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J. Wilkes · R. Albert · Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Leiter: Prof. Dr. R. Castell) der Universität, Erlangen Der junge Heine Die Kasuistik einer Pseudologia phantastica vor Poesie, entriß mir jeden Roman, den sie in meinen Händen fand, erlaub- te mir keinen Besuch des Schauspiels, versagte mir alle Teilnahme an Volks- spielen, überwachte meinen Umgang, schalt die Mägde, welche in meiner Ge- genwart Gespenstergeschichten erzähl- ten, kurz, sie tat alles mögliche, um Aberglauben und Poesie von mir zu entfernen“ [2]. Doch ihre Bemühungen waren fruchtlos. Der junge Heine hörte begierig zu, wenn die Amme Märchen- haftes erzählte und schaurige Gespen- stergeschichten erfand. Ihr Denken war geprägt von Aberglauben und Volkssa- gen. Mit besonderem Interesse lauschte der junge Heinrich auch, wenn seine al- ten Tanten alte Familienanekdoten er- zählten und längst verstorbene Urahnen in ihren Erzählungen wieder lebendig werden ließ. Der „Morgenländer“ Erzählungen von seinen Vorfahren hör- te der junge Heinrich mit besonderer Vorliebe, und sie prägten sein Gemüt nachhaltig. Eine besondere Rolle spielte dabei die Geschichte des Lebens seines Großonkels Simon de Geldern. Der Großonkel muß ein sonderbarer Heili- ger gewesen sein. Man nannte ihn den Chevalier oder auch den „Morgenlän- der“, weil er große Reisen in den Orient gemacht und sich bei seiner Rückkehr immer in orientalischer Tracht geklei- det haben soll. Staunend hörte der junge Heinrich zu, wenn die Muhmen von dessen ausgedehnten Reisen berichte- ten. Ein unabhängiger Beduinenstamm habe ihn schließlich zum Anführer “Was will ein Jüngling? (...). Der Jüng- ling will eine Geschichte haben“. (Hein- rich Heine) Am 13. Dezember 1997 feiern wir den 200. Geburtstag eines Mannes, der als einer der größten und zugleich wider- sprüchlichsten Dichter deutscher Spra- che gilt. Heinrich Heine ist ein Kind der Romantik und zugleich ihr Überwin- der. Über seine Kindheit und Jugend wissen wir nicht viel. Die meisten Studi- en beziehen sich auf seine Memoiren, die er wohl ein gutes Jahr vor seinem Tod mit 58 Jahren geschrieben hat. Sein äußeres Leben wird darin als recht er- eignisarm geschildert, um so lebendi- ger ist die Welt seiner Vorstellungen und Phantasien gewesen. In dieser Arbeit soll ein früher Lebensabschnitt des Kin- des Heinrich Heine näher beleuchtet werden, den Heine eindrucksvoll in sei- nen Memoiren schildert: Die Entwick- lung einer Pseudologia phantastica. Aberglauben und Poesie Heinrich Heine wuchs in Düsseldorf auf. Sein Vater war ein jüdischer Kauf- mann, der es v.a. durch den Handel mit englischem Tuch zu einem gewissen Wohlstand brachte. Seine Mutter war eine überzeugte Anhängerin der Auf- klärung und des Erziehungsideals Rousseaus. Sie hatte einen starken Wil- len und übertrug ihren Ehrgeiz auf ih- ren älteren Sohn Heinrich, der – so war es ihr Wille – in einem bürgerlichen Be- ruf reüssieren sollte. So versuchte sie, wie uns Heine in seinen Memoiren schildert, alles von ihm abzuwenden, was diesen Weg hätte gefährden kön- nen: „Ihre Vernunft und ihre Empfin- dung war die Gesundheit selbst, und nicht von ihr erbte ich den Sinn für das Phantastische und die Romantik. Sie hatte, wie ich schon erwähnt, eine Angst Der Nervenarzt 5·98 | 437 Ergebnisse & Kasuistik Nervenarzt 1998 · 69:437–439 © Springer-Verlag 1998 Zusammenfassung Heinrich Heine erlebte in seiner Kindheit die Episode einer Pseudologia phantastica. Die Beschäftigung mit den Tagebüchern seines verstorbenen Großonkels war so intensiv, daß sich der junge Heinrich Heine fast ein Jahr lang völlig mit diesem identifizierte. Die bedingenden Faktoren dieses psychopatho- logischen Phänomens werden in dieser Ar- beit diskutiert Schlüsselwörter Heine · Pseudologia Dr. J.Wilkes Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Erlangen, Schwabachanlage 10, D-91054 Erlangen& / f n - b l o c k : & b d y :

Der junge Heine Die Kasuistik einer Pseudologia phantastica

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J.Wilkes · R. Albert · Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie(Leiter: Prof.Dr.R.Castell) der Universität, Erlangen

Der junge HeineDie Kasuistik einer Pseudologia phantastica

vor Poesie, entriß mir jeden Roman,den sie in meinen Händen fand, erlaub-te mir keinen Besuch des Schauspiels,versagte mir alle Teilnahme an Volks-spielen, überwachte meinen Umgang,schalt die Mägde, welche in meiner Ge-genwart Gespenstergeschichten erzähl-ten, kurz, sie tat alles mögliche, umAberglauben und Poesie von mir zuentfernen“ [2]. Doch ihre Bemühungenwaren fruchtlos. Der junge Heine hörtebegierig zu, wenn die Amme Märchen-haftes erzählte und schaurige Gespen-stergeschichten erfand. Ihr Denken wargeprägt von Aberglauben und Volkssa-gen. Mit besonderem Interesse lauschteder junge Heinrich auch, wenn seine al-ten Tanten alte Familienanekdoten er-zählten und längst verstorbene Urahnenin ihren Erzählungen wieder lebendigwerden ließ.

Der „Morgenländer“

Erzählungen von seinen Vorfahren hör-te der junge Heinrich mit besondererVorliebe, und sie prägten sein Gemütnachhaltig. Eine besondere Rolle spieltedabei die Geschichte des Lebens seinesGroßonkels Simon de Geldern. DerGroßonkel muß ein sonderbarer Heili-ger gewesen sein. Man nannte ihn denChevalier oder auch den „Morgenlän-der“, weil er große Reisen in den Orientgemacht und sich bei seiner Rückkehrimmer in orientalischer Tracht geklei-det haben soll. Staunend hörte der jungeHeinrich zu, wenn die Muhmen vondessen ausgedehnten Reisen berichte-ten. Ein unabhängiger Beduinenstammhabe ihn schließlich zum Anführer

“Was will ein Jüngling? (...). Der Jüng-ling will eine Geschichte haben“. (Hein-rich Heine)Am 13. Dezember 1997 feiern wir den200. Geburtstag eines Mannes, der alseiner der größten und zugleich wider-sprüchlichsten Dichter deutscher Spra-che gilt. Heinrich Heine ist ein Kind derRomantik und zugleich ihr Überwin-der. Über seine Kindheit und Jugendwissen wir nicht viel. Die meisten Studi-en beziehen sich auf seine Memoiren,die er wohl ein gutes Jahr vor seinemTod mit 58 Jahren geschrieben hat. Seinäußeres Leben wird darin als recht er-eignisarm geschildert, um so lebendi-ger ist die Welt seiner Vorstellungen undPhantasien gewesen. In dieser Arbeitsoll ein früher Lebensabschnitt des Kin-des Heinrich Heine näher beleuchtetwerden, den Heine eindrucksvoll in sei-nen Memoiren schildert: Die Entwick-lung einer Pseudologia phantastica.

Aberglauben und Poesie

Heinrich Heine wuchs in Düsseldorfauf. Sein Vater war ein jüdischer Kauf-mann, der es v.a. durch den Handel mitenglischem Tuch zu einem gewissenWohlstand brachte. Seine Mutter wareine überzeugte Anhängerin der Auf-klärung und des ErziehungsidealsRousseaus. Sie hatte einen starken Wil-len und übertrug ihren Ehrgeiz auf ih-ren älteren Sohn Heinrich, der – so wares ihr Wille – in einem bürgerlichen Be-ruf reüssieren sollte. So versuchte sie,wie uns Heine in seinen Memoirenschildert, alles von ihm abzuwenden,was diesen Weg hätte gefährden kön-nen: „Ihre Vernunft und ihre Empfin-dung war die Gesundheit selbst, undnicht von ihr erbte ich den Sinn für dasPhantastische und die Romantik. Siehatte, wie ich schon erwähnt, eine Angst

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Ergebnisse & KasuistikNervenarzt1998 · 69:437–439 © Springer-Verlag 1998

Zusammenfassung

Heinrich Heine erlebte in seiner Kindheit dieEpisode einer Pseudologia phantastica. DieBeschäftigung mit den Tagebüchern seinesverstorbenen Großonkels war so intensiv,daß sich der junge Heinrich Heine fast einJahr lang völlig mit diesem identifizierte. Diebedingenden Faktoren dieses psychopatho-logischen Phänomens werden in dieser Ar-beit diskutiert

Schlüsselwörter

Heine · Pseudologia

Dr. J.WilkesAbteilung für Kinder-und Jugendpsychiatrie der Universität Erlangen,Schwabachanlage 10, D-91054 Erlangen&/fn-block:&bdy:

J.Wilkes · R. Albert

The young HeineHistory of pseudologia phantastica

Summary

The young Heinrich Heine showed signs ofpseudologia phantastica.While studying thediaries of his greatuncle, he identified withthe latter.The underlying factors of this psy-chopathological development are discussedin this paper.

Key words

Heine · Pseudologia phantastica

versenkte mich so tief in seine Irrfahr-ten und Schicksale, daß mich manch-mal am hellen, lichten Tage ein unheim-liches Gefühl ergriff und es mir vor-kam, als sei ich selbst mein seligerGroßoheim und als lebte ich nur eineFortsetzung des Lebens jenes längstVerstorbenen“ [3].

Ein „wunderlicher Zustand“

Wir stehen hier vor dem Phänomen ei-ner sich entwickelnden Pseudologiaphantastica, wie sie der Psychiater An-ton Delbrück Ende des letzten Jahrhun-derts erstmals benannt hat [1]. Hierun-ter verstehen wir das Verschmelzen vonPhantasie und Wirklichkeit in einersolch intensiven Art und Weise, daß derTagträumer selbst oft nicht mehr zu un-terscheiden vermag, was Realität undwas Fiktion ist. Dieser Zustand kannvorübergehender Natur sein, er kannsich jedoch verfestigen und über länge-re Zeiträume das Denken beherrschen.Eine Eigentümlichkeit pseudologischerZustandsbilder ist, daß eine übernom-mene Rolle nicht nur die Phantasie aus-füllt, sondern daß sie aufgrund ihrerLebendigkeit und subjektiven Präsenzauch in die Realität übergreifen kann.

Hinweise hierfür finden wir auchbei Heinrich Heine, welcher in seinenMemoiren berichtet, daß er begangeneFehler gerne „auf Rechnung meinesmorgenländischen Doppelgängers“ ge-schoben habe. So kam es, daß auch seineEltern Zeugen seiner pseudologischenPhantasien und seiner Identifikationmit dem Großoheim wurden. Der Vaterreagierte mit Humor, indem er schalk-haft zu seinem Jungen sagte, er hoffe,daß der Großoheim keine Wechsel un-terschrieben habe, welche Heinricheinst zur Bezahlung präsentiert werdenkönnten. Heine selbst erinnert sich, daßdieser „wunderliche Zustand“, wie er esnennt, wohl ein Jahr angedauert habe.Das Alter, in dem es sich befand, teiltuns Heine in seinen Memoiren nichtmit. Aus manchen Indizien läßt sich je-doch schließen, daß er sich in seinem13. Lebensjahr befunden haben muß.Heinrich Heine erinnert er sich in sei-nen Memoiren, wie sich in der Nachtdas abenteuerliche Leben des Großon-kels in seinen Träumen spiegelte: „MeinLeben glich damals einem großen Jour-nal, wo die obere Abteilung die Gegen-wart, den Tag mit seinen Tagesberich-

oder Scheik gewählt. Dieses kriegeri-sche Völkchen habe in Fehde mit allenNachbarstämmen gelebt und sei derSchrecken der Karawanen gewesen. Zi-tat Heine: „Europäisch zu reden, meinseliger Großoheim ward Räuberhaupt-mann.“

Der Großonkel, so erzählten dieTanten, habe sich an verschiedenen Hö-fen aufgehalten, wo er durch persönli-che Schönheit und Stattlichkeit ge-glänzt habe, wie auch durch die Prachtder orientalischen Kleidung. Durchletztere habe er besonders die Frauenverzaubert. Durch sein vorgeblichesGeheimwissen sei es ihm gelungen, al-ler Welt zu imponieren. Nur sein eige-ner Übermut habe ihn ins Verderbenstürzen können. So erinnert sich Hein-rich Heine, wie die Muhmen so sonder-bar geheimnisvoll die greisen Köpfleinschüttelten, wenn sie etwas von dem ga-lanten Verhältnis munkelten, worin der„Morgenländer“ mit einer sehr er-lauchten Dame gestanden und dessenEntdeckung ihn genötigt habe, aufsSchleunigste den Hof und das Land zuverlassen. Seine schlußendliche Armutwurde auf diese plötzliche Flucht mitHinterlassung aller seiner Habseligkei-ten zurückgeführt. Nur so habe er demsicheren Tod entgehen können, undeben seiner erprobten Reiterkunst habeer seine Rettung zu verdanken.

Der junge Heine war von dieserschillernden Figur mehr als fasziniert.Beim Stöbern auf einem alten Dachbo-den fand er dann in einer verstaubtenKiste ein Notizbuch von der Handdieses Großonkels. Dieses Notizbuchnennt Heine seinen besten und kost-barsten Fund. Zwar konnte er bei des-sen Lektüre nicht viel Sicheres ermit-teln, weil es, aus Vorsicht, wie Heine an-nimmt, meistens mit arabischen, syri-schen und koptischen Buchstabengeschrieben worden ist, worin – son-derbar genug – französische Zitate vor-kamen. Jedoch scheint es gerade diesesVage, Unbestimmte und Geheimnisvollegewesen zu sein, was den jungen Hein-rich so magisch anzog. Hierdurch bliebihm genug Platz für seine eigenenPhantasien, die durch diese Lektüre be-flügelt wurden. Heine selber berichtetin seinen Memoiren, wie seine Einbil-dungskraft mächtig angeregt wurde.Alles, was er von seinem Großonkelhörte, machte einen unauslöschlichenEindruck auf sein junges Gemüt. „Ich

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ten und Tagesdebatten, enthielt, wäh-rend in der unteren Abteilung diepoetische Vergangenheit in fortlaufen-den Nachtträumen wie eine Reihenfol-ge von Romanfeuilletons phantastischkundgab. In diesen Träumen identifi-zierte ich mich gänzlich mit meinemGroßohm, und mit Grauen fühlte ichzugleich, daß ich ein anderer war undeiner anderen Zeit angehörte. Da gab esÖrtlichkeiten, die ich nie vorher gese-hen, da gab es Verhältnisse, wovon ichfrüher keine Ahnung hatte, und dochwandelte ich dort mit sicherem Fußund sicherem Verhalten. Da begegnetenmir Menschen mit brennend bunten,sonderbaren Trachten und mit aben-teuerlich wüsten Physiognomien, de-nen ich dennoch wie alten Bekanntendie Hände drückte; ihre wildfremde, niegehörte Sprache verstand ich, zu mei-ner Verwunderung antwortete ich ih-nen sogar in derselben Sprache, wäh-rend ich mit einer Heftigkeit gestiku-lierte, die mir nie eigen war und wäh-rend ich sogar Dinge sagte, die mitmeiner gewöhnlichen Denkweise wi-derwärtig konstrastierten“ [4].

Und auch wenn Heine sagt, daß ernach diesem einen Jahr ganz zur Ein-heit seines Selbstbewußtseins zurück-gefunden habe, so gesteht er doch ein,daß geheime Spuren dieser Pseudologi-en in seiner Seele zurückgebliebensind. Solche Spuren finden sich dennauch in seinen Werken, v.a. in seinenGedichten, aber auch in ersten dramati-schen Versuchen.

Auslösende Faktoren

Wie es vielen Kindern auch heute nochgeschieht, empfand der junge Heinesich und sein Alltagsleben als „schein-los und klein“. Welchen reichen Ersatzbot ihm da die Welt der Geschichtenund Märchen! Sicherlich ist der hoheGrad der Einbildungskraft des jungenHeinrich als Merkmal seiner Primär-persönlichkeit eine wichtige und not-wendige Bedingung für die Ausbildungeiner Pseudologia gewesen. Sodann

vor den Häusern oder setzte sich inTrab, je nachdem wie die Modulationwar, womit der Michel ihm das Wort„Haarüh!“ zurief. Durch die Ähnlich-keit jenes Wortes mit dem Namen Harry– so erinnert sich Heine – habe er au-ßerordentlich viel Leid durch Schulka-meraden und Nachbarskinder ausge-standen. Um ihn zu ärgern, hätten sieseinen Namen genauso ausgesprochen,wie der Dreckmichel seinen Esel rief.Am gröbsten hätten ihn die Nachbars-kinder, Gassenbuben der niedrigstenKlasse, behandelt. Insbesondere einJunge namens Josef habe sich hierbeihervorgetan. Dieser habe immer langeFischerstecken getragen, womit er nachHeinrich geschlagen habe, wann immerer ihm begegnete. Er hätte auch gerneRoßäpfel an seinen Kopf geworfen,brühwarm, „wie aus dem Backofen derNatur“. Und nie habe er es unterlassen,das fatale „Haarüh“! zu rufen und dasauch noch in allen Modulationen. Alldiese Erniedrigungen erinnert Hein-rich Heine in seinen Memoiren mit ein-drucksvoller Eindringlichkeit. Sie hät-ten ihm die schönsten Frühlingsjahreseines Lebens vergällt und vergiftet.

Schlußbemerkungen

Zu den Auswirkungen des pseudologi-schen Zustandes auf sein weiteres Le-ben meint Heine, daß manche Idiosyn-krasie, manche fatale Sympathie undAntipathie, die ihm gar nicht zu seinemNaturell zu passen schienen, ja sogarmanche Handlungen, die im Wider-spruch zu seiner Denkweise standen,sich ihm als Nachwirkung aus jenerTraumzeit erklären, in der er sein eige-ner Großoheim war.

Literatur1. Delbrück A (1891) Die pathologische Lüge.

Enke, Stuttgart2. Heine H (1981) Sämtliche Schriften.

Briegleb K (Hrsg) Ullstein, Frankfurt, S 562–5633. ebd., S 5734. ebd., S 573–574

scheint der Ort der Lektüre des Tagebu-ches des Großoheims, die Atmosphäre,in welcher Heine diese geheimnisvollenZeilen las, eine bedeutsame Rolle ge-spielt zu haben. Es war die verstaubteDachstube der „Arche Noä“, wie dasHaus seines Onkels, ebenfalls eines Si-mon de Geldern, genannt wurde, einesSonderlings von unscheinbarem, janärrischem Äußeren, der sich in rastlo-sem Fleiße seinen gelehrten Liebhabe-reien und Schnurrpfeifereien, seiner Bi-bliomanie und besonders seiner Wutdes Schriftstellerns, die er v.a. in politi-schen Tagesblättern und obskuren Zeit-schriften ausließ, gewidmet haben soll.

Der junge Heinrich mochte in ger-ne, besuchte ihn oft und stöberte dabeinicht selten auf dem besagten Dachbo-den. Dort fand er neben dem erwähn-ten Tagebuch des Großoheims allerleiverstaubte Schätze, eine morsch zerbro-chene Wiege seiner Mutter, eine Staats-perücke seines Großvaters, einen aus-gestopften Papagei der seligen Groß-mutter, Weltkugeln, wunderliche Plane-tenbilder und vielerlei mehr an Dingen,die die Phantasie eines jeden Jungenmächtig anregen können. An dieser At-mosphäre, die geprägt war von Reliktenvergangener Zeiten, von denen vieleauch noch einen familiären Bezug hat-ten, mag sich die Pseudologie entzün-det haben.

Als weiterer bedeutsamer Faktormüssen die Erniedrigungen genanntwerden, denen der junge Heinrich sei-nerzeit ausgesetzt war und die sich inHänseleien durch Schulfreunde und imHohn von Straßenjungen äußerten.Heine selber berichtet uns davon in sei-nen Memoiren. Diese Hänseleien hin-gen mit seinem Vornamen zusammen.Daheim wurde Heinrich, einem engli-schen Geschäftsfreund seines Vaters zuEhren, von allen „Harry“ genannt. Nungab es in Düsseldorf einen Mann, wel-cher „der Dreckmichel“ hieß, weil er je-den Morgen mit einem Karren, woranein Esel gespannt war, die Straßen derStadt durchzog und vor jedem Hausstillhielt, um den Kehricht aufzuladenund aus der Stadt zum Mistfeld zutransportieren. Der Mann sah aus wiesein Gewerbe, und der Esel, welcher sei-nerseits wie sein Herr aussah, hielt still

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