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1 DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Fünf Frauen in Odessa Ein Feature von Elke Bredereck Sprecherinnen: Tanja: Anke Zillich Liana: Meriam Abbas Oxana: Sigrid Burkholder Inna: Lucie Heinze Jana: Runa Schäfer Erzählerin: Christine Jensen, URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © DeutschlandRadio Sendung: 12.8. 2011 (Bahnhofslärm von Ferne/Musik Ach Odessa)

DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur ......2011/08/12  · Mnogo detjej, parami kuda-nibud hodit, eto ne dlja menja. Ja byla psihi4eskoj slaba i Ja byla psihi4eskoj slaba i

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DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Fünf Frauen in Odessa Ein Feature von Elke Bredereck Sprecherinnen: Tanja: Anke Zillich Liana: Meriam Abbas Oxana: Sigrid Burkholder Inna: Lucie Heinze Jana: Runa Schäfer Erzählerin: Christine Jensen, URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © DeutschlandRadio Sendung: 12.8. 2011 (Bahnhofslärm von Ferne/Musik Ach Odessa)

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01 Oxana: (O-Ton) Tri, 4etyre raza ja byla v italii, ja tam rabotala, polu4ila delovuju vizu i

o4en obratila vnimanie 4toby menja ne deportirovali. Kogda ja vernulas domoj, mne za

Drei, vier Mal war ich in Italien, habe dort gearbe itet, diese Geschäftsvisa

bekommen und immer darauf geachtet, dass ich nicht ausgewiesen werde.

Als ich dann wieder nach Hause kam, konnte ich zwei Jahre lang kein Visum

bekommen, keine Botschaft hat mir ein Visum gegeben . Ich habe verschiedene

Agenturen ausprobiert. Ich hab da 1000 Dollar verlo ren, die haben zu gemacht

und sind verschwunden.

02 Liana (O-Ton)

Pojti na takoj shag, na kakoj poshla moja sestra, zaklju4iv brak na zapade, ja ne gotova.

Po krajnej mere, es4o ne gotova. Esli 4eres nekotoroe vremja moi sily polnostju

issjaknut, mozhet byt mne pridetsja sdelat 4to to podobnee.

So einen Schritt wie meine Schwester getan hat mit ihrer Heirat in den Westen,

dazu bin ich nicht bereit. Zumindest noch nicht. We nn sich in einiger Zeit meine

Kräfte völlig erschöpft haben, vielleicht muss ich dann auch so was machen.

Ich kann mir schwer vorstellen, dass ich mit so ein em Schritt glücklich werde.

03 Jana (O-Ton) My samyj horoshij podarok na novyj god: ja utrom prosypajus i pod

podushkoj lezhat 500 dollarov. predstav sebe; eto bylo prosto super!

Mein tollstes Geschenk zu Neujahr war: ich wache mo rgens auf und unter meinem

Kissen liegen 500 Dollar. Stell dir vor (lacht); da s war Wahnsinn! (3)

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04 Inna (O-Ton):

Navernoe eto smeshno, no ja patriotka. 4ego i ne bylo, ja o4en ljublju svoju rodinu. Ja

ne smogla by uehat na vsegda. Moi druzja uedut za granicu, oni govorjat: tam

prekrassno, tam civilizovanno.

Es ist vielleicht lächerlich, aber ich bin patrioti sch. Was es auch alles gibt, ich

liebe meine Heimat und würde nie weggehen. Meine Fr eunde gehen ins Ausland

und sagen, dort ist es schön, zivilisiert. Aber ich kann nicht weggehen. Das hier

ist meins. 05 Ich hänge sehr an meiner Familie, meinen Eltern, me inen

Großmüttern, meinem Onkel. Ich kann mir nicht vorst ellen wegzugehen. Sie in ein

anderes Land umzutopfen, nein. Es gibt da was in de r Luft, im Wasser, in der

Erde. Etwas, ohne das du nicht leben kannst.

06 Tanja: (O-Ton)

Ja znaju 4to ljudi otsjuda uedut. Ja rada za nih. Kto etogo ne smozhet tot dolzhen zdes

sidet.

Ich weiß, dass Leute auswandern und ich freue mich für sie. Wer es nicht kann,

der muss eben hier sitzen.

Ansage

Liana:

Fünf Frauen in Odessa

Jana:

Ein Feature von Elke Bredereck

(Schiffe, Marschrutka)

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Erzählerin:

Da drüben, irgendwo auf der anderen Seite, liegt I stanbul.

Hier in Odessa führen bucklige Straßen zum Meer hin unter. Auf ihnen rumpeln

Marschrutkas: kleine, meist prall gefüllte Linienta xis.

Darin hocken ein paar Jungs in Muskelshirts und vie le geschminkte Frauen. In

weit ausgeschnittenen Dekolletés hebt und senkt sic h das orthodoxe Kreuz im

Takt mit den kaum durch Stoßdämpfer abgefederten Sc hlaglöchern. Der Fahrer

flucht, er fährt Slalom um große Löcher, die Fahrgä ste werden hin- und

hergeschüttelt. Es scheint ihnen nichts auszumachen . Gleichmütig wird das

Fahrgeld von Hand zu Hand zum Fahrer gereicht.

Draußen zieht die Stadt vorbei. Die alten Alleen, d ie Kirchen, das Konservatorium.

Arme Alte mit ausgestreckter Hand. Einfache Frauen mit Kopftuch. Elegante junge

Frauen, bittere mittelalte.

Oxana

Oxana auf Heimatbesuch.

Liana:

Liana mit dem Hund Rex.

Inna und Jana (gemeinsam):

Inna und Jana.

Tanja

Tanja kommt vom Markt.

Oxana

Die Frauen bummeln.

Liana und Jana (gemeinsam):

Oder schleppen Einkäufe nach Hause. Die Männer fahr en Auto.

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07 Inna: (O-Ton)

Est anekdot, mozhno ja rasskazhu. Zhena govorit muzhu: Davaj vot odin raz za odin

den ty na moem meste. I ja na tvoem. Muzh4ina utrom rano vstal, prigotovil zavtrak,

otvel detej v shkolu, vernuslja, ubiral kvartiru, gladel, 4istil.

Es gibt einen Witz, darf ich den erzählen? Die Frau sagt zum Mann: Los, einen Tag

lang bist du an meiner Stelle. Und ich an deiner. D er Mann stand also früh auf,

machte den Kindern was zu essen, brachte sie zur Sc hule, kam zurück, machte

sauber, bügelte, räumte auf, machte Essen, holte di e Kinder ab, wusch das

Geschirr. So ging das den ganzen Tag. Und dann - En tschuldigung - ging er aufs

Klo, setzte sich hin und sagte: Oh Gott, und dann muss ich heute noch Liebe

machen.

Erzählerin:

Inna, 26 Jahre alt, glattes halblanges Haar, dunkel blond, kaum geschminkt,

stammt aus einer Kleinstadt 300 km nördlich von hie r. Nach Odessa kam sie zum

Studium.

08 Inna: (O-Ton) Moj papa ranshe o4en redko byval doma, no ja pomnju, 4to kogda on

priezhal my hodili vmeste v detskoe kafe i eli tam morozhenoe s shokoladnymi

struzhkami. V etot moment ja 4uvstvovala sebja bezumno 4astliva. Kogda my sideli v

4etverom v kafe: sestra, mama, papa i ja.

Mein Vater war früher oft unterwegs, ich erinnere m ich, wenn er da war, gingen

wir in ein Kindercafe und aßen Eis mit Schokoraspel n. In diesem Moment fühlte

ich mich wahnsinnig glücklich. Wenn wir zu viert im Cafe waren: meine

Schwester, meine Mutter, mein Vater und ich - und w ir dieses Eis aßen. Ich

denke, ich war ein behütetes Kind, ich war meistens froh. Ich erinnere mich noch

an einen ganz klaren Moment: als mein Vater mir ein en Schmetterling fing. Diesen

Schmetterling sehe ich manchmal jetzt noch, ich war vielleicht drei Jahre alt.

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09 Jana O-Ton

Novyj god ja o4en ljubila v detstve. Mne mama klala podarki pod podushku. Mama mne

podarki polozhila pod podushku. Kogda mne bylo 15 i pod podushkoj ne bylo podarka,

to u menja byl shok. Ja do sih por prosypajus utrom s nadezhdoj, 4to pod podushkoj

Neujahr habe ich geliebt, als Kind. Meine Mutter ha t mir Geschenke unters

Kopfkissen gelegt. Als ich 15 war und kein Geschenk mehr unterm Kissen lag,

das war ein Schock. Ich wache heute noch auf, in de r Hoffnung, dass unter

meinem Kissen ein Geschenk liegt.

Erzählerin:

Jana ist 35, wirkt energisch und sanft zugleich, ih r dunkles Haar trägt sie kurz, die

Augen sind tiefbraun.

10 Jana:

U nas doma prekrasnye otnoshenija. Do sih por. Moja mama nikogda mne ni4ego ne

zapretila. Ja odna v seme. Kodga ona 4ego-to trebovala, pojavilis konflikty, no eto ne

bylo globalno.

Wir haben ein super Verhältnis, zu Hause. Bis jetzt . Meine Mutter hat mir nie was

verboten. Ich bin Einzelkind. Wenn sie was verlangt hat, dann gab es schon mal

Streit, aber der hielt nie an.

Erzählerin:

Jana hat Archäologie studiert und arbeitet an der K iewer Universität im Bereich

Unterwasserarchäologie. Ihr Fachbereich kooperier t eng mit Kollegen in Lyon,

deshalb war sie schon mehrfach in Frankreich.

Aufgewachsen ist Jana in Cherson, nicht weit von Od essa entfernt.

11 Jana: (O-Ton)

Ja zhila tak, 4to nashi okna prjamo vyshli na archeologi4eskij musej. V chersone est

krasivaja usadba, tam nahodjatsja dva museja, za nimi te4et dnepr. Ja odnazhdy

prohodila mimo, zagljanula i sprosila gde archelologi4eskoe otdelenie.

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Ich wohnte dort so, dass unsere Fenster direkt zum archäologischen Museum

hinausgingen. Ich bin da mal reingegangen, hab nach der archäologischen

Abteilung gefragt. Ich war 16 und fragte ob ich hie r was mit Archäologie machen

könnte, auf eine Expedition fahren. Sie fragten: Ju nge Dame, wo kommen Sie

denn her? Ich komme aus der Musikschule. (lacht) M eine Chefin, die damals eine

Expedition leitete, fühlt sich bis heute vor meiner Mutter schuldig, denn meine

Eltern träumten davon, dass ich aufs Konservatorium gehe. Ich fuhr auf die

Expedition und mir war klar, dass was anderes für m ich nicht in Frage kommt. Nur

die Uni und nur Archäologie.

(Musik)

Erzählerin:

Am schönsten ist Odessa im Herbst, wenn schwere Wei ntrauben an den Balkons

hängen und sich auf den Märkten das Saisongemüse hä uft. Die Hafenstadt am

Schwarzen Meer scheint den eigenen Mythos hinter si ch gelassen zu haben. Hier

kennt kaum noch jemand die Geschichten des Schrifts tellers Isaak Babel. Von der

viel gerühmten kulturellen Vielfalt, von der jüdisc hen Geschichte, ist im Stadtbild

wenig zu spüren.

12 Jana: (O-Ton) Ukraina eto odna iz samyh bogatyh stran, 4to kasaetsja kulturnoe

nasledstvie. Itih arheologi4eskih sokrovis4 ukradut. Zoloto. Eto banalno, eto

elementarno. Odna iz samyh bogatyh stran evropy. Dve problemy: ukrastvo i 4to vsem

plevat.

Die Ukraine ist eines der reichsten Länder, was das kulturelle Erbe betrifft.

Aber die archäologischen Schätze werden geklaut. Es geht ums Gold. So einfach

ist das. Da kommen zwei Probleme zusammen: Diebstah l und - dass allen alles

egal ist. Und der Staat tut nichts, um das kostbare Erbe zu schützen. Es gibt

Gesetze, aber keiner hält sich dran. Ich war in Eng land und habe gesehen, dass

Leute mit Tränen in den Augen über ihre eigene Kult ur reden. - Wir sind Briten,

eine totale Begeisterung. Sie haben eine rührende, zärtliche Beziehung zu ihrer

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eigenen Geschichte. Wir nicht. Uns ist das alles sc heißegal.

13 Liana: (O-Ton). V sovetskoe vremja mnogo govorilos v massmedijah o vojne, o tom,

4to mogut na nas napast. Pri etom bylo ogromnoe koli4estvo voennyh filmov, nekotorye

o4en silnye.

In der Sowjetzeit wurde in den Massenmedien viel üb er Krieg gesprochen,

darüber, dass man uns überfallen könnte. Dazu kam d ie große Menge an

Kriegsfilmen, zum Teil sehr gute Filme. Das hat sic h im Unterbewusstsein

festgesetzt, ich hatte als Kind immer diese Angst, dass jederzeit ein Krieg

ausbrechen kann. U menja s detstva o4en silnyj strah, nevrozy. Mne kazhetsja, 4to

mnogie u nas eto ispytyvajut.

14 Ich habe seit meiner Kindheit Angstattacken, Neuro sen. Wenn ich abends ins

Bett ging, kamen die Bilder. Ich hatte gerade die A ugen geschlossen, da tauchten

vor mir diese Bilder vom Krieg auf.

Erzählerin :

Liana hat ein fein geschnittenes, sorgfältig gesch minktes Gesicht, sie ist 37 ,

Musikwissenschaftlerin, ihren Sohn erzieht sie alle in.

15 Liana: (O-Ton ) My doma govorili po ukrainskij. Ja ne o4en ljubila hodit v shkolu.

Mnogo detjej, parami kuda-nibud hodit, eto ne dlja menja. Ja byla psihi4eskoj slaba i

tolpa ljudmi, esli nado bylo 4to-to sdelat, sportom zanimatsja.

Wir haben nur Ukrainisch gesprochen zu Hause. Ich b in nicht so wahnsinnig gern

in die Schule gegangen. Die vielen Kinder, immer pa arweise irgendwohin gehen,

das war nichts für mich. Ich war psychisch nicht be sonders stark und

Menschenansammlungen, besonders beim Sport...war ni chts für mich.

Bei uns zu Hause gab es ziemliche Kräche, meine Elt ern haben sich irgendwie

nicht besonders geliebt.

Zäsur: Ach, Odessa

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17Jana:

Moj otec nikogda na 4to to nastaival. Kogda ja postupila v universitet, on voobs4e

perestal mnoj interessovatsja.

Mein Vater hat nie auf etwas bestanden. Als ich an die Uni kam, hat er überhaupt

aufgehört sich für mich zu interessieren. Er war ni cht mehr auf Empfang für meine

Wellen. Natürlich macht er sich Sorgen. Er ist Musi klehrer, Musiker, spielt

Waldhorn im Symphonieorchester. Meine Mutter ist Ha uptbuchhalterin, sie hatte

viel Verantwortung in einem großen Betrieb. Sie hat te immer Verständnis.

18 Liana: (O-Ton )

Moj papa 4asto guljal, kak let4ik, mnogo deneg imel, vodki, vsegda bylo vodki. Ve4erom

posle poleta, 4toby raslabitsja. Mnogo let4ikov pjut.

Mein Vater hat sich gern amüsiert: Er war Flieger, viel Geld, Schnaps, in der

Truppe gab es immer Schnaps. Abends nach dem Flug, um diese Anspannung

abzubauen; viele Flieger trinken. Mein Vater war in dieser Beziehung sehr

schwach. Als er dann pensioniert war, hat er besond ers viel getrunken. Er ging

sogar eher in den Ruhestand, weil er so viel trank und das nicht in den Griff

bekam. Obwohl er verschiedene Chancen hatte zur Hei lung. Meine Mutter hat

mehrmals versucht, ihn trocken zu kriegen. Die erst e Phase hat er geschafft, aber

nie den entscheidenden letzten Schritt. Ich glaube, in seinem Unterbewusstsein

saß der Wunsch, sich aus dem Leben zu verabschieden , Alkoholismus ist ja eine

Form des passiven Suizid.

19 Jana: (O-Ton)

V 25 let ja vyshla zamuzh, eto ne tak rano. On byl moim pervym muzh4inoj, my rano

poznokomilis, v obs4ezhitie. Mne uzhe ranshe skazali, 4to u nego est sklonnost k

algogolju. Ja etogo ne zametela.togda my snimali kvartiru, prezhde tem 4to my mogli

kupit kvartiru.

Ich habe mit 25 Jahren geheiratet, das ist nicht so früh. Es war mein erster Mann,

wir haben uns früh kennen gelernt, im Wohnheim. Man hatte mir gesagt, dass er

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eine Neigung zum Alkohol hat. Hab ich nicht bemerkt . Damals, bevor wir eine

Wohnung kaufen konnten, hatten wir eine gemietet. U nd das Geld hat gerade so

gereicht. Wir sind wie hungrige Wölfe herumgelaufen , auf der Suche nach Essen,

nach Geld für die Wohnung. Kolja wollte immer unbed ingt in Odessa leben, mir

war das nicht so wichtig. Aber er hat dann eben Arb eit gesucht, wir haben beide

etwas verdient. Als wir dann die Wohnung gekauft ha tten, hat er sich hängen

lassen, er brauchte auf einmal nichts mehr. Ich war nicht da, habe im Ausland

gearbeitet. (seufzt)

20 Tanja: (O-Ton)

Mozhet byt u vas v germanii sto raz lu4se zhivut 4em u nas, i vashe posobie dva raza

bolshe nashej pensii. A u nas: Iwan pojdet vypit i na diwan. Na etom zakon4itsja ego

rabota.

Wahrscheinlich leben die bei euch in Deutschland vi el besser und eure Sozialhilfe

ist doppelt so hoch wie unsere Rente. Und bei uns: Iwan geht einen trinken - und

ab auf den Diwan. Damit ist seine Arbeit beendet.

Erzählerin:

Tanja ist Mitte 50. Sie hat wasserstoffblond gefärb te kurze Haare und trägt eine

dicke Brille, hinter der ihre Augen noch größer aus sehen. Ihre Schneidezähne

sind golden, die Schuhe klobig. Eine energische Fra u mit schweren, rissigen

Händen.

(Musik)

Tanja lebt in der Innenstadt von Odessa, in der Ul iza Stschepkina: zweistöckige

Häuser in Pastellfarben, überall bröckelt der Putz und große Risse ziehen die

Fassaden entlang. Auf Tanjas Hof wuchert wild ein Nussbaum, Tauben, Katzen

und Hunde sind hier zu Hause, Katzen lagern auf Fen sterbrettern. Der

Treppenaufgang riecht nach Raubtierhöhle.

21 Tanja:

Odessa ranshe byl grjaznym i dazhe ne osoboj, more sej4as 4i4se 4em ranshe. Vse

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dvorniki akuratno podmetajut, ranshe oni bolee poverhno eto sdelali.sej4as emu ne

ola4ivajut, esli on tolko vyidit i meshaet svoim venikom.

Odessa war früher schmutzig und nicht so besonders, das Meer ist jetzt sauberer

als früher. Jetzt fegen die Straßenkehrer ziemlich gründlich, früher waren die ganz

oberflächlich. Jetzt kriegt er nichts mehr nur dafü r, dass er rausgeht und mit

seinem Besen rumwedelt, jetzt muss er es schon orde ntlich machen. Deshalb ist

es jetzt sauberer.

22 Jana : Nam na vso plevat. Samoidentifikacija – eto nascha glavnaja problema. Eto voobs4e

tragedija.

Uns ist das allen scheißegal. Das Selbstwertgefühl, das ist eines unserer

Hauptprobleme. Das ist ein großes Dilemma. Ein sowj etisches Relikt. Vielleicht ist

es auch nur Faulheit, wenn ich meinen eigenen Balko n anschaue. Vielleicht sind

wir nicht zur Arbeitsliebe erzogen worden.

Musik/Straßenlärm

Erzählerin:

Die Deribasowskaja, die breite Flanierstraße in der Innenstadt, mit neuen

Supermärkten, Cafes, Attraktionen.

Hier kann man sich mit Affen fotografieren lassen, Odessitinnen schlendern

elegant neben Touristen. Ein Musiker setzt sich auf den Bordstein nieder, packt

sein Akkordeon aus. Er beginnt zu spielen, wiegt si ch hin und her, mit

geschlossenen Augen. Manche Frauen wirken in ihren kurzen Röcken und

hochhackigen Schuhen zweideutig aufreizend, schon z u Sowjetzeiten kleideten

sich die Damen hier besonders freizügig. Am Abend l euchten die Wasserspiele im

benachbarten Stadtgarten, zur Musik wandeln herausg eputzte Familien mit

Kindern, junge Liebespaare...Wer sagt, das Bier sei schlecht hier? Zu Schaschlyk

schmeckt es wunderbar. Man schaut sich die Leute an , und der Wind weht die

Rechnung vom Tisch.

Straßenkinder betteln, Matrosen ziehen durch die Kn eipen, in der Hafengegend

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blüht die Prostitution. Partnervermittlungsagenture n gibt es wie Sand am Meer,

aus Amerika kommen Männer auf Brautschau.

23 Oxana: (O-Ton)

Ja s etim na4ala potomu, 4to u nas voobs4e ne bylo deneg. Togda moja mama e4so

rabotala, no ona o4en malo zarabotala. Ja zakon4ila tehni4eskij institut, legkaja

promyshlennost, rabotala tehnologom na fabrike. Tam my o4en malo zarabatyvali,

rabotali v dvuh smennah.

Ich habe damit angefangn, weil wir überhaupt kein Ge ld hatten. Meine Mutter hat

damals noch gearbeitet, sie hat sehr wenig verdient . Ich selbst hatte eine

Fachschule absolviert, war Technologin in der Leich tindustrie. Da gab es ganz

wenig Geld, und wir mussten in zwei Schichten arbei ten. Und als das Kind größer

wurde, brauchte es mehr. Ich konnte ihm das nicht g eben. Ich erinnere mich an

einen Moment, als ich wirklich losheulen musste. Ic h war auf dem Markt, wollte

ein Kilo Fleisch kaufen. Mein Sohn wollte Schokolad e, dafür reichte das Geld

nicht. Das war so ein schlimmer Moment, dass ich me inem Kind so was nicht

kaufen kann. So was Elementares. Das war der Knackp unkt, ich habe sofort was

unternommen. Die erste Erwerbsmöglichkeit ist Sex. Und ich bin mir selbst egal,

absolut. Wichtig ist: dem Kind etwas zu geben. Dafü r hat er jetzt alles.

(Musik)

24 Oxana: (O-Ton)

U nas grandioznye plany. Ja ho4u, 4toby moj syn u4ilsja v anglii. Bolshe vsego ho4u:

mezhdunorodnye otnoshenija. Eto serjoznoe delo. On umnyj, horosho u4itsja, on eto

ponimaet. Ja emu postavila etu cel pered glazami. Objaznila emu principy. Vidish, mam

Wir haben grandiose Pläne, ich möchte dass mein Sohn in England studiert. Am

liebsten: Internationale Beziehungen.(lacht) Im Ern st. Er ist klug. Er lernt gut. Er

versteht das. Ich habe ihm so ein Ziel vor Augen ge stellt. Habe ihm die Prinzipien

erklärt: Siehst du, Mama fährt oft ins Ausland, um Geld zu verdienen. Damit du

etwas hast. Damit du später nicht weggehst und dein e Kinder allein lässt, musst

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du gutes Geld verdienen. Dafür musst du fleißig ler nen und gut studieren. Ich

gebe dir alles, damit du lernen kannst. Koste es, w as es wolle. Aber deinen Grips

brauchen wir zu meinem Geld. Ja. (seufzt und lacht) . Schlimm oder?

Erzählerin:

Oxana, Ende 30. Lange blond gefärbte Haare. Ihr Ges icht ist angespannt,

verhärtet. Sie lacht selten, und wenn, dann sehr la ut. Oxana absolviert ein

Fernstudium, drei Mal im Jahr kommt sie aus Italien hierher. Sie studiert

Italienisch, Englisch und Deutsch. Sie hat Mühe, de n Anschluss zu halten.

25 Oxana: (O-Ton)

My o4en blizkie, moj syn i ja. My o4en 4asto razgovorivaem po telefonu, pishem emaily.

On dlja menja risuet kartiny. My vsgeda imeem svjaz, on menja 4uvstvuet i ja ego Wir

haben ein enges Verhältnis, mein Sohn und ich, tele fonieren ganz oft, schreiben

uns Emails. Er malt mir Bilder. Er spürt mich und i ch ihn. Ich weiß gar nicht, wie

wir das bewahrt haben, so ein enges Verhältnis. Wen n er Probleme hat, ruft er

mich sofort an. Ich habe ihm nie gesagt, ruf nicht an, das ist zu teuer. Wir sind die

besten Kunden von allen Telefonfirmen (lacht). Ich komme ziemlich oft nach

Hause, drei Mal im Jahr bin ich so für zwei Monat e zu Hause. Das geht schon.

26 Liana:( O-Ton)

My zhivem v kommunalke. Eto takoj ostatok sovetskogo vremeni. Komnata, gde my

zhivem, eto moja. Moja nedvizhimost, moja norja. Ja pridu domij, nikto ne mozhet menja

vygnjat. Kone4no bylo by idealno imet kvartiru, no na eto deneg ne hvatalo.

Wir wohnen in einer Gemeinschaftswohnung. Die Kommu nalka ist so ein Relikt

aus der Sowjetzeit. Das Zimmer, was ich habe, ist m eins. Meine Immobilie, meine

Höhle. Ich komme nach Hause, mich kann da niemand v ertreiben. Klar wäre es

ideal, eine eigene Wohnung zu haben, aber dafür rei chte mein Geld nicht. Damit

muss ich mich abfinden. Ich bin ganz zufrieden. Imm obilien sind bei uns sehr

teuer. Ich habe dieses Zimmer vor 5 Jahren für 13.5 00 Dollar gekauft, das ist jetzt

25.000 Dollar wert. Besser in einer Kommunalka als im Wohnheim, im Wohnheim

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zu leben ist fast wie auf der Straße sitzen. Was so ll ich sonst sagen? Da kann man

nur mit Humor klarkommen. Humor ist das einzige Asy l, wenn man alles ernst

nimmt, verbrennt man schnell und ist mit 40 tot.

Erzählerin:

Liana muss permanent finanzielle Engpässe bewältige n, es reicht kaum für das

Nötigste. Die teure Fechtkleidung des Sohnes muss z usammengespart werden.

Sie ist gezwungen, an mehreren Hochschulen zu unter richten, nebenbei schreibt

sie ihre Doktorarbeit.

Ein paar Monate war sie mit einem Forschungsstipend ium in Deutschland. Liana

vergräbt sich gern in Büchern, die Bibliothek ist i hr liebster Ort. Natürlich neben

dem lang ersehnten eigenen Zimmer, das sie mit ihr em Sohn und einem Hund

namens Rex teilt.

27 Liana: (O-Ton) Situacia v kommunalke eto kak pautiny v banke. Oni drug na druga

napadajut i kushajut drug druga. Eto dazhe tipi4no. Mne es4o povezlo, moi sosedki

spokojnye i vedut sebja otnositelno prili4no.

In den Kommunalkas lebt man wie Spinnen im Glas. Di e fallen übereinander her

und fressen sich gegenseitig. Das ist wirklich so. Ich habe noch Glück, dass

meine Nachbarn ruhig sind und sich relativ gut bene hmen. Ich weiß nicht, ob das

typisch sowjetisch oder typisch Odessa ist: seine N ase in fremde Leben stecken.

Eine Frau, die bei uns wohnt, alle wissen über ihr Intim-Leben Bescheid. Alle

regen sich auf, wie sie lebt: der erste Mann, dann ein neuer. Denn alle diese

Männer waschen sich in unserem Badezimmer. In der G emeinschaftswanne, wo

ich mich wasche und mein Kind. Diese alte Frau, die mir gegenüber wohnt, sie ist

eben alt, ich soll sie natürlich respektieren, ihr den Vorrang lassen. Sie will mir in

der Küche Rezepte erklären, fragt mich, warum ich s oviel Rote Beete in die Suppe

schneide. Was geht dich das an, verdammt noch mal? Schau in deinen Topf.

(Küchengeräusche, Schlurfen auf dem Gang)

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28 Liana: (O-Ton)

Ich kann hier mit meinem Sohn nicht in Würde leben . Obwohl ich sehr gut

ausgebildet bin, ist es mein Schicksal bis zur Pens ionierung zwischen drei

Arbeiten hin und her zu rennen, Bücher zu wälzen, s ehr viel Material

durchzuarbeiten. Meine ganze Kraft aufzuwenden…Dafü r bekomme ich Kopeken.

Es ist sehr schwer, in so einer Situation nicht die Selbstachtung zu verlieren.

29 Oxana : (O-Ton)

Pervyj raz dlja menja bylo o4en slozhno. Ja rabotala 2 mesjaca. Eto bylo...voobs4e.

Svoboda pojavilas pozshe, sej4as mne na svo plavat. Mne sovershenno plevat, odeta li

ja ili golaja. Ja etogo dazhe ne zame4aju.

Das erste Mal war sehr schwer für mich. Ich arbeite te 2 Monate. Das war

(prustet).... und überhaupt. Die Freiheit kam späte r, jetzt ist mir das alles egal. Das

ist mir völlig egal. Ich traf dann einen Mann, er b ezahlte meine Schulden und holte

mich raus, ich lebte dann mit ihm zusammen. Ein Gri eche, russischer

Abstammung. Er hatte eine komische Familie. Was wil lst du mit einer

Prostituierten? Mit Kind? (lacht) Dann hatte ich no ch einen Griechen, das war

ziemlich ernst, wir dachten sogar ans Heiraten. Er kam aus einer elitären Familie,

sein Vater war in Athen Politiker. Ich habe dann ve rstanden, sie wollten keine

fremden Kinder erziehen. Also mein Kind. Da hat die Liebe nicht geholfen. Wir

haben uns getrennt. Er kam noch drei, vier Mal in d ie Ukraine, konnte sich nicht

von mir lösen. Seine Eltern waren stärker als er, e r war schwach, ein toller Mann,

groß, gut aussehend, er konnte sich sehen lassen. E r war von seinem Vater

abhängig, der war Rechtsanwalt, hatte eine Kanzlei, wo auch der Sohn arbeitete.

Ohne Familie war er ein Niemand. Na ja, ich möchte sowieso keinen Mann haben,

der keinen Arsch in der Hose hat.

Erzählerin:

In einem Hof in der Altstadt sind die Kellerfenste r vergittert. Kein Hinweisschild.

Eine unscheinbare Treppe führt hinab und zur Tür ei ner

Nichtregierungsorganisation. Zwei Räume mit Schreib tischen, Computern,

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diversen Sitzmöbeln. An die 200 Freiwillige hat „Gl aube, Liebe, Hoffnung“ . Klingt

nach Religion, hat aber damit wenig zu tun. Die NGO arbeitet im Bereich der AIDS-

Prävention, hilft bei Verdacht auf Menschenhandel, bei der Reintegration von

Zwangsprostituierten.

Zwei mal in der Woche kommt ein Schiff aus der Türk ei, mit ausgewiesenen

Frauen aus den verschiedensten Ländern der ehemalig en Sowjetunion. Sehr viele

aus Moldawien. Die Organisation betreut sie, viele brauchen ärztliche Hilfe. Dann

werden sie in ihre Heimat zurückgeschickt.

Jedes Jahr veranstaltet „Glaube, Liebe, Hoffnung“ e inen Gedenktag für die AIDS-

Opfer und deren Angehörige. Dann hängen am Himmel ü ber Odessa viele bunte

Punkte. Luftballons tragen die Namen der Verstorben , Gedanken, Wünsche.

Schätzungen der WHO gehen davon aus, dass in Odessa 160.000 Infizierte leben.

Das ist die höchste Infektionsrate in Europa.

Musik

Erzählerin:

Die lutherische St. Pauls Kirche wurde nach lange n Jahren des Verfalls im April

2010 mitsamt Orgel wieder eingeweiht. Das imposante Gebäude im

neoromanischen Stil hat Platz für bis zu 1200 Mensc hen.

Der Glockenturm war früher der höchste Turm der Sta dt. Der Kantor der

Gemeinde, Theophil Richter, wurde 1941 mit 22 Gemei ndemitgliedern von den

Sowjets als vermeintlicher Spion erschossen.

Richters Sohn, Swjatoslaw, der Pianist, hat am Kon servatorium studiert.

Das schmale, inzwischen hellgelb gestrichene Haus, liegt der Kirche gegenüber.

Auch der Geiger David Oistrach war hier Student.

An mein Ohr dringen Streicher und Paukenschläge, Ba janklänge und eine

Sopranstimme. Im Keller übt jemand Kontrabass, auf dem Gang spielt ein

Mädchen Geige. Hier studiert Inna Bandura, ein ukra inisches Zupfinstrument.

30 Inna (von vorn)

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Ja ne mogle by zhit bez musyki. Govorjat: Musikant eto ne professija a diagnos. Ja ne

o4en horoshaja banduristka.

Ohne Musik kann ich nicht leben. Musiker, das ist k ein Beruf, das ist eine

Krankheit. Ich bin keine besonders gute Bandura-Spi elerin. Ich habe Angst und

wenn ich etwas nicht kann, dann kriege ich Panik bi s zum

Nervenzusammenbruch.

31 Jana/ Atmo im hintergrund(KOnservatorium)

U menja est dva proizvedenija Bacha, strasti po matfeju i strasti po joannu. I ja o4en

ljublju Gesualdo. I madrigaly: italjanskie, angliskije. Eto takaja muzyka, 4to kogda ejo

uslyshish, to pojavljaetsja gusinaja kozha. Vremja Elizavety, 17 -yj vek. Moj drug

serjozha uslyshal etu muzyku kogda-to, perepisyvaja ejo dlja menja.

Ich habe die Matthäus- und die Johannes-Passion von Bach und ich mag

Gesualdo sehr. Das ist so eine Musik, die hörst du und kriegst eine Gänsehaut.

Und Madrigale: italienische, englische. Die Elisabe thanische Periode, das 17.

Jahrhundert. Mein Freund Sergej hat das gehört und meinte: Wenn du dann

zuhause solche Musik hörst - bitte nur, wenn ich n icht da bin. Das hat ihm

überhaupt nicht gefallen. Zu traurig. Und mich ents pannt es und ich kann dazu

gut arbeiten.

Etwas schreiben. Ich schreibe gar nicht schlecht. I ch habe einen guten Stil, sagen

die anderen. Aber ich bin sehr faul. Wenn ich eine Idee habe, dann kann ich was

schreiben. Was Literarisches. Das passiert aber sel ten. Als ich noch zur Schule

ging, habe ich die Hausaufgaben bei arabischer Musi k gemacht. Oder bei

griechischer.

32 Tanja Moi uvle4enija eto krosswordy i televizor, na vyhodnye ja vklju4aju televizor.

Krosswordy eto horosho dlja golovy, eto mne nravitsja. Ja umeju o4en vkussno gotovit.

Meine Vergnügungen sind Kreuzworträtsel und Fernseh en. Und ich kann gut

kochen.

(Atmo Markt)

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Als ich bei Mohamed gekocht habe, hat es ihm immer geschmeckt, ich habe mit

Herz gekocht. Ich kann vieles gut zubereiten, wenn ich mich zusammenreiße:

Vareniki, alles. Buletten, Fisch, ich koste immer, der Rest ist für die anderen. Und

mit Kräutern. Backen klappt nicht so. Wenn Sie woll en, bitte, ich koche so, dass

alle mit den Ohren schlackern.

33 Tanja : (O-Ton) Ja vstaju o4en rano, okolo pjati. Ja moljus i utrom i ve4erom, eto mne

pomogaet. Ranshe mne bylo o4en tjazhelo, no ja uspela perstroitsja. Kone4no ja ranshe

tozhe verila v boga.

Ich stehe sehr früh auf, gegen fünf. Ich bete morge ns und abends, das hilft mir.

Früher hatte ich es sehr schwer, aber ich habe den Absprung geschafft. Natürlich

habe ich auch früher an Gott geglaubt, aber jetzt g laube ich stärker. Ich versuche,

niemandem etwas Böses zu tun und meine Arbeit zu ma chen.

34 Liana: (O-Ton)

Ja medlenno vstaju, gotovlju zavtrak. Inogda ja sna4ala guljaju s rexom. Eto zavisit i ot

rezhima andrjushej. Inogda ja speshu na rabotu. Inogda ja privedu andrjushu v shkolu,

eto zavisit ot moego rezhima.

Ich stehe langsam auf, mach Frühstück . Oder ich ge he ich zuerst mit Rex raus. Je

nach dem, wann Andrjuscha aufstehen muss. Oder ich muss schnell zur Arbeit.

Manchmal bringe ich Andrjuscha in die Schule, das h ängt von meinen Terminen

ab. Manchmal bin ich früher zu Hause, mache was zu essen. Oder ich muss eine

Vorlesung vorbereiten. Abends spielen wir zusammen oder ich bringe ihn zum

Sport. Er macht abends Hausaufgaben, es ist dann sc hon spät. Manchmal bis 23

Uhr. So geht es jeden Abend, manchmal lese ich ihm vor. Oder wir lesen beide,

jeder in seinem Buch. Oft wartet er, bis ich auch s chlafen gehe. Am Wochenende

kann ich dann mal ein paar Stunden an meiner Disser tation arbeiten, und dann

machen wir auch was zusammen. Manchmal malen wir wa s. Wenn es warm ist,

fahren wir ans Meer und gehen in den Park. Dann ren nen Andrjuscha und Rex um

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die Wette.

35 Jana:

Was ich mag an meinem Alltag, das ist das Nach-Haus e-Kommen. Das finde ich

wunderbar. Ich ziehe mich langsam aus, mache Abendb rot, mache den Fernseher

an... jetzt mache ich den Computer an und sehe imme r ein und denselben Film. Du

kommst nicht drauf, was für ein Film das ist? Ich h abe ihn auf russisch und auf

englisch. - Herr der Ringe . (lacht)

37 Liana : (O-Ton)

Rabo4ij den projdet dovolno veselo i bystro. K sozhaleniju nikto mne ne prinosit kofe v

krovat, o4en redko eto delaet moja mama. Kone4no budni o4en tjazhelye, kak gruz,

kotoryj nado nesti. Kak na kartine repina: burlaki na volge.

So ein Arbeitstag verläuft recht lustig und zügig b ei mir. Leider bringt mir keiner

den Kaffee ans Bett. Klar ist so ein Tag ziemlich a nstrengend, wie eine Last, die

man tragen muss. Wie die Wolgatreidler bei Repin, v erstehst du?

36 /38 Tanja :

Ja me4taju o rabote, gde ja i ubiraju i smotrju za detmi.

Ich träume davon, eine Arbeit zu finden, wo ich pu tzen kann und Kinder betreuen.

Ich habe keine eigenen Kinder, leider hat es bei mi r nicht sollen sein.

Ja o4en ljublju svoju rabotu, eto vazhno. Ja dazhe ne ustaju. Eto 100 raz lu4se 4em

sidet doma. Kogda 4elovek bezdelni4it, emu plohie mysli prihodjat v golovu.

Ich arbeite sehr gern, das ist mir wichtig. Ich wer de auch nicht müde davon. Das

ist viel besser, als zu Hause zu sitzen und nichts zu tun und schlechte Laune zu

kriegen

(auf Atmo)

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Erzählerin:

In Tanjas Straße gehen Frauen im Morgenmantel einka ufen oder stehen zum

Schwatz zusammen, Jungs in dunklen Anzügen marschie ren an ihnen vorbei zur

Schule.... Dicke Frauen mit riesengroßen Taschen sc hleppen vom Basar

Blumenkohl, Gurken, Rote Beete nach Hause, Fisch fü r Ucha, die Fischsuppe,

Weißkohl für Borschtsch. Von ihrer Rente könnte Ta nja wenig auf dem Basar

erstehen. Das Rentenalter beginnt für ukrainische F rauen mit 55 - aber die

meisten arbeiten ein Leben lang. Tanja macht Treppe naufgänge in Wohnhäusern

sauber, putzt in der Universität und bei besser Bet uchten.

39 Tanja : (O-Ton) Moja pensija prekrasnaja : 400 Griwen, s etimi dengami ja mogu tolko

chleb kupit i vodu, bolshe ni4ego.Moja mama bolna, jej nuzhn lekarstvo, za nej nuzhno

uhazhyvat. Ja postarajus u nejo ni4ebo ne zabrat , na oborot jej koe-4to otdat ot moih

deneg.

Meine Rente ist - fabelhaft , 400 Griwna...mit dies er Rente kann ich nur Brot und

Wasser kaufen, mehr nicht. Meine Mutter ist ziemlic h krank, sie braucht

Medikamente, muss gepflegt werden. Ich achte und un terstütze sie.

40 Tanja O-Ton vorziehen: Ja me4taju... kone4no ne stanesh molozhe, no es4o rano

dumat o starosti.No, kogda ja starenkaja, ja ho4u, 4toby kto-to...horoshij 4elovek... poka

ne znaju kto, zabotitsja obo mne.

Ich träume und natürlich wird man nicht jünger, es ist noch zu früh, ans Altwerden

zu denken. Aber, wenn ich alt bin, möchte ich dass jemand - ein guter Mensch -

ich weiß noch nicht wer, sich um mich kümmert. Nat ürlich ist es noch zu früh an

den Tod zu denken.

41 Inna: (O-Ton) Ja s4itaju, 4to ja s4astlivyj 4elovek: ja zdorova, u menja est horoshie

roditeli, horoshie druzja. Dolgoe vremja u menja ne byl ljubimogo 4eloveka, sej4as on

est.

Jetzt halte ich mich für einen glücklichen Menschen : ich bin gesund, habe gute

Eltern, gute Freunde. Lange Zeit hatte ich keinen L iebsten – aber jetzt habe ich

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zum Glück einen....

(auf Musik und Atmo)

Erzählerin:

Eine deutsche Touristengruppe mit einheimischer Rei seleiterin bewegt sich

entlang dem "Primorskij Bulvar". Zwischen den Bäume n kann man einen Blick

aufs Meer erhaschen, es liegt still und riecht nac h Tang. Manchmal kreuzt ein

Schiff den Horizont. Der Boulevard führt zur Potemk inschen Treppe, dem

Wahrzeichen der Stadt. Hier tummeln sich Souvenirhä ndler, größere Kinder mit

Ponys sitzen auf der Bank und warten auf Reitkundsc haft.

Am Morgen liegt die Stadt wie das Meer am windstill en Tag, ruhig und

ausgestreckt. Alte Frauen in orangefarbenen Westen kehren die Fußwege mit

Reisigbesen. An einer Ecke wird die Straße asphalti ert. Ein Pulk von Männern, die

Arme verschränkt, rauchend, während die Frauen arbe iten. Mit den schweren

Schaufeln verteilen sie den Teer. Es gilt die viele n Schlaglöcher zu schließen. Auf

den wenigen Spielplätzen der Stadt hüten fast aussc hließlich Mütter oder

Großmütter den Nachwuchs.

42 Tanja: (O-Ton)

Bolshinstvo mus4in mne ne nravitsja. Nado zhdat, 4ego pridet. Ja zhdu. 4to pridet,

neizvestno. Esli net, togda net. Ja eto tozhe oerezhivu.

Die meisten Männer gefallen mir nicht. Man muss abw arten, ob etwas passiert. Ich

warte. Ob was kommt, weiß ich nicht. Wenn nicht, da nn eben nicht. Das überleb

ich auch.

43 Inna: (O-Ton) Zhens4ine nade to zdelat i to. Jej nado i ubrat, gotovit, rozhat, nesti

detej na rukah, nesti es4o i mus4inu. Nashi Zhens4iny nosjat mus4in. Kak eto mozhet

byt? Ja smotru za granicu, u menja tam druzja zhivut, zhens4ina tam kak cvetok.

Die Frau muss das und das machen. Sie soll putzen, kochen, Kinder kriegen, die

Kinder tragen, den Mann tragen. Unsere Frauen trage n die Männer! Wie kann das

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sein?! Ich sehe ins Ausland hinüber, habe dort Freu nde, die Frau ist dort wie eine

Blume. Die Frau wird geschont, wie eine Puppe. Um m it ihr zu leben, mit ihr

zusammen zu sein. Bei uns muss die Frau alles: Sie muss 2 Taschen tragen, je 20

Kilo. Zwei Kinder hängen an ihr dran. Der Mann verd ient ja das Geld. Er ist müde,

wenn er von der Arbeit kommt und liest Zeitung. Ja, er ist müde, die Frau kann

sich das nicht leisten.

44 Jana: (O-Ton) Emancipacija? Ja eto ne s4itaju vazhnym. Vse ljudi svobodnye, oni

mogut delat, 4ego hotjat. Esli zhens4ina ho4et emancipirovatsja, togda vpered. Esli net,

togda net. Ljudi dolzhny zdelat kompromysy. Bez aggressii. Ne nado razdelit muzh4in i

zhen4sin.

Emanzipation? Davon halte ich nichts. Alle Leute si nd frei, sie können machen

was sie wollen. Wenn sich eine Frau eman-zi-pieren (dehnt die Silben) will,

vorwärts. Wenn nicht, dann nicht. Menschen müssen i mmer Kompromisse

machen. Ohne Aggression. Man muss da Männer und Fra uen auch nicht trennen.

Ich mag Leute, die clever sind, und Frauen sollten clever sein, ja. Bei uns sagt

man: Beschränktheit ist schlimmer als Stehlen. Manc hmal muss man eben schlau

sein. Ich habe in meinem Leben viele männliche Aufg aben übernommen und habe

es schon verlernt, vom Mann Geld für einen Lippenst ift zu verlangen. Klar kann

ich das selbst verdienen. Aber es ist ein besondere s Vergnügen, dem Mann Geld

für Schminkzeug abzunehmen. Das also nicht von der eigenen Kohle zu kaufen.

Männer und Frauen sind gleich. Was heißt das: eine schwache Frau, so was gibt

es nicht. Eine schwache Frau ist eine Person aus ei nem Hollywood-Film. So eine

Blondine, die in Ohnmacht fällt. Solche gibt `s nic ht in der Realität.

45 Oxana (O-Ton) S Mus4inami otsjuda: eto vse bylo poverhno. Odna, dve Nedeli, ja ne

mogu vosprinimat mentaliet etih mus4in. Prosto ne mogu.U nih otnoshenie k

zhens4inam kak k rabam.

Mit den Männern von hier: das waren alles nur oberf lächliche Geschichten.

Ein, zwei Wochen. Ich kann die Mentalität unserer M änner nicht akzeptieren.

Geht nicht. Sie haben ein Verhältnis zu Frauen wie zu Sklaven. Mir gefällt, wenn

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ein Mann wie ein Diener ist, wenn ich dominieren ka nn. Nicht im konkreten

Wortsinn. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll . Der Mann sollte immer

nachgeben, sich zurücknehmen. Das ist für mich die wichtigste Bedingung. Wenn

ich dann solche Kommandos höre: du sollst das mache n und das. Dann frage ich

mich, wer bist du eigentlich? - Warum hast du mich nicht angerufen? Was soll

das, Befehle? Hey, Jungs. So erlaubt sich meine Mut ter nicht mit mir zu reden.

Und so ein Typ! Nur weil ich mit ihm eine Nacht ver bracht habe, das heißt noch

gar nichts.

46 Liana: (O-Ton) My posnakomilis v konservatorii, on byl klarinetistom, krasivyj

instrument.U nego i byl o4en horoshij sluh. S na4ala bylo jasno 4to my vosvras4aemsja

v odessu, 4toby ja mogla dalshe u4itsja. Potom on zahotel, 4toby ja u4ilas zao4no.

Wir haben uns am Konservatorium kennen gelernt, er war Klarinettist, ein

schönes Instrument. Er hatte auch ein gutes Gehör. Zuerst war klar, dass wir

zurück nach Odessa gehen und ich weiter studiere. S päter wollte er, dass ich nur

als Fernstudentin weitermache, denn - das Kind brau cht seine Mutter und der

Mann braucht seine Fr au. Warum soll man mit dem Studium unnötig Zeit

verschwenden. Und dann hat ihn das eher erzürnt, d ass ich mich für Musik

interessiert habe, dass ich Bücher lese. Es gab so einen Moment, an den ich mich

noch sehr gut erinnere: ich hab Musik angemacht, es war Bizets -Carmen in einer

Fassung von Schtschedrin, da gab es so einen Moment in der Musik: erst leise

Töne, Geigen und dann BUMM, Schlaginstrumente. Andr juscha ist

zusammengezuckt, er war sehr klein in einem rosa St rampelanzug. - Was machst

du die Musik an, sogar das Kind hat sich erschreckt , keine Musik mehr! Du fährst

nicht ans Konservatorium! Das war wie eine Explosi on, ich habe nichts dazu

gesagt, ich erinnere mich sehr gut an diesen Moment . Das war das erste Signal

für mich. So ein Gefühl: zack, und die Jalousie gin g runter.

47 Inna: (O-Ton) 4to kasaetsja otnoshenie mezhdu roditeljami, to ja inogda uzuzhdaju

svoego otca. Ja hotel by, 4toby on ejo bolshe uvazhaet, no i kak zhenshinu, kotoraja

razhala i vospityvala emu dve do4eri. Ona vsju zhizn porobotala i imela detjej, on

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vsegda byl v puti.

Was die Beziehung zwischen meinem Vater und meiner Mutter betrifft, da

verurteile ich ihn schon manchmal. Ich wünschte mir , dass er sie mehr achtet,

auch als Frau, die ihm zwei Töchter geboren und si e erzogen hat. Sie hat immer

gearbeitet und hatte die Kinder, unser Vater war im mer unterwegs. Er schätzt das

nicht, er versteht das nicht. Manchmal kränkt er si e. Das kränkt dann mich. Ich

rede dann mit ihm und er, das ist natürlich schön, er schätzt meine Meinung

immer. Er sagt immer: ich habe sehr kluge Töchter.

Aber woher sie kommen? Diese klugen Töchter? Sorry. Es ist deine kluge Frau,

die deine zwei Kinder aufgezogen hat, die dich lieb en. Du wird doch verwöhnt bei

uns, ein Mann und drei Frauen. Wir haben für dich g ebacken, gekocht, du warst

unser liebster Papotschka. Merkst du das nicht? Er sagt: Ich gehe weg. Wohin

willst du gehen, du bist bald 60?! Wer braucht dich ? Wir sind deine Töchter, die

dich erzogen haben und dich liebten, du sollst das schätzen. Ich gehe weg. Mir tut

es Leid für meine Mutter als Frau. Sie hat ihn dama ls nicht zusammengestaucht.

Ich liebe ihn, ich liebe ihn trotzdem, ich werde ih n immer lieben, er ist mein Vater.

Meine Eltern spielen für mich eine sehr große Rolle . Sie haben mich zur

Selbständigkeit erzogen. (seufzt) Ich bin ihnen se hr dankbar. Ich denke, alles was

ich jetzt habe, das habe ich von meinen Eltern. Wen n ich jetzt manchmal nach

Hause komme, ich bin 26, sie reißen sich für mich e in Bein aus.

48 Oxana :(O-Ton)Nekotorye Klienty mne 4asto zvonili domoj. govorili o ljubvi. Iz italii.

My muzh zvonil kazhdyj den. Kazhdyj den.

Manche Kunden haben mich oft zu Hause angerufen, vo n Liebe und so gefaselt.

Aus Italien. Und mein jetziger Mann hat mich jeden Tag angerufen. Jeden Tag.

Komm lass uns heiraten! Ich dachte: - Naja, sind sc hon zwei Jahre um, du musst

wieder arbeiten. Er hat mir schon geholfen. Als me in Geld alle war, hat er mir

monatlich 500 Dollar geschickt. Regelmäßig. Ja, dac hte ich, der kümmert sich.

Also heirate ich ihn. Wegen der Dokumente, ich habe nie etwas für ihn

empfunden. Obwohl er kein schlechter Typ ist.

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(auf Atmo)

Erzählerin:

Es ist Oktober 2010, in der Ukraine finden Kommunal wahlen statt, eine

angespannte Atmosphäre herrscht in der Stadt, die L uft ist wie elektrisiert.

Morgens gegen 10 Uhr, in der Nähe von Lianas Wohnun g, an der Ecke

Uspenskaja/Preobrazhenskaja gibt es eine kleine Dem onstration, die ukrainische

Partei der Anarchisten. Ein Häuflein sympathischer junger Leute. Sie verhalten

sich freundlich, lächeln. Ihre Fahnen mit dem Anarc hiezeichen erregen

Aufmerksamkeit.

Passanten bleiben stehen, schauen zu, Journalisten mit Kameras rennen ihnen

entgegen. Plötzlich hält ein teures westliches Auto mitten auf der Straße, eine

Dame im Kostüm streckt sich bis zur Hüfte aus dem F enster und schreit mit sich

überschlagender Stimme: ihr Hunde, ihr Arschlöcher!

Die Stimmung ist gereizt und trotzdem: viele ignori eren die Wahlen. Oder man

witzelt über die Namen der Kandidaten: Wen wirst du wählen? Kaktusov oder

Kurvitz? Den Kaktus oder den Schlamper?

In der Innenstadt, an den großen Ausfallstraßen, üb erall hängt geschmacklose

aufdringliche Wahl-Reklame. Alles Männer.

49 Liana: (O-Ton) Ja sledila za oranzhevoj revolucijej s nadezhdoj i somneniem. Ja

4uvstvuju silnuju barrieriu, 4to kasaetsja politikoj, ja ho4u sebja zas4i4sat ot bolshinst

informacii. Vso 4to kasaetsja vnutrennuju politiku menja ne interesujet. Eto slishkom

bolno.

Ich habe die orangene Revolution mit Skepsis und Ho ffnung verfolgt, am Anfang

zumindest. Ich spüre eine starke Barriere, was Poli tik betrifft, alles was mit

Innenpolitik zusammenhängt, dafür interessiere ich mich nicht, weil das für mich

zu schmerzhaft ist. Ich hab mich da völlig abgescho ttet, habe keinen Fernseher,

höre keine Nachrichten. Lese keine Zeitungen.

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50 Tanja: (O-Ton, verschoben) Ja do sih por zhivu na toj ulice, gde ja i rodilas, v centre

odessy. My zhivem vo dvore, u nas est balkon, kotoryj po4ti upadet. Odnazhdy u nas

stojal deputat vo dvore, ja emu govorila, budte dobry, uhodite v storonu, 4toby vam ne

upal na golovu.

Ich lebe immer noch in der Strasse in der ich auch geboren wurde, im Zentrum

Odessas. Wir wohnen auf dem Hinterhof, unser Balkon ist baufällig. Als ein

Abgeordneter auf unserem Hof stand, habe ich ihm ge sagt: Seien Sie so

freundlich, gehen Sie zur Seite, denn der kann auf ihren Kopf fallen. Die Hälfte ist

schon heruntergefallen. Er schaute so auf dieses Ba lkonchen. Sie müssen was

machen, sagte ich, aber Sie wählt sowieso keiner un d repariert wird hier auch

nichts.

51Liana: (O-Ton) Ja poshla na vybory i golosovala za samye radikalnye, partiju

timoschenko. 4Toby nemnozhko o4istit etu grjaz, nuzhno prinimat radikalnye mery.

Ich bin zur Wahl gegangen, habe die Radikalsten ge wählt, die Partei von Julia

Timoschenko. Denn um diesen Dreck auch nur ein biss chen aufzuweichen, muss

man radikale Veränderungen vornehmen. Sie ist im Pr inzip auch ein dunkles -

Pferd , aber ihre Positionen sind unumgänglich.

52 Oxana: (O-Ton) Ja ho4u zarabotat mnogo deneg, v budus4em. Esli ja sej4as ne

vernus domoj, ja mogu horoshuju summu zarabotat. 150.000 v godu. Eto realno. Ja

ho4u sebe kupit kvartiru, kotoraja mne prinodlezhit.

Ich möchte viel Geld verdienen, in Zukunft. Jetzt, wenn ich nicht nach Hause

fahre, kann ich ein gutes Sümmchen verdienen: 150.0 00 Dollar im Jahr. Das ist

real. Ich möchte mir eine Wohnung kaufen, die mir g ehört, wo kein Mann einen

Anspruch darauf hat. Ich weiß nicht wo. Abstottern vielleicht. Noch nichts

Genaues. Und ich muss ein Business haben, ich weiß noch nicht welches.

Vielleicht sogar als Übersetzerin Italienisch-Russi sch.

53 Jana: (O-Ton, erste Hälfte von oben) Ja ljublju dinamiku, mne nuzhno dvizhenie, ja

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ljublju organizovat, govorit s ljudmi.

Ich mag Dynamik, ich brauche Bewegung, am liebsten organisiere ich was, rede

mit Leuten. Das kann ich gut, das macht mich froh. Ich musste hier viel

herumsitzen, es gab wenig Arbeit, es wird sich änd ern. Was ich mag an meinem

Alltag, das ist das Nach-Hause-Kommen. Das finde ic h wunderbar.

(Musik)/Gelächter

54 Oxana : (O-Ton) Ja hozhu v cerkov, v italii u menja ku4a ikon, doma, ja zazhegaju

sve4i, nashi svezi, u menja svoja cerkov doma, eto ja vosprinimaju o4en serjozno. Ja

kres4ennaja, moja babushka byla o4en religioznoj, ona menja otpravila po etoj doroge.

Ich gehe in die Kirche, in Italien habe ich viele I konen, habe dort meine Kirche zu

Hause, zünde Kerzen an, unsere Kerzen, denn dort gi bt es keine Wachskerzen.

Das nehme ich sehr ernst. Ich bin natürlich auch ge tauft, meine Großmutter war

sehr religiös, sie hat mich auf diesen Weg gebracht . Meine Mutter versteht das

überhaupt nicht, sie ist noch kommunistisch geprägt . Ich nicht. Ich habe immer

geglaubt, wollte immer in die Kirche gehen. Es geht auch nicht darum, in die

Kirche zu gehen oder nicht. Ich fühlte das immer. U nd ich fühle immer sehr stark

die Anwesenheit eines Schutzengels, so eine Art sie benten Sinn. Das hilft mir

sehr. Vielleicht habe ich auch irgendwie immer Glüc k...

55 Liana: (0-Ton) V principe ljudi vezde odinakovye. V svoih principialnyh vzgljadah. Ja

legko mogu sebe predstavit zhit na zapade. Ne vsegda v toj zhe strane. No v raznyh

stranah zhit i rabotat. Ja mogu skazat 4to ja privjazana k opredeljennomu mesto.

Eigentlich sind die Menschen überall gleich. In ihr en grundlegenden

Anschauungen. Ich kann mir leicht vorstellen, im We sten zu leben. Nicht immer im

selben Land. Aber in verschiedenen Ländern zu arbei ten und zu leben.

56 Inna: (O-Ton, Forts. von oben) Kogda ja priedu domoj, ja ho4u celovat dveri, porogu.

U menja v tot moment o4en intensivnoe 4uvsto.

Wenn ich nach Hause komme, NACH HAUSE, dann möchte ich die Türen küssen,

Page 28: DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur ......2011/08/12  · Mnogo detjej, parami kuda-nibud hodit, eto ne dlja menja. Ja byla psihi4eskoj slaba i Ja byla psihi4eskoj slaba i

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die Schwelle. Da habe ich immer so ein intensives G efühl. Und in meiner Kindheit,

wenn wir irgendwo unterwegs waren, wenn wir zurückk amen und ich sah das

Ortsschild meiner Heimatstadt - dann hätte ich jedes Mal weinen können.

auf Musik Erzählerin: Inna hat oft Sehnsucht nach Odessa. Sie hat ihr St udium beendet und zieht mit

ihrer Bandura in einer Folklore-Gruppe durch Europa .

Liana hat geheiratet, einen ukrainischen IT-Experte n, der in München arbeitet.

Von Jana, Oxana und Tanja gibt es keine Neuigkeiten . Absage Inna: Fünf Frauen in Odessa Sie hörten ein Feature von Elke Bredereck Jana: Es sprachen: Tanja..... Anke Zillich Liana .... Meriam Abbas Oxana.... Sigrid Burkholder Inna.... Lucie Heinze Jana..... Runa Schäfer und Christine Jensen Ton und Technik: Hanns Marin Renz und Beate Braun Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2011