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Ulrich Schwab Aktuell: Kompetenzorientierung 28134 Themenzentrierte Interaktion Kompetenzen entwickeln und/oder Lebendiges Lernen? 25. Jahrgang, 2/2011, Seite 710 Psychosozial-Verlag ZEITSCHRIFTENARCHIV

Aktuell: Kompetenzorientierung - ruth-cohn-institute.org · Prof. Dr. Ulrich Schwab, 53, lehrt Prakt. Theologie mit Schwer-punkt Religionspädagogik an der Ev.-Theol. Fakultät der

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Ulrich Schwab

Aktuell: Kompetenzorientierung

28134

Themenzentrierte InteraktionKompetenzen entwickeln und/oder LebendigesLernen?25. Jahrgang, 2/2011, Seite 7–10Psychosozial-Verlag

ZEITSCHRIFTENARCHIV

25. JahrgangHeft 2

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Schwab, Aktuell: Kompetenzorientierung

Zum AutorProf. Dr. Ulrich Schwab, 53, lehrt Prakt. Theologie mit Schwer-punkt Religionspädagogik an der Ev.-Theol. Fakultät der LMU in München, TZI-Graduierter seit 2010.

Der Text zeigt die bildungspolitischen Hintergründe der aktuellen Diskussion um eine Kompetenzorientierung der Lehrpläne auf und benennt mit Bildungsstandards und Kerncurricula wichtige einzelne Aspekte dieses Neuansatzes.

This article gives an overview to the german discussion concerning an innovative approach for curricula, called Kompetenzorientierung, which became widespread all over Germany in the last decade.

Die Rede von der Kompetenz, die jemand besitzt, kennen wir alle. Wir meinen damit, dass jemand eine bestimmte Fähigkeit hat und diese auch anwenden kann. Auch in der Pädagogik spricht man schon seit vielen Jahrzehnten von Kompetenzen als Ergebnis eines Lernprozesses: Handlungskompetenz, Sachkompetenz und soziale Kompetenz sind für die Pädagogin, den Pädagogen schon lang vertraute Begriffe. In den letzten zehn Jahren hat der Begriff der Kompetenzorientierung in der Bildungspolitik aber nun in be-sonderer Weise Karriere gemacht. Derzeit erstellen alle Bundes-länder kompetenzorientierte Lehrpläne oder haben diese bereits vorliegen. In Bayern z.B. beginnen wir in diesem Jahr mit einer groß angelegten Reform, in deren Verlauf in den nächsten drei Jahren alle Lehrpläne von der Grundschule bis zum Gymnasium umgeschrieben werden. Und es ist damit zu rechnen, dass auch in der Erwachsenenbildung die Bewilligung von Fördermitteln zuneh-mend von einer ausgewiesenen Kompetenzorientierung abhängig sein wird. Woher kommt dieser fulminante Bedeutungsanstieg der Kompetenzorientierung?

Ende der 1990er Jahre sorgten in Deutschland verschiedene Studien für Aufregung, weil sie zeigen konnten, dass die Leis-tungen deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich bestenfalls im Mittelfeld, häufig sogar darunter lagen (TIMMS und PISA). Auffallend war auch, dass die schwachen Schülerinnen und Schüler größtenteils aus Familien mit einem Migrantenhintergrund stammten. Damit war empirisch belegt, dass in Deutschland der Zugang zu Bildung mehr als in den

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Themenschwerpunkt: Kompetenzen entwickeln und/oder Lebendiges Lernen?

meisten anderen Ländern von der sozialen Herkunft der Kinder abhängt. So haben Migrantenkinder, die beim Schuleintritt in die Grundschule nicht hinreichend deutsch sprechen, praktisch keine Chance mehr, dieses Defizit aufzuholen.

Um diese deprimierenden Ergebnisse nachhaltig zu verbessern, regte das Bundesministerium für Bildung und Forschung eine Ex-pertise an, die sich mit der Entwicklung nationaler Bildungsstandards beschäftigen sollte. So sollte bildungspolitisch gesichert werden, dass alle Kinder aus allen Bundesländern zumindest einen grundlegen-den Bildungsstandard erreichen. Diese Expertise erschien 2003 und wurde als Klieme-Gutachten in der Öffentlichkeit bekannt (Klieme 2003). In diesem Gutachten wird eine grundsätzliche Wende in der Bildungspolitik gefordert. Nicht mehr durch Haushalts- oder Lehr-pläne soll das Bildungssystem gesteuert werden, sondern durch eine Evaluation der Leistungen der Schule, insbesondere durch die tatsächlich erbrachten Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler.

Formuliert wurden solche Ziele auch früher schon, aber nun sollten die Bildungsinstitutionen erstmals die Verantwor-tung dafür übernehmen, dass diese Ziele auch erreicht werden. Dazu bedarf es einer solchen Zielformulierung, die konkret überprüft werden kann. Diese Überprüfung bezieht sich sowohl auf einzelne Schulen als auch auf das jeweilige Bildungssystem. So ist neben der individuellen Leistungsfähigkeit auch die Frage nach der Möglichkeit sozialer Teilhabe am Bildungssystem (Abbau von Benach-

teiligung, spezifische Förderung, Flexibilität und Offenheit des Bildungsprozesses) zu stellen.

Die hierzu formulierten Bildungsstandards konkretisieren fach- bzw. lernbereichsbezogene Bildungsziele. Neben kognitiven Wis-sensinhalten gehören auch Einstellungen, Werte und Lernmotive zu den hier beschriebenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Kompeten-zen sind allerdings keine Auflistung von Lerninhalten, sondern sie formulieren Grunddimensionen der Lernentwicklung in einem Gegen-standsbereich. Ausgangspunkt sind einzelne Fachkompetenzen, die sich zu einem fachspezifischen Kompetenzmodell zusammenfügen lassen. So lässt sich zeigen, ob die Schülerinnen und Schüler das jeweilige Kompetenzniveau erreicht haben.

Das Klieme-Gutachten nennt sieben Merkmale guter Bildungs-standards, damit Kompetenzanforderungen möglichst eindeutig formuliert werden können (Klieme 2003, 24ff.):1. Fachlichkeit: Bildungsstandards benennen klar die Grundprin-

zipien des Unterrichtsfachs.2. Fokussierung: Bildungsstandards beziehen sich auf den Kern-

bereich des Faches, nicht auf das gesamte Curriculum.3. Kumulativität: Bildungsstandards eines Faches bauen im Sinne

eines vernetzten Lernens aufeinander auf.

Kompetenzen formulieren Grund­

dimensionen der Lernentwicklung

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Schwab, Aktuell: Kompetenzorientierung

Kerncurricula sollen eine Orientierung für die Konstruktion von Unterricht anbieten

4. Verbindlichkeit für alle: Bildungsstandards drücken Mindest-anforderungen aus, die schulformübergreifend Gültigkeit besitzen müssen.

5. Differenzierung: Bildungsstandards formulieren auch auf die Mindestanforderungen aufbauende Kompetenzstufen, so dass ein differenziertes Lernen ermöglicht wird.

6. Verständlichkeit: Bildungsstandards sind klar und verständlich formuliert.

7. Realisierbarkeit: Bildungsstandards formulieren realistische Lernanforderungen.

Die Erstellung kompetenzorientierter Bildungsstandards geschieht mit dem Ziel, klar benennen zu können, worauf es im Lernprozess ankommt. Für die Lesekompetenz hat die PISA-Studie z.B. ein fünfstufiges Modell vorgesehen. Hier geht es vom „oberflächigen Verständnis einfacher Texte“ (Stufe I), in dem die Hauptgedanken eines einfachen Textes erfasst werden können, bis hin zur Stufe V, der „flexiblen Nutzung unvertrauter, komplexer Texte“, die ein detailliertes und umfassendes Verständnis eines unbekannten Textes ermöglicht, welches auch kritisches Bewerten und Bildung eigener Hypothesen zum Textinhalt mit einschließt.

Bildungsstandards allein ergeben aber noch keine Lehrpläne. Sie bilden vielmehr einen Referenzrahmen für pädagogisches Arbeiten. Für eine konkrete Unterrichtsvorbereitung sind sie zu abstrakt. Die Vorgabe von Themen, an denen die inhaltliche Ge-staltung des Unterrichts anknüpfen kann, wird deshalb von den sog. Kerncurricula übernommen, die die Auswahl der Inhalte und Themen für den Lernprozess definieren.

Was ist aber nun der Unterschied zu den herkömmlichen Lernzie-len? Anders als bisherige curriculare Lehrpläne sollen Kerncurricula nicht die Gesamtheit der im Unterricht zu behandelnden Inhalte auflisten, sondern sich an den zu erarbeitenden Kompetenzen orientieren. Insofern ähneln sie den Rahmenplänen, die man-che Bundesländer auch bisher schon als Lehrpläne ausgefertigt haben. In den neuen kompetenzorientierten Lehrplänen wird durch die Kerncurricula ein Minimum an Themen, Inhal-ten und Lehrformen benannt, welche für alle Schulen des jeweiligen Typs verbindlich sein sollen, um damit bestimmte, vorher ausgewählte Kompetenzen zu erreichen. Die darüber hinausgehende Gestaltung des Unterrichts soll mittelfristig direkt den einzelnen Schulen bzw. den einzelnen Lehrkräften über-lassen bleiben. Also sind auch Kerncurricula keine Vorschriften zur Unterrichtsgestaltung, sondern sollen eine Orientierung für die vor Ort zu leistende Konstruktion von Unterricht anbieten.

Der Kern an Wissen und Orientierung, mit dem die Schülerin-nen und Schüler in Bezug auf ein bestimmtes Fach an eine selbst-

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bestimmte Teilhabe unserer Kultur herangeführt werden sollen, lässt sich nicht nur durch Wissensinhalte füllen. Vielmehr gehören orientierende Gütekriterien für ein gutes Leben ebenso hinzu wie auch Formen angemessenen Lernens. Schule wird hier zum Ort, in dem Kulturen „Inhalte und Normen des Lebens definieren“ (Klieme 2003, 98) und dies in angemessener pädagogischer Form im Unterricht präsentieren. Auch wenn sich das Klieme-Gutachten ansonsten gegenüber anderen pädagogischen Ansätzen sehr be-deckt verhält, so ist das hier zur Sprache kommende Verständnis von Bildung doch auch anschlussfähig für zentrale Fragen der Erwachsenenbildung nach einem tragfähigen Lebensentwurf. Hier könnten z.B. die Axiome der Themenzentrierten Interaktion hervorragend anschließen.

Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen ist von der Idee her zweifelsohne ein lerntheoretischer und bildungspolitischer Neu-

ansatz. Eine Gesellschaft ist dazu aufgerufen, Verantwortung für das Gelingen von Bildungsprozessen zu übernehmen. Individuelles Lehren und Lernen wächst somit strukturell mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Bil-dung zu einer Einheit zusammen. Indem die Gesellschaft überprüfbare Bildungsstandards definiert und dabei auch Mindestanforderungen im Blick hat, werden Problemlagen nicht allein auf einzelne Schülerinnen und Schüler abge-wälzt, sondern nun in die gemeinsame Verantwortung von

Individuum, Institution und Gesellschaft gestellt. Wird dieser Weg einer Verknüpfung von Bildungspolitik und Bildungsbiografie konsequent zu Ende gedacht, so kann er tatsächlich etwas beitragen zur Verbesserung der persönlichen Entwicklung von Lernenden und entspricht m.E. sehr den Vorstellungen der TZI von einem gemeinsamen, prozessorientierten Lernen in einem bestimmten Globe. Wird er dagegen nur als neues Prüfverfahren missverstanden, so erhöht er gegen seine eigene Intention doch den Leistungsdruck an unseren Schulen. Höchst problematisch wird es, wenn diese Kompetenzen nur im kognitiven Bereich formuliert werden, weil ein guter Lernprozess immer auf die ganzheitliche Entwicklung einer Person achtet.

Literatur

Eckhard Klieme et al., Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, hrsg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn 2003.

Kompetenzorientier­tes Lehren und Lernen ist ein

bildungspolitischer Neuansatz

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

Bertrand Cramer, Francisco Palacio-Espasa

Psychotherapie mit Müttern und ihren Babys

Terje Neraal, Matthias Wildermuth (Hg.)

ADHSSymptome verstehen – Beziehungen verändern

2009 · 393 Seiten · BroschurISBN 978-3-89806-822-2

Die Autoren legen in diesem Buch die Praxis der gemeinsamen Psychotherapien von Mutter und Kleinkind dar, deren Technik durch die frühen Psychopathologien bestimmt wird. Sie zeigen auf, dass die Dyade aus Mutter und Baby ein instabiles System ist, das für innere und äußere Einflüsse außerordentlich empfäng-lich ist und sich infolgedessen bes tens für eine Praxis und Theorie psychischer Veränderung eignet. Im Laufe gemeinsamer Kurztherapien, deren Technik anhand von Fallgeschichten vorgestellt wird, lassen sich oft bedeutsame Veränderungen erreichen.

Diese Übersetzung ist eine wahre Bereiche-rung der Schriften zur frühkindlichen Psycho-analyse im deutschsprachigen Raum.

2. Aufl. 2011 · 94 Seiten · BroschurISBN 978-3-89806-749-2

Unaufmerksame, hyperaktive und impulsive Kinder teilen sich weniger über Worte als über ihr Verhalten anderen Menschen mit. Deshalb bleiben ihre Botschaften oft unerhört und rufen bei anderen Unverständnis und Hilflosigkeit hervor. Das Buch eröffnet über beziehungs- und familiendynamische Kenntnisse einen Zu-gang zur Innenwelt der Kinder mit ADHS. Zehn detaillierte Fallgeschichten beschreiben die bedürfnisangepasste, familientherapeu-tische Behandlungsarbeit. Anhand einer Studie an 93 nach diesem Modell behandelten Kin-dern wird gezeigt, dass eine medikamentöse Therapie mit Psychostimulanzien in der Regel überflüssig ist.

Psychosozial-Verlag

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Theo R. Payk

BurnoutBasiswissen und Fallbeispiele

Gabriele Junkers

Die leere CouchDer Abschied von der Arbeit

als Psychoanalytiker

2013 · 317 Seiten · GebundenISBN 978-3-8379-2181-6

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Alterungsprozess bleibt für viele Psycho-analytiker ein Tabuthema. Fehlende insti-tutionelle Vorschriften und das Schweigen der psychoanalytischen Gemeinschaft zu diesem Problemkomplex kommen erschwe-rend hinzu. Dieses Buch thematisiert die Auswirkungen des demografischen Wandels auf den Analytiker selbst wie auf die insti-tutionalisierte Psychoanalyse. Aus der Sicht von Patienten und Ausbildungskandidaten wird berichtet, welche Traumata entstehen, wenn man einen kranken Analytiker erlebt oder ihn durch seinen unerwarteten Tod verliert. Aber welche Konsequenzen erge-ben sich daraus für die Verantwortung von Therapeuten und Institutionen?

2013 · 84 Seiten · BroschurISBN 978-3-8379-2259-2

Sozialmedizinischen Statistiken zufolge haben psychische Störungen in Form von seelischen Erschöpfungszuständen wäh-rend der letzten Jahre rapide zugenommen. Hierdurch alarmiert, werden inzwischen verschiedenste gesundheitliche Beeinträch-tigungen infolge beruflicher oder ander-weitiger Überbeanspruchung als Burnout deklariert. Das vorliegende Buch informiert über Entstehungsbedingungen, Symptome und Begleiterscheinungen sowie therapeu-tische Besonderheiten dieses Phänomens. Besondere Berücksichtigung finden dabei psychosoziale und gesellschaftliche Einflüsse. Fallbeispiele runden die Lektüre ab und tragen zu einem vertieften Verständnis von Burnout-Beeinträchtigungen bei.