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DasScience Fiction Jahr2009
Herausgegeben vonSascha Mamczak und Wolfgang Jeschke
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Verlagsgruppe Random HouseFSC-DEU-0100Das FSC-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher aus dem Heyne Verlagliefert Mochenwangen Papier.
Originalausgabe 8/09Redaktion: Sascha Mamczak/Wolfgang Jeschke/Sebastian PirlingCopyright © 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Random House GmbHCopyright-Vermerke zu den einzelnen Beiträgen jeweils am Schluss der TextePrinted in Germany 2009Umschlagbild: Arndt DrechslerUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: C. Schaber Datentechnik, WelsDruck und Bindung: GGP Media, Pößneck
ISBN: 978-3-453-52554-2
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Inhalt 5
Inhalt
Editorial 12
Schwerpunkt:Quo vadis, Superhelden?
Er kam zur rechten Zeit 19Der Graf von Monte Christo – die Geburt des Superhelden
– von John Clute
SciFi, Juden, Jugendliche 32Die Ursprünge der Superhelden-Comics
– von Lutz Göllner
Übermenschen aus der Neuen Welt 53Wie das Land der Freien zum Land der Superhelden wurde
– von Ole Johan Christiansen und Thomas Plischke
I Shall Destroy All the Civilized Planets! 76Jenseits der USA: Der Superheld als gescheiterte Existenz
– von Hartmut Kasper
Hinter den Strumpfhosen 95Der dekonstruierte Superheld
– von Johannes Rüster
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6 Inhalt
In der Zeitmaschine auf dem Weg zu Gott 118Von den Sackgassen des Erzählens im Superhelden-Comic und -Film
– von Karsten Kruschel
Aerokinese, Phasing, kosmische Kräfte 133Fakten oder Fantasy? Zur Naturwissenschaft der Superhelden
– von Uwe Neuhold
Der weite Weg nach Smallville 246Supermans filmische Suche hat ein Ende
– von Peter M. Gaschler
Immer tiefer in die Dunkelheit 258Eine kurze Geschichte der Batman-Filme
– von Simon Spiegel
Who Watches the Watchmen? 295Mission impossible: Wie Alan Moores Watchmen doch noch verfilmt wurde
– von David Hughes
Helden für jedermann 319Die Superheldeninflation im japanischen Manga und Anime
– von Sascha Koebner
Der Held, der die dritte Tür wählt 333Hellboys Kampf gegen den kosmischen Schrecken
– von Boris Koch
Aus großer Macht folgt große Verantwortung! 345Über die moralischen Pflichten von Superhelden
– von Christopher Robichaud
Eine Glühbirne im Kampf für eine bessere Welt 370Es gibt Helden, es gibt Superhelden – und dann gibt es noch Birne
– von Bartholomäus Figatowski
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Inhalt 7
Es gibt kein Zurück 398Superhelden – Helden wie du und ich
– von Austin Grossman
Helden für die Ewigkeit 407Superhelden-Comics, die man unbedingt kennen sollte
– von Sven-Eric Wehmeyer und Bernd Kronsbein
Bücher & Autoren
Reichsflugscheiben und Wehrmachtsmythen 425»Stahlfront« – rechtsextreme Unterhaltung als Science Fiction?
– von Dierk Spreen
Die Dystopie des Kapitals 469Science Fiction von links: Jack Londons Alptraumroman »Die eiserne Ferse« wird hundert
– von Bartholomäus Figatowski
Am Vorabend der Singularität 488Notizen zur »posthumanen« Science Fiction
– von Wolfgang Neuhaus
Warum wir alle Pyramiden bauen sollten 506Eine Begegnung mit Thomas M. Disch (1940 – 2008)
– von Christopher Ecker
Etwas Besonderes 561Gedanken zur Phantastik von Johanna und Günter Braun (1928/1929 – 2008)
– von Erik Simon
Todesfälle 574
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8 Inhalt
Interview
»Wir stehen am Anfang einer gewaltigen Revolution!« 615Ein Gespräch mit Greg Bear
– von Usch Kiausch
»Ich persönlich hätte nichts dagegen, mit 75 wieder runderneuert zu werden!« 637Ein Gespräch mit John Scalzi
– von Uwe Kramm
Science & Speculationen
Der Kreis der Erkenntnis 655Eine winterliche Reise zum europäischen Teilchenforschungszentrum CERN
– von Uwe Neuhold
Die Saat der Zeit 714Urknall, Naturgesetze und die mysteriöse vierte Dimension
– von Rüdiger Vaas
Pancognosis 846Das Programm der Konnexion
– von Peter Kempin und Wolfgang Neuhaus
In 80 Büchern um die Welt 860Neuerscheinungen in Wissenschaft und Philosophie
– von Rüdiger Vaas
Film
Märchenprinzen im Dosenbierrausch 937Phantastik im Kino und auf DVD 2008
– von Christian Endres, Lutz Göllner, Bernd Kronsbein, Michael Meyns, Marc Sagemüller, Sven-Eric Wehmeyer und Lars Zwickies
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Inhalt 9
Belichtet 1011Eine kleine Geschichte des österreichischen Science-Fiction-Films
– von Thomas Ballhausen
Noch einmal von vorne anfangen 1025Hayao Miyazaki, Meister des Anime
– von Peter M. Gaschler
Der Ex-Terminator 1040Stan Winston (1946 – 2008)
– von Peter M. Gaschler
Letztes Jahr in Marienbad 1075Alain Robbe-Grillet (1922 – 2008)
– von Peter M. Gaschler
Kunst
Die Entschleunigung der Zukunft 1087Frank Lewecke und seine kosmischen Welten
– von Philip Thoel
Habicht mit Blähungen 1111Die Spacerock-Chefkonstrukteure Hawkwind und ihre Vierzig-Jahre-Soap
– von Ralf Reiter
Hörspiel
Science-Fiction-Hörspiele 2008 1147– von Horst G. Tröster mit Beiträgen von Marina Dietz, Ute Perchtold, Christiane Timper, Ulrich Bettermann, Helmut Magnana, Sascha Mamczak, Erik Simon und Günther Wessely
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10 Inhalt
Comic
Dinge der Unmöglichkeit 1213Die Bilderwelt des Zukunftsnostalgikers Bruce McCall
– von Hartmut Kasper
»Der Verbleib unserer Spezies im Sonnensystem ist endlich!« 1231Hendrik Dorgathen über sein Buch »SLOW«, über Comics und Science Fiction
– von Hartmut Kasper
Zwischen Freestyle und Konvention 1240Eine Comic-Nachlese 2008
– von Sven-Eric Wehmeyer und Bernd Kronsbein
Computer
Science Fiction Interactive 1271Phantastische Computerspiele 2008
– von Gerd Frey
Rezensionen 1325
Inanc Atilgan: »Einführung in die türkische Science Fiction Literatur« • Kage Baker: »Zeitstürme – Die Ufer der Neuen Welt« • Stephen Baxter: »Die Zeit-Verschwörung – Diktator« • Greg Bear: »Blutmusik« • Gregory Benford / Elisabeth Malartre: »Beyond human. Living with robots and cyborgs« • Liliana Bodoc: »Die Tage des Hirsches – Die Grenzländersaga 1« / »Die Tage des Schattens – Die Grenzländersaga 2« • Michael Chabon: »Die Vereinigung jiddischer Polizisten« • Roberto Cotroneo: »Diese Liebe« • Dietmar Dath: »Die Abschaffung der Arten« • Ljubko Deresch: »Intent! oder Die Spiegel des Todes« • Cory Doctorow: »Upload« • Jack Finney: »Zeitspuren« • Dmitry Glukhovsky: »Metro 2033« • Linus Hauser: »Kritik der neomythischen Vernunft« • Heidrun Jänchen: »Simon Goldsteins Geburtstags-
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Inhalt 11
party« • Stanisław Lem: »Der Widerstand der Materie. Ausge-wählte Briefe« • Sergej Lukianenko: »Weltenträumer« • China Miéville: »UnLonDun« • Magnus Mills: »Die Entdecker des Jahrhunderts« • Chris Moriarty: »Lichtspur« • Olivier Pauvert: »Noir« • Johannes Rüster: »All-Macht und Raum-Zeit. Gottesbilder in der englischsprachigen Fantasy und Science Fiction« • Robert J. Sawyer: »Flash« • John Scalzi: »Androidenträume« • Dan Simmons: »Helix« • Angela und Karlheinz Steinmüller: »Darwins Welt« • Koushun Takami: »Battle Royale« • Jeff VanderMeer: »Shriek« • Peter Watts: »Blindflug« • Peter Watts: »Abgrund« • Martha Wells: »Necromancer« • Robert Charles Wilson: »Axis« • Robert Charles Wilson: »Chronos«
Marktberichte
Die deutsche SF-Szene 2008 1435– von Hermann Urbanek
Die amerikanische SF-Szene 2007/2008 1514– von Hermann Urbanek
Die britische SF-Szene 2007/2008 1539– von Hermann Urbanek
Preise – Preise – Preise 1550
Bibliografie
Phantastische Literatur im Wilhelm Heyne Verlag 2008 1577– von Werner Bauer
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12 Editorial
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
im Juni 1938 kostete es gerade mal zehn Cents, im März 2009 hat ein Comic-Fan bei einer Internet-Auktion an die 320.000 Dollar dafür ge-zahlt. Die Rede ist vom allerersten Auftritt von Superman in einem
Comic-Heft. Natürlich, eine gut erhaltene Ausgabe von »Action Comics 1« ist äußerst selten, aber das dürfte nicht der ein-zige Grund für die Begeisterung der Sammler sein, die den Preis in diese exorbitante Höhe getrie-ben haben. Immerhin ist Super-man siebzig Jahre nach seiner Geburt heute eine der Ikonen der westlichen Kultur: Super-man ist nicht nur ein kantiger, gut aussehender Mann, der in rot-blauem Strampelanzug ohne Mühe Autos durch die Ge-gend schleudert – Superman ist der visualisierte ewige Kindheits-traum; er ist der Inbegriff der so-
genannten »neunten Kunst«; und er ist eine der zentralen Chiffren der Science Fiction.
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Editorial 13
Aus diesen drei Bestandteilen nämlich amalgamisierte sich im Laufe der dreißiger Jahre der »Mann von morgen« (zum »Mann aus Stahl« wurde er erst später). Ersonnen von zwei jungen Männern, die von der Amazing- und Wonder-Stories-SF jener Zeit schwer begeis-tert waren und die mit ihren Helden- und Schurkengeschichten in der neuen, noch völlig unsortierten amerikanischen Comic-Branche Klin-ken putzten, machte sich Superman, der Außerirdische, auf den Weg von einer kleinen Fanboy-Angelegen heit zu einem Multimillionen-Dollar-Geschäft. Und kaum anders erging es seinen Kolleginnen und Kollegen, die nicht lange nach ihm das Licht der Welt erblickten: Bat-man und Spiderman, der Hulk und die X-Men, Supergirl und Cat-woman, Daredevil und Iron Man – aus auf billigem Papier gezeichne-ten Abenteuern mit knallbunten Heldenfiguren wurden Radioshows, Fernsehserien und schließlich Hollywood-Blockbuster. Was macht diese Wesen bis heute so attraktiv? Woher rührt unsere Begeisterung für Helden, deren die Regeln der Physik transzendie-rende Kräfte sie alle, ob »gut« oder »böse«, zu schrillen Misfits ma-chen? Und natürlich: Welche Entwicklungen, welche Brüche gab es in all diesen Jahren und Jahrzehnten? Spiegeln die visuellen und in-haltlichen Ausprägungen der Superhelden in den unterschiedlichen Epochen stets auch die jeweili-gen Träume und Ideale, ja die je-weiligen politischen Zustände? Ist Superman, wie seine neues-te Inkarnation in der TV-Serie Smallville nahezulegen scheint, immer noch der All-American-Hero, der Teenager-Traum, der unschuldige Alien, der unsere sündige Welt mit arglosen Au-gen betrachtet – oder ist er für uns längst ein gefallener Engel, der sich verbittert in der »Fes-tung der Einsamkeit« verschanzt? Hat Alan Moore mit »What-ever Happened to the Man of Tomorrow?« und natürlich sei-nem atemberaubenden Comic
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14 Editorial
»Watchmen« Mitte der achtziger Jahre das definitive Urteil über diese Art von Über-Menschen gesprochen? Haben Bruce Willis in Un-breakable und Will Smith in Hancock dem Superhelden den ent-scheidenden melancholischen bzw. ironischen Schlag verpasst? Oder kann uns ein Batman wie der von Christopher Nolan in The Dark Knight neben all dem Action-Entertainment heute noch immer etwas Bedeutendes mitteilen? Quo vadis, ihr Helden unserer Kindheit? Darum soll es in diesem SCIENCE FICTION JAHR schwerpunkt-mäßig gehen: Um Wesen, die es ohne die Phantasieschmiede der Science Fiction, ohne ihr maßloses Ausgreifen in Raum und Zeit und ihr fröhliches Herumspielen mit der Evolutionstheorie nicht geben würde. Und die es auch nicht geben würde, wenn sich nicht jeder von uns in einem bestimmten Abschnitt seines Lebens vorstellen würde, wie es wäre, in einem coolen Fummel über die nächtliche Stadt zu fliegen und Menschen in Not zur Hilfe zu kommen. Aber lei-der, leider, so ist das Leben nun einmal nicht – wie auch unser erklär-ter Lieblingssuperheld Stupendous Man (alias Calvin) immer wieder schmerzlich erfahren muss …
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Editorial 15
Wie gewohnt finden Sie neben den zahlreichen Texten zum Schwer-punkt »Quo vadis, Superhelden?« auch viele andere Themen in die-ser Ausgabe des SF-JAHRES; wie jedes Jahr haben wir uns bemüht, allen, die sich mit dem Genre ernsthaft auseinandersetzen wollen, etwas Interessantes und Spannendes zu bieten. Trotzdem möchten wir auf zwei Beiträge besonders hinweisen: Dierk Spreen befasst sich in »Reichsflugscheiben und Wehrmachts-mythen« mit einer recht unangenehmen Spielart der SF, der deut-schen Heftserie »Stahlfront«, die in Internet-Foren bereits zu heftigen Diskussionen geführt hat. Eine mehr als notwendige Auseinanderset-zung, wie wir meinen. Und Christopher Ecker schildert in »Warum wir alle Pyramiden bauen sollten« seine »Begegnung« mit Thomas M. Disch, dem Autor von SF-Klassikern wie »Camp Concentration« und »334«, der uns in den vergangenen Jahren im SF-JAHR als kluger Essayist begleitet hat. Im Juli 2008 nahm sich Disch in seiner New Yorker Wohnung das Le-ben; Ecker, der lange mit dem Autor korrespondiert und dessen Ge-dichte ins Deutsche übersetzt hat, widmet ihm einen berührenden Nachruf.
Neben Disch musste die Welt der Science Fiction in den vergange-nen Monaten weitere schmerzliche Verluste verzeichnen: Philip José Farmer, Michael Crichton, Algis Budrys, Forrest J. Ackerman – um nur einige zu nennen – starben 2008/09, und dieses Frühjahr erlag J. G. Ballard, wohl einer der einflussreichsten Science-Fiction-Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, seiner langen schweren Krankheit. Für das SF-JAHR 2007 hatten wir ihn noch interviewt und waren mehr als beein-druckt von seinem Intellekt, seiner Neugier und nicht zuletzt seinem Humor. Leider war es für die Ausgabe 2009 zu spät, um eine ausführ-liche Würdigung Ballards mit aufzunehmen (und etwas auf die Schnelle Zusammengeschustertes wäre einfach nicht angemessen ge-wesen). Wir werden dies im nächsten Jahr selbstverständlich nachho-len.
Schließlich: Mit dem SF-JAHR 2009 ist eine ziemlich drastische Preis-erhöhung verbunden. Wir können Sie dafür nur um Verständnis bit-ten. Die »Krise« ist inzwischen auch in der Verlagslandschaft ange-kommen, und ein Special-Interest-Produkt wie dieses Jahrbuch steht
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16 Editorial
natürlich unter besonderem Rechtfertigungsdruck. Aber nicht nur das: Die Buchbranche insgesamt taumelt gerade auf massive Verände-rungen zu, die über die Frage von Preisen weit hinausgehen. Guten-bergs endgültiger Abschied? Oder eine schöne neue Multimedia-Welt? Wer weiß, vielleicht wird auch das einmal Thema eines künftigen SCIENCE FICTION JAHRES …
Wir hoffen jedenfalls, Sie bleiben uns weiterhin treu, und wünschen Ihnen viel Vergnügen mit dem SF-JAHR 2009
Ihr Sascha Mamczak & Wolfgang Jeschke
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QUO VADIS,SUPERHELDEN?
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Der Graf von Monte Christo 19
Er kam zur rechten Zeit
Der Graf von Monte Christo – die Geburt des Superhelden
von John Clute
Wenn er auftaucht, scheint es immer dunkel zu sein. Die Straße ist still, regennass. Seine Kutsche kommt aus dem Nirgendwo herbei-gefahren, und plötzlich, ganz der zuvorkommende Mann von Welt, mischt er sich unter die Feiernden, mitten im Herzen der Pariser Ge-sellschaft. Er neigt zur Trübsinnigkeit. Er ist tadellos gekleidet, ob-wohl er immer dasselbe anzuhaben scheint. Als trage er ein Kostüm, sind seine Überkleider niemals schmutzig. Seine Redegewandtheit übersteigt die gewöhnlichen Fähigkeiten eines Menschen, aber er setzt sie – so scheint es jedenfalls – nur zum Guten ein: um den Teu-fel in Schach zu halten. Ihm ist jede Sprache des Erdballs vertraut, sobald er sie einmal gehört hat. Über seine körperliche Tüchtigkeit kursieren zwar nur Gerüchte, da er seinen Mut nie in der Öffentlich-keit beweisen muss, aber es heißt, sie sei übernatürlichen Ursprungs. Eine geheimnisvolle Gruppe von Dienern, die in der Kampfkunst der Samurai geübt sind, hält sich stets zu seiner Verfügung und folgt augenblicklich jedem seiner Gebote. Es heißt, er sei über die Maßen reich, obschon der Quell seines Reichtums irgendwo östlich von Golkonda liegen soll. Von seinem Leben erfährt man nur, dass er sich hin und wieder in ein unbekanntes Versteck zurückzieht, das wir heute als »Festung der Einsamkeit« beschreiben würden. Nie-mand kennt seinen Namen; allerdings lässt die Identität, derer er sich bedient, keinen Zweifel an seiner adeligen Geburt; und so weiß
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20 Schwerpunkt
niemand etwas Verlässliches über seine wahre Herkunft. Überdies scheitern jegliche Versuche, etwas über seinen Reichtum oder seine Abstammung in Erfahrung zu bringen, an dem Widerstand son-derbarer Fürsprecher aus höchsten gesellschaftlichen Kreisen, will sagen, vonseiten der französischen Monarchie; was so viel heißt wie: »Er hat freie Hand.« Im Laufe der Zeit zeichnet sich ab, dass seine Vertrautheit mit den Mächtigen Frankreichs nicht nur seine persönliche Rechtschaffenheit bestätigt, sondern auch seine grund-legende Funktion in der Welt von 1835: Sein Hauptansinnen, und das enthüllt sich scharfsichtigen Augen erst nach und nach, ist die Verteidigung Frankreichs. Einer nach dem anderen stellt er seine Ge-genspieler bloß – Feinde, die ihn vor langer Zeit verraten haben, und an denen er jetzt Rache übt: Morcerf (der das Militär repräsen-tiert), Caderousse (die kriminelle Halbwelt), Danglars (die Finanz-welt), Villefort (das Gesetz); und alle erweisen sie sich als Hochstap-ler und Betrüger am Tisch der bürgerlichen Welt. Sie bloßzustellen heißt, die herrschende Kultur Frankreichs von denjenigen zu säu-bern, die sie von innen heraus zu zerstören beabsichtigen. Indem er seine Feinde vernichtet, verteidigt er Frankreich. Indem er das Böse besiegt, wendet er die Zukunft ab. Die Rede ist natürlich vom
Grafen von Monte Christo, dessen Geheimidentität Ed-mond Dantès lautet. Er kam gerade zur rechten Zeit.
Seit dem Tod Napoleons sind rund zehn Jahre vergangen. Nach Jahrzehnten des Auf-ruhrs ist Europa in völliger Reglosigkeit erstarrt, wenn auch die Gelenke der Gesell-schaft gehörig knarren. Kom-modifizierungen und andere ökonomische Erdbeben dro-hen, die Welt von Grund auf zu verwandeln: Was Fels war, wird löchrig, was massiv ist,
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Der Graf von Monte Christo 21
zerfließt und verflüchtigt sich. Die überkommenen Herrscher klam-mern sich allerdings noch immer mit letzter Kraft an ihre festen Ein-künfte. Ihre Bollwerke sind von riesigen und weitläufig miteinander verwandten und verschwägerten Bürgersfamilien bemannt, die den Ansturm von 1848 in Schach halten. Der größte Teil Frankreichs weiß davon noch nichts, aber die Menschen stehen kurz davor, gott-los zu werden. Nicht mehr lange, und Charles Baudelaire wird seine mahnende Stimme erheben, modernistische Blasphemien ausstoßen und allen den Boden unter den Füßen wegziehen. Er wird den Poobah, der Frankreich regiert, davon in Kenntnis setzen, dass er keine Kleider am Leib trägt; und aus seinem verfemten Mund wird Edgar Allan Poe alsbald bauchrednern und die frankophone Welt mit seiner viralen Maßlosigkeit infizieren, mit der hysterischen ontologischen Ungewissheit, die mit jedem Jahrzehnt, das verstreicht, weniger ein Scherz zu sein scheint. Jules Verne wird nichtssagende Dramen schrei ben, humorlose Parodien früherer Schauspiele von Victor Hugo oder Alexandre Dumas; doch bald wird er seinen scharfen Verstand den eiffelturmgleichen Konstruktionen der »Phantastischen Reisen« zuwenden, stählernen Bögen, die den Treibsand der Welt zum Ruhme Frankreichs zu einer Einheit verbinden. Rimbaud – der in die Tiefe gräbt, wo Verne die Lüfte erkundet – befindet sich be-reits in der Nähe jenes Winkels, in den er bald scheißen wird. Die Großkopfeten der französischen Literatur sind in den 1830er Jahren allerdings immer noch Victor Hugo und Honoré de Balzac; jener steckt in einem nicht enden wollenden, tosenden Mahlstrom des Schwulsts fest, der sich erst Jahrzehnte später mit den »Elenden« ver-flüchtigen wird; dieser hingegen ist damit beschäftigt, dem französi-schen Staatskörper seine monumentale Komödie anzuheften; beide schreiben, als würde das Wetter halten. Der Strom der komischen Opern, die Gioachino Rossini im Rhyth-mus weniger Monate in das dünne Eis der nachrevolutionären Zeit geritzt hatte, versiegt plötzlich; die offiziellen Giganten der Musik im Frankreich der 1830er Jahre sind Schmierfinke wie Giacomo Meyerbeer, dessen Opern den prekären Zustand der neuen Welt verleugnen, indem sie auf ihr herumtrampeln. (Hector Berlioz, der den Geist jenes Zeitalters von Anfang an getreu einfing, nahm inner-halb der Kultur Frankreichs nie eine vergleichbar zentrale Position
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22 Schwerpunkt
ein.) Ingres malt weiterhin einträgliche Odalisken, obschon bereits zu erkennen ist, wie die neue Welt durch das sklerotische Porzellan sickert: Bis zur geologischen Zerklüftung von Courbets »Der Ur-sprung der Welt« (1866) dauert es allerdings noch etwas. Trotzdem, die Geologie begreift bereits allmählich, dass unter der massiven Erde geschmolzene Lava durch Abgründe strömt (1915 stellte Alfred Wegener die Hypothese auf, dass sich die Kontinente unter unse-ren Füßen verschieben; ihm hatte sich intuitiv erschlossen, was re-chenkundige Europäer das ganze 19. Jahrhundert hindurch beschäf-tigt hatte); und Charles Darwin hat bereits einen Großteil dessen ausgearbeitet, was er nicht vor 1859 auszusprechen wagen würde. Unter der Haut eines scheinbar sklerotischen Jahrzehnts – den 1830er Jahren – lauerte, anders ausgedrückt, der Scheitelpunkt der Moderne. Aber Sklerose führt ein Eigenleben. Wenn uns die vergangenen einhundert Jahre, in denen die westliche Welt den Blick von der Re-alität abwandte, etwas gelehrt haben, dann die Tatsache, dass kurz vor dem Anbruch einer neuen Zeit alles und jeder – Darwin, Freud, Hitler; ethnische Säuberung, globale Erwärmung, Wassermangel, Waldsterben, hypothekengesicherte Wertpapiere – am heftigsten abgestritten und verleugnet wird. Das Jahrzehnt nach 1830 mag den Eindruck erweckt haben, aus lauter Angst vor Veränderungen so erstarrt gewesen zu sein, dass nichts in ihm mehr atmen konnte; aber diese Sichtweise ist dem perspektivischen Zufall geschuldet. Das Paris des Jahres 1835 sprudelte förmlich über vor Energien, mochten diese nun finanzieller, gesellschaftlicher oder erhaltender Natur gewesen sein. Angesichts dieser Energien einigermaßen ver-wirrt waren wiederum Romantiker wie (beispielsweise) Charles No-dier (1780–1844), dessen einzige wirkungsmächtige Arbeit seine 1820 produzierte Bühnenfassung von John Polidoris »Der Vampyr: Eine Erzählung« (1819) war, von der gleich noch einmal die Rede sein wird. Das Paris des Jahres 1835 mag wie ein hoffnungsloser Fall erscheinen; vielleicht hätte dieses Paris auch in sich zusammenfallen müssen wie eine Todesmaske, wenn man sie berührte; aber die Ei-gentümer der Stadt hatten noch nicht vor abzudanken, so unbehag-lich sie sich gefühlt haben mochten. Sie wollten noch nicht zulassen, dass die »Unterwelt der Zukunft« ihre wunderschöne, gewinnbrin-gende, patriarchale Tageslichtkultur verunreinigte. Das Paris des Jah-res 1835 war eine Gesellschaft, die sich selbst verteidigte. Es war
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Der Graf von Monte Christo 23
eine Gesellschaft, die der Verteidigung bedurfte. Aber in den Mau-ern lauerten die Ratten.
Der Graf ist natürlich ein Rattenfänger; aber nicht nur seine Karriere im großstädtisch-phantastischen Frankreich der Jahre 1832 bis 1838 zeichnen Dantès als embryonalen Superhelden aus. Auch seine Ge-heimidentität und seine Missionen, seine Kostüme, besonderen Kör-perkräfte und Handlanger, seine verstohlene Vertrautheit mit den Korridoren der Macht oder der Schutz, den er von höchster Stelle erhält, seine Weigerung zu töten (wenn seine Feinde sterben, dann von eigener Hand), die Weigerung, von seinen Taten zu profitieren, oder dass andere Autoren bald eine Vielzahl von Fortsetzungen sei-ner Heldentaten verfassten, machen ihn zu einer stilbildenden Ikone ersten Ranges. Er wird zu einer Urgestalt, die offenkundig den schein-
John Polidori
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Sascha Mamczak, Wolfgang Jeschke
Das Science Fiction Jahr 2009
ORIGINALAUSGABE
Taschenbuch, Broschur, 1600 Seiten, 12,5 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-52554-2
Heyne
Erscheinungstermin: August 2009
Das einzigartige Jahrbuch! Batman, Superman, Spiderman – seit Jahren begeistern die Superhelden Millionen von Fans.Grund genug, den Helden unserer Zeit einmal auf den Zahn zu fühlen … Mit diesem undzahlreichen anderen Themen befasst sich das „Heyne Science Fiction Jahr 2009“. Dazu:Interviews mit Greg Bear und John Scalzi, ein fantastischer und ein realer Besuch beimberühmten Teilchenbeschleuniger in Genf, Essays und Rezensionen zu aktuellen Büchern,Filmen, Comics, Hörspielen und Computerspielen. Der in Deutschland einzigartige Überblick über die Science Fiction in ihren multimedialenErscheinungsformen!