-

tätstheoretisch ist das SOP höher gerankt als das MOP.)

SONORITÄTSPRINZIP (SOP): In einer Silbe nimmt die Sonorität vom Nukleus zu den Rändern hin ab!

PRINZIP DER ONSETMAXIMIERUNG (MOP, MAXIMUM ONSET PRINCIPLE): Assoziiere die Konsonanten links

der Nuklei mit der Konstituente Onset (Anfangsrand)! Sehen wir uns an, wie dies bei mehreren

intervokalischen Konsonanten, etwa bei Fi ltrat, vor sich geht: Bei Filtrat kann man nach dem

MOP links von /ɑ:/ die Onsets /ʀ/, /tʀ/ und /ltʀ/ bilden. Während die ersten beiden Optio-

nen dem SOP entsprechen, vgl. Rat, Tran (oder trat), verstößt die Folge /ltʀ/ gegen das SOP! Es

gibt kein Wort des Deutschen, auch kein Lehnwort, das einen Anfangsrand /ltʀ/ aufweist! Da-

her wird nur die Folge /tʀ/ mit dem Anfangsrand der rechten Silbe assoziiert.

3. Assoziiere die verbleibenden Konsonanten mit der Konstituente Coda (Endrand)!

(51) σ σ

R R

N N O N O N O N C O N C

f ɪ l t ʀ ɑ: t f ɪ l t ʀ ɑ: t f ɪ l t ʀ ɑ: t

Bei V[+gesp]CV erfolgt im Deutschen die Silbifizierung in der Regel als V.CV (gemäß dem MOP,

auch gemäß einer universellen Präferenz von CV gegenüber VC, d. h. wenn eine Sprache VC-

Silben hat, hat sie auch CV; wenn sie CV-Silben hat, hat sie nicht unbedingt auch VC-Silben). Bei

V[–gesp]CV wird C AMBISYLLABIFIZIERT (vgl. entlehnt e[+gesp].legant und nativ E[–gesp]l.le).

4. Bei der Silbifizierung von Komposita und Präfigierungen sind Morphemgrenzen noch wichti-

ger als SOP und MOP! Daher wird die Berücksichtigung von Morphemgrenzen bei Komposition

und Präfigierung über SOP und MOP gestellt! Sonst käme Wacht.raum nicht zustande, da nur

Wach.traum infolge der Interaktion von MOP und SOP erzeugt würde! Vergleichen Sie auch

Vers.enden und ver.senden!

Die Besetzung des linken Nukleus ist von Bedeutung: Im Standardneuhochdeutschen wird eine

akzentuierte offene Silbe mit ungespanntem Vokal mittels Gelenkkonsonant geschlossen, vgl.

mhd. [ga.tə] und nhd. [gaṭə] Gat.te (Gelenk sogar bei Lehngut wie Rebel.len).

Aufgaben

A 14) Verlautschriften Sie folgende Wörter (Standardlautung) und geben Sie an: (i) Voll- bzw.

Reduktionssilben, (ii) nackte bzw. bedeckte Silben und (iii) offene bzw. geschlossene Silben!

(a) elegantes (c) Aspirin

(b) Eierschachtel (d) Nationalisten (e) Problembären

A 15) Erläutern Sie den folgenden Versprecher über die Vokal-Merkmalsmatrizen!

Mysterium [mʏs.te:.Ri.ʊm] Mistörium [mɪs.tø:.Ri.ʊm]

A 16) Erläutern Sie den Versprecher Nun, liebe Lina, schlammere sunft!

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A 17) Erläutern Sie den Versprecher nass vor Bleid!

A 18) Sind die folgenden Repräsentationen mögliche phonologische Wörter des Deutschen?

Wenn nicht, bitte begründen, wo der Fehler liegt!

(a) [sɔnə] (b) [liːɡ] (c) [ʃplɪnt] (d) [ʃŋɛkə]

13 Akzentzuweisung: Simplexakzent

Simplizia wie Schokolade oder Holunder haben keine morphologische Struktur. Die ähnlich klin-

genden Wortformen Schieb(+)e+lad(+)e oder Heul+end+er sind keine Simplizia. Bei der Akzent-

vergabe ist strikt zwischen SIMPLEXAKZENT und MORPHOLOGISCHEM AKZENT zu unterscheiden! Nach

der Silbifizierung einer Phonemkette kann man den SIMPLEXAKZENT ermitteln.

In SPRACHEN MIT FREIEM WORTAKZENT ist die Akzentlage nicht aus der Folge und Struktur der phono-

logischen Segmente und Silben vorhersagbar. Solche Sprachen bilden eventuell phonemische

Akzentunterschiede aus wie im Deutschen ˈAu.gust ‚Clown‘ und Au.ˈgust ‚Monat‘. Im Deut-

schen sind solche lexikalischen Kontraste, die man lernen muss, selten der Fall! Die rekonstru-

ierte indoeuropäische Sprache gilt als Sprache mit freiem Akzent.

SPRACHEN MIT FESTE(RE)M WORTAKZENT legen die Hauptbetonung entweder auf eine bestimmte

Wortsilbe fest (z. B. Ungarisch: Erstsilbenbetonung) oder die Akzentvergabe erfolgt innerhalb

eines Fensters. Im Deutschen umfasst dieses Fenster, vom rechten Wortrand aus betrachtet,

die letzten drei Silben. Die Akzentfestlegung erfolgt nach Kriterien wie: Betone die schwerste

Silbe des Wortes! Eine schwere Silbe sei für das Deutsche bestimmt als Silbe mit Diphthong

(Ba.la.lai.ka), mit VC (A.na.kon.da) oder mit Langvokal (To.re.ro),36

also mindestens mit einem

XX-Reim. – Latein beispielsweise geht vom rechten Wortrand aus und betont die Pänultima,

wenn diese schwer ist (rek.ˈsis.tis ‚ihr herrschtet‘). Ist die Pänultima leicht, dann wird die An-

tepänultima betont (ˈin.su.la).

Das Beispiel Schokolade zeigt auch, dass für das Deutsche in längeren Wörtern ein HAUPTAKZENT

(la) und ggf. NEBENAKZENTE (Scho) typisch sind. Um über Akzent präziser sprechen zu können,

bedient man sich der folgenden Terminologie:

ω PHONOLOGISCHES WORT

Fw Fs zwei trochäische FÜße

σs σw σs σw SILBEn

[ ˌʃ o. k o. ˈl ɑ:. d ə ]

ANTEPÄNULTIMA PÄNULTIMA ULTIMA SILBENPOSITION

Diskussionen gibt es zu den Fragen:

- Beschreibt man native und nicht native (entlehnte) Simplizia mit den gleichen Regeln oder

benötigt man separate Regelsätze? In der Tendenz: ein Regelsatz für beide Lexik-Schichten.

36

Die Frage, ob Langvokalsilben im Deutschen als schwer oder nicht schwer zu gelten haben, ist umstritten.

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- Rechnen offene Langvokalsilben im Deutschen als schwer oder als nicht schwer? Normaler-

weise: Eine offene LV-Silbe ist schwer. Aber was ist, wenn man die Länge vom Akzent abhängig

macht (gespannter Vokal wird unter Akzent lang)? Man handelt sich ein Ableitungsproblem ein,

denn man wüsste ja erst nach erfolgter Akzentuierung, ob der gespannte Vokal lang ist. Man

möchte den Langvokal ja nicht als zugrundeliegend ansetzen – oder doch?

Ich stelle nun die Simplexakzentzuweisung nach Vennemann (1991)37 vor:

Regel 1: Nur Vollsilben können akzentuiert werden! (= Schwa-Silben tragen keinen Akzent!)

Regel 2: Eine bedeckte reduzierte Ultima führt zur Akzentuierung der Pänultima. Nur (in den

seltenen Fällen) wenn die Pänultima eine Schwa-Silbe ist, dann akzentuierte man die An-

tepänultima! Beispiele: Helene, Banane, Aprikose, Granate, Kaliber, Lavendel, Banause.38

Aber warum dann 'Hebamme? Das ist ein synchron nicht mehr deutlich erkennbares Komposi-

tum aus heben und Amme und kein Simplex. Daher: Akzent auf dem Determinans heb.

Regel 3: Nur die letzten drei Vollsilben eines Simplex können akzentuiert werden:

To.hu.wa.BO.hu/*To.HU.wa.bohu/*TO.hu.wa.bo.hu; Me.THU.sa.lem

Regel 4: Der Akzent geht nicht über eine schwere Pänultima zurück: Veranda, Balalaika, Andor-

ra, Inferno, Suleika.

Normalitätsbeziehung 1: Simplizia mit schwerer Ultima werden auf der Ultima akzentuiert, ins-

besondere wenn sie mehrfach geschlossen ist: Radau, Taifun, Labyrinth, Katarakt, korrupt.

Normalitätsbeziehung 2: Simplizia mit leichter Ultima werden nicht auf der Ultima akzentuiert

(Kilo, Emu, Bikini)

Normalitätsbeziehung 3: Simplizia mit nackter Ultima und mit einer auf hohen Vokal ausgehen-

den Pänultima werden nicht auf der Pänultima akzentuiert: Pavian, Jaguar, Akazie, Arie, Statue;

anders Oboe, Trophäe. – Möglicherweise hat das damit zu tun, dass die hohen Vokale /i/ und

/u/ in bestimmten Umgebungen zu sogenannten Gleitlauten (die man mit [j], [w] wiedergeben

könnte) werden, wenn eine Silbenreduktion stattfindet und dann Pänultima-Akzent vorliegt.

Normalitätsbeziehung 4: Ist keine andere Normalitätsbeziehung (und keine Regel) einschlägig,

so wird die Pänultima akzentuiert (Bikini).

Einen anderen Ansatz verfolgt z. B. Peter Eisenberg (1991, Syllabische Struktur und Wortakzent;

in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 10:1, 37-64). Er bezieht Flexionsformen (alle Formen eines

Wortparadigmas) mit ein. Man kann dann, etwas vergröbert, sagen, dass deutsche Simplizia

dazu tendieren, auf einen Trochäus (Pänultima: betont, Ultima: unbetont) auszugehen, vgl.

(52) Maga.ZIN wg. Maga.ZI.ne Kon.ZERT wg. Kon.ZER.te

Kon.GRESS wg. Kon.GRES.se Kom.POTT wg. Kom.POT.te

FA.zit wg. FA.zits GUM.mi wg. GUM.mis

37

Vennemann, Theo (1991): Skizze der deutschen Wortprosodie. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 10,

1991:1, 86-111. 38

Bei dem ursprünglich antepänultimabetonten ['bεʀ.zεʀ.kɐ] kann man eine Akzentverschiebung nach Regel 2

beobachten (vgl. Aussprachevarianten DWDS online), nämlich [bεʀ.'zεʀ.kɐ].

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Aber: Kakadu, Pavian, Eidechse? Das daktylische Muster ist eine weitere Möglichkeit neben

dem typischen Trochäus, aber wann wird es vergeben? Was ist der Unterschied zwischen Bikini

und Kakadu? Vom Silbengewicht her weisen beide Wörter drei gespannte Kurzvokale auf.

Zum Thema Akzentzuweisung scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen. Weitere Untersu-

chungen sind vonnöten! Arbeiten wie die von Ulrike Janßen (Untersuchungen zum Wortakzent

im Deutschen und Niederländischen, Diss. Univ. Düsseldorf 2003, online: http://docserv.uni-

duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-2911/911.pdf) zeigen nicht bei allen Silben-

strukturkombinationen deutliche Tendenzen. Wenn wir Fälle betrachten, bei denen Ultima und

Pänultima bezüglich Gewicht gleich sind, dann gibt es Fälle wie ˈKo.li.bri oder Bi.ˈki.ni!

Aufgabe A 19: Erläutern Sie die Akzentuierungen von

(a) Odessa (b) Ballast (c) Taifun (d) Bikini

14 Skizze zum Akzent bei Komposita und bei Suffixderivaten

KOMPOSITIONSAKZENT: In determinativen Komposita befindet sich der Akzent in zweigliedrigen

Bildungen auf der linken Konstituente (BW). Bei Kopulativkomposita ist die rechte Konstituente

akzentuiert (Österreich-'Ungarn, süß'sauer). So liegt bei 'blau.grün ein Determinativkomposi-

tum vor, nämlich wenn das Grün ins Blaue spielt bzw. Blauanteile aufweist, wogegen blau.'weiß

kopulativ zu interpretieren ist (ein Nebeneinander von Blau und Weiß).

Steigerungsbildungen wie brunz'dumm, sau'heiß, scheiß'freundlich (die man heutzutage wieder

überwiegend als Komposita einstuft, andererseits ist das nicht unumstritten, vgl. die Affixoid-

Debatte) werden in der Tendenz auch rechts akzentuiert. Vergleichen Sie 'stein.reich ‚reich an

Steinen, viele Steine aufweisend‘ und stein.'reich ‚sehr reich‘.

Bei mehrgliedrigen Determinativkomposita nimmt man für die Akzentvergabe eine COMPOUND

STRESS RULE an: In einem Kompositum [ A B ] ist B genau dann akzentuiert, wenn B verzweigt.39

Ganz zuverlässig ist diese Regel nicht! Bei Weltraumflugzeug oder Weltraumbahnhof sollte ei-

gentlich auf flug (bzw. bahn) betont sein, da B verzweigt. Es liegt möglicherweise an der Lexika-

lisierung bzw. der Idiomatisierung von Flugzeug etc., dass es nicht als verzweigend gesehen

wird. Allerdings sind Lexikalisierung oder Idiomatisierung nicht einfach zu bestimmende Charak-

teristika. Somit sollte die Korrelation von Akzentuierung und kompositionaler Verzweigungs-

struktur empirisch noch genauer untersucht werden.

(53)

s s

A B A B

s w w w s w

(a) Fi'nanz minister wahl (b) Bundes fi'nanz minister

‚Wahl des Finanzministers’ ‚Finanzminister des Bundes’

39

In den Bäumen wird relative PROMINENZ durch die Etiketten „s“ (strong) bzw. „w“ (weak) angezeigt.

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s

A B

s w s

A B A B

s w s w w s w w

(c) 'Welt raum flug zeug Welt 'nicht raucher tag (d)

‚Flugzeug für den Weltraum’ ‚Nichtrauchertag bezüglich der Welt’

Falls das Determinans eine Wortgruppe, dann liegt der Akzent so wie in der Wortgruppe, vgl.

Unter'wasserbilder ‚Bilder, die unter 'Wasser [PP!] aufgenommen wurden‘ und 'Hochwasserbil-

der ‚Bilder von einem 'Hochwasser‘.

Bei der Suffixderivation kommt es darauf an, ob ein Suffix des akzentanziehenden oder des ak-

zentneutralen Typs beteiligt ist: 'kafka+mäßig und kafka+'esk, 'schwei.n+isch und schwei.'n+ös.

Aufgabe A 20: Bestimmen und erläutern Sie die Akzente in

(a) Bundesbahngesetz (c) Ministrand (f) Wenn dir kalt ist: Saunieren!

(b) Bundesabfallgesetz (d) Ministrant (g) Isst du etwa Saunieren?

(e) Minister

14 FUSS

In einem Fuß werden eine akzentuierte und ein bis zwei unbetonte Silben zusammengefasst.

Die phonologische Teildisziplin, die sich mit dem Fuß (wie auch mit dem Akzent) befasst, ist die

METRISCHE PHONOLOGIE (METRIK: ‚die Lehre vom Versmaß‘).

Bekannte Fußtypen im Deutschen sind:

- linksköpfig: Trochäus (Xx): ˈTep.pich, ˈTe.nor (‚Essenz‘)

Daktylus (Xxx): ˈschö.ne.re, ˈWan.de.rer

- rechtsköpfig: Jambus (xX): Skan.ˈdal, Te.ˈnor (‚Sänger‘)

(Der Anapäst (xxX) wird nicht als für das Deutsche relevanter Fuß angesehen.)

DEGENERIERTER FUß: Ein Fuß, der eine einzige Silbe dominiert, heißt degenerierter Fuß. Im Deut-

schen betrifft das z. B. Wörter mit Präfixen: er.ˈle.ben, be.ˈgrei.fen, Fo.ˈrel.le, ge.ˈle.sen.

Würde man den Amphibrachys (xXx) zuweisen, verkomplizierte man die Beschreibung des

Deutschen! Systematischer wird es, wenn man annimmt, dass ein Trochäus mit unbetontem

Auftakt vorliegt und die Antepänultima von einem degenerierten Fuß dominiert wird. Alternativ

bietet sich das Konzept der EXTRAMETRISCHEN SILBE an, wonach etwa die Präfixe als extrametrisch

gewertet werden. So würde das phonologische Wort [be.['greiσ.fenσ]F]ω den Fuß grei.fen ent-

halten und be würde erst auf der Ebene des phonologischen Wortes (<ω>) assoziiert werden.

Wenn das Deutsche die im nächsten Abschnitt beschriebene Parametrisierung hat, würde man

bei Ba.la.lai.ka den Trochäus zweimal von rechts nach links (mit dem starken Fuß am rechten

Wortrand) gewichtssensitiv zuweisen, bei Fo.rel.le einmal mit dem Überbleibsel Fo, das man als

degenerierten Fuß oder als extrametrische Silbe werten kann.

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15 Fußzuweisung

Eine Fußzuweisung enthält die Parameter

- (i) Fuß (z. B. Trochäus oder Jambus)

- (ii) Richtung (von rechts nach links (RTL) oder von links nach rechts (LTR))

- (iii) Wort: erster Fuß ist stark oder letzter Fuß ist stark

- (iv) Quantität: quantitätssensitiv oder nicht quantitätssensitiv

Man könnte hier auch „gewichtssensitiv“ sagen, d. h. die Alternative besteht darin, ob bei der

Zuweisung das Silbengewicht berücksichtigt wird oder nicht. Leichte Silben sind Schwa-Silben

oder offene Kurzvokalsilben wie die drei in Scho.ko.la.de; als schwere Silben gelten offene

Langvokalsilben (Scho.ko.la.de), Diphthongsilben (Ba.la.lai.ka) und geschlossene Silben

(A.na.kon.da, Pri.mat, al.lein, Ka.ta.rakt)

Für das Deutsche können wir, z. B. anhand von Schokolade oder Balalaika, folgende Parame-

terwerte ermitteln: (i) Trochäus, (ii) RTL (right to left), (iii) letzter Fuß ist stark (Hauptakzent: la,

lai) und (iv) quantitätssensitiv (da lai mit ai = VC die schwerste Silbe ist).

Ich gehe davon aus, dass die Prozessreihenfolge Akzent vor Fuß eingehalten wird, so dass erst

der Hauptakzent und dann der Fuß zugewiesen wird. Der Fuß orientiert sich am Hauptakzent.

Bei Pänultimaakzent wie in Schokolade, Veranda, Terrasse entsteht kein Problem, da die Ulti-

ma-Schwasilbe die unbetonte Silbe des angesetzten Trochäus rechts ausfüllt. Und bei

Kro.ko.DIL, Ka.ta.RAKT mit Ultimabetonung? Hier ist die Flexion einzubeziehen, die im Plural die

unbetonte rechte Trochäussilbe (σw) liefert: Kroko.DI.l+e, Kata.RAK.t+e. Im Singular bleibt diese

σw-Position leer - oder es wird von rechts ein „degenerierter Trochäus“ zugewiesen, dann wei-

ter links ein normaler (KRO.ko, KA.ta).

Bei Antepänultimaakzent wie in KA.ka.du (PL Kakadus), (der) SEL.le.rie (PL die Selleries),

LE.xi.kon (PL Lexika) kann von rechts kein Trochäus zugewiesen werden, also wird der ebenfalls

zulässige, wenngleich seltenere Daktylus zugewiesen.

16 Die Optimalitätstheorie (OT)

Die regelabarbeitende (generative) Phonologie beschreibt, wie an einem Input (A) an bestimm-

ter Stelle (X __ Y, nach X bzw. vor Y bzw. zwischen X und Y) etwas verändert wird (z. B. ein

Merkmal), so dass ein Output (B) erzeugt wird:

(54) Regelformat: A → B / X __ Y Beispiel: /ç/ → [x] / [+vok, +hint] __

(55) Ausführlich: [– sth, palatal, frikativ] → [– sth, velar, frikativ] / [+vok, +hint] __

Versprachlicht: „Realisiere das Phonem /ç/ nach hinterem Vokal velar!“

Die OT geht anders vor! Das OT-Modell besteht aus zwei Komponenten, dem Generator (Gen)

und dem Evaluator (Eval). Der Generator erzeugt eine Kandidatenmenge, die dann den Evalua-

tor passiert. Der Evaluator enthält eine Menge gerankter (stärkehierarchisierter) Constraints

(Beschränkungen), mittels derer die Kandidaten bewertet werden. Die Beschränkungen sollten

universalgrammatisch verwendbar sein (also nicht nur für eine Sprache gelten).

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Vergleichen wir /hʊnd/ und engl. /haʊnd/ und lassen wir den Generator nur die beiden mögli-

chen Realisierungen [hʊnd], [hʊnt] und [haʊnd], [haʊnt] erzeugen und vom Evaluator bewer-

ten. Blenden wir die meisten Beschränkungen aus und vergleichen wir nur diese beiden:

*Voiced-Coda: No (hier: Asterisk = Negation) voiced coda, d. h. Obstruenten sind in der Silben-

coda (universalgrammatisch präferiert) stimmlos, d. h. auslautverhärtet!40

Ident-IO: Identität von Input und Output, d. h. es dürfen keine phonologischen Merkmale ver-

ändert werden (wie etwa [stimmhaft])!

Offensichtlich konfligieren beide Beschränkungen! Nun kommt es also darauf an, wie sie ge-

rankt (hierarchisiert) sind. Es muss so sein, dass die die Rangfolge im Deutschen anders ist als

im Englischen. Tableaus wie das folgende sind für die OT typisch:41

Kandidaten *Voiced-Coda Ident-IO Kandidaten Ident-IO *Voiced-Coda

[hʊnd] *! ☞ [haʊnd] *

☞ [hʊnt] * [haʊnt] *!

Mit Ident-IO und *Voiced-Coda sehen wir je ein Beispiel für eine Treue- und eine Markiert-

heitsbeschränkung. Treueconstraints verlangen die Identität von Input und Output. Das Verän-

dern phonologischer Merkmale (etwa beim Plural Tochter > Töchter) sowie Hinzufügungen42

und Tilgungen von Segmenten verletzen Treuebeschränkungen. Beispiele:

Max: Keine Tilgung von Segmenten oder Merkmalen

DEP: Keine Epenthesis von Segmenten oder Merkmalen

IDENT(F): Keine Veränderung in den Merkmalen

CONTIGUITY: Adjazente Segmente im Input sind im Output ebenfalls adjazent.

Markiertheitsconstraints verlangen die Unmarkiertheit des Outputs und werden aus der

Sprachtypologie (und dem Spracherwerb) heraus begründet. Beispiele:

ONSET: Silben haben Ansätze

NOCODA: Silben haben keine Koda

NO COMPLEX ONSET: Ansätze sind nicht komplex

NO COMPLEX CODA: Kodas sind nicht komplex

NO VOICED OBSTRUENT: Obstruenten sind stimmlos.

40

Die Auslautverhärtung (final obstruent devoicing) kommt in relativ vielen Sprachen vor. 41

<*> besagt: Diese Beschränkung wird verletzt. Das Ausrufezeichen steht bei Verletzungen, die zum Ausschei-

den des/der Kandidaten führen. Die zeigende Hand steht vor dem optimalen Kandidaten (das Erzeugnis, das

im Wettbewerb am wenigsten Beschränkungen verletzt). 42

Insofern würde /hʊnd/ [hʊnəd] eine Treuebeschränkung (keine Hinzufügungen!) verletzen, andererseits

aber der Markiertheitsbeschränkung genügen, dass es keine komplexen Silbenränder wie nd geben soll.

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II Graphematik

1.1 Der Aufbau des deutschen Schriftsystems (Ebenen der Schreibung)

1 GRAPHETIK (Buchstabensegmente, z. B. zwei Striche bei <t>?)

2 Buchstabe

3 GRAPHEM im Sinne von ‚Lautabbild‘ (also auch <<sch>>)

4 Segmentale Ebene: phonographische Schreibung bzw. Phonem-Graphem-Korrespondenzen

5 GRAPHOTAKTIK (besondere Graphemkombinationen wie /i:/ → <ie> → <ih> in Pron, ihnen)

6 Minimale Schreibsilbe (Ei-er) und minimales Wort (ah, da, ei, in, zu; nicht-nativ: Präp à)

7 Silbische Schreibung (Wahl, Wahlen; Wall, Wälle)

8 Morphologische Schreibung (Mann)

9 Wortschreibung (10-Euro-Schein, See-Elefant/Seeelefant)

10 Wortgruppenschreibung (Syntax, z. B. Kuno, ein Gitarrist(,) und Pia)

11 Satzschreibung (Syntax)

12 Text

(13 Stilistische Schreibungen wie Schööön!)

1.2 Die graphematische Hierarchie

Evertz & Primus (2013) schlagen folgende Repräsentation vor, die die strukturellen Gegeben-

heiten der organisierten linearen Kette von Buchstaben darstellt:

<ω> g-Wort (graphematisches Wort)

F g-Fuß (graphematischer Fuß)

σ σ g-Silbe

Rh Rh g-Silben-Konstituenten: Ar = Anfangsrand, Rh = Reim,

Ar Nu Ar Nu Er Nu = Nukleus, Er = Endrand

G G G G G G Grapheme

s h o u t e r Buchstaben

[kurzer gerader Kopf] Buchstabenmerkmale43

[Anschluss Koda/Spazierstock unten]

[kompakt] (nur im Mittelband)

43

Zugrunde liegt die Idee, dass Buchstaben iaus einem Zentralelement (KOPF) und einem Zusatz (KODA) zusam-

mengesetzt sind. Der Kopf ist das lange Element bzw. dasjenige, welches das MITTELBAND der LINEATUR zwi-

schen Grund- und Mittellinie auf kürzestem Wege passiert.

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2 Graphembegriff und Phonem-Graphem-Korrespondenzen (PGK)

Die Termini BUCHSTABE und GRAPHEM (dazu später) sind nicht einfach in eins zu setzen. Das Ver-

hältnis hängt von der Graphemdefinition ab!

a) In der AUTONOMIEKONZEPTION bestimmt man das Graphem ohne Phonembezug als die kleinste

bedeutungsunterscheidende Einheit in der Schrift (auch GRAPHOGRAPHEM genannt). Man ermit-

telt die Grapheme rein schriftsprachlich durch Minimalpaare wie

(56) <Esche>/<Eiche>, <Hefe/Hexe>, <reisen>/<reißen>, <Quelle>/<Duelle>, <Reihen>/

<Rechen>, <Bache>/<Backe>, <Arm>/<arm>, <Yoga>/<Toga>, <5%-Grenze>/<5°-Gren-

ze>, <Es regnet!>/<Es regnet?> etc.

b) In der REPRÄSENTANZ- bzw. DEPENDENZKONZEPTION werden Grapheme als Repräsentationen von

Phonemen (als sog. PHONOGRAPHEME) angesehen. Rezec (2009) nennt diese Repräsentanten

PHONEMABBILDER. <Dichtring> besteht aus 9 Buchstaben und 9 Graphographemen, aber aus nur 7

Phonographemen wegen des <ch> und <ng>! Bei <Chemie> schreibt man den ersten Buchsta-

ben bzw. das erste Graphographem groß, nicht das erste Phonographem <ch> (*CHemie)!

Rezec unterscheidet Majuskeln und Minuskeln als Grapheme, weil deren Austausch zu Bedeu-

tungsunterschieden führen kann, vgl. Laut : laut, Arm : arm, buche : Buche etc. Zudem zeigt er,

dass auch Einheiten wie <%> Graphemstatus besitzen. Nachfolgend Rezec (2009):

/n/ /ŋ/ /g/ Phoneme

<n> <ng> <g> Phonemabbilder

<N> <n> <g> <G> <%> Grapheme

<N> <n> <g> <g> <%> Grundformen44

<N> <N> <n> <n> <g> <g> <g> <g> <%> <%> Graphe

Eine andere Sichtweise (auch meine) nimmt an, dass Grapheme grundsätzlich (per PGK) als Mi-

nuskeln erscheinen und eine eventuelle Großschreibung später durch weitere Schreibprinzipien

eingeführt wird. /laut/ ist nach der PGK <laut>; erst dann wird das syntaktische Prinzip ange-

wendet und <Laut> wird erzeugt.

Ein Beispiel zur Illustration: Schreibung von /man/ als Pronomen oder als Substantiv/Nomen

Bei der Schreibung des Pronomens benötigt man nur die PGK-Zuweisungen

44

Die GRUNDFORMEN (<g> und <g>, vgl. <a>, <ɑ> oder <„ “>, <» «>) sind rein schriftsprachliche (graphetische)

Einheiten, die Prototypen der visuell-figürlichen Gestalt von Graphen eines Graphems darstellen. Ein Gra-

phem ist rein durch seine bedeutungsunterscheidende Funktion definiert und nicht durch visuelle Aspekte.

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(57) /m/ <m>, /a/ <a> und /n/ <n> = <man>.

1. PGK Phonolog. Form Pronomen Substantiv

phonographisch /man/ <man> *<man>45

2. Silbisch --- Man.nes Männer (Silbengelenk)

*<mannes> *<menner>

3. Morphologisch --- *<mann> *<männ>

4. Syntaktisch der *man/*Man der Mann junge Männer (NP-Kopf)

<man> <Mann> <Männ(er)>

Das Pronomen man wird bereits bei Anwendung des phonographischen Prinzips (der PGKs)

korrekt erzeugt. Die PGK-Schreibung des Substantivs ergibt zunächst ebenfalls *<man>. Auf-

grund zweisilbiger Wortformen wie Mannes, Männer, in denen /n/ als Silbengelenk fungiert, ist

in diesen Formen zu verdoppeln: <nn>. Das Prinzip der MORPHEMKONSTANZ erfordert, dass die

Mehrsilblerform in Einsilbler übernommen wird. Die Morphemkonstanz ist auch der Grund, den

umgelauteten „Pluralstamm“ nicht mit /ɛ/ /e/ (wie in Bett), sondern mit der Umlautgraphie

<ä> zu verschriften. Da *<mann> syntaktisch als Kopf einer Nominalphrase (NP) auftritt, vgl. Der

(junge) Mann, schreibt man *<mann> als <Mann> groß. Man schreibt jedoch Ehemann und

nicht *EheMann, obwohl das Grundwort des Kompositums kategorial ein Substantiv ist. NP-

Kopf ist das Kompositum Ehemann, nicht das Grundwort *Mann/mann!

3 Phonographische Schreibungen (Phonem-Graphem-Korrespondenzen, PGK)

Phonographische Schreibungen sind Zuordnungen von Graphemen zu Phonemen (PGK): Ein

Phonem wird durch eine schriftsprachliche Einheit (Graphem im Sinne von Phonemabbild) ab-

gebildet, vgl. /f/ <f>, /k/ <k>, /ʃ/ <sch>. Bei umgekehrter Blickrichtung kommt man zu

den Graphem-Phonem-Korrespondenzen (GPK): <f> /f/ oder <x> /k/ + /s/.

Die nachfolgenden Tabellen (Eisenberg 2013, Bd. 1 Das Wort, folgend) listen die kontextfreien

Normal-Umsetzungen von nativen Phonemen in Grapheme auf.46

45

Der Asterisk bei *<man> für das Ziel Mann bedeutet, dass diese Form ungrammatisch ist. Zugleich markiert er

in der stufenweisen Ableitung, dass die Form noch nicht endgültig ist und noch nicht alle Schreibungs-

Teilmodule durchlaufen hat, die zur Herstellung der grammatisch korrekten Schreibform heranzuziehen sind.

Erst Formen ohne Asterisk dürfen geschrieben (getippt) werden. 46

Normal: Die häufigste bzw. unmarkierte (unmarkiert: ohne Zusatzbedingungen wie bei <s> vor <p> und <t>

anstelle <sch>) Umsetzung bei nativen Wörtern! Die Verschriftung entlehnter bzw. fremder Wörter ist weni-

ger systematisch bis unsystematisch; so kann man diese nicht mittels einfacher Zuordnungen behandeln.

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Vokalische PGK (Monophthonge und Diphthonge)

(58) /i/ (/i:/)47 <ie> <miete>48

/ɪ/ <i> <mitte>

/y/, /ʏ/ <ü> <hüte>, hütte>

/u/, /ʊ/ <u> <gut>, <kund>

/e/ (/e:/) <e> <leben>

/ə/ <e> <pute>

/ø/, /œ/ <ö> <lösen>, <köstlich>

/o/, /ɔ/ <o> <rote>, <rotte>

/æ/ (/ɛ:/)49

<ä> <bär>

/ɛ/ <e> <welt>

/ɑ/, /a/ <a> <wal>, <wall>

/ɑɪ/ <ei> <klein>

/ɑʊ/ <au> <blau>

/oɪ/, /oʏ/ <eu> <heute>

Die PGK bei den Monophthongen sind unproblematisch, da Lang- wie Kurzvokal durch das glei-

che Monographem abgebildet werden, vgl. /ɑ/ bzw. /ɑ:/ und /a/ <a>. Wir können die Kor-

respondenzen umgekehrt als GPK lesen (<ie> /i:/) und müssen nur darauf achtgeben, dass

Unterschiede wie Länge versus Kürze nicht segmental/phonographisch, sondern suprasegmen-

tal/silbisch ausgedrückt werden, vgl. <hüt(t)e> wegen /hʏtə/ (nach PGK erst einmal <hüte>).

Die einzige Ausnahme stellt /i:/ <ie> dar, was historisch mit der Monophthongierung des

mhd. Diphthongs /ie/ <ie> (z. B. liep > lieb) zusammenhängt.50 Später wurde die Schreibung

auf andere Fälle übertragen, etwa auf rise, Riese und vil, viel, bei denen keine Monophthongie-

rung vorlag, sondern eine Dehnung.

Wörter wie Bibel/*Biebel (< lat. biblia, gr. biblion) oder Tiger/*Tieger (< lat. tigris) weisen die

PGK /i:/ <ie> nicht auf. Es handelt sich um (nicht voll assimilierte) Lehnwörter.

Bei /ɛ/ wird per PGK <e> geschrieben, außer wenn wegen eine morphologisch basierte Umlaut-

schreibung <a> <ä> vorliegt, vgl. Fell Felle und Fall Fälle.

Von den beiden Schwa-Vokalen [ə] (e-Schwa oder kurz SCHWA) und [ɐ] (VOKALISIERTES R oder a-

Schwa) wird nur /ə/ nach PGK durch <e> verschriftet. Das a-Schwa ist kein Phonem, da es post-

47

Ich verzichte auf die Angabe der Länge. Es handelt sich um gespannte Vokale, die unter Akzent lang werden.

Ab und zu verdeutliche ich das zur Erinnerung durch Hinzusetzen in Klammern. 48

Ich verzichte auf die Großschreibung, die erst nach dem phonographischen Schreiben beim syntaktischen

Schreiben hinzugefügt würde. 49

Zur IPA-Zeichenwahl: /æ/ soll einen gespannten halboffenen vorderen Vokal bezeichnen, das Epsilon ohne

bzw. mit <:> bezeichnet den Kurz- bzw. den Langvokal. So bezeichnet auch /ɑ/ den gespannten tiefen hinte-

ren Vokal, wogegen bei /a/ und /a:/ nur die Länge als distinktiv aufgefasst würde. Bei beiden Lauten ist strit-

tig, ob es einen Gespanntheitsunterschied gibt. Die Frage ist theoretisch relevant: Gespanntheit oder Länge.

Bei einem Gespanntheitsunterschied würde die Länge durch die Regel „Unter Akzent wird ein gespannter Vo-

kal lang“ entschieden. 50

Ab und zu finden sich andere Dehnungs-e-Vorkommen, etwa im Ortsnamen Soest mit [o:], das <e> ist stumm.

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vokalisch aus /(ə)R/ entsteht und durch einen Vokalisierungsprozess /R/ [ɐ] vorhersagbar ist.

Man verschriftet das zugrundeliegende Phonem (oft) als /R/.51

Die Diphthongverschriftung bei /ɑɪ/, /ɑʊ/ und /ɔɪ/ (Seite, Saite; Haut; heute, Häute):

- Die Normal-PGK ist /ɑɪ/ → <ei> wie in Seite und Leib. Schreibungen wie Saite oder Laib sind

selten und dienen häufig der HOMONYMENDIFFERENZIERUNG (vgl. Seite/Saite, Leib/Laib). Ohne Diffe-

renzierung ist z. B. Kaiser/*Keiser. Historisch bezieht sich der Schreibdiphthong <ai> auf den

mhd. Diphthong /ei/, der sich infolge des Diphthongwandels veränderte, vgl. keiser > Kaiser,

mei > Mai. Dagegen bezieht sich <ei> auf diphthongiertes mhd. /i:/, vgl. rȋfe > reif.

- Die Normal-GPK ist /ɔɪ/ → <eu> wie bei heute. Häute, also <äu>, ist die morphologische

Schreibung des Umlauts bzgl. Haut. Die Verschriftung <oi> ist sehr selten, die Wörter gehören

ursprünglich nicht zum nativen Wortschatz (Boiler < engl. to boil, Loipe < norw. løype).

Konsonantische PGK

(59) /p/ <p> <pasta>

/b/ <b> <basta>, <trab>

/t/ <t> <torf>

/d/ <d> <dorf>, <rad>

/k/ <k> <kasse>

/g/ <g> <gasse>, <zwerg>

/f/ <f> <fach>

/v/ <w> <wach>,

/s/ <ß> <groß>, <reißen>

/z/ <s> <samt>, <gas>, <reisen>

/ʃ/ <sch> <rasch>

/ç/52 <ch> <frech>

/j/ <j> <jung>

/h/ <h> <hase, oho>

(/ts/ <z> <zwerg> (Affrikate))

/m/ <m> <mut>

/n/ <n> <nut>

/ŋ/ <ng> <jung>

/l/ <l> <lump>

/r/ <r> <rose>, <uhr>

51

Ob das e-Schwa Phonemstatus besitzt, was Minimalpaare wie rosa/Rose und Liga/Liege nahelegen, oder ob

es ähnlich dem a-Schwa ebenfalls vorhersagbar ist oder ein Allophon eines e-Lautes darstellt, ist umstritten.

Außerdem sehen manche das e-Schwa als Epenthesevokal (z. B. Wiese 1996: 7.4.2), der in zugrundeliegende

Repräsentationen eingefügt werden kann (/hɪ.ml/ → [hɪməl]). Ich nehme es als Phonem wegen der Mini-

malpaarfähigkeit und weil es eine eigene Verschriftung per PGK (<e>) besitzt. Einen Überblick über die disku-

tierten Kriterien und Phänomene bietet Staffeldt (2010). 52

Öfters wird für den hinteren Frikativ das Phonemzeichen /x/ verwendet. Ich verwende /ç/, weil [ç] das häufi-

gere Allophon ist und man [x] davon ableiten kann, denn [x] folgt hinteren Vokalen.

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Bis hierher können wir die Zuordnungen meist auch umgekehrt als GPK lesen wie bei <g> /g/

oder <r> /r/, d. h., wenn ich ein <r> lese, kann ich auf ein zugrundeliegendes /r/ schließen.

Nun kehren wir die Sicht auf GPK um, damit wir weitere wichtige Zusammenhänge sehen:

(60) <c> /?/ vgl. Celle (Ortsname), Cello, Comic (Lehnwörter!); kommt

sonst nur als Teil von Mehrgraphen (<ch>, <ck>, <sch>) vor

<q> /?/ nur in der Kombination <qu>, vgl. nachstehend

<qu> /k/ + /v/ quer, Quark, quaken, antiquiert

<v> /f/ ver-, von, Vater, Vogel (/v/ ist seltener: Vase, Veranda)

<x> /k/ + /s/ Xanten (Ortsname), Hexe, lax, Axt

<y> /?/ nur in Lehnwörtern (Baby, Hockey, Mythos, Typ)

Überwiegend Monographeme. Aber: /ç/ <ch>, /ŋ/ <ng>53 und /ʃ/ <sch>. Die Affrikate

/ts/ wird im Anfangsrand nach PGK als <z> (Zahn) verschriftet, im Silbengelenk als <tz> (Katze).

Die Buchstabenverbindung <qu> ist kein Graphem/Lautabbild, sondern eine alte Verschrif-

tungstradition für die Kombination /k/ + /v/ (Quelle), evtl. auch halbvokalisch /k/ + /u/ <qu>.

Nach PGK wäre *Kwelle, evtl. *Kuelle zu erwarten.54

Die Schreibung der s-Laute ist folgenderweise beschreibbar:

- /z/ <s> (PGK) daher Gas, Gras; vgl. rei.s/z/en, rei.ß/s/en

- /ʃ/ <sch> (PGK) z. B. Schal, Schlag, schmatzen, schrill, Schwein; Putsch

<s> (silbisch) nur vor /p/ und /t/ (Plosiv)

- /s/ <ß> (PGK) häufigster Fall: nach Langvokal und Diphthong

<s> (nach Kurzvokal + C) Gips, Klops, Murks, Schnaps

(Fuge und Suffix) Zeitungsartikel, abends

<ss> (silbisch, Gelenk) müssen, Kasse, nasses

g-Spirantisierung und Auslautverhärtung:

Standardsprachlich wird König /kønɪg/ als [kø:.nɪç] mit g-Spirantisierung realisiert. Im süddeut-

schen Raum herrscht die Aussprache [kø:nɪk] vor mit der Auslautverhärtung /g/ [k]. Stan-

darddeutsch finden sich Varianten wie König[ç], König[g]e, könig[k]lich, die identisch mit <g>

geschrieben werden (*<Könich>, *<köniklich>). Die Schreibung ist phonographisch /g/ <g>,

zugleich ist die Morphemkonstanz bzgl. {KÖNIG} gewahrt.

Aufgabe A 21: Warum ist <y> im Deutschen auffällig? Wie beurteilen Sie den Graphemstatus?

53

Die Schreibung <ng> ist „historisch“, da phonologisch früher /n/ + /g/ vorlag. Der alveolare Nasal /n/ wurde

an das velare /g/ (orts)assimiliert als velarer Nasal [ŋ] (was man bei /n/ + /k/ heute noch sieht, vgl. [baŋk]);

zudem wurde /g/ getilgt, aber in der Schreibung bewahrt, weil <n> auf den alveolaren Nasal /n/ bezogen ist. 54

Im Phönizischen hatte der Vorgänger des <q>, genannt Qoph/Kof, den Lautwert /q/ (stimmloser uvularer Plo-

siv). Die Griechen kannten kein /q/, verwendeten aber Qoppa (so nannten sie Qoph) für /k/ vor /o/ und /u/,

sonst schrieben sie Kappa <κ>. Im Latein unterschied man cui ‚wem’ [kui] (<c> für /k/) und qui für [kʷi].

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4 Silbische Schreibungen

Die logisch auf das phonographische Schreiben folgende Stufe ist die der silbischen Schreibun-

gen. Die wichtigsten (häufigsten) silbischen Schreibungen sind

- die Verdoppelung eines Konsonantengraphems bei Vorliegen eines phonologischen Silbenge-

lenks, z. B. /εlə/ zu *<ele> <Elle>; man beachte jedoch <ck>/*<kk> Macke/*Makke und

<tz>/*<zz> Katze/*Kazze.

- das Dehnungs-<h> im Mehrsilbler am Ende einer geschriebenen betont-offenen Langvokalsil-

be vor Sonorkonsonant in der Folgesilbe, z. B. /zo:n/ /zø:.nə/ <Söh-ne>,

- das silbeninitiale <h> , das man zwischen eine betont-offene Langvokalsilbe und eine nackte

Schwa-Silbe setzt, und zwar in den Anfangsrand der zweiten, dann bedeckten Schreibsilbe

setzt: /dre:.ən/ zu *<dreen> <dre-hen>.

Die segmentale Besetzung einer Schreibsilbe

In Analogie zur phonologischen Sonoritätshierarchie gibt es tendenzielle Unterschiede bei den

Buchstabengestalten und ihrer Verteilung über die Schreibsilbe: Kerngrapheme wie <a, e, i, o,

u> sind kompakt und besitzen weder Ober- noch Unterlängen. Buchstaben für Sonorkonsonan-

ten, also <m, n, r>, weisen einen geraden Kopf auf (<l> tanzt aus der Reihe) und befinden sich

auch nur im Mittelband der Lineatur. Die Buchstaben an den Außenpositionen der Schreibsilbe,

die den Obstruenten entsprechen, besitzen einen langen Kopf und haben öfters eine Ober- o-

der Unterlänge, vgl. <p, q, b, d, t, k, g, f, j, ß>. Dadurch erhalten Silben in der Tendenz eine visu-

ell charakteristische Grundgestalt, vgl. <trinkt>, <drift>, <genf> (anders z. B. <kennen>, <rau-

nen>): kompakt in der Mitte und Ober-/Unterlängen an den Silbenrändern. Auch das <h>

(gleichgültig, ob gesprochen oder stumm) passt hierzu: <haushalt>, bohne>, <gehen>.

Die graphematische Silbe und der Schreibsilbennukleus55

Die graphematische Silbe sollte man keinesfalls mit der phonologischen Silbe verwechseln! Ein

Unterschied ist ganz markant: Während Sprechsilben im Deutschen einen nuklearen Sonorkon-

sonanten (vgl. [van.dl]) aufweisen können, enthalten Schreibsilben immer ein nukleares Vokal-

graphem: vgl. <Ga-bel>, <ha-ben> und *<Gabl>, *<habn>. <Hendl> und <Dirndl>, beides Aus-

drücke regionaler Herkunft, sind abweichende Schreibungen, und interessanterweise auch

nicht am Zeilenende trennbar! Es sind graphematische Einsilbler (vgl. Han-del und *Hen-dl)!

Auch /nɑ.tsio:n/ und <Na-ti-on> demonstrieren einen Unterschied (beschreiben Sie ihn)! Bei

offen gibt es keine graphematischen Gelenke (vgl. ein Phonem mit zwei Assoziationslinien);

vielmehr erscheinen zwei Grapheme mit jeweils einer Assoziationslinie! Bei der graphischen

Silbentrennung (am Zeilenende) ist nicht das letzte Sonoritätsminimum im Anfangsrand der

Folgesilbe zu platzieren, sondern das letzte C-Graphem, daher der Unterschied bei [le:.drɪç]

und <led-rig>, daher <wa-schen>, <Ra-che> (*Rac-he), <Me-than>.

Für die graphematische Silbe schlägt Primus (2010; i. E.) folgende Struktur vor:

55

Die meisten in Kap. 11, v. a. die in Kap. 11.2 präsentierten Einsichten verdanke ich den Arbeiten von Beatrice

Primus, übernommen aus Primus (2010) und Primus (i. E.).

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(61) <Silbe> <Silbe 1> <Silbe 2>

N N

AR V X (C)56

ER AR V X ER

(i) G a u l G ä u l e

g e i l g e i l e

(ii) S a a l S ä (*ä) l e

M o o r M o o r e

S i e g S i e g e

(iii) f a h l f a h l e

(iv) F a l l F ä l l e

H a l s H ä l s e

(v) T a -- l T ä -- l e r

Primus hebt die Relevanz des Schreibsilbennukleus (N) für das Deutsche hervor und assoziiert

mit ihm ein vokalisches (V) und ein unterschiedlich besetzbares Segment (X). In einer anderen

Version ist X eine C-Position, also nukleares VC, wobei C dann die einzige Position ist, an der

sowohl Vokal- als auch Konsonantengrapheme vorkommen, vgl. <saat> und <satt>. Die obliga-

torische V-Position des Schreibsilbennukleus besetzt ein Element aus der Menge {<a, e, i, o, u;

ä, ö, ü>}. Der Endrand nach N = VX (VC) wird rein konsonantisch besetzt (Hals, Saal, Sieg).

Als Besetzung der Position X können auftreten:

(i) nicht-stumme Vokalbuchstaben aus der Menge {(<i, u>)} bei Silben, bei denen V + X als Diph-

thong ausgesprochen wird, vgl. Feile, Main, faule, Fäule, feurig. Wir sehen hier eine komple-

mentäre Verteilung: V = {<a, ä, e>} (rundköpfig), X = {<i, u>} (geradköpfig).

(ii) stumme (rundköpfige) Dehnungszeichen aus der Menge X = {(<a, e, o>)} (rundköpfig) wie in

Saal, Meer (oder Soest), Sieg (iii), Moor. Es handelt sich um die silbischen Schreibungen der Vo-

kalverdoppelung (ii) und des „Dehnungs-<e>“ bei /i:/--<ie> (iii).57 Die Dehnungszeichen stehen

nach langem gespanntem Vokal. Da die geradköpfigen Buchstaben {<i, u>} als Dehnungszeichen

ausgeschlossen sind, sind *<ii>, *<uu> und infolgedessen auch *<üü> nicht realisierbar!

Nebenbei: Da es nur zwei Vokalpositionen in N gibt, folgt, dass zwischen drei aufeinander fol-

genden Vokalgraphemen eine Schreibsilbengrenze liegt, vgl. kre-ieren, schrei-en.

(iii) das stumme DEHNUNGS-<H> wie in fahle, kehren, Sohnes, Ruhmes, Mähne, Söhne, Sühne.

Dieses <h> wird nur vor den Endrand-Sonorkonsonanten <l, m, n, r> eingefügt. Auch dieses

Dehnungszeichen steht nach langem gespanntem Vokal.58

56

Eine häufig verwendete Ausprägung der CV-Phonologie nimmt nur eine einzige V-Position (die des sonorsten

Silbensegments) an, wobei der Silbennukleus als VC konzipiert ist und bei Wa[ɑ:]l, wei[ai]l oder Wal[al]d die

geklammerten Segmente die Nukleuspositionen VC besetzen (der Langvokal mit Assoziation zu V und C!). 57

Regional, etwa im Westfälischen, ist das „Dehnung-e“ (im Standard nur <ie>) weiter verbreitet, vgl. die Na-

men Kevelae[a:]r und Soe[o:]st. 58

Bitte nicht verwechseln: Das DEHNUNGS-<H> vor Sonorkonsonant ist im Unterschied zu einem (intervokali-

schen) SILBENINITIALEN <H> ein „(schreib)silbenfinales <h>“, vgl. buh-len versus bu-hen.

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(iv) nicht-stumme Konsonantenbuchstaben wie in Fal(l) (v) oder Hal(s) (vi). (v) zeigt die Konso-

nantenbuchstabenverdoppelung nach ungespanntem Kurzvokal, wobei der gedoppelte Buch-

stabe im Endrand steht und ggf. in den Anfangsrand der Folgesilbe wechselt.

(v) Wenn die X-Position leer ist, wird der Vokal als gespannt-lang interpretiert, denn anderen-

falls stünde ein konsonantisches Segment in X, vgl. Ko[o:]-ma, Ko[ɔ]m-ma und Wal, Wall.

Die Besetzung des Nukleus lässt den Leser schnell erfassen, ob ein Kurzvokal (V + C) ein Diph-

thong (X: <i, u>, vgl.) oder ob ein Langvokal (V allein oder V + Dehnungszeichen) vorliegt:59

(62) minne meine saiten heer

mine miene saaten hehr

mahne satten herr

muhe sorten herb

Da die Konsonantenverdoppelung bei Silbengelenk ziemlich regelmäßig durchgeführt wird,

kann man aus deren Abwesenheit darauf schließen, dass ein Langvokal vorliegt, vgl. Mine, Min-

ne. (Ab und zu gibt es Ausnahmen wie He[e:]rd vs. Held mit Langvokal trotz VCC.)

Für die Position X gilt ein Verbot komplexer Grapheme: *Komplex-CN: In der nuklearen C-

Position der Schreibsilbe ist ein komplexes Graphem ausgeschlossen. Vokalbuchstaben in X dür-

fen keine Diakritika aufweisen, vgl. das Trema bei *{<ä, ö, ü>}, vgl. unten (i). Auch der Umlaut

von /au/, phonologisch /au/ /ɔʏ/, kann nicht schriftlich dargestellt werden (s. (ii)), da der

Umlaut am zweiten Diphthongsegment realisiert wird, jedoch *<ü> ünzülässig, pardon: unzu-

lässig ist (daher *<aü> bzw *<oü>, sondern <äu>). Die Umlautung wird auf dem ersten Segment

markiert, obwohl es phonologisch als Ergebnis einer Rundungsassimilation zu werten ist.

Wie unten (iii) zeigt, können in Position X keine komplexen konsonantischen Lautabbilder wie

<ch, ck, sch> vorkommen. Diese Kombinationen stehen im Endrand der Schreibsilbe und wer-

den bei der Worttrennung in den Anfangsrand der Folgeschreibsilbe genommen, vgl. Ma-cke,

Fä-cher und Bü-sche. Anders verhält es sich z. B. bei lang, lan-ge.60

Zu (iv): Da das „Eszett“ bzw. <ß> ebenfalls ein komplexes Graphem (eine Ligatur aus <ɾ> und

<ʒ>) darstellt und nach Kurzvokal in Position X nicht „passt“, wurde während der letzten Ortho-

graphiereform folgerichtig das <ß> nach Kurzvokal und mit Bezug auf ein Silbengelenk (vgl. alte

Schreibung Fluß <> Flüsse) durch die Schreibung <ss> ersetzt.

59

Eisenberg (2004a: 311) formuliert dies so: „Im Geschriebenen ist silbische Information vor allem für das Auge

als Schreibsilbe kodiert. Es kommt darauf an, dem Auge die Einzelsilbe und die Silbenfolge von Wortformen

effektiv zugänglich zu machen“. 60

Bei der PGK /k/ <k> wird bei Silbengelenk nicht *<kk>, sondern <ck> verschriftet, vgl. lecker/*lekker (an-

ders Lehnwörter wie Mokka, Sakko). Historisch stand <c> für [k] im Silbenendrand, <k> stand im Anfangsrand

(mhd. künic). <ck> wird als Einheit aufgefasst und nicht getrennt, vgl. le-cker analog Be-cher. Die Trennschrei-

bung alt

lek-ker und die Grundform lecker widersprachen der Morphemkonstanz. – Die Sache mit <ck> ist ver-

wickelt. So gab es Reformvorschläge, wegen der Morphemkonstanz packen, Päckchen und auch *Packet zu

schreiben. Aber: <Paket> ist ein Lehnwort (frz. paquet) und keine Ableitung zu packen: Das „a“ ist kurz, aber

gespannt, so dass kein Gelenkkonsonant folgt! Andererseits liegt es semantisch nahe, Päckchen und Paket

aufeinander zu beziehen.

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(63) <Silbe> <Silbe 1> <Silbe 2>

N N

AR V X ER AR V X ER

B o o t B ö *ö t ch e n

f a u l F ä u/*ü -- l e

F a *ch ch F ä -- -- ch e r

F u -- ß F ü -- -- ß e

Fl u s/*altß s Fl ü s -- s e

Anfangsrand und Endrand der Schreibsilbe

Im Anfangsrand (AR) der Schreibsilbe wird meist rein phonographisch verschriftet, vgl. pl(att),

br(aun), zw(ei). In nativen Wörtern finden wir meist ein oder zwei, seltener auch drei Buchsta-

bensegmente, mehr aber nicht.

Aus dem Rahmen fallen die Anfangsränder mit /ʃ/ wie in <sprung>/*<schprung> und

<strunk>/*<schtrunk>. Da die PGK fünfbuchstabige Anfangsrand-Überlängen erzeugen würden,

wird zur Überlängenvermeidung die silbische (Anfangsrand-)Schreibung mit <s> (<spr, str>) ge-

wählt (vgl. Eisenberg 2013, Bd. 1, S. 298).

Die Besetzung des Anfangsrandes ist auch für das Vorkommen eines Dehnungs-<h> von Bedeu-

tung. Ich nenne zwei Zusammenhänge:

- Bei mehr als einem Anfangsrandsegment wird kein Dehnungs-<h> geschrieben, vgl. *klahr

(aber: wahr), *Schehre (Lehre). Es gibt ein paar Ausnahmen: Drohne, dröhnen, empfehlen, Pfahl,

Pfuhl, prahlen, Stahl, stehlen, stöhnen, Strahl, Strähne, Stuhl.

- Bei <t> im Anfangsrand wird kein Dehnungs-<h> gesetzt, daher *Tohn (Sohn), *Tohr (Rohr),

und das trotz möglicher Homonymendifferenzierung Ton/*Tohn (‚Klang‘ vs. ‚Lehm‘) und

Tor/Tohr (‚Durchgang‘ vs. ‚Narr‘). Hier wirkt vielleicht ein altes Dehnungszeichen nach, das mit

der Orthographiereform von 1901 abgeschafft wurde (aber in Thron überlebte): das <th> im

Anfangsrand, vgl. Thon (so wurde ‚Lehm‘ bis dato geschrieben), Thür, Thor.

Wenn der Endrand (ER) besetzt ist, wechselt bei Worttrennung die einzige bzw. die letzte ER-

Einheit bei einer Erweiterung zum Mehrsilbler in den Anfangsrand der nächsten Schreibsilbe,

vgl. faul > fau-le, Wit-ze, en-ge, Wulst > Wüls-te, ernst > erns-te. Beispiel: Der ER ist bei Wulst

zweifach besetzt, bei der Worttrennung wechselt nur der letzte Schreibkonsonant in den An-

fangsrand des zweiten Trennsegments (anders in Fürth und Für-ther wg. <th>).

Übersicht für die Prüfungspraxis (z. B. Klausur, Staatsexamen)

Explizite Schreibungen, die den Lesern vokalische Länge/Kürze anzeigen sind:61

61

In starker Tendenz gilt: Ein Konsonant nach Vokal = lang, zwei oder mehr = kurz (Spaten, spalten); es stimmt

aber nicht immer: Mond; Drama und dramatisch. Nur bei den o. g. expliziten Markierungen/Schreibungen

kann man sicher auf die Vokalquantität schließen.

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Kürze:

- Konsonantengraphemverdoppelung: Deppen, Ebbe, Kette, Kladde, Muffe, Knarre

- Analoge Bigrapheme (Decke/*Dekke, Katze/*Kazze, Städte, vgl. Stätte)

- Überdies <pf> klopfe, <ng> Menge und wohl auch <sch> (evtl. Ausnahme duschen?)

Länge:

- Silbeninitiales <h>: Ehe, ehe, gehen, drohen

- Dehnungs-<h> vor Sonorkonsonant: nehmen, nahm, Lehre, Kohle, Kähne

- Verdoppelung: Saal, See, Meer, Moor

- <ie> (PGK < /i:/), Miene (bei Mine ist die Länge nicht explizit, nur wahrscheinlich)

- Post(mono)vokalisches <ß>: Straße, aber: Strauße kein langes /u/; Stoß

Aufgaben

A 22) Erläutern Sie die Schreibungen von /ts/ (und stellen Sie bzgl. der unorthodoxen Schrei-

bung eine Hypothese auf bzw. forschen Sie nach!) in

(a) Katzen (b) Lotsen (c) duzen

A 23) Haben wir in <Kühe> und <kühle> das gleiche <h>? Schreibbedingungen?

A 24) Warum schreiben wir <spielt> und <stiehlt>?

5 Morphologische Schreibungen

Hier sind vor allem morphemidentifizierende Schreibungen zu behandeln, die eine optische

Morphemkonstanz herbeiführen. Die wohl häufigsten Fälle sehen Sie hier:

(64) Männer Mann (*Man) Mann Männer (Menner)

Gelenkschreibung auch im Einsilbler (PGK) Umlaut durch Trema, nicht PGK (Nenner)

(65) dehnen dehnt (*dent) ruhen ruht (*rut)

Dehnungs-<h> auch im Einsilbler Silbeninitiales <h> auch im Einsilbler

Bei einigen „kleinen Wörtern“ wie dann, denn, wann und wenn ist eine morphologische Schrei-

bung synchron nicht oder nicht mehr zu begründen. Die Schreibungen sind historisch bezogen

auf alte Zweisilbler wie danne, wanne oder wenne. Möglicherweise stabilisiert eine synchron

differenzierende Wirkung bei denn – den, wenn – wen die synchron unmotivierten Morphem-

konstanzschreibungen.

Im Unterschied zu tippen und Tipp (alte Schreibung: *Tip) ist bei den folgenden Entlehnungen

die Assimilation durch morphologisches Schreiben nicht vollzogen:

(66) Busse, Bus/*Buss, jobben, Job/*Jobb und poppig, Pop/*Popp

Bei den Suffixen -in und -nis wird das Konstanzprinzip nicht befolgt und die silbische Schreibung

wird nicht in den Einsilbler kopiert:

(67) Hindernisse, aber Hindernis/*Hinderniss; Zauberinnen, aber Zauberin/*Zauberinn

Morphologische Umlautgraphien wie <a/ä>, <o/ö> und <u/ü> sind auf eine regelhafte Lautver-

änderung bezogen: auf den Umlaut eines Lexems mit hinterem Stammvokal. Der Umlaut ist

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eine Vokalfrontierung und das Diakritikon TREMA indiziert [- hinten] bzw. die Veränderung von [+

hinten] zu [- hinten]. Die Leserfreundlichkeit dieses Prinzips sehen Sie im Vergleich von mhd.

hant, hende und nhd. Hand, Hände.

Dehnungsgraphien, die auf zweisilbigen Wortformen basieren, werden auch in entsprechende

Einsilbler übernommen: deh-nen, dehnt/*dent; se-hen > Sieh genau hin!, sieht/*siet, sah.

Bei Doppelvokalen ist die Morphemkonstanz eingeschränkt: Während bei Paare und Paar das

Morphem konstant verschriftet wird, wird bei Pärchen (*Päärchen) oder Boot, Bötchen

(*Böötchen) die Verdoppelung nicht beibehalten. Grund: Eine Schreibsilbe erlaubt in Position X

kein komplexes Graphem wie ä, ö, ü; i; ß.

Fremdmorpheme: Im Sinne der Morphemkonstanz werden immer wieder inhomogene Schrei-

bungen ausgeglichen, vgl. altTip, dann wegen tippen (silbisch) analog Tipp. Das Adjektiv essenzi-

ell (alt nur essentiell, heute Nebenvariante) hat man morphologisch an Essenz angeglichen.

Seltener und eher unregelmäßig finden sich MORPHEMDIFFERENZIERENDE SCHREIBUNGEN wie Seite <>

Saite, Lid <> Lied, malen <> mahlen. Hier werden HOMOPHONE Wörter (Unterschied zur Polyse-

mie: keine semantische Brücke!) graphisch differenziert. Das vielleicht prominenteste Beispiel

ist wohl dass (subord. Konj) versus das (Relativpronomen); zur Differenzierung beider Wörter

gibt es ein schönes Beispiel aus Fuhrhop/Peters (2013: ebd.):

(68) Sie informierten [das Gremium, das sie gewählt hatten] – Welches Gremium? (ATTR)

Sie informierten das Gremium, [dass sie gewählt hatten] – Wovon/Worüber? (PO)

Aufgaben

A 25) Erläutern Sie, warum man /kantə/ über die phonographische Verschriftung hinaus als

<kannte> bzw. <Kante> verschriftet!

A 26) Warum schreiben wir /ts/ unterschiedlich in (a) Grazer, (b) Kratzer, (c) Pizza?

A 27) Warum schreiben wir <Eule>, aber <äußerst>? Inwiefern ist <Säule> doppeldeutig und

dabei einmal auffällig?

Aufgabe 28:62

Beschreiben Sie die PGK und die Schreibregeln, die der Schreibgrammatik des Vorschlags von

Vennemann/Jacobs (1982) zugrunde liegen!

Vir glauben tsvar nict, dass dises süstem sicc fonn hoite auf morgen durcsetsen

virt, mainen aber docc, dass saine chancen nict šlecter sint als di irgentaines ande-

ren, da ess oiserst süstematišš unt špilent laict tsu lernen ist. Jedenfals sint vir der

ansict, dass lerer unt šüler jetst fil mer tsait auf di ortografí fervenden, als si

ferdnt.

62

Quelle: Vennemann, Theo/Jacobs, Joachim (1982): Sprache und Grammatik: Grundprobleme der linguistischen

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