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Epilepsie und affektive Psychose nach Hirnverletzung. Von Dr. G. Heilig, Stabsarzt d.L. (Aus dem Reservelazarett Kosten [Posen].) (Eingegange~ am 30. Juni 1917.) Krankengeschichte. J. wurde am 21. X. 1915 durch einen SchrapnellschuB an der linken Kopf- seite verwundet. Er .wurde in mehreren Lazaretten behandelt, mul]te jedoeh Mitre Juli 1916 in eine Irrenanstalt fiberffihrt werden, well bei ihm seelische St6rungen aufgetreten waren. Von dieser Anstalt wurde J. am 24. X. 1916 in die Geisteskrankenabteilung unseres Lazarettes verlegt. Aus den Krankengesehichten der anderen Lazarette sind im wesentlichen folgende Angaben fiber den Verlauf des Falles zu entnehmen: ,18 cm lange und 3 em breite Schadelverletzung im ]~ereich der ]inken Schl/~fe, fiber dem linken Ohr verlaufend. Knochen ausgedehnt zertrfimmert. Gehirn quint hervor. Nach Entfernung mehrerer Knochensplitter allm~thliche Heilung der Wunde. Eine anf/~ngliche Hemiparese bildet sich allm/~hlich bis auf eine Parese des rechten Armes zurfick. Am 14. IV. 1916 trat zum erstenmal ein epileptischer Krampfanfall auf, dem in der Folgezeit noch mehrfach Schwindelanfalle und auch Krampfe folgten. Seit Mitre Mai 1916 wurden jedoch die epileptischen Anfalle seltener, und erst veto 12. VIII. 1916 an kamen dann in Abst/~nden yon einigen Wochen noch mehr- fach Anf/~lle zur Beobachtung." In der relativ anfallfreien Zeit traten nun psychische StSrungen, die frfiher nie bestanden hatten, auf. Es heist darfiber in der beziiglichen Krankengesehichte: ,,Seit Anfang Juli zeigte J. ein verschlossenes, trauriges Wesen. Er wurde miBtrauisch gegen seine Kameraden und begann am 7. VII. 1916 plStzlich un- ruhig zu werden und die Wahnvorstellung zu auBern, er solle bestraft werden, well er einen Unteroffizier nicht gegrfil3t habe. Glelchzeitig gab er an, er habe gehSrt, dal] er erschossen werden solle. Seitdem lebhafter, trauriger Affekt, der zeitweise zur Verzweiflung mit Weinen und tti~nderingen sieh steigert. Bedroht einen Krankenwarter: er werde ihn mit einem Messer kalt machen, wenn er noch einma! zu ihm ins Zimmer komme." Bemerkenswert ist, dab J. am 7. VII. 1916, dem Zeitpunkt, yon dem an die psychischen StSrungen besonders deutlich einsetzten, noch einmal innerhalb der oben erwahnten reiativ anfallfreien Zeit einen schweren epileptischen Krampf- anfall hatte. Es heiBt darfiber: ,,Wird morgens laut schluchzend in der Zimmertiir stehend gefunden, wie er einem Kameraden vorjammert, er solle bestraft werden, weft er eine Ehrenbezeu- gung unterlassen habe. ]:)as Weinen geht in einen krampfhaften Zustand fiber, er wird bewuBtlos auf sein Bett getragen und liegt etwa 20 Minuten in Krampfen. Zuckungen der Beine und Arme werden beobachtet, besonders nach der linken

Epilepsie und affektive Psychose nach Hirnverletzung

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Epilepsie und affektive Psychose nach Hirnverletzung. Von

Dr. G. Heilig, Stabsarzt d.L.

(Aus dem Reservelazaret t Kosten [Posen].)

(Eingegange~ am 30. Juni 1917.)

K r a n k e n g e s c h i c h t e .

J . wurde am 21. X. 1915 durch einen SchrapnellschuB an der l inken Kopf- seite verwundet. Er .wurde in mehreren Lazaret ten behandelt , mul]te jedoeh Mitre Jul i 1916 in eine I r renans ta l t fiberffihrt werden, well bei ihm seelische St6rungen aufgetreten waren. Von dieser Ansta l t wurde J. am 24. X. 1916 in die Geisteskrankenabtei lung unseres Lazaret tes verlegt. Aus den Krankengesehichten der anderen Lazaret te sind im wesentlichen folgende Angaben fiber den Verlauf des Falles zu en tnehmen:

, 18 cm lange und 3 em breite Schadelverletzung im ]~ereich der ]inken Schl/~fe, fiber dem l i n k e n Ohr verlaufend. Knochen ausgedehnt zertrfimmert. Gehirn quint hervor. Nach Entfernung mehrerer Knochenspl i t ter allm~thliche Heilung der Wunde. Eine anf/~ngliche Hemiparese bildet sich allm/~hlich bis auf eine Parese des rechten Armes zurfick.

Am 14. IV. 1916 t r a t zum ers tenmal ein epileptischer Krampfanfal l auf, dem in der Folgezeit noch mehrfach Schwindelanfalle und auch Krampfe folgten. Seit Mitre Mai 1916 wurden jedoch die epileptischen Anfalle seltener, und ers t veto 12. VIII . 1916 an kamen dann in Abst/~nden yon einigen Wochen noch mehr- fach Anf/~lle zur Beobachtung."

In der relat iv anfallfreien Zeit t r a t en nun psychische StSrungen, die frfiher nie bestanden hat ten, auf. Es he i s t darfiber in der beziiglichen Krankengesehichte :

,,Seit Anfang Juli zeigte J . ein verschlossenes, trauriges Wesen. E r wurde miBtrauisch gegen seine Kameraden und begann am 7. VII. 1916 plStzlich un- ruhig zu werden und die Wahnvorstel lung zu auBern, er solle bestraf t werden, well er einen Unteroffizier n icht gegrfil3t habe. Glelchzeitig gab er an, er habe gehSrt, dal] er erschossen werden solle. Seitdem lebhafter, t rauriger Affekt, der zeitweise zur Verzweiflung mit Weinen und tti~nderingen sieh steigert. Bedroh t einen Krankenwar te r : er werde ihn mit einem Messer kalt machen, wenn er noch einma! zu ihm ins Zimmer komme."

Bemerkenswert ist, dab J . am 7. VII. 1916, dem Zeitpunkt , yon dem an die psychischen StSrungen besonders deutl ich einsetzten, noch einmal innerhalb der oben erwahnten reiat iv anfallfreien Zeit einen schweren epileptischen Krampf- anfall hat te . Es heiBt darfiber:

, ,Wird morgens laut schluchzend in der Zimmerti ir s tehend gefunden, wie er e inem Kameraden vor jammert , er solle bestraf t werden, weft er eine Ehrenbezeu- gung unterlassen habe. ]:)as Weinen geht in einen krampfhaf ten Zustand fiber, er wird bewuBtlos auf sein Bet t getragen und liegt etwa 20 Minuten in Krampfen. Zuckungen der Beine und Arme werden beobachtet , besonders nach der l inken

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~eite hin, zuletzt haupts~ehlich solche des Kopfes. Das Gesicht verfarbt sich blau- rot, die Zahne sind krampfhaft aufeinandergeprel~t, Pupillen reaktionslos, Puls besehleunigt, sehnappende Bewegungen des Mundes. Beim Aufwachen aus dem Anfall wGint und jammert J., er solle totgesehossen werden. Musik, die er yon fGrne hSrt, bezeiehnet er als fiir ihn bestimmte Sterbemusik."

Der Zustand i~ngstlicher Erregung h~lt in den folgenden Tagen unverandert an. J. ist yon dem Gedanken, dab er erschossen werden soU, nicht abzubringen. Auch vereinzelte Beziehungsideen werden ge~u~ert. So meint er, dal~ er von den Kameraden mi~aehtet und ausgelacht wiirde. Am 11. Juli 1916 erfolgte dig ~berfiihrung des Kranken in die Irrenanstalt.

I-Iier ist der Befund in den n~chsten Wochen im wesentlichen ganz derselbe: depressive Wahnideen, Beziehungsideen, iingstliche Erregung. Anfang August seheint eine gewisse Besserung der psychischen StSrung einzusetzen, und am 12. August 1916 tritt zum erstenmal wieder ein typischer epileptiseher Anfall mit tonisch-klonisGhen Zuckungen auf beiden KSrperh~iften und kurzdauernder Bewul3tlosigkeit auf. Vorher keine Aura.

Von jetzt an traten die Anf~lle wieder entschieden 5fter, in Abst~nden yon wenigen Wochen, auf, gleiehzeitig abet nahmen die a k u t e n psychischen Sym- ptome, insbesondere dig angstliche depressive Erregung, anIntensit~t ab. An Stelle tier i~ngstlichen Erregung dr~ngten sieh nun andere psychopathologische Symptome in den Vordergrund und wurden etwa yon Mitre September ab immer deutlicher. I)er KrankG wurde yon Stimmen bel~tstigt, ohne da]~ er indessen in seinen motori- schen Xufierungen und in seinem gesamten Verhalten viel auf diese Stimmen zu reagierGn sehien. Er beschaftigte sieh vielmehr und arbeitete ganz fleiBig.

Am 24. X. 1916 wurde J., wie erwahnt, in unser Lazarett aufgenommen. Die hier geftihrte Krankengesehichte will ich etwas genauer mitteilen:

GroBer, schlanker Mann in leidlichem Ernahrungszustand. An den inneren Organen keine Abweiehungen yon der Norm.

Ober das linke Seheitelbein und die linke Hi~lfte des Stirnbeins verlauft an- n~hemd horizontal eine 15 cm lange WeichteilknochGnnarbe, die in ihrer ungefiihr mit dem Stephanion zusammenfallenden Mitte einen fast talergrol3en Knochen- defekt mit Hirnpulsation aufweist.

Pupillen regelreeht, ebenso Augenhintergrund. Deutliche Faeialisparese rechts. Zunge weight naeh rechts ab. Die Sprache

ist etwas schwerfallig, leieht bradylaliseh. Die grobe Kraft der reehten Hand ist deutlich herabgesetzt. Besonders be-

steht die ParGse im reehten Zeigefinger. Pat. kann den Federhalter nieht fassen, sondern mu6 mit der linken Hand nachhelfen. Alle feineren Sachen (Streichholz anstecken, Anziehen usw.) macht er mit der linken Hand. Er gibt an, dal~ er schon friiher, vor der Verwundung, manehes links gemacht habe (Ambidexter ?).

Es besteht eine ausgesproehene stereognostische StSrung der rechten Hand. Die Sensibilit~t ist im tibrigen normal.

Bauehdeckenreflexe rechts deutlich schw~eher als finks. Geringe motorisehe Schwi~che im rechten Bein. Gang rechts leieht paretisch.

Kniesehnenreflexe etwas gesteigert, rechts vielleicht mehr als links. Kein Babinski. Bei seelischer Erregung (z. B. bei der Untersuchung) tritt ein leichtes Zittern

im ganzen K5rper auf, das am deutlichsten an der rechten Hand wahrnehmbar ist. In p s y c h i s c h e r Hinsicht ist Pat. still und in sich gekehrt. Er gibt nur

langsam Auskunft. Im iibrigen ist zun~chst nichts Auffi~lliges an ihm zu bemerken. Gelegentlich lachelt er allerdings eigentiimlich vor sich him

31. X. 1916. Epileptiformer A~fall. Beginn (naeh Aussage des Kr~nken- w~rters) mit Deviatio eonjug, bulb. et capitis nach rechts (?). Zuerst tonischer, darm klonischer Verlauf. Die anfangs auf den Kopf besehri~nkten Ktoni greifen

94 G. Heil ig:

dann auf den ganzen K6rper fiber. Augen welt often. Tiefe Bewul3tlosigkeit~ Nach dem Anfall geht Urin ab. Dauer des Anfalls fast sieben Minuten. Vorher angeblich sensible Aura im Hinterkopf.

10. XI. 1916. Gibt heute zu, daB er ,,friiher" Akoasmen hatte. Behaupte~, jetzt Krankheitseinsieht dafiir zu haben.

17. XI. 1916. Berichtet, dal3 er nachts am reehten Bein stark gesehwitzt habe, am linken nicht. ,rich glaubte, es k~me ein Anfall."

Is t heute wesentlich gesprachiger als sonst und berichtet fiber Sinnest~usehun- gen. Er hSrt, dab unter den Kameraden einer ist, der seine Gedanken immer nachsprieht. Wcil3 nicht, wet es ist. Der Betreffende spricht, was er, Pat., machen will. ,,Werm ich etwas machen will, spricht der andere es schon im voraus." Aul3er- dem ]achen die anderen fiber ihn. Alles, was die Kameraden sagen, bezieht sieh auf ihn. Der andere sagt: , ,Er wird einen Anfall bekommen!" und ~hnliches. Als er auf der Station oben (im ersten Stock) war, hSrte er eine Stimme yon unten. ~ ,,Du bekommst jetzt einen Anfall!" Was er selbst nachts getr~umt, das wurde am anderen Morgen durehgesprochen, das hSrte er noch einmal. Die Stimme macht ihm auch Vorwiirfe, da ] er sieh so viel Gedanken macht. Befragt, ob es nieht Einbildung sei, antwortet er, er kSnne es nicht sagen, ob es Wirldiehkeit sei. E r habe es jedenfalls deutlich geh6rt, dab ~iber ihn gesproehen worden sei. Es war wie ein Gespraeh, das er eben noch verstehen konnte. Auch wenn er sich mi t einem Kameraden unterhalt, hSrt er manchmal die Stimme nebenbei.

Die Urteitsf~thigkeit ist ersichtlich etwas gering. Keine Systcmatisierung. Keine eigentliehen Verfolgungsideen.

Nachtr~glich gibt Pat, noch an, dal3 er in der Irrenanstalt, in der er sieh vor der Anfnahme in unser Lazarett befand, dureh Landarbeit und Beschaftigung abgelenkt werden konnte, so dab er eine Zeitlang yon den Stimmen weniger be- t/~stigt wurde. Damals bestimmten die Stimmen seine Willenshandlungen. Bei- spielsweise forderten sie ihn auf, Beschwerden beim Arzt einzureichen und der- gleichen. Er widerstand aber immer noch und unterlieB es, sich zu besehweren, auch auf den Ra~. der Pfleger hin.

Einmal hSrte er dort auch die Stimme einer Stationspflegerin aus der Kiiehe, ,,er solle einen Anfall bekommen". Ferner sagte die~e Stimme, er solle sich be- schweren, sonst werde er ersehossen, und die Kosten, tausend oder dreitausend Mark (,,ich kann reich nicht sicher erinnern, ob tausend oder dreitau~end Mark") mfisse sie, die Pflegerin, zur H~lfte mit ihm tragcn.

In jener Anstalt hat auBerdem ein alter Patient, der an Anf/~llen litt, alle seine Gedanken im voraus gewul3t und hat fiber ihn gelaeht. Bei dieser Angabe zeigt Pat. etwas Affekt; er macht Affektbewegungen mit der rechten Hand.

Im allgemeinen waren die Stimmen beeintrachtigenden, fiir den Pat. ungiin- stigen Inhalts.

Besonders hervorzuheben ist, dab alle psychischen StSrungen erst n a e h der Verwundung auftraten.

18. XI. 1916. Gegen Abend epileptiformer Anfall. Kloni, zuckende Dreh- bewegungen des Kopfes und K6rpers herdw/~rts, naeh links. Maximal weite, lichtstarre Pupillen. Nachher Strecktonus. Dauer des Anfalls zwei bis drei Minutem

30. XI. 1916. Pat. wird als dienstunbrauehbar naeh Hause entlassen.

E p i k r i s e .

V e r g e g e n w a r t i g e n wi r uns n o c h e i n m a l in K i i r z e d e n V e r l a u f d e s

b i e r m i t g e t e f l t e n Fal les . E s h a n d e l t s ich u m e inen Menschen , d e r f r i i he r

n ie e r n s t h a f t e K r a n k h e i t e n d u r c h g e m a c h t u n d i n s b e s o n d e r e n ie a n

Epilepsie und affektive Psychose nach Hirnverletzung. 95

einer geistigen St6rung gelitten hat. Im Oktober 1915 erleidet er eine Verletzung der linken Hirnhemisphi~re mit davon abhi~ngiger rechts~ seitiger Hemiparese. Mitte April 1916 tr i t t ein erster epileptischer An- fall auf, dem weitere Anf~lle folgen. Die Anfi~lle werden dann seltener. Anfang Juli 1916 machen sich die ersten psychischen St6rungen be- merkbar, die sich im Anschlul~ an einen noch einmal am 7. Juli 1916 auftretenden Anfall zu einem schweren ~ngstlichen Erregungszustand auswachsen. Diese Erregung klingt bis gegen Anfang August 1916 atlmi~hlich ab, dafiir treten aber Geh6rshalluzinationen auf. Am 12.VIII. 1916 wird der Kranke dann zum erstenmal wieder yon einem Anfall betroffen, dem weiterhin noch andere folgen.

Wir haben es also hier zu tun mit einer Verknfipfung von epilep- tischen Anfi~llen und psyehischen StSrungen, beide entstanden im An- sehluB an eine Verletzung des linken Grol~hirns, und zwar in der Gegend der Zentralwindungen und des SchI~fenlappens. Auf Grund dieses Sachverhalts werden wir uns eine doppelte Frage vorzulegen haben, einmal die Frage nach etwaigen ursiichlichen Beziehungen der Ver- let'zung zu dem epileptischen Zustandsbild einerseits und zu den psycho- tischen St6rungen andererseits und zweitens die Frage nach der MSglich- keit eines kausalen Zusammenhangs zwischen diesen beiden Sympto- mengruppen selbst, der Epilepsie und der Psychose.

Ehe wir an den Versuch einer LSsung diescr Fragen herangehen, wollen wir die genannten Symptomengruppen im einzelnen genauer betrachten. Was zuniichst die epileptischen Anfi~Ile betrifft, so war ihr VerIauf jedesmal ein ganz typischer, das heiBt, ein solcher Anfall war von einem genuin-epileptischen nicht zu unterscheiden. Niemals wurde ein Beginn der Zuekungen in einer umschriebenen Muskelgruppe mit weiterem Fortschreiten auf andere Abschnitte der K6rpermuskulatur entsprechend der anatomischen Verteilung der Bewegungszentren in der Grol~hirnrinde (Jaekson-Typus) beobachtet. Das einzige bemerkens- werte Moment, das in dieser Hinsicht gelegentlich zutage trat, waren zuckende Drehbewegungen des Kopfes und KSrpers nach der linken Seite, also nach der Seite der Hirnverletzung hin.

Die Psyehose gliedert sich sehr deu~iieh in drei Abschnitte. Sie be- gann mit anfangs nicht sehr ausgesprochenen, aber nach wenigen Tage~ schon deutlicher werdenden Prodromalsymptomen in den ersten Tage~ des Juli 1916. Der Kranke wurde verschlossen, traurig und miBtrauisch. Es war also eine affektive StSrung in der Art, wie wir sie etwa im Be- ginn einer Melancholie h~tufig zu beobachten Gelegenheit haben. Ab- gesehen yon dem lebhaften depressiven Affekt tauchten vereinzelte Wahnvorstellungen, vorzugsweise solche des Verfolgungswahns, auL An diesen nur fiber wenige Tage sich erstreekenden Abschnitt der Psychose schloB sich ein langdauernder Zustand sehwerer psycho-

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tischer Erregung an, der durch einen neuen epileptisehen Anfall ein- geleitet wurde. Es w~re jedoch sicher nicht richtig, diesen Zustand ohne weiteres aus dem schweren Anfall am 7. Juli 1916 heraus verstehn zu wollen, etwa im Sinne eines postepileptischen D~mmerzustandes. Denn die genauere Beobaehtung hatte ergeben, dab vielmehr der schwere psychisehe Erregungszustand schon kurz vor Auftreten des Anfalls eingesetzt hatte. (Vgl. die obige Krankengesehichte.) Die ~ngstliche Erregung steigerte sich immer mehr und ging direkt in den epfleptisehen Anfall fiber. Nach Ablauf des auffallend lange (etwa zwanzig Minuten) dauernden Anfalls hielten sieh dann die psyehischen StSrungen in der Folgezeit fast unver~ndert auf der H6he. Es handelte sich in dieser Zeit vorzugsweise um ~ngstliche motorisehe Erregung und Iortw~hrendes Jammern. Der Kranke ~uBerte zahlreiche depressive Wahn- und Beziehungsideen und bot geradezu das Bild einer soge- nannten Angstpsychose (Wer ni cke). Sinnest~uschungen waren in dieser Zeit nicht nachzuweisen. Die Art, wie der epileptische Anfall aus einer schweren affektiven Erregung heraus erwuchs, erinnert sehr lebhaft an die sogenannte Mfektepilepsie. Bemerkenswert war auch die unverh~ltnism~gig lange Dauer des Anfalls und sein gleichm~6iges, wenn auch ziemlich plStzliches Ubergehen in den gleiel~en ~ngstlichen Erregungszustand, aus dem er erwachsen war. In diesen Beziehungen weieht dieser Anfall entsehieden von den vorher und nachher beobach- teten ab, die, wie schon hervorgehoben wurde, sieh im wesentlichen nicht von einem genuin-epfleptischen unterschieden. Der zweite Ab- ~chnitt der Psychose zeiehnet sich endlich noch dadureh aus, dab in ihm weiterhin keine epileptischen Anf~Ue beobachtet wurden. Anfang August 1916 ging dieser Abschnitt allm~hlieh in den drit~en und letzten fiber. Er war dadurch gekennzeiehnet, dab die schweren psychisehen St6rungen, insbesondere die ~ngstliche Erregung, mehr und mehr zuriiektraten und schlieBlich ganz verschwanden. Start dessen stellten sich aber Geh6rshalluzinationen ein, und zwar im wesentlichen solche anklagenden Inhalts, also im Sinne der vorher abgelaufenen ~ngst- lichen, depressivcn Erregung. Die Wahnideen, die Verfolgungsvor- stellungen traten jedoch mehr und mehr zuriick. In diesem dritten Abschnitt der Psychose stellten sich auch wieder die epileptisehen Anf~lle ein, und zwar zuerst am 12. August 1916. Sie schienen die Ten- denz zu einem allm~hlichen Anwachsen ihrer H~ufigkeit zu haben. Die Akoasmen des Kranken waren durch gewisse Eigentiimlichkeiten ausgezeichnet. Auf ihren vorzugsweise anklagenden, fiir den Kranken ungiinstigen Inhalt wurde schon hingewiesen. Sie trugen fiir den Kran- ken das Gepr~ge der Realit~t. Trotzdem aber - - und dies erseheint wichtig - - bestand eine ziemlich ausgesprochene Krankheitseinsicht. Diese Krankheitseinsicht ging so weir, dab der Kranke auf Befragen

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gelegentlich scgar daran zweifelte, ob die St immen Wirklichkeit seien. Dal~ sie Einbildung seien, bestri t t er indessen ganz entschieden. In diesen Beziehungen erinnerten die St immen klinisch an gewisse Pseudo- halluzinationen, wie sie bei manchen z u m manisch-depressiven Irre- sein gehSrigen Zustandsbildern bisweilen beobachtet werden.

Was nun die Genese des ganzen Krankheitsbildes betrifft, so werden die epileptischen Anfi~lle wohl fraglos als eine Folge der Gehirnverletzung, beziehungsweise der auf sie folgenden Narbenbildung im Gehirn, anzu- sehen sein. Derartige Beobachtungen sind ja im Kriege au•erordentlich hi~ufig gemaeht worden. Naeh meiner Erfahrung sind sogar diejenigen Formen traumatischer Epilepsie, die das Gepri~ge der genuinen tragen, hi~ufiger als die Fi~lle von Rindenepilepsie (Jaekson-Typus). Eine ge- wisse Beziehung der Anf~lle zu dem Orte der Verletzung seheint aller- dings in unserem Fall, wie schon hervorgehoben wurde, insofern vorzu- liegen, als gelegentlich die im ganzen KSrper und besonders im Kopf auftretenden Kloni nach dem Gehirnherd bin gerichtet waren, also eine zeitweise Ausschaltung oder wenigstens Hemmung des linkshirnigen Zentrums ffir die kontralaterale KSrper- und Kopfmuskula tur und ein dadureh bedingtes Uberwiegen des rechtshirnigen Antagonistenzen- t rums angenommen werden mu[tte. Nicht unwesentlich ffir das Ver- stgndnis des Auftretens epileptischer Anf~lle bei unserem Verwundeten - - und zwar gerade des Auftretens solcher Anfglle, die ganz tiberwiegend den Charakter genuin-epileptischer trugen, - - e r sche in t mir der Umstand, dal~ der Pat ient nach seinen eigenen best immten Angaben schon vor seiner Verwundung und vor der dadurch bedingten mi~l]igen Li~hmung der rechten Hand viele Hantierungen mit der linken Hand verrichtete, da[t also bei ihm, wenn aueh keine ausgesprochene Linkshi~ndigkeit, so doeh sicher ein gewisser Grad yon Ambidextrie bestand. Bekanntlich haben neuere Untersuchungen ergeben, da2 zwischen Linkshgndigkeit (besonders auch Linkshgndigkeit in der Blutsverwandtschaft) und genuiner Epilepsie gewisse gtiologische Beziehungen bestehnl). Fiir diese Auffassung scheint aueh unser Fall zu sprechen. Er wi~re in dieser n ins ieht dann so zu verstehen, dal~ eine Disposition zur Erkrankung an epileptischen Anf~llen schon vor der Verwundung vorlag und in einer Neigung zur Linkshi~ndigkeit einen gewissen i~uBeren Ausdruck ~and, dal~ aber e r s t die Narbenbildung nach der tI irnverletzung die epileptisehen Anfi~lle bei einem dazu disponierten Individuum unmittel- bar verursaehte.

Schwieriger ats die Beantwortung der Frage naeh der Entstehung der Anf~lle ist der Nachweis eines ursi~chlichen Zusammenhanges und vor a l l em der Art eines solchen Zusammenhanges zwischen der Verletzung

1) G. Heil ig und G. Steiner , Zur Kenntnis der Entstehungsbedingungen der genuinen Epilepsie. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 9, 633. 1912.

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVII . 7

98 G. Heilig:

und der Psychose. I~er Umstand, dal3 der Kranke friiher, vor der Ver- letzung, nie an geistigen StSrungen gelitten hatte, und ferner das Auf- treten der seelischen StSrungen im Zusammenhang mit all den anderen krankhaften Erscheinungen, die sich auf dem Boden der Hirnverletzung entwickelten, sprieht jedoch sehr daffir, dab auch die Psychose als solche letzten Endes auf die ttirnverletzung zuriickzufiihren ist. Wenn man die Gegend der Verletzung berticksichtigt, so liegt, da ja das Schl~tfenhirn sicher in Mitleidenschaft gezogen war, die MSgliehkeit nicht allzu fern, daf3 im Verlauf des Heilprozesses der Wunde und der Bildung der Hirnnarbe Reizungsvorg~nge im Bereich der I-ISrsph~re sich abspielten. Hierauf kSnnten dann die Sinnest~uschungen auf dem Gebiete des ttSrsinnes bezogen werden. Diese Erkl~rung scheint mir an Wahrscheinlichkeit ~ zu gewinnen im Hinblick auf den eigentfim- liehenCharakter derSinnest~usehungen. Bei den GehSr~halluzinationen, wie wir sie sonst im Verlauf yon Geistesst~rungen beobachten, feh l t ja ffir gewShnlich jede Krankheitseinsieht. Die Sinnest~uschungen er- wachsen so vollkommen aus dem inneren psyehisehen Leben heraus, sie sind so innig verflochten mit der psyehischen Gesamtst5rung, dal3 eine Kritik ihnen gegenfiber gar nicht aufkommt, ganz abgesehen von der m~ehtigen Wirkung des Realit~tsgeffihls. Nicht allzu selten ent- wickeln sich Sinnest~uschungen auch erst nach oder gleichzeitig mit dem Auftreten von Wahnideen. Beispielsweise glaubt der Kranke sich ver- folgt, und schliel31ieh hSrt er aueh die Stimmen seiner Verfolger. In unserem Falle aber sehen wir, dal3 der Verwundete, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, deeh in den GehSrstauschungen etwas seinem psychischen Leben Fremdes empfindet. Man kann aus dicser Tatsache schlieBen, dab der Entstehungsort der Akoasmen weniger im Bereich der hSchsten psychisehen Funktionen zu suehen ist, als vielmehr in den Zentren der ttirnrinde, in denen die Sinnesreize des GehSrs sieh in Ge- h6rsempfindungen umsetzen, also im Bereich der H6rsph~ire des Sehl~fen- lappens. Dieser Abschnitt der Hirnrinde aber war, wie wir sahen, zweifellos von der Verletzung mit betroffen, beziehungsweise v o n d e r Narbenbildung in Mitleidensehaft gezogen.

Wie aber steht es mit den anderen psyehopathologischen Erschei- nungen, die unser Verwundeter bot ? Sie bestanden, wie gesagt, im wesentliehen in einer depressiven ~ngstlichen Erregung, also in einem Krankheitsbild, das unter anderen Umst~tnden ohne weiteres zu der groBen Gruppe des manisch-depressiven Irreseins zu rechnen gewesen ware. Unsere Kenntnisse fiber die organischen Grundlagen dieser groBen Gruppe yon seelischen StSrungen sind zwar noch sehr dfirftig. AuBerordentlich viel Umst~nde und Beobaehtungstatsaehen deuten jedoch darauf hin, dab eine ganz ausschlaggebende Rolle in der Ent- stehung dieser Krankheitsbflder Anderungen in der Gef~Bversorgung

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des Gehirns, kurz: ZirkulationsstSrungen zukommt. Andererseits aber liegt es auf der Hand, daB, ebenso wie bei anderen Organen des mensch- lichen KSrpers, so auch im Gehirn bei der Heilung einer Verletzung und der damit verbundenen Narbenbildung Ver~nderungen und Umw~l- zungen in der Gef~l~versorgung sich vollziehen, und mSgen diese Ver- ~nderungen auch nur lokaler Natur sein, sie werden sich doch immerhin bei den Zirkulationsverh~ltnissen des Gehirns bemerkbar machen. Es sei in diesem Zusammenhang auch auf die Tatsache hingewiesen, dab gerade im AnschluB an Gehirnverletzungen ganz auffallend h~ufig affektive StSrungen zur Beobachtung kommen. Ich selbst habe in diesem Kriege bei zahlreichen Gehirnverletzten mit Rindenl~hmungen der verschiedensten Art in einem sehr hohen Prozentsatz der F~tlle affektive Ver~nderungen feststellen kSnnen, vor allem eine hoehgradige Weinerlichkeit, Uberempfindlichkeit, Affektlabilit~t vorzugsweise nach der depressiven Seite hin usw. 1) I m Hinblick auf unsere Anschauungen von den organischen Ursachen solcher affektiven StSrungen liegt die Annahme besonders nahe, auch in diesen Erscheinungen die Folgen yon Veri~nderungen der Zirkulation im Gehirn, die dutch die Heilung der Wunde bedingt sind, zu sehen. Nach den hier vorge- tragenen Anschauungen erkl~rt sich nun auch bei unserem Falle die eigentfimliche Vermischung epileptischer mit affektiven StSrungen ohne Schwierigkeit. Und dies gilt nicht nur yon dem gesamten Verlauf, den das Krankheitsbild nahm, sondern auch, wie mir scheint, yon jenem von den fibrigen epileptischen Anf~Ilen des Kranken abweichenden, an Affektepilepsie erinnernden Anfall, der das zweite, das HShestadium der Psychose einleitete.

Falle wie der hier mitgeteilte sind zweifellos selten. Abet nicht nur die Seltenheit ist es, die uns Interesse fiir sie abnStigt; sie lassen uns auch tiefere Einblicke in den Zusammenhang zwischen organischen Ver~nderungen des Gehirns und funktionellen StSrungen, funktionellen Psychosen tun. Ftir die letzteren organische Grundlagen zu finden, ist keine ausschlieBliche Aufgabe der Anatomie und Histopathologie des Gehirns, auch klinische Beobachtungen und klinische Analyse yon Krankheitsbildern vermSgen ihr Tell dazu beizutragen.

1) G. Heilig, Kriegsverletzungen des Gehirns in ihrer Bedeutung fiir unsem Kenntnis von den Hirnfunktionen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 33, 433, 1916.

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