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2 | Südtirol Südtiroler Wirtschaftszeitung Nr. 41 | 21 — Freitag, 22. Oktober 2021 ®© Alle Rechte vorbehalten/Riproduzione riservata FAMILY BUSINESS MODEL TOOL Online Analyse für Familienunternehmen www.familybusinessmodel.com Das Demokratie-Tief WAHLBETEILIGUNG – Die Partei der Nichtwähler wächst seit Jahren. Bei der Gemeinderatswahl in Meran zum Beispiel hat nur jede:r zweite Berechtigte seine Stimme abgegeben, bei der Stichwahl am Sonntag könnte die Beteiligung noch niedriger sein. Schwächelt unsere demokratische Kultur? Bozen – Er ist bildungsfern, ein Gering- verdiener, lebt auf dem Land, abseits von dicht besiedelten Zentren, und ist politisch desinteressiert. So oder ähn- lich könnte die stereotype Beschrei- bung eines Nichtwählers klingen. Dass sie allerdings schon lange nicht mehr der Realität entspricht und, dass die Nichtwähler:innen mittlerweile aus al- len Schichten der Bevölkerung kom- men, zeigt die niedrige Beteiligung an den jüngsten Urnengängen. Die Daten sind alarmierend. Einer von zwei bleibt daheim In Meran schritt am 10. Oktober mit 51,9 Prozent nur jede:r zweite Berech- tigte zur Gemeindewahl, für die Bür- germeister-Stichwahl am kommenden Sonntag werden ebenfalls niedrige Wer- te prognostiziert. In Nals und Glurns haben im Vergleich zur Kurstadt zwar mehr Bürger:innen ihre Stimme abge- geben, allerdings wurde auch dort die niedrigste Beteiligung der vergange- nen Jahre verzeichnet. Der Trend zu einer immer niedrige- ren Wahlbeteiligung geht weit über Südtirol hinaus. 54,7 Prozent der Be- rechtigten beteiligten sich an den Kom- munalwahlen am 3. und 4. Oktober in Italien, ganze sieben Prozent we- niger als bei den vorherigen Wahlen im Jahr 2016. In Mailand und Turin lag die Wahlbeteiligung mit 47,7 Pro- zent bzw. 48 Prozent noch tiefer. Bei der Stichwahl am vergangenen Wo- chenende, als in vielen Städten die Bürgermeister:innen bestimmt wur- den, gaben nur 43,9 Prozent der Be- rechtigten ihre Stimme ab. Weniger als jede:r Zweite hat sich dafür ent- schieden, von seinem demokratischen Recht Gebrauch zu machen. „Politikverdrossenheit und das Ge- fühl, von keiner Partei richtig vertreten zu werden, veranlassen Wahlberech- tigte dazu, sich nicht an einer Wahl zu beteiligen“, sagt Meinungsforscher Her- mann Atz vom Institut Apollis zu die- sem Phänomen. Manche Personen hät- ten das Gefühl, dass ohnehin schon fest- stehe, wer die Wahl gewinnt, und diese wahrgenommene Ohnmacht verleite dann dazu, nicht zur Wahl zu schreiten. „Die niedrige Wahlbeteiligung kann al- lerdings auch als eine gewisse Grund- zufriedenheit mit dem Status quo ge- deutet werden“, erklärt Atz. Die Euphorie, die eigene Stimme ab- geben zu dürfen und den „Festakt der Demokratie“ zelebrieren zu können, ist schon lange nicht mehr spürbar. In Italien spielt außerdem ein weiterer Faktor mit: Das Vertrauen in die Poli- tik, und insbesondere in die Parteien, ist am Boden. Vertrauen? Lieber nicht „In wenigen Ländern ist der Ruf der Politik so schlecht und das Vertrauen in die zentralen politischen Institutio- nen so niedrig wie in Italien“, sagt der Politikwissenschaftler Günther Palla- ver. Insbesondere den Parteien bringt die Gesellschaft im internationalen Ver- gleich wenig Vertrauen entgegen. In ei- ner Studie des Umfrageinstituts demos gaben im Jahr 2020 lediglich acht Pro- zent der Befragten an, viel oder sehr viel Vertrauen in die Parteien zu haben. Zum Vergleich: In Deutschland vertrau- en laut Pallaver 40 Prozent der Bevöl- kerung den Parteien. Anderen Institu- tionen schenkt die italienische Gesell- schaft hingegen mehr Vertrauen. Dem Parlament traut knapp ein Viertel der Bevölkerung, dem Präsidenten sogar 58 Prozent der Befragten. Das geringe Vertrauen in die Politik ist allerdings kein rezentes Phänomen. „Nach dem Tangentopoli-Skandal und den Mani-Pulite-Ermittlungen in den 90er-Jahren ist das Vertrauen in die Politik, und insbesondere in die Par- teien, sukzessive gesunken“, erklärt Günther Pallaver. Korruption und an- dere Skandale hätten anschließend ihr Übriges dazu beigetragen, dass das Misstrauen endgültig geweckt war. „Wer kein Vertrauen in eine Organisati- on hat, der wird ihr auch keines schen- ken und beteiligt sich folglich nicht an der Wahl“, so der Politikwissenschaft- ler. Ganz nach dem Motto: Vertrauen muss man sich erst verdienen. Auch die aktuelle Konstellation der Parteien an der Regierung ist nicht förderlich für die Diskussionskultur in einer Gesellschaft, sagt Hermann Atz. Eine Regierung, in der alle Partei- en vertreten sind, vermittle den Ein- druck, dass Wahlen keinen tatsächli- chen Einfluss auf die Politik haben. „Dieses Gefühl manifestiert sich dar- in, dass die derzeit einzige Oppositi- onskraft immer stärker wird“, so der Meinungsforscher, und dies obwohl sie, die Partei Fratelli d’Italia, schon problematisch weit am rechten Rand angesiedelt sei. „Es braucht in einer De- mokratie sowohl Regierende als auch eine Opposition.“ Die (Ir)Relevanz der Gemeinden In Italien fällt auch die Entmachtung der Gemeinden bzw. die Zentralisie- rung des Staates ins Gewicht. „La gente capisce che il Comune conta come un due di picche“, kommentierte Massimo Cacci- ari, der ehemalige Bürgermeister von Venedig, die niedrige Wahlbeteiligung. Den Wähler:innen sei bewusst, dass die Gemeinden in Italien entmachtet werden und es folglich kaum Konse- quenzen hat, wer im Bürgermeister- sessel sitzt. In Südtirol ist dies anders, die Gemeinden gelten als relevanter politischer Akteur. Warum war also die Beteiligung in Meran so niedrig? In Meran sind die Menschen seit je- her nicht beson- ders fleißig, was das Wählen an- geht, das zeigen die Zahlen vergan- gener Abstimmun- gen. „Das ist ein An- zeichen von Politikmüdigkeit. Gerade bei Neuwahlen, die vor der Zeit ausge- tragen werden, kommt dies oft zum Vorschein“, so Atz. Und dennoch: Wahlen sind einer der Grundpfeiler der Demokratie. Wenn sich Bürger:innen nicht mehr beteili- gen, verdient die Demokratie als „Regie- rung des Volkes durch das Volk für das Volk“, wie es der einstige US-Präsident Abraham Lincoln einmal formuliert hat, nicht mehr ihren Namen. Schwä- chelt also der demokratische Geist? Die demokratische Kultur erodiert Nein, sagt Günther Pallaver. „Die de- mokratische Kultur in Italien hat Ero- sionserscheinungen, das Fundament ist aber weiterhin stabil.“ Wenn sich we- nig Menschen an einer Wahl beteiligen, heiße das nicht automatisch, dass eine Demokratie geschwächt ist. Das zeigen einige (historische) Beispiele. Das wohl im negativen Sinn bekannteste ist jenes von Adolf Hitler. Der Diktator ist nicht durch einen Putsch an die Macht ge- kommen. Er wurde gewählt, und zwar von der breiten Masse. „Bei den Reichs- tagswahlen 1932 und 1933 war die Wahl- beteiligung sehr hoch, nur wenige Mo- nate später wurde Deutschland zu einer Diktatur“, so Pallaver. In Deutschland habe zur damaligen Zeit eine starke Polarisierung stattgefunden, die Men- schen gingen zur Wahl, obwohl die de- mokratische Kultur sehr schwach war. Ein anderes Beispiel zeigt, dass eine niedrige Wahlbeteiligung nicht zwin- gend für einen schwächelnden demo- kratischen Geist steht. Südtirols Nach- bar, die Schweiz, wird häufig als Syno- nym für direkte Demokratie verwendet. Das Wahlvolk kann dort in vielen Fra- gen abschließend entscheiden, mehr- mals jährlich sind die Wähler:innen zu den Urnen gerufen. „In der Schweiz gibt es Wahltermine, an denen sich nur zehn oder 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler beteiligen. Trotzdem wür- de niemand sagen, dass die Schweiz demokratisch labil ist“, so Pallaver. Im Gegenteil, die Schweiz sei eine jahr- hundertealte, gefestigte und erprobte Demokratie, trotz teils niedriger Wahl- beteiligung. Trotzdem sind sich die Politikwis- senschaftler beim Fall Italien einig: Wenn die Nichtwähler:innen zur größ- ten Gruppe werden und sich tenden- ziell ständig vermehren, ist dies ein Alarmruf. Demokratie als kleineres Übel „Die demokratische Kultur in unse- rem Staat zeigt immer wieder Schwä- chen“, sagt Pallaver. Auch derzeit sei der demokratische Geist schwach. Dies beweisen ihm zufolge das Hoch, auf dem sich die rechte Partei Fratelli d’ Italia derzeit befindet, oder Bewe- gungen, die antidemokratische Züge haben. Auch aktu- elle Bilder und Vi- deos von Protest- aktionen, unter anderem in Süd- tirol, wecken bei so manchem ein un- gutes Gefühl, das ist aus Gesprächen immer wieder her- auszuhören. Die hohen Zu- stimmungswerte, die Mario Draghi derzeit erfährt, sind laut Atz eben- falls ein Hinweis darauf, dass die demo- kratische Kultur zurzeit einen schwe- ren Stand hat. Denn Draghi wurde, wie einige seiner Vorgänger im Amt des Mi- nisterpräsidenten, vom Wahlvolk nie gewählt (siehe „Regierungschefs ohne Wahl“ in SWZ 19/21, nachzulesen auf SWZonline oder in der SWZapp). „Die Zustimmung zu seiner Person weist da- rauf hin, dass die Bevölkerung in die- sen Krisenzeiten jemanden sucht, der sagt, wo es langgeht“, so Atz. Eine kleine Gruppe der Bevölkerung denke, dass in bestimmten Situationen eine Person mit einem autoritären Füh- rungsstil von Vorteil wäre, sagt Pallaver. „Die breite Mehrheit ist aber nach wie vor davon überzeugt, dass die Demo- kratie, bei allen Kritikpunkten, immer noch das kleinere Übel im Vergleich zu anderen Regierungsformen ist.“ Allerdings werden Rufe nach Verän- derung laut. „Die Bevölkerung ist mit der Demokratie an sich einverstanden, nicht aber mir ihrer konkreten Ausfor- mung“, sagt Atz. Wie eine Erneuerung aussehen könnte, ist noch unklar. Fest steht aber, dass es eine braucht. Silvia Santandrea [email protected] Bei den Reichstagswahlen 1932 und 1933 war die Wahl- beteiligung sehr hoch, nur wenige Monate später wurde Deutschland zu einer Diktatur. In der Schweiz gibt es Wahltermine, an denen sich nur zehn oder 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler be- teiligen. Trotzdem würde nie- mand sagen, dass die Schweiz demokratisch labil ist. Foto: Shutterstock

Foto: Shutterstock Das DemokratieTief

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Das Demokratie­Tief WAHLBETEILIGUNG – Die Partei der Nichtwähler wächst seit Jahren. Bei der Gemeinderatswahl in Meran zum Beispiel hat nur jede:r zweite Berechtigte seine Stimme abgegeben, bei der Stichwahl am Sonntag könnte die Beteiligung noch niedriger sein. Schwächelt unsere demokratische Kultur?

Bozen – Er ist bildungsfern, ein Gering-verdiener, lebt auf dem Land, abseits von dicht besiedelten Zentren, und ist politisch desinteressiert. So oder ähn-lich könnte die stereotype Beschrei-bung eines Nichtwählers klingen. Dass sie allerdings schon lange nicht mehr der Realität entspricht und, dass die Nichtwähler:innen mittlerweile aus al-len Schichten der Bevölkerung kom-men, zeigt die niedrige Beteiligung an den jüngsten Urnengängen. Die Daten sind alarmierend.

Einer von zwei bleibt daheim

In Meran schritt am 10. Oktober mit 51,9 Prozent nur jede:r zweite Berech-tigte zur Gemeindewahl, für die Bür-germeister-Stichwahl am kommenden

Sonntag werden ebenfalls niedrige Wer-te prognostiziert. In Nals und Glurns haben im Vergleich zur Kurstadt zwar mehr Bürger:innen ihre Stimme abge-geben, allerdings wurde auch dort die niedrigste Beteiligung der vergange-nen Jahre verzeichnet.

Der Trend zu einer immer niedrige-ren Wahlbeteiligung geht weit über Südtirol hinaus. 54,7 Prozent der Be-rechtigten beteiligten sich an den Kom-munalwahlen am 3. und 4. Oktober in Italien, ganze sieben Prozent we-niger als bei den vorherigen Wahlen im Jahr 2016. In Mailand und Turin lag die Wahlbeteiligung mit 47,7 Pro-zent bzw. 48 Prozent noch tiefer. Bei der Stichwahl am vergangenen Wo-chenende, als in vielen Städten die Bürgermeister:innen bestimmt wur-den, gaben nur 43,9 Prozent der Be-rechtigten ihre Stimme ab. Weniger als jede:r Zweite hat sich dafür ent-schieden, von seinem demokratischen Recht Gebrauch zu machen.

„Politikverdrossenheit und das Ge-fühl, von keiner Partei richtig vertreten zu werden, veranlassen Wahlberech-tigte dazu, sich nicht an einer Wahl zu

beteiligen“, sagt Meinungsforscher Her-mann Atz vom Institut Apollis zu die-sem Phänomen. Manche Personen hät-ten das Gefühl, dass ohnehin schon fest-stehe, wer die Wahl gewinnt, und diese wahrgenommene Ohnmacht verleite dann dazu, nicht zur Wahl zu schreiten. „Die niedrige Wahlbeteiligung kann al-lerdings auch als eine gewisse Grund-zufriedenheit mit dem Status quo ge-deutet werden“, erklärt Atz.

Die Euphorie, die eigene Stimme ab-geben zu dürfen und den „Festakt der Demokratie“ zelebrieren zu können, ist schon lange nicht mehr spürbar. In Italien spielt außerdem ein weiterer Faktor mit: Das Vertrauen in die Poli-tik, und insbesondere in die Parteien, ist am Boden.

Vertrauen? Lieber nicht

„In wenigen Ländern ist der Ruf der Politik so schlecht und das Vertrauen in die zentralen politischen Institutio-nen so niedrig wie in Italien“, sagt der Politikwissenschaftler Günther Palla-ver. Insbesondere den Parteien bringt die Gesellschaft im internationalen Ver-gleich wenig Vertrauen entgegen. In ei-ner Studie des Umfrageinstituts demos gaben im Jahr 2020 lediglich acht Pro-zent der Befragten an, viel oder sehr viel Vertrauen in die Parteien zu haben. Zum Vergleich: In Deutschland vertrau-en laut Pallaver 40 Prozent der Bevöl-kerung den Parteien. Anderen Institu-tionen schenkt die italienische Gesell-schaft hingegen mehr Vertrauen. Dem Parlament traut knapp ein Viertel der Bevölkerung, dem Präsidenten sogar 58 Prozent der Befragten.

Das geringe Vertrauen in die Politik ist allerdings kein rezentes Phänomen. „Nach dem Tangentopoli-Skandal und den Mani-Pulite-Ermittlungen in den 90er-Jahren ist das Vertrauen in die Politik, und insbesondere in die Par-teien, sukzessive gesunken“, erklärt Günther Pallaver. Korruption und an-dere Skandale hätten anschließend

ihr Übriges dazu beigetragen, dass das Misstrauen endgültig geweckt war. „Wer kein Vertrauen in eine Organisati-on hat, der wird ihr auch keines schen-ken und beteiligt sich folglich nicht an der Wahl“, so der Politikwissenschaft-ler. Ganz nach dem Motto: Vertrauen muss man sich erst verdienen.

Auch die aktuelle Konstellation der Parteien an der Regierung ist nicht förderlich für die Diskussionskultur in einer Gesellschaft, sagt Hermann Atz. Eine Regierung, in der alle Partei-en vertreten sind, vermittle den Ein-druck, dass Wahlen keinen tatsächli-chen Einfl uss auf die Politik haben. „Dieses Gefühl manifestiert sich dar-in, dass die derzeit einzige Oppositi-onskraft immer stärker wird“, so der Meinungsforscher, und dies obwohl sie, die Partei Fratelli d’Italia, schon problematisch weit am rechten Rand angesiedelt sei. „Es braucht in einer De-mokratie sowohl Regierende als auch eine Opposition.“

Die (Ir)Relevanz der Gemeinden

In Italien fällt auch die Entmachtung der Gemeinden bzw. die Zentralisie-rung des Staates ins Gewicht. „La gente capisce che il Comune conta come un due di picche“, kommentierte Massimo Cacci-ari, der ehemalige Bürgermeister von Venedig, die niedrige Wahlbeteiligung. Den Wähler:innen sei bewusst, dass die Gemeinden in Italien entmachtet werden und es folglich kaum Konse-quenzen hat, wer im Bürgermeister-sessel sitzt. In Südtirol ist dies anders, die Gemeinden gelten als relevanter

politischer Akteur. Warum war also die Beteiligung in Meran so niedrig? In Meran sind die Menschen seit je-her nicht beson-ders fleißig, was das Wählen an-geht, das zeigen die Zahlen vergan-gener Abstimmun-gen. „Das ist ein An-

zeichen von Politikmüdigkeit. Gerade bei Neuwahlen, die vor der Zeit ausge-tragen werden, kommt dies oft zum Vorschein“, so Atz.

Und dennoch: Wahlen sind einer der Grundpfeiler der Demokratie. Wenn sich Bürger:innen nicht mehr beteili-gen, verdient die Demokratie als „Regie-rung des Volkes durch das Volk für das

Volk“, wie es der einstige US-Präsident Abraham Lincoln einmal formuliert hat, nicht mehr ihren Namen. Schwä-chelt also der demokratische Geist?

Die demokratische Kultur erodiert

Nein, sagt Günther Pallaver. „Die de-mokratische Kultur in Italien hat Ero-sionserscheinungen, das Fundament ist aber weiterhin stabil.“ Wenn sich we-nig Menschen an einer Wahl beteiligen, heiße das nicht automatisch, dass eine Demokratie geschwächt ist. Das zeigen einige (historische) Beispiele. Das wohl im negativen Sinn bekannteste ist jenes

von Adolf Hitler. Der Diktator ist nicht durch einen Putsch an die Macht ge-kommen. Er wurde gewählt, und zwar von der breiten Masse. „Bei den Reichs-tagswahlen 1932 und 1933 war die Wahl-beteiligung sehr hoch, nur wenige Mo-nate später wurde Deutschland zu einer Diktatur“, so Pallaver. In Deutschland habe zur damaligen Zeit eine starke Polarisierung stattgefunden, die Men-schen gingen zur Wahl, obwohl die de-mokratische Kultur sehr schwach war.

Ein anderes Beispiel zeigt, dass eine niedrige Wahlbeteiligung nicht zwin-gend für einen schwächelnden demo-kratischen Geist steht. Südtirols Nach-bar, die Schweiz, wird häufi g als Syno-nym für direkte Demokratie verwendet. Das Wahlvolk kann dort in vielen Fra-gen abschließend entscheiden, mehr-mals jährlich sind die Wähler:innen zu den Urnen gerufen. „In der Schweiz gibt es Wahltermine, an denen sich nur zehn oder 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler beteiligen. Trotzdem wür-de niemand sagen, dass die Schweiz demokratisch labil ist“, so Pallaver. Im Gegenteil, die Schweiz sei eine jahr-hundertealte, gefestigte und erprobte Demokratie, trotz teils niedriger Wahl-beteiligung.

Trotzdem sind sich die Politikwis-senschaftler beim Fall Italien einig: Wenn die Nichtwähler:innen zur größ-ten Gruppe werden und sich tenden-ziell ständig vermehren, ist dies ein Alarmruf.

Demokratie als kleineres Übel

„Die demokratische Kultur in unse-rem Staat zeigt immer wieder Schwä-chen“, sagt Pallaver. Auch derzeit sei der demokratische Geist schwach. Dies beweisen ihm zufolge das Hoch, auf dem sich die rechte Partei Fratelli d’ Italia derzeit befi ndet, oder Bewe-gungen, die antidemokratische Züge

haben. Auch aktu-elle Bilder und Vi-deos von Protest-aktionen, unter anderem in Süd-tirol, wecken bei so manchem ein un-gutes Gefühl, das ist aus Gesprächen immer wieder her-auszuhören.

Die hohen Zu-stimmungswerte, die Mario Draghi derzeit erfährt, sind laut Atz eben-

falls ein Hinweis darauf, dass die demo-kratische Kultur zurzeit einen schwe-ren Stand hat. Denn Draghi wurde, wie einige seiner Vorgänger im Amt des Mi-nisterpräsidenten, vom Wahlvolk nie gewählt (siehe „Regierungschefs ohne Wahl“ in SWZ 19/21, nachzulesen auf SWZonline oder in der SWZapp). „Die Zustimmung zu seiner Person weist da-rauf hin, dass die Bevölkerung in die-sen Krisenzeiten jemanden sucht, der sagt, wo es langgeht“, so Atz.

Eine kleine Gruppe der Bevölkerung denke, dass in bestimmten Situationen eine Person mit einem autoritären Füh-rungsstil von Vorteil wäre, sagt Pallaver. „Die breite Mehrheit ist aber nach wie vor davon überzeugt, dass die Demo-kratie, bei allen Kritikpunkten, immer noch das kleinere Übel im Vergleich zu anderen Regierungsformen ist.“

Allerdings werden Rufe nach Verän-derung laut. „Die Bevölkerung ist mit der Demokratie an sich einverstanden, nicht aber mir ihrer konkreten Ausfor-mung“, sagt Atz. Wie eine Erneuerung aussehen könnte, ist noch unklar. Fest steht aber, dass es eine braucht.

Silvia Santandrea [email protected]

Bei den Reichstagswahlen 1932 und 1933 war die Wahl­beteiligung sehr hoch, nur wenige Monate später wurde Deutschland zu einer Diktatur.

In der Schweiz gibt es Wahltermine, an denen sich nur zehn oder 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler be­teiligen. Trotzdem würde nie­mand sagen, dass die Schweiz demokratisch labil ist.

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