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119 Franz Mauelshagen Was man in der Frühen Neuzeit die »Gelehrtenrepublik« (respubli- ca litteraria; république des lettres) nannte, war eine fiktive Ge- meinschaft ohne Territorium, ohne festgelegte geographische und soziale Grenzen, mit Idealen und moralischen Verhaltensnormen statt eines Rechtssystems, mit Idolen statt einer Regierung. Ge- wiss, es gab typische Treffpunkte, die von Gelehrten mehr oder weniger gezielt angesteuert wurden: Universitäten und Bibliothe- ken von Anfang an, die berühmten Druckeroffizinen (vor allem in der Renaissance) und schließlich die wissenschaftlichen Akade- mien, die besonders im 17. und 18. Jahrhundert aus dem Boden schossen. Die Konstruktion der Gemeinschaft über geographische Gren- zen hinweg konnte jedoch nur durch Medien geleistet werden, in denen die Fiktion durch Kommunikation permanent aufrecht er- halten wurde. Das waren zum einen gedruckte Werke, das waren zum anderen und vor allem Briefe. Die hommes des lettres mach- ten den Brief zum Signum ihres Gelehrtenselbstverständnisses. Sie bildeten Netzwerke Briefe schreibender Männer, zu denen Frauen selten Zugang gewährt wurde. 1 Korrespondenzen werden im folgenden als Medien der Verge- sellschaftung betrachtet, in denen soziale Beziehungen über räum- liche Distanzen hinweg geknüpft und aufrecht erhalten wurden. 1 Die Literatur zum Thema Gelehrtenrepublik ist mittlerweile sehr umfang- reich. Für den Versuch einer umfassenden Synthese vgl. Hans Bots/Françoise Waquet (Hg.), La République des Lettres, Paris 1997. Einen guten Kurzüber- blick mit weiterführenden Hinweisen bietet Peter Burke, Erasmus und die Ge- lehrtenrepublik, in: ders., Kultureller Austausch, Frankfurt a.M. 2000, S. 74-101. – Für wertvolle Hinweise danke ich Regina Dauser (Augsburg), Stefan Hächler (Bern), Michael Kempe (Frankfurt a. M.) und Martin Stuber (Bern).

Franz Mauelshagen, “Netzwerke des Vertrauens. Gelehrtenkorrespondenzen und wissenschaftlicher Austausch in der Frühen Neuzeit.” In Vertrauen. Historische Annäherungen, edited

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This essay examines the practices of networking among the erudite in late medieval and carly modern Europe. The building up of trust among individuals was sought through the channel of friendship, the most important form of sociability among the learned. This came to bethebasisforan all-encompassing form of scientific exchange that took place through the medium of personal correspondence. How did bonds of friendship come to be created? How were these sustained over long distances within a society of limited mobility? What was the role of the exchange of gifts in these processes which, taking a cue from Pierre Bourdieu, could be designated as an ’economy of faith and trust’?

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Franz Mauelshagen

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Was man in der Frühen Neuzeit die »Gelehrtenrepublik« (respubli-ca litteraria; république des lettres) nannte, war eine fiktive Ge-meinschaft ohne Territorium, ohne festgelegte geographische undsoziale Grenzen, mit Idealen und moralischen Verhaltensnormenstatt eines Rechtssystems, mit Idolen statt einer Regierung. Ge-wiss, es gab typische Treffpunkte, die von Gelehrten mehr oderweniger gezielt angesteuert wurden: Universitäten und Bibliothe-ken von Anfang an, die berühmten Druckeroffizinen (vor allem inder Renaissance) und schließlich die wissenschaftlichen Akade-mien, die besonders im 17. und 18. Jahrhundert aus dem Bodenschossen.

Die Konstruktion der Gemeinschaft über geographische Gren-zen hinweg konnte jedoch nur durch Medien geleistet werden, indenen die Fiktion durch Kommunikation permanent aufrecht er-halten wurde. Das waren zum einen gedruckte Werke, das warenzum anderen und vor allem Briefe. Die hommes des lettres mach-ten den Brief zum Signum ihres Gelehrtenselbstverständnisses. Siebildeten Netzwerke Briefe schreibender Männer, zu denen Frauenselten Zugang gewährt wurde.1

Korrespondenzen werden im folgenden als Medien der Verge-sellschaftung betrachtet, in denen soziale Beziehungen über räum-liche Distanzen hinweg geknüpft und aufrecht erhalten wurden.

1 Die Literatur zum Thema Gelehrtenrepublik ist mittlerweile sehr umfang-reich. Für den Versuch einer umfassenden Synthese vgl. Hans Bots/FrançoiseWaquet (Hg.), La République des Lettres, Paris 1997. Einen guten Kurzüber-blick mit weiterführenden Hinweisen bietet Peter Burke, Erasmus und die Ge-lehrtenrepublik, in: ders., Kultureller Austausch, Frankfurt a.M. 2000, S. 74-101.– Für wertvolle Hinweise danke ich Regina Dauser (Augsburg), Stefan Hächler(Bern), Michael Kempe (Frankfurt a. M.) und Martin Stuber (Bern).

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Als Gelehrtenkorrespondenzen zeichnen sie sich durch den Aus-tausch von Informationen, Wissen und materiellen Gaben aus, dieunmittelbar auf die wissenschaftlichen und sozialen Interesseneiner bestimmten gesellschaftlichen Gruppe bezogen waren. MeineThese lautet, dass Vertrauen eine entscheidende Rolle für Aufbau,Bestand und Erweiterung solcher Beziehungen und für die Bildungvon Korrespondenznetzen spielte. Das Vertrauen, das einemNetzwerkakteur entgegengebracht wurde, und seine Vertrauens-würdigkeit waren wesentliche Elemente seines sozialen und sym-bolischen Kapitals und beeinflussten seine Handlungschancen.

Ich werde mich hier auf die Frage des Networking beschränken,also die Bildung und Aufrechterhaltung von Beziehungsnetzen alsProblem der Generierung und Kontinuierung von Vertrauen. AmAnfang steht ein Problemaufriss, der sich an moralphilosophischenLehren orientiert, die in der Frühen Neuzeit verbreitet waren.Zweifellos waren Gelehrte des 16. bis 18. Jahrhunderts mit ihnenvertraut. Im Licht des Vertrauensproblems, das im ersten Abschnittentfaltet wird, wende ich mich im zweiten Abschnitt Praktiken derNetzwerkbildung zu, die an etablierte Formen des Freundschafts-diskurses anknüpften. In diesem Diskurs kam dem Brief als Kom-munikationsmedium eine entscheidende Rolle für die »symboli-sche Arbeit« am Bestand der fiktiven Gelehrtengemeinschaft zu.Teil dessen war der im dritten Abschnitt in Grundzügen nachge-zeichnete Wissens- und Ressourcenaustausch, der häufig im Zen-trum des gelehrten Interesses an Korrespondenznetzen stand. Erlässt sich mit Pierre Bourdieu als »Ökonomie von Treu und Glau-ben« charakterisieren. Darauf werde ich im vierten und letztenAbschnitt eingehen.

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Die traditionelle Vertrauenslehre der christlichen Moralphilosophiekönnte man so zusammenfassen: Vertraue auf Gott, nicht auf Men-schen, und wenn Du ihnen doch vertrauen musst, tu’ es nicht blind.Fide, sed cui vide. »Vertrau’ , aber schau’ wem!« Diese »Formel«wurde in den Medien moralphilosophischer Lehren verbreitet undin alle europäischen Sprachen übersetzt. Man findet sie sogar als

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Motto adeliger wie bürgerlicher Familien, meist in Verbindung mitWappen.

Inhaltlich ließ sie weite Deutungsspielräume offen. Der Rat-schlag changierte zwischen Vertrauen und Misstrauen, gab jedochkeine Auskunft über die jeweiligen Anwendungsbedingungen.2

Die Einfachheit der Formel täuscht über dieses Problem hinweg,für das es zwei Lösungen gab: Die eine, moraldidaktische, bestandin einer Kasuistik, ohne die jede Morallehre unvollständig gewesenwäre; die andere lag in der Tugendlehre. Dabei handelte es sichnicht um konkurrierende Modelle, sondern um zwei Seiten dersel-ben Medaille.

Die Kasuistik war ein offenes, stets erweiterungsfähiges Sam-melbecken für mehr oder weniger kollektivierte Erfahrungen, dieals Exempel in verschiedenen Darstellungsformen aufbereitet, er-zählt und memoriert werden konnten, in Sprichwörtern oder Lie-dern etwa, die verschiedene Medien als Träger für ihre Botschaftenfanden. Ein Beispiel dafür bietet ein illustriertes Flugblatt mit demTitel »Traw/ Schaw Wem«, das 1633 in Straßburg erschien(Abb. 1).3 Die darin geführte Klage über Falschheit und Untreue»der Welt« gehörte zum topischen Repertoire wie die Sprichwör-ter, aus denen der Text weitgehend komponiert wurde.4 Der aktu-elle Erfahrungshorizont, der dieses Repertoire aktivierte, wurdedurch den – an seinem Ende Dreißigjährigen – Krieg geprägt, indessen Mitte das Blatt erschien. Die beiden Priameln unter demTitel enthalten freilich von diesem Kontext abgelöste Exempel, dieim Bild summarisch vor Augen geführt werden.

2 So die Kritik von Niklas Luhmann, Vertrauen, Stuttgart ³1989, S. 95f., derseinen eigenen funktionalistischen Ansatz u.a. mit dem Hinweis auf die zweifel-hafte Leistungsfähigkeit der traditionellen Ethik begründet hat.

3 Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Wolf-gang Harms, Bd. 1: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfen-büttel, Teil I, hg. v. Wolfgang Harms/Michael Schilling, Tübingen 1985, Nr. 43,S. 100f.

4 Für genaue Belege vgl. den Kommentar von Barbara Bauer, in: Deutscheillustrierte Flugblätter I, S. 100.

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Abb. 1 – Traw/ Schaw Wem – Illustriertes Flugblatt, Straßburg 1633(Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel: IE 53)

Wer einem Wolff trawt auff der Heyd/ Tauben bey Raben/Einem Juden bey seinem Eyd/ Meidlein bey Knaben/Einem Krämer bey seim Gewissn. Soldaten auff der Awen/Der wirdt von allen dreyen gebissn. Pfaffen bey den Frawen/

Sol niemandt vertrawen.

In diesen Versen kommen Standes- und Geschlechterstereotypenebenso zum Ausdruck wie antisemitische Vorurteile. Es geht mirhier jedoch nicht um Inhalte, sondern um bestimmte Struktur-merkmale der Kasuistik, insbesondere ihre Flexibilität. Vor undnach 1633 sind einige Varianten der zitierten Verse überliefert. Sie

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wurden immer wieder modifiziert, radikalisiert oder abgeschwächt.Das gilt auch für andere Stereotypen. Die Kasuistik war eine offe-ne Ordnung, die genügend Raum für regionale Spezifika und zeit-liche Veränderungen gewährte. Jenseits solcher Unterschiede han-delten die überlieferten Faustregeln, Sprüche und Exempla über-wiegend von Fällen fehlgeleiteten Vertrauens und sprachen direktoder indirekt eine Empfehlung für mehr Misstrauen aus.

Gerade darum jedoch sollte man voreilige und pauschalisierendeSchlussfolgerungen aus dem Vertrauens-Imperativ Fide, sed cuivide vermeiden. Was uns hier begegnet, ist nicht einfach die Paroleeiner Misstrauensgesellschaft.5 Vielmehr handelt es sich um dieUmschreibung eines grundlegenden Problems sozialer Interaktion:Unter welchen Bedingungen kann man vertrauen?

Die positive Antwort auf die Frage des Vertrauens wurde in derTugendlehre gegeben, in deren Mittelpunkt das Individuum stand.Mit ihrer bipolaren Logik von Tugenden und Lastern formuliertesie die Maßstäbe der fides, deren Grundhaltung Wahrhaftigkeit undWorthalten war. Es müssen hier nicht alle Tugenden oder die sie-ben Todsünden aufgezählt werden. Entscheidend ist die Orientie-rung des Vertrauens am Maßstab individueller Qualitäten, zu de-nen auch die Frömmigkeit gehörte. Das entsprach dem Vorrangdes Vertrauens in Gott als zuverlässigstem Partner in der christli-chen Weltordnung.

Das Hauptproblem des Vertrauens lag in der Erkennbarkeit derTugenden oder Untugenden im alltäglichen Umgang. Auf dieseSchwierigkeit wies ein weiterer Komplex von Warnungen vor all-zu schnellem Vertrauen hin, der auf die ineinander verschränktenDifferenzen von Sagen und Denken, Versprechen und Handelnund ihre Grundlage, die Differenz von Innen und Außen, bezogenwar. Die Verborgenheit des Inneren war das Problem, denn sienahm allen äußeren Zeichen zwischenmenschlicher Kommunikati-on die Eindeutigkeit und stattete sie mit einer grundsätzlichenAmbivalenz aus. Moralische »Ratgeber« arbeiteten ständig am

5 Für das Mittelalter hat Peter von Moos allerdings ein solches Urteil gewagt:Vgl. Peter von Moos, »Herzensgeheimnisse« (occulta cordis). Selbstwahrneh-mung und Selbstentblößung im Mittelalter, in: Aleida Assmann/Jan Assmann(Hg.), Schleier und Schwelle. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit, München1997, S. 89-109, bes. S. 90f.

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Bewusstsein dieser Ambivalenz und führten die Möglichkeiten desBetrugs, der Lüge und aller Arten der Unaufrichtigkeit wie die inder Frühen Neuzeit vieldiskutierten Verstellungsformen der simu-latio und dissimulatio vor Augen.

Das bereits zitierte Flugblatt mit seiner Klage über »falscheTrew« brachte die entscheidende Differenz von Innen und Außendurch die traditionelle Metaphorik von Mund und Herz zum Aus-druck und veranschaulichte sie an einer Art Doppelzüngigkeit vonAussprechen und Denken (Abb. 1):

Wann der Mundt spricht: Gott grüsse dich/So dencket das Hertz/ hüte dich;Ich sih mich vmb zu aller frist/Kan doch nicht sehn wer mein Freund ist.

Die anschließenden Verse führen das Motiv der falschen Freund-schaft fort. Der Judaskuss, das christliche Paradebeispiel für diesenVertrauensbruch, wird zuvor bereits erwähnt (»Judas Kuß ist jetztworden new [...]«). Die Klage darüber, dass sich die Unterschei-dung zwischen wahren und falschen Freunden der unmittelbarensinnlichen Wahrnehmung entzieht, wird in den Schlussversen inBildern körperlicher Schutz- und Heilmittel auf die anschaulicheSpitze getrieben, wobei der Irrealis signalisiert, dass es eben kein»Schild gegen Betrug«, keinen »Helm gegn Haß und Neidt« undkeine »gute Salbn« gegen Untreue gibt.

Nichts ist gefährlicher als falsche Freunde, so könnte das Fazitlauten. Diese Warnung erklärt sich durch die Ambivalenz einesVertrauensverhältnisses, das durch seine Intimität besondere Risi-ken mit sich brachte. Ein englisches Sprichwort, belegt für 1553,brachte dies knapp auf den Punkt: »In trust is treason«.6 Die War-nung vor den Gefahren besonders enger sozialer Beziehungen er-klärt sich freilich gerade dadurch, dass Freundschaft eines derwichtigsten »Vehikel« für Vertrauen war. Vertrauen zu erweisenund Vertrauen nicht zu enttäuschen – diese beiden Anforderungen,in denen sich Gegenseitigkeit ausdrückt, gehörten zu den Grund-normen der Freundschaft.

6 Georg von Gaal, Sprichwörterbuch in sechs Sprachen. Deutsch, Englisch,Latein, Italienisch, Französisch und Ungarisch, Wien 1830, Nr. 1553; vgl. Deut-sches Sprichwörter-Lexikon, Sp. 1290.

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Abb. 2 – Allegorische Darstellung der Freundschaft – Illustriertes Flug-blatt, Nürnberg 1617 (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel: 24.Geom. 2° [13])

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Die Wertbesetzung der amicitia lässt sich an verbreiteten allegorischenDarstellungen, in der Emblematik oder wiederum an kleineren Druck-schriften beobachten. Ein 1617 in Nürnberg gedrucktes Flugblatt (Abb.2) erläuterte ausführlich die Allegorie der Freundschaft, die hier als»rechter Freund«, also männlich, nicht als weibliche Figur dargestellt ist,wie es sowohl im Deutschen als auch im Lateinischen eigentlich durchdas für die Allegorese weitgehend verbindliche Wortgenus nahegelegtwar.7 Die wichtigsten Merkmale wahrer Freundschaft sind um die Figurherum auf Spruchbändern mit knappen verbalen Signalen angedeutet. ImWinter wie im Sommer – also in schlechten wie in guten Zeiten –, in derFerne wie in der Nähe, im Tod wie im Leben habe wahre Freundschaftihre Geltung. Die erwartete Offenherzigkeit wird im Bild gleichsam»wörtlich« genommen und erleichtert damit das Verständnis der Zeige-gesten: Die linke Hand deutet auf den Mund der Figur, die rechte auf dasHerz in der geöffneten Brust. So wird die Wahrhaftigkeit als Überein-stimmung zwischen Sagen und Denken, zwischen Außen und Innendargestellt. Im Worthalten liegt die traditionelle Grundbestimmung derfides.8 In diesem Zusammenhang taucht auch wieder das Erkenntnispro-blem auf. Im ersten der kleingedruckten Zitate aus dem apokryphenBuch Sirach am Ende des Textes wird daran erinnert, dass die Treuesich erst in der Not erweise: »Vertraue keinem Freund/ du habest jhndann erkannt in der Nodt. Denn es sind viel Freund/ weil sie es geniesenkönnen/ aber in der noht halten sie nicht«.

Nach den Lehren, die hier in Grundzügen umrissen wurden, be-durfte Vertrauen eines »Vehikels«, anders ausgedrückt: es bedurfteder Rückbindung an individuelle Eigenschaften (Tugenden) oderder Verankerung in der Institution der Freundschaft, die ebenfallsauf persönliche Tugenden gestellt werden sollte. Der damit gege-bene Fokus der Moralphilosophie auf dem Individuum privile-gierte persönliche Bekanntschaft bei der Etablierung von Vertrau-ensbeziehungen. Dies ist die wichtigste Schlussfolgerung, die ichim folgenden als Problemstellung auffassen möchte. Das zentraleProblem des Vertrauens stellte die Anforderung, eine Vertrauens-

7 Deutsche illustrierte Flugblätter I, Nr. 19. Es gibt auch die »weibliche Vari-ante«, vgl. ebd. Nr. 18 und die Darstellung bei Cesare Ripa, Iconologia, Padua1611 (Neudruck: New York 1976), S. 16.

8 Tonja Glojna, »Treue«: Zur Geschichte des Begriffs, in: Archiv für Be-griffsgeschichte 41 (1999), S. 64-85, inbes. 72f. mit Belegen zu Cicero, Augu-stin, Isidor von Sevilla u.a.

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beziehung wie Freundschaft durch persönliche Kenntnis abzusi-chern. Mit Blick auf die Gruppe, die im Zentrum dieses Beitragssteht, ist dann zu fragen, welche Gelegenheiten Gelehrte für dieHerstellung persönlicher Beziehungen nutzten und wie sie die ge-knüpften Verbindungen in der Distanz aufrecht erhielten.

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Regelmäßige persönliche Begegnungen sind nur mit wenigenMenschen realisierbar. Unter den Mobilitätsbedingungen der Frü-hen Neuzeit waren sie auf noch engere Räume und seltenere Gele-genheiten begrenzt als in der Gegenwart. Viele der wenigen Gele-genheiten, die sich in einem Gelehrtenleben der Frühen Neuzeit fürpersönliche Begegnungen mit Kollegen aus ganz Europa boten, umüberregionale Beziehungsnetze zu knüpfen, ergaben sich im Zugeeiner gruppenspezifischen Mobilität.

Auf der Studienreise wurde Bekanntschaft mit Professoren, Stu-dienkollegen und anderen wichtigen Persönlichkeiten an zumeistmehreren Studienorten geschlossen. Mit dem Magisterabschlusserwarb man die Lehrerlaubnis (ius ubique docendi) an den euro-päischen Universitäten, was die Ausübung des Lehrberufs in ande-ren Universitätsstädten ermöglichte und damit die Wanderschaftvon Akademikern begünstigte. Der Bekanntenkreis konnte außer-dem auf Bildungsreisen durch Europa oder während einer GrandTour durch Italien erweitert werden, was sich die meisten Gelehr-ten nur als Begleiter eines geistlichen oder weltlichen Mäzens leis-ten konnten.

Gelegenheiten, bedeutenden Köpfen einen Besuch abzustatten,wurden im Rahmen gelehrter Mobilität gezielt gesucht und ge-nutzt. Nicolas Claude Fabri de Peiresc (1580-1637) gab einemBekannten auf dem Weg nach Italien einmal eine Liste von32 Virtuosi, bei denen vorzusprechen war, mit auf den Weg.9 Beisolchen Begegnungen handelte es sich um formalisierte Abläufe,angefangen bei den unverzichtbaren Empfehlungsschreiben, die

9 Vgl. Cecilia Rizza, Peiresc e l’ Italia, Turin 1965, S. 25f. Hinweis bei Bur-ke, S. 87.

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neue Bekanntschaften stets mit bereits bestehenden verknüpften.Die Anknüpfung neuer an bestehende Beziehungen ist überhaupteine der wichtigsten Grundregeln des frühneuzeitlichen Networ-king, ein Strukturmerkmal, das aus den Gesetzen der Vernetzungselbst folgte. Persönliche Bekanntschaft und das mit ihr gegebeneVertrauen konnten gleichsam übertragen werden, ein Vorgang, derhäufig durch persönliche Empfehlungen initiiert wurde, die aus-drücklich die Vertrauenswürdigkeit des »Empfohlenen« hervorho-ben. Die Begegnungen selbst folgten bestimmten Gepflogenheitender Gastfreundschaft und der wechselseitigen Ehrerbietung. AusGastfreundschaft konnte sich Freundschaft entwickeln, vorsichti-ger ausgedrückt: eine Beziehung, die als »Freundschaft« bezeich-net wurde.

Die Wahl der Freundschaft als privilegierte Soziabilitätsforminnerhalb der Gelehrtenrepublik kann mit dem Ideal der Egalität

erläutert werden.10

Wie bei allen Idealen gilt freilich auch hier,dass man sie nicht für Realität halten sollte. Unter dem »Deckna-men« der Freundschaft wurden viele Beziehungen geknüpft, dievon klaren Hierarchien und Abhängigkeiten geprägt waren unddaher in historischer Distanz eher als Patronage-Klientel-Verhältnisse zu beschreiben wären. Man kann allerdings, über eineGegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit hinaus,11 nach demEinfluss von Idealen auf die soziale Praxis von Gelehrten fragen.Peter Burke hat sieben Aspekte genannt, an denen dieser Einflussfestgestellt werden könne, darunter das Phänomen der alba ami-corum.12 Diese »Poesiealben«, die auch als Stammbücher bezeich-

10 Zum Gleichheitsgedanken vgl. Pierre Bayle, Preface, in: Nouvelles de laRépublique des lettres, Mois de Mars 1684, Amsterdam 1684, fol. A 6.Vgl. Burke, S. 84.

11 Vgl. Lorraine Daston, The Ideal and Reality of the Republic of Letters, in:Science in Context 4 (1991), S. 367-386; Michael Kempe, Die Anglo-Swiss-Connection. Zur Kommunikationskultur der Gelehrtenrepublik in der Frühauf-klärung, in: Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte. Wissen und Wis-sensvermittlung im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Sozialgeschichte der Naturwis-senschaften zur Zeit der Aufklärung, hg. v. Robert Seidel, Heidelberg 2000,S. 71-91, hier S. 86-91 mit eindrücklichen Beispielen.

12 Burke, S. 85-90. Zu den Stammbüchern der Frühen Neuzeit vgl. vor allemdie folgenden beiden Sammelbände (jeweils mit weiteren Hinweisen): Jörg-Ulrich Fechner (Hg.), Stammbücher als kulturhistorische Quellen, München

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net werden, dokumentieren in der großen Mehrzahl Bekanntschaf-ten, die ihre Besitzer auf der Studienreise gemacht hatten. In ge-wissem Maße komplementär dazu verhalten sich Besucherbücher,wie sie etwa der italienische Botaniker und Zoologe Ulisse Aldro-vandi (1522-1605) führte. Conrad Gessner (1516-1565) betitelteein Büchlein dieser Art mit »Liber amicorum«. Es enthält mehr als200 Autographen seiner Besucher.13

Das Thema der Freundschaft spielt in den Einträgen, mal mehr,mal weniger offensichtlich, eine wichtige Rolle.14 Die Symbol-sprache war sehr ausgefeilt. Man findet darin geradezu kryptischeemblematische Anspielungen.15 Programmatische Deutlichkeit isteher die Ausnahme, so etwa, wenn ein Spruch auf der Rückseitedes Titelblatts im Stammbuch eines Buchbinders aus Grätz in derSteiermark (um 1650) mit den bekannten Motiven von Herz undHand, von Weite und Ferne spielte, die aus der Emblematik ver-traut sind.16 Wiederum eine allegorische Darstellung der amicitia

1981; Wolfgang Klose (Hg.), Stammbücher des 16. Jahrhunderts, Wiesbaden1989. Die wichtigsten Stammbuch-Verzeichnisse sind: Wolfgang Klose, CorpusAlborum Amicorum. Beschreibendes Verzeichnis der Stammbücher des16. Jahrhunderts, Stuttgart 1988; A. E. Nickson, Early Autograph Albums in theBritish Museum, London 1970.

13 Richard J. Durling, Conrad Gesner’s Liber amicorum 1555-1565, in: Ges-nerus 22 (1965), S. 134-159. Zu Aldrovandis Gästebuch vgl. Paula Findlen, TheMuseum: Its Classical Etymology and Renaissance Genealogy, in: Journal of theHistory of Collections 1 (1989), S. 72f.

14 Vgl. das Geleitwort von Wolfgang Harms in: Klose, S. 8, sowie HansHenning, Zu Entstehung und Inhalt der Stammbücher des 16. Jahrhunderts, in:Klose, S. 42.

15 Das gilt auch in der Malerei des 17. Jahrhunderts, wie Martin Warnke ineiner ausführlichen Interpretation des Bildes Justus Lipsius und seine Schülervon Peter Paul Rubens gezeigt hat: Das Bild des Gelehrten im 17. Jahrhundert,in: Sebastian Neumeister/Conrad Wiedemann (Hg.), Res Publica Litteraria. DieInstitutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Teil I, Wiesbaden 1987,S. 1-31.

16 »Find ich dann einen Freund der mich auch freundlich liebt,/ Daß zumGedächtnüß er mir seinen Namen giebt./ Wenn uns die Zeit gebeut einander zuverlassen,/ So kann ich ihn dadurch zu Hand und Hertzen fassen,/ Vnd er bleibtmir so lieb, wär ich gleich noch so weit,/ Als einer der mir ist am nähsten an derSeit«. Zitiert nach Hans Henning, Die Weimarer Stammbuchsammlung in derZentralbibliothek der deutschen Klassik, in: Fechner, S. 37-64, hier S. 44.

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wurde direkt am Anfang eines Stammbuchs aus dem Verlag derBrüder de Bry von 1611 wiedergegeben (Abb. 3).

Abb. 3 – Bildnis der wahren Freundschafft – Illustriertes Flugblatt mitallegorischer Darstellung der Freundschaft, o.O., nach 1611; Kupferstichnach Johann Theodor (1561-1623) und Johann Israel de Bry (1570-1611) (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel: IE 19)

Zu diesem »Bildnüß der waren Freundschaft« hieß es erläuternd:»Der Freund, der dem Freund seinen Namen in dieses Buch zuschreiben gedenkt, lerne daraus zunächst, was Freundschaft sei«.17

17 Nomen in hunc libellum scripturus amicus amico, / Ex hoc disce prius,quid sit amicitia. München, Staatsbibliothek: 4° Rar. 609; Hinweis durch den

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Das Bild sollte demnach als Erinnerung an die freundschaftlicheWertegemeinschaft verstanden werden, deren Anerkennung dieVoraussetzung für den »Eintritt« in das Büchlein und sein »Reich«war. Idealiter wurde also die Verinnerlichung der Tugendwertevorausgesetzt, die als Vertrauensbasis galten.

Natürlich gewinnen wir als Historiker mit dem Blick in die»Freundschaftsbücher« noch keinen Einblick in die »Köpfe« unse-rer Akteure. Auch die Zeitgenossen wussten, dass es sich um denAusdruck von Hoffnungen handelte, die enttäuscht werden konn-ten. Der ideologische Überbau ist dennoch wichtig, weil er Aus-kunft über Erwartungen erteilt, die mit dem Eingehen einer freund-schaftlichen Beziehung von Anfang an verbunden waren. Wirmüssen davon ausgehen, dass gerade auf Reisen die Bereitschaftgroß war, »Freundschaft« sehr rasch durch einen Eintrag imStamm- oder Gästebuch zu bekunden. In dieser Hinsicht wurdenmoralphilosophische Ratschläge, die den Nerv des Vertrauenspro-blems trafen, offenbar missachtet. Ich meine damit die Empfeh-lung, Vertrauen nicht allzu schnell und leichtfertig zu schenkenund Freunde auf ihre Zuverlässigkeit hin zu prüfen. Dies hätte län-gere Interaktionsketten vorausgesetzt. Wenn bei Freundschaftsbe-kundungen im Stamm- oder Gästebuch darauf verzichtet wurde, sonicht zuletzt darum, weil solche Akte oft folgenlos blieben unddamit risikolos waren.

Der interessantere Fall liegt freilich dann vor, wenn sie nichtfolgenlos blieben. Einträge in Stamm- oder Gästebücher konntendann etwa als Initial für den Beginn eines Briefwechsels wirken.Wie weitgehend Studien- und Bildungsreisen für den Aufbau einesKorrespondentennetzes genutzt wurden, ist bisher allerdings nichtsystematisch untersucht worden.18 Es fällt auf, dass viele Einträgein Gessners liber amicorum Namen seiner Korrespondenten auf-weisen. Dies lässt sich auch am Besucherbuch des Arztes Jean-François Séguier (1703-1784) aus Nîmes beobachten.19 Es läge

Kommentar von Michael Schilling zu Deutsche illustrierte Flugblätter I, Nr. 16.18 Für erste Versuche vgl. Martin Stuber u.a., Albrecht von Hallers europäi-

sches Netz. Raum, Zeit, Themen, in: Urs Boschung u.a. (Hg.), Repertorium zuAlbrecht von Hallers Korrespondenz, Basel 2002, S. XXII-XXXV.

19 Vgl. Daniel Roche, Les Républicains des lettres. Gens de culture et Lu-mières au XVIIIe siècle, Paris 1988, S. 275 und die Karten, S. 266 und 274.

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daher nahe, diese Dokumente als Zeugnisse für das Networkingvon Gelehrten auszuwerten und mit Korrespondenzen zu verglei-chen, was im vorliegenden Rahmen nicht geschehen kann.

Die ausgeprägte Reisekultur der Gelehrten stellte in der früh-neuzeitlichen Gesellschaft schon eine Ausnahme dar. Und auch siebot nur eingeschränkte Möglichkeiten für persönliche Begegnun-gen als vertrauensbildende Maßnahme. Wie aber gingen gesell-schaftliche Gruppen, die wie unsere Gelehrten (ähnliches gilt füreine bestimmte Gruppe von Kaufleuten) auf viele und raumgrei-fende Verbindungen angewiesen waren, mit diesen Bedingungenum? Ihre Netzwerke hätten sich nicht entfalten können, wenn eskeine Substitute für persönliche Begegnungen und die dabei ge-wonnenen individuellen Erfahrungen gegeben hätte.

Ein Ersatz für persönliche Kenntnis bestand im gesellschaftli-chen Ansehen einer Person. Dies war natürlich kein Spezifikumder Gelehrtenkultur. Die Rolle der fama war hier jedoch besondersausgeprägt. Sie war mit dem Ehrkonzept verknüpft und rückge-bunden an verbreitete soziale Ordnungsvorstellungen, zu denenschon die grundlegenden Koordinaten der Ständegesellschaft alsallgemeinstes gesellschaftliches Orientierungswissen zu zählensind. Die mit der fama verbundenen Zuschreibungen entstammtenDiskurszusammenhängen, die häufig als »Gerücht«, »Gerede« oder»geschrey« bezeichnet und aus engräumigen Kommunikationsge-meinschaften auf das raumgreifende »Territorium« der Gelehrten-republik übertragen wurden. In dieser öffentlichen oder halböf-fentlichen Sphäre war die Differenz von Sein und Schein, die aufder Trennung des Inneren vom Äußeren beruhte, selbstverständlichnicht aufgehoben, das im ersten Abschnitt geschilderte Erkennt-nisproblem nicht wirklich gelöst, auch wenn das Ansehen einerPerson eine wichtige zusätzliche Information darstellte, die in dergesellschaftlichen Interaktion völlig unabhängig davon, ob sie ei-ner Person gerecht wurde oder nicht, zu berücksichtigen war.

Ein zweites Substitut bot der Brief, und zwar in seiner Funktionals Repräsentation der Person des Schreibers. Diese Funktion wur-de in einer Reihe von Topoi der epistolographischen Traditionausgeschrieben, die meist aus der Antike stammten und seit derRenaissance Hochkonjunktur hatten. Schon in der Antike galt derBrief als Gespräch unter Abwesenden, eine Beschreibung, die in

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der Brieftheorie der Frühen Neuzeit vielfältigen Nachhall fand.20

Ein besonders beredtes Beispiel dafür bietet das Widmungsgedichtzum ersten, 1568 veröffentlichten englischen Briefsteller von Wil-liam Fullwood:

By letter we may absence makeeven presence selfe to be.And talke with him, as face to face,together we did see.

Konsequent lautete Fullwoods Definition des Briefes: »An Epistletherefore or letter is nothing else, but a declaration (by writing) ofthe mindes of such as bee absent, one of them to another, even asthough they were present«.21 In einem einschlägigen Lexikon heißtes noch Ende des 18. Jahrhunderts: »Briefe sind schriftliche Auf-sätze, die die Stelle mündlicher Unterredungen abwesender Perso-nen vertreten«.22

Frühneuzeitliche Gelehrtenbriefe sind voll von Beschreibungendes memorialen Akts der imaginären Vergegenwärtigung des ande-ren, der aus solchen Gemeinplätzen gelebte Realität machte. DasRepräsentationsverhältnis zwischen abwesender Person und Briefsuchte sich dabei unterschiedliche Referenzpunkte. Briefe konnteneinerseits als Bild der Seele (eìkon psych

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(imago cordis), sie konnten andererseits als Repräsentation desKörpers aufgefasst werden. In seiner fiktiven poetischen Epistel ToMr. R. W. spielte John Donne mit beiden Möglichkeiten:

As this my letter is like me, for itHath my name, words, hand, feet, heart, minde and wit;It is my deed of gift of mee to thee,It is my Will, my selfe the Legacie.[...]

20 Belege in der Einleitung zu Erasmus von Rotterdam, De conscribendisepistolis, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 8, übersetzt, eingeleitet und mit An-merkungen versehen von Kurt Smolak, Darmstadt 1980, S. X.

21 Zitiert nach Wolfgang G. Müller, Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Ge-schichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis zu Samuel Richard-son, in: Antike und Abendland 26 (1980), S. 138-157, hier S. 147f. mit weiterenHinweisen und Belegen.

22 Deutsche Enzyklopädie oder allgemeines Realwörterbüch der Künste undWissenschaften, Bd. 1-23, Frankfurt a.M. 1778-1807, Bd. 4, Art. Brief.

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Though I stay here, I can thus send my heart,As kindly as any enamored PatientHis Picture to his absent Love hath sent.23

»Hand« und »feet« spielen hier auf individuelle Handschrift undVersfüße an. Letztere waren zweifellos eine poetische Besonder-heit. Aber die Handschrift als »Abbild« des Individuums ist auchin profanen Briefen ein wiederkehrendes Motiv. Die spezifischeMaterialität des Briefes – Papier, Tinte, Schriftzüge – inspiriertedie Vorstellung körperlicher Stellvertretung. Vielleicht hat DenisDiderot die physische Präsenz am eindrücklichsten beschworen, ineinem Brief an Sophie Volland vom 31. August 1760:

Je baise tes deux dernières lettres. Ce sont les caractères que tu as tracés;et à mesure que tu les traçois, ta main touchoit l’espace que les lignesdevoient remplir, et les intervalles qui les devoient séparer. Adieu, monamie. Vous baiserez au bout de cette ligne, car j’ y aurai baisé aussi là,là. Adieu.24

Liebesbriefe werden hier zum Fetisch und fordern zum Austauschkörperlicher Zärtlichkeiten auf. Natürlich konnte der »Briefkörper«nur selten so intim besetzt werden. Der Ton musste dem Verhältnisder Korrespondenten angemessen sein.

Die Brieflehre unterschied, in Anknüpfung an die Rhetorik, ver-schiedene Stillagen und bot damit Lösungsangebote für das subtileProblem, von der Anrede bis zur Grußformel die richtige Sprachezu finden. Sie konzentrierte sich auf die dem Anliegen, der Sacheund den jeweils beteiligten Personen – ihrem Rang und ihren so-zialen Beziehungen untereinander – angemessene Form des Aus-drucks. Für freundschaftliche Beziehungen war das genus familia-re vorgesehen, die Gattung des vertraulichen Briefes. Hier konntedie kommunikative Arbeit geleistet werden, die notwendig war,

23 Zitiert nach Müller, S. 148.24 Denis Diderot, Correspondance III (Novembre 1759-Décembre 1761), hg.

v. Georges Roth, Paris 1957, S. 47. – »Ich küsse Deine letzten beiden Briefe.Dies sind die Buchstaben, die Du geschrieben hast; und während des Schreibensberührte Deine Hand den Raum, den die Zeilen füllen sollten, und die Zwischen-räume, die sie trennen. Adieu, meine Freundin. Ihr werdet das Ende dieser Zei-len küssen, weil ich es auch geküsst haben werde – da, da. Adieu«. (ÜbersetzungF.M.)

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eine Atmosphäre des Vertrauens herzustellen und aufrecht zu er-halten. Der Brief mit seinem Wiederholungspotential war damitgerade über große Distanzen hinweg das ideale Medium, Freund-schaften einen regelmäßigen Ersatz für persönliche Begegnungenzu verschaffen.

Persönliche Nähe als Programm drückt sich im Begriff der fa-miliaritas aus. Damit ist auch eine emotionale Komponente ange-deutet, die man als »Milieu« für Vertrauen beschreiben kann. Einsolches Milieu wurde im Brief durch charakteristische kommuni-kative Umgangsformen und Repräsentationen des Selbst erzeugt,die unmittelbar auf das Problem der Erkennbarkeit des anderenbezogen war. Denn das genus familiare wurde in den Briefstellernder Frühen Neuzeit als Form der Formlosigkeit und als Einblick inden verschlossenen Raum des Inneren, mithin als Kommunikationunverstellter, authentischer Selbstdarstellung konstruiert und kon-stituiert. Es suggerierte das Sicherheitsgefühl von Vertrautheit undVertraulichkeit und gab damit dem Vertrauenserweis eine emotio-nale Grundlage.

In diesem Sinne war der im genus familiare gehaltene Brief dasMedium des Vertrauens in der »Medienlandschaft« der FrühenNeuzeit. Er bot das sprachliche Äquivalent zur Freundschaft. SeineBedeutung als kommunikative Form in der frühneuzeitlichen»Gelehrtenrepublik« wird allerdings erst dann verständlich, wennman den wissenschaftlichen Austausch in den Blick nimmt, dermit Korrespondenzen untrennbar verbunden war. Damit kommteine weitere, nichtsprachliche Dimension ins Spiel, die Teil, ausSicht der Gelehrten vielleicht sogar der wichtigere Teil einer aufVertrauen gestützten Interaktion war.

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Frühneuzeitliche Gelehrtenkorrespondenzen gingen nicht im durch-gestalteten Brieftext auf, und sie beschränkten sich nicht auf denAustausch von Gedanken und Freundlichkeiten oder das Ausspre-chen von Empfehlungen. Der Austausch von Paketen war an dasInteraktionspotenzial von Korrespondenznetzen gebunden. Moch-ten viele Tauschobjekte auch nicht zum Brief(text) gehören, müs-

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sen sie doch unbedingt als Bestandteil von Korrespondenzen be-trachtet werden.

Gerade Gelehrte, die sich als Mitglieder einer zunehmend inwissenschaftlichen Akademien organisierten Respublica litterariaverstanden, hatten ein vitales Interesse an einem weitreichenden»Tauschhandel« wissenschaftlicher Informationen. Um die Dimen-sionen und Zusammenhänge wenigstens in Grundzügen darstellenzu können, muss ich in diesem Abschnitt etwas weiter ausholen,ehe ich auf das Problem des Vertrauens zurückkomme.

Daniel Roche hat beschrieben, worum es hier geht: Der normaleBrief habe Nachrichten übermittelt und seinen Platz in einem Ge-spann von Sendungen, die ihm vorangingen oder nachfolgten, ein-genommen. Solche Sendungen enthielten Gedichte, Lieder, Manu-skripte, unveröffentlichte Arbeiten oder Auszüge daraus, Medail-len, Proben aus der Naturaliensammlung oder ihre Beschreibung,getrocknete Blumen, Samenkörner, Pflanzen, Tee, Schokolade,Wein, Schinken. Dies seien die Gaben und Geschenke gewesen,von denen die täglichen Briefe der Gelehrten voll waren.25 Mankönnte die Aufzählung fortsetzen: Zeichnungen, Porträts, Fossili-en, Münzen, Antiquitäten und, nicht zu vergessen, Druckschriftenwurden verschickt.26 Auch der zeitliche Rahmen, in dem wir unsbewegen, bedarf der Erweiterung: Was für die Gelehrten des

25 Vgl. Roche, S. 265. Weitere Belege u.a. bei Paula Findlen, The Economyof Scientific Exchange in Early Modern Italy, in: Bruce T. Moran (Hg.),Science, Technology, and Medicine at the European Court 1500-1750, Wood-bridge 1991, S. 5-24, hier bes. S. 7-12 der Abschnitt über »Epistolary Transac-tions«.

26 Natalie Zemon Davis, Beyond the Market: Books as Gifts in SixteenthCentury France, in: Transactions of the Royal Society 33 (1983), S. 69-88. ZurÜbermittlung von Druckschriften in der Korrespondenz Albrecht von Hallersmit Rußland und mit dem Turiner Arzt und Botaniker Carlo Allioni vgl. StefanHächler, »Sed scibe, cito scribe!« Scientific communication between centre andperiphery. The correspondence of Albrecht von Haller (1708-1777) with Russia,in: The European Journal 2 (2001), S. 1-3, hier S. 3; ders., Deux réseaux decorrespondance en interaction. La correspondance entre Albert de Haller (1708-1777) et Carlo Allioni (1728-1804), in: Pierre-Yves Baurepaire (Hg.), La Plumeet la Toile. Pouvoirs et Réseaux de Correspondence dans l’Europe des Lumières,Arras 2002, S. 253-272. Zu den anderen Tauschobjekten vgl. u.a. die Auf-zählung bei Bots/Waquet, S. 126; schließlich Martin Stuber, Binnenverkehr inder Gelehrtenrepublik. Zum wissenschaftlichen Austausch zwischen »Deutsch-land« und der »Schweiz« im Korrespondenznetz Albrecht von Hallers, in: Dasachtzehnte Jahrhundert 26 (2002).

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18. Jahrhunderts gilt, mit denen sich Roche befasst hat, lässt sichauch schon für den Gelehrtenaustausch des 16. und 17. Jahrhun-derts beobachten.

Um in der Vielfalt der Tauschgegenstände eine ordnende Per-spektive zu gewinnen, kann man sie provisorisch nach ihrer Mate-rialität in zwei Gruppen einteilen: Zum einen in graphisch – inSchrift und Bild – übermittelte Informationen, die in den formalenAufbau des Brieftextes eingebunden waren oder als Anhänge bei-gefügt wurden; zum anderen in Realien, also Gegenstände alsBeilagen oder Paketsendungen, die heute nur noch aus Erwähnun-gen im Brieftext oder in anderen schriftlichen Quellen wie Schenk-und Rechnungsbüchern oder Sammlungsverzeichnissen erschlos-sen werden können.

Fester Bestandteil des schriftlichen Austauschs waren Nach-richten über aktuelle Ereignisse. Schon bei Humanisten hatten sieihren Ort im Brief. Überdies entwickelte sich der Nachrichtenbriefals Beilage zum Brieftext, eine Form, die das Abschreiben ebensoerleichterte wie das Herumzeigen durch den Empfänger. Aus derFeder flossen auch wissenschaftliche Informationen und »Know-how« in den Brieftext ein. Ärztebriefe waren voll von medizini-schen Fallbeschreibungen. Ratschläge von Kollegen wurden ein-geholt und Rezepte für die Behandlung weitergegeben. Der Wis-sensaustausch im Wort war häufig mit Bildern verknüpft, undnicht selten enthielten letztere die entscheidenden Informationen.Für Anatomie, Botanik oder Zoologie waren exakte bildliche Dar-stellungen weit mehr als nur anschauliche Begleiterscheinungen.Vielfach stellten sie erst die Verständigungsbasis auf dem Weg zueiner einheitlichen wissenschaftlichen Terminologie dar, boten eintertium comparationis, das über Sprachgrenzen hinweg Bezeich-nungen abzugleichen gestattete.

Ein großer Teil des gegenständlichen Austauschs stand in di-rekter Beziehung zu wissenschaftlichen Sammlungen und den ge-druckten Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit. Ein Werk wie die»Physiognomischen Fragmente« Johann Caspar Lavaters schöpfteDruckvorlagen aus einem Kunstkabinett von 22102 graphischenBlättern, das aus einem weitgehend brieflich vermittelten Aus-tausch von Kupferstichporträts und Zeichnungen hervorgegangen

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war.27 Linné beschrieb selbst, wie er »von allen Orten Samen fürseinen Garten erhielt, [...] von denen jährlich ein- bis zweitausendSorten ausgesät wurden«. Es folgte eine Auflistung von 71 Korres-pondenten aus Europa, Nord- und Südamerika.28

TAUSCHOBJEKTE SAMMLUNGEN

Bilder, Kunst � Kunstkabinettetote Natur � Naturalien � Naturaliensammlungen

– Gesteinsarten & Fossilien– getrocknete Pflanzen– ausgestopfte Tiere oder Menschenetc.

lebendige Pflanzen(samen) � Botanische GärtenNatur Tiere � Zoologische Gärten

Schriften � Bibliotheken

Abb. 4 – Schema zum Sammlungsbezug des wissenschaftlichen Aus-tauschs

Die Dynamik des Austauschs kann von den stationären, immobilenOrdnungssystemen her vertiefend analysiert werden (siehe dasSchema, Abb. 4). Tauschobjekte gingen in Wunderkammern, Na-turalien- oder Kunstkabinette ein, in botanische und zoologischeGärten oder in Bibliotheken. Diese Sammlungen wiederum botenein Reservoir für Geschenke.29 Botanische oder zoologische Gär-ten konnten dabei auf die natürliche Reproduktion der lebendigenNatur bauen (im Schema durch Doppelpfeile angezeigt). DieseZirkulation der Objekte war zugleich eine Zirkulation der Symbo-

27 Vgl. Gerda Mraz/Uwe Schlögl (Hg.), Das Kunstkabinett des Johann Cas-par Lavater, Wien 1999, im vorliegenden Zusammenhang insbes. den Beitragvon Karin Althaus über »Lavaters Begegnungen und die Formen seiner Kom-munikation«, S. 30-39. Eine detaillierte Untersuchung über den zumeist brieflichabgewickelten »Tauschhandel« von Porträts berühmter Persönlichkeiten liegtmeines Wissens bisher nicht vor.

28 Vgl. Carl von Linné, Vita Caroli Linnaei, Stockholm 1957, S. 141. Einekartographische Darstellung dieser Angaben findet sich bei Staffan Müller-Wille, Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines Natürlichen Sys-tems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707-78), Berlin 1999, S. 184 (B).

29 Vgl. Findlen, Economy, S. 21.

Wunder-kammer

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le30 – um so mehr, als Sammlungen der Repräsentation dienten.Besucher wurden durch Kabinette geführt und sollten hier nichtnur über die dargebotenen Gegenstände der Natur oder Kunst stau-nen, sondern auch über die Beziehungen des Sammlers zu nam-haften Personen. Zur repräsentativen Darbietung gehörte die Aus-stattung der Objekte mit den »Adressen« renommierter Donatoren.Der Ausstellungsraum wurde so zum Raum gesellschaftlicherWahrnehmung von Ansehen und Ehre – symbolisches Kapital imSinne Pierre Bourdieus. Wissenschaftliches Renommee konntesogar in Pflanzennamen zum Ausdruck kommen. In Linnés binärerNomenklatur war der Name des Erstbeschreibers als Bestandteilder Bezeichnung einer Pflanzenart sogar »institutionalisiert«. Dieswar ein soziales Etikett in einer auf Verewigung des eigenen Na-mens gerichteten Gelehrtenkultur.

Diese Andeutungen zur doppelten Wertigkeit getauschter Ge-genstände – als wissenschaftliches Forschungsobjekt einerseits, alsSymbol für Ansehen andererseits – müssen an dieser Stelle genü-gen. Worauf es im weiteren ankommt, ist eine allgemeine Charak-teristik, die das Problem des Vertrauens in der Interaktionsform»Korrespondenz« lokalisiert. Dafür möchte ich auf der Ebene derSelbstbeschreibung ansetzen, und zwar bei der Begrifflichkeit, inder Briefwechsel, wie wir sie hier vor uns haben, beschrieben wur-den, angefangen beim Begriff »Korrespondenz«.

Die »Encyclopédie« von Diderot und d’Alembert verstand untercorrespondance einen »wechselseitigen Handel (commerce) zwi-schen zwei Personen«.31 Correspondance im engeren Sinne als»regelmäßiger Briefaustausch zwischen zwei Personen« ist schonlange vor Erscheinen der »Encyclopédie« belegt, spätestens für1675.32 Ein Briefwechsel konnte auch direkt als commercium be-zeichnet werden.33 Ein solches commercium litterarium offerierte

30 Ebd., S. 15-21.31 Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des matiè-

res, Bd. 4, Paris 1754 (ND Stuttgart 1966), S. 274.32 Nachweis bei Martin Fontius, Post und Brief, in: Hans Ulrich Gum-

brecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurta.M. 1988, S. 267-279, hier S. 271.

33 Beleg dafür ist ein Brief von Cassiano Dal Pozzo, Mitglied der Accademiadei Lincei, an Niccolo Heinsio vom 16. Oktober 1651. Cassiano sprach darin

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der englische Sintfluttheoretiker John Woodward 1702 demSchweizerischen Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer durcheinen Mittelsmann.34 Nachdem dieses Initial gezündet hatte, ent-wickelte sich ein in jeder Hinsicht gewichtiger Naturalienaustausch– insbesondere von Fossilien –, der in schweren Kisten weitgehendüber Amsterdam abgewickelt wurde. Ein Naturforscherkollege, derauf diesem langen Weg an der »Zwischenstation« in Frankfurtagierte, bezeichnete diese Transaktionen einmal treffend als com-mercium Anglicum.35 Wie in der Geologie, so in der Botanik: »Fürden Botaniker sind Handelsbeziehungen (commercia) mit demganzen Erdkreis notwendig«,36 schrieb Carl von Linné.

Korrespondenz als Kommerz – das klingt nach einer reflektier-ten ökonomischen Rationalität. Berechnung (ratio im engeren Sin-ne) und Berechenbarkeit hatten jedoch Grenzen, die für die auchsonst übliche Geschenk- und Gabenpraxis charakteristisch waren.37

Es gab keine standardisierten Preise und keine Verträge, die imgegenseitigen Einverständnis eine äquivalente Gegenleistung be-stimmten und mit diesem Vorgriff auf die – zumeist auch nochdurch Fälligkeitsdaten eingegrenzte – Zukunft janusköpfige Unsi-cherheiten eindämmten. Kauf und Vertrag stellen auf je eigene Arteine Gleichzeitigkeit von Geben und Nehmen her, während derGabentausch zwischen diese Akte ein zeitliches Intervall ein-schaltet und »nach vorne offen« ist.38 Die Zeitverschiebung zwi-

von einem commerzio delle lettere. Giacomo Lumbroso, Notizie sulla vita diCassiano Dal Pozzo, Turin 1874, S. 149. Hinweis durch Findlen, Economy, S. 8.

34 Johann Friedrich Leopold an Johann Jakob Scheuchzer, 10. Januar 1702;Hinweis durch Kempe, S. 77.

35 Vgl. Kempe, S. 78f.36 Carl von Linné, Hortus Cliffortianus. Plantas exhibens quas in hortis vivis

quam siccis, Hartecampi in Hollandia, coluit vir noblissimus et generosissimusGeorg Clifford, juris utriusque doctor, Amsterdam 1737, Dedicatio fol. *2r:»Botanico necessario sunt Commercia per totum orbem«.

37 Hierzu allgemein Natalie Zemon Davis, Die schenkende Gesellschaft. ZurKultur der französischen Renaissance, München 2002; Valentin Groebner, Ge-fährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eid-genossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz2000; Gadi Algazi/Bernhard Jussen/Valentin Groebner (Hg.), Negotiating theGift, Göttingen 2003, jeweils mit weiteren Hinweisen auf die Literatur.

38 So Valentin Groebner, Liebesgaben. Zu Geschenken, Freiwilligkeit undAbhängigkeit zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert, in: Traverse 9 (2002),S. 39-52, hier S. 49.

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schen Brief und Antwort bedingte eine strukturelle Ungleichzeitig-keit von Leistung und Gegenleistung. Damit waren Risiken ver-bunden, die den über Korrespondenzen abgewickelten Austauschzu einer Sache gegenseitigen Vertrauens machten, zwischen denKorrespondenten sowie zwischen diesen und den von ihnen häufigeingesetzten Privatboten.

Gabe und Gegengabe ließen sich im wissenschaftlichen Aus-tausch nicht konsequent auf ein Eins-zu-Eins-Verhältnis von Wertund Gegenwert umrechnen. Dass Neuigkeiten mit Neuigkeitenbeglichen wurden, war im Nachrichtenaustausch zwar die Norm.Auch sonst gab es häufiger den Tausch von Gleichem gegen Glei-ches – Bücher gegen Bücher, Pflanzensamen gegen Pflanzensa-men –, aber dies war weder zwingend noch unbedingt erwünscht.Besonders in asymmetrischen Verhältnissen, die keineswegs nurvon der Statik der Ständegesellschaft bestimmt wurden, sondernnach Lebenslage der Beteiligten situativ wandelbar waren oder vonAufstieg und Fall im curriculum vitae beeinträchtigt wurden, besa-ßen die getauschten »Waren« völlig verschiedene Qualitäten.

Von Klienten besonders begehrt war ein Zugewinn an symboli-schem Kapital, etwa durch das Porträt eines Patrons, das für jedenBesucher sichtbar in der Kunstkammer aufgehängt wurde – hierwar schon die dadurch gewährleistete memoria eine Art Gegenleis-tung39 –, oder durch die Mitgliedschaft in einer wissenschaftlichenAkademie. Genau dies war eines der Ziele, die Scheuchzer in sei-nem commercium litterarium mit Woodward verfolgte. Der Erfolgführte dann zwangsläufig zu einer Neudefinition der Beziehung.Als Scheuchzer 1704 in den »Klub« der Royal Society aufgenom-men wurde, war die Abhängigkeit von Woodward beendet.Scheuchzer konnte nun sogar direkt mit dem Präsidenten der Ge-sellschaft, Isaac Newton, in Kontakt treten, der die Patronage fürden Druck der »Itinera Alpina«, Scheuchzers Beschreibung seinerAlpenreisen von 1702, 1703 und 1704, übernahm.40

Die Spielregeln des commercium litterarium verlangten zwargrundsätzlich Reziprozität, aber weder die »Währung«, in der die

39 Vgl. Findlen, Economy, S. 21-24.40 Johann Jakob Scheuchzer, Ο

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Tria, London 1708. Vgl. ausführlich Kempe, S. 80.

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Gegengabe zu erfolgen hatte, noch ihr Zeitpunkt waren festgelegt.Es handelte sich um unspezifizierte Verpflichtungen, deren Erfül-lung auf Vertrauen beruhte.41 Dabei waren individuelle Bedürfnis-se und Wertschätzungen auf beiden Seiten zu berücksichtigen, wasFingerspitzengefühl erforderte. Da auch mit symbolischem Kapital»gehandelt« wurde, verbieten sich alle Versuche, Gabe und Ge-gengabe in eine »Einheitswährung« umzurechnen. Was aus Sichtder Beteiligten zählte, waren relative Werte, die nach konkretensozialen, kulturellen und situativen Maßstäben individuell ge-wichtet und »ausgehandelt« wurden. Dazu bedurfte es vorsichtigerSignale und Andeutungen, die sich in Korrespondenzen immerwieder finden. Hier boten sich Freiräume für Machtspiele, Intrigenund Übervorteilung. Das konnte dann zu Unzufriedenheiten undKonflikten führen, die charakteristischerweise nicht auf dem»niedrigen« Feld materieller Werte, sondern auf der »Hochebene«männlicher Ehre ausgetragen wurden.

Um dieses »Spiel« zu verstehen, muss man das Ineinandergrei-fen von »materiellem« Austausch und den Codes der vertraulichenverbalen Briefkommunikation analysieren. Wie waren diese beidenElemente von Korrespondenzen aufeinander bezogen?

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Die ausdrückliche Verknüpfung von Korrespondenz und Kommerzdürfte weitgehend eine Sache des Metadiskurses gewesen sein, dieim praktischen Vollzug des Gabentauschs nur unter bestimmtenUmständen in Briefen zur Sprache kam. Auf eine Briefsendung mitgelehrten Ausführungen des jungen Aldrovandi verlieh der Arztund Botaniker Pietro Andrea Mattioli (1500-1577) in einemSchreiben von 1553 seinem Bewusstsein um die Reziprozitätser-wartung unmissverständlich Ausdruck: Er fühle sich so sehr ver-

41 Zum Begriff der »unspezifizierten Verpflichtungen« (unspecified obliga-tions) vgl. Peter M. Blau, Exchange and Power in Social Life, New York 1964,S. 93. Zur Lokalisierung des Vertrauensproblems in diesem Kontext vgl. denÜberblick von Martin Endress, Vertrauen, Bielefeld 2002, S. 23 mit weiterenHinweisen zur soziologischen Literatur.

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pflichtet, dass guter Wille allein nicht ausreichen werde, Aldro-vandi seinen »contracambio« zu entrichten.42 Der Ältere undRanghöhere konnte sich eine solche Ausdrucksweise erlauben, dieeine überzogen erscheinende Anerkennung der eigenen Verpflich-tung mit dem Dominanzgestus der Entlöhnung verknüpfte. ZweiJahre später, nachdem der Austausch fest etabliert war, wurde dieErinnerung an Bringschulden und damit das do ut des in die Spra-che der Freundschaft eingehüllt. Als Aldrovandi die Bitte Mattiolisum ein Exemplar eines lokalen Bologneser Gewächses etwas zulange im Raum stehen gelassen hatte, wurde er von dritter Seitedaran erinnert. Schon dies gehörte zur Form, die hier gewahrt wer-den wollte, da Mattioli nicht zweimal persönlich um die selbe Sa-che bitten konnte. Stattdessen schrieb ein Dritter aus Mattiolis Um-feld, Aldrovandis Antwort werde erwünscht, »nicht als Bezahlungeiner Schuld, sondern wegen der Höflichkeit und Liebe, mit denenDu uns stets erfreut hast«.43

Pierre Bourdieu hat in seinen Studien zum Gabentausch derKabylen solche sprachlichen Ausdrucksweisen als Euphemismenbezeichnet, als Diskurs, der das, was er sagt, in einer Form sagt,die zu zeigen versucht, dass er es nicht sagt.44 Die Negation ver-leugnet danach den ökonomischen Charakter des Tauschs, bringtihn aber indirekt zum Ausdruck. Auf diese Weise redet der Eu-phemismus um das Tabu der ökonomischen Verrechnung von Ga-be und Gegengabe herum. Bourdieu spricht von einer »Zensur desökonomischen Interesses«, die sich daher begründet, dass der Preisin der »Ökonomie der Unschärfe und der Unbestimmtheit« implizitbleiben müsse.45 Bourdieu spricht auch von einer »auf Treu undGlauben beruhenden Ökonomie«.46

42 Für den Brief von Pietro Andrea Mattioli an Ulisse Aldrovandi vom27. September 1553 S. Giovanni Fantuzzi, Memorie della vita e delle opere diUlisse Aldrovandi, Bologna 1774, S. 151-154, hier S. 151.

43 Odorico Melchiori an Ulisse Aldrovandi, 10. Oktober 1555; Beleg undZitat bei Findlen, Economy, S. 16.

44 Vgl. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M.1979, S. 373, wo Bourdieu in Anknüpfung an Freud von »praktischen Vernei-nungen« spricht.

45 Ders., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M.1994, S. 196 und 166.

46 Bourdieu, Entwurf, S. 337.

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Verbale Euphemismen sind nach Bourdieu Teil einer kollekti-ven symbolischen Arbeit an einer Selbsttäuschung. Sie verdrängedie »strukturelle Wahrheit«47 des Gabentauschs. Die Position, ausder heraus Bourdieu diese »objektive Wahrheit« oder »Wirklich-keit« hinter dem sozialen Geschehen aufzudecken glaubt, scheintmir allerdings fragwürdig. Er hat sich überhaupt nur einmal dazuerklärt: »Objektiv« sei die Beschreibung »aus der Sicht des Beob-achters, der durch die Wolke aus euphemistischen Diskursen hin-durchsieht und sie auflöst«.48 Dies klingt nach einer sicheren Posi-tion im Soziologenhimmel und stellt den Beobachter außerhalbjedes historischen und gesellschaftlichen Zusammenhangs. Die»objektive« Beschreibung des ökonomischen Charakters des Ga-bentauschs könnte darum ganz einfach die zentraleuropäischeProjektion eines Soziologen des 20. Jahrhunderts sein, angefangenbeim Idealtypus des Marktes mit Geldwirtschaft und festen, stan-dardisierten Preisen, der in der Kultur der Kabylen so wenig ver-wirklicht ist wie in frühneuzeitlichen Wirtschaftssystemen – ja,wahrscheinlich nicht einmal in den westlichen Wirtschaftsordnun-gen der Gegenwart »in Vollendung« vorkommt.

Bourdieu hat dies in seiner Beschreibung des suq (Markt) selbsteingeräumt und diesen als »einen intermediären Transaktionsmo-dus zwischen zwei niemals vollkommen realisierten Extremen«beschrieben: »den Tauschbeziehungen der vertrauten Welt einer-seits, die auf Vertrauen, auf Treu und Glauben aufbauen [...]; denrationalen Strategien des self-regulating market andererseits, diedurch die Standardisierung der Produkte und die quasimechanische

Notwendigkeit der Prozesse ermöglicht wird«.49

Auch die frühneuzeitliche »Ökonomie des wissenschaftlichenAustauschs«50 kann als Mischform beschrieben werden. In allemBemühen um die Herstellung persönlicher Bekanntschaft über-schritt sie die engen Grenzen solcher (zum Beispiel dörflicher)Gemeinschaften, die dadurch charakterisiert sind, dass jeder jeden

47 Bourdieu, Vernunft, S. 164.48 Ebd., S. 190.49 Bourdieu, Entwurf, S. 361.50 In Anlehnung an Findlen, Economy, die von einer »economy of scientific

change« spricht.

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kennt. Sie beruhte so wenig wie der suq auf einer umfassendenInformation über Tauschpartner und -objekte. Viele (eher nominel-le) Freundschaften näherten sich den »vergangenheitslosen wiezukunftslosen unpersönlichen Beziehungen des kommerziellenTauschverkehrs« an. Hier wie im Falle des suq kann man darumdie Strategie beobachten, Unsicherheiten über das Verhalten derTauschpartner durch den »Rückgriff auf Garanten, Zeugen, Mitt-ler« zu reduzieren. Bourdieu versteht die Einschaltung von Ver-mittlern als »funktionales Äquivalent für das überkommene Bezie-hungsnetz«51 und damit als Absicherung für geschenktes Vertrau-en.

Wenn Bourdieu von Zensur, Tabu und kollektiver Selbsttäu-schung gesprochen hat, scheint mir diese Analyserichtung im Falleder Ökonomie des wissenschaftlichen Austauschs aus zwei Grün-den korrekturbedürftig zu sein: Zum einen haben wir gesehen, dassdie Erwartung der Gegengabe unter bestimmten Umständen durch-aus verbalisiert werden konnte. Sie konnte nicht nur durch denBegriff des commercium in lexikalischen Definitionen zum Aus-druck gebracht werden, sondern auch in Briefen – zumindest alsAussicht und legitime Erwartung des anderen. Mattioli kündigteAldrovandi die Entrichtung eines contracambio an. In einem Bitt-schreiben, auf das ich am Ende noch ausführlicher eingehen werde,versprach Conrad Lycosthenes dem Adressaten, Heinrich Bullin-ger, die Rückübermittlung der von ihm zur Ausleihe erbetenenFlugblattsammlung »in Treu und Glauben und mit Zins« (bonafide & cum faenore).52 Dies entsprach dem Rat der Briefsteller, inden verwandten Formen von Bitt- und EmpfehlungsschreibenVorteil und Nutzen für den Adressaten und damit die Aussichtenauf zukünftigen Gewinn aus Dankbarkeit für erwiesene Diensteauszumalen.53 In solchen Kontexten waren ausdrückliche Hinweise

51 Bourdieu, Entwurf, S. 362.52 Conrad Lycosthenes an Heinrich Bullinger, Basel, 6. April 1557, Zürich,

Zentralbibliothek: Ms. F 24, 471f. Der vollständige Brief mit Übersetzung ist alsDokument 2 abgedruckt bei: Franz Mauelshagen, »die portenta et ostenta mineslieben Herren vnsers säligen...« Nachlaßdokumente Bullingers im 13. Buch derWickiana, in: Zwingliana XXVIII (2001), S. 73-117, hier S. 97f.

53 Vgl. ein Beispiel für viele: Erasmus, De conscribendis epistolis, S. 210-225 zur Gattung des Empfehlungsschreibens, hier besonders S. 215.

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auf das Prinzip der Gegenseitigkeit gerechtfertigt. Das »Tabu derexpliziten Formulierung«54 und damit die Wahl euphemistischerUmschreibungen waren also auf bestimmte Kontexte innerhalb desFreundschaftsdiskurses beschränkt.

Zum zweiten – und dies ist der wichtigere Punkt – wurde das dout des durch die Sprache der Freundschaft weniger verschleiert alsauf eine andere Ebene gehoben. Dies lässt sich als Anerkennungder Tatsache interpretieren, dass die getauschten Werte, wie obendargelegt, individuell bestimmt und damit relativ waren. Siekonnten und sollten gar nicht in objektivierten materiellen Größenberechnet werden. Das Tauschsystem beruhte insofern tatsächlichnicht auf Marktgesetzen, die folglich auch nicht verschleiert wer-den mussten. Das Spiel wurde vielmehr nach den Normen sozialerBeziehungsnetze gespielt. Es erscheint darum nur konsequent,wenn die Gegenseitigkeit als Erwartung ebenfalls auf dieser Ebeneangesiedelt und ihre konkrete Erfüllung auf dem Feld der »Freund-schaft« ausgehandelt wurde.

Freundschaft war in entsprechender Weise kodiert. Gocleniusetwa bezeichnete sie als »Tugend gegenseitigen Wohlwollens«.55

In einem anderen philosophischen Lexikon wurde sie als »wech-selseitige Liebe« (amor mutuus) und »wechselseitiges Wohlwol-len« (benevolentia mutua) bezeichnet.56 Ähnliches liest man beiZedler.57 Die »Encyclopédie« schließlich sprach von einem »agré-ment de commerce mutuel«, das in die Freundschaft zwischenzwei Personen eingeschlossen war.58 Reziprozität war in dieserInstitution also fest verankert. Nur wurde sie zumeist auf affektive

54 Bourdieu, Vernunft, S. 165.55 Vgl. Rudolph Goclenius, Lexicon philosophicum, Frankfurt/Main 1613

(Neudruck Hildesheim 1964), S. 91ff. »Est autem amicitia virtus reciprocaebenevolentiae«.

56 St. Chauvin, Lexicon philosophicum, 1692, Art. »Amicitia«. Für weitereHinweise vgl. den Art. »Freundschaft«, in: Historisches Wörterbuch der Philo-sophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 1105-1114.

57 Vgl. den Artikel »Freundschaft« bei Johann Heinrich Zedler, Grossesvollständiges Universal-Lexicon, Bd. 9, Halle 1735 (ND Graz 1961), Sp. 1838:»Alle Freundschafft muß eine Übereinstimmung der Gemüther zum Grundehaben, woraus ein mutuelles Wohlwollen, und folglich eine mutuelle Gewogen-heit entspringt«.

58 Encyclopédie, Bd. 1, Paris 1751 (ND Stuttgart 1966), S. 361.

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Instanzen bezogen, an die im Gabentausch appelliert werdenkonnte, insbesondere an die benevolentia des anderen. Man kanndies als Erinnerung an Tugendpflichten lesen, die mit dem Freund-schaftsschluss eingegangen worden waren. Von vornherein ausge-grenzt war damit ein Konkurrenzverhalten, das im moralischenDiskurs als Neid diffamiert und somit, in moralischen Kategorien,als Laster wahrgenommen wurde, was mit der persönlichen Ehreunvereinbar war. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Gelehrten-gemeinschaft nicht mindestens ebenso von Konkurrenz geprägtgewesen wäre wie von Kooperation.59

In der »Verklärung« von Tauschbeziehungen zu affektiven Be-ziehungen lag das Potenzial für die Ausübung eines Zwangs, denBourdieu treffend als »sanfte« und »symbolische Gewalt« bezeich-net hat.60 Dieser Zwang war nicht physisch, sondern moralisch.Symbolisch kann man diesen Typus der Gewalt darum nennen,weil er auf kollektiven Erwartungen beruht und – wie jede symbo-lische Arbeit – die Wahrung von Kommunikationsformen ein-schließt, zu denen auch die Form des Freundschaftsbriefes gehört.

Was bedeutet dies für die Frage des Networking? Es sprichtvieles dafür, die Bildung von Freundschaftsnetzwerken als wech-selseitiges Einverständnis über die Ausübung moralischer Gewaltzu analysieren. Anders ausgedrückt: Die Anerkennung der mitFreundschaft verbundenen Normen schloss die Möglichkeit ein,auf dieser Grundlage moralischen Druck ausüben zu können odersich einem solchen Druck ausgesetzt zu sehen. Um sich auf dieseSpielregel einzulassen, bedurfte es nicht mehr unbedingt der inten-siven persönlichen Kenntnis als Voraussetzung, die mit den War-nungen vor allzu schnellem Vertrauen eigentlich gefordert war.Wenn man diesem Deutungsvorschlag folgt, dann wird Freund-schaft in der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit als Kategorie desNetworking, als Technik der Etablierung einer bestimmten sozialenBeziehung beschreibbar, die in der Praxis der Gelehrtenrepublikzweckorientiert eingesetzt wurde. Das Ideal »wahrer Freundschaft«

59 Vgl. Burke, S. 91. Hier wäre auch auf das Spannungsfeld zwischen»Freundschaft« und »objektiver« Beurteilung in einer Fachzeitschrift hinzuwei-sen.

60 Bourdieu, Vernunft, S. 173f.

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wurde folglich funktionalisiert, um die damit verbundenen Normenzur Geltung zu bringen und den von Unsicherheiten umlagertenwissenschaftlichen Austausch, der im Zentrum des Interessesstand, auf diese Weise abzusichern.61

Wie ich im zweiten Abschnitt zu schildern versucht habe, standdas Networking unter einer Art Zeitdruck, der die metaphorischeGenerierung von Substituten für persönliche Begegnungen begüns-tigte, damit die Illusion persönlicher Kenntnis aufrecht erhaltenwerden konnte. Auch die dort angedeuteten Praktiken schnellerFreundschaftserklärungen, die im Licht des Fide, sed cui vide alsleichtfertig erscheinen müssen, können als pragmatische Lösungdes Zeitproblems gedeutet werden. In dieser Form des Networkingwurden freundschaftliche Beziehungen nicht mehr an die vorgän-gige, langwierige und problematische Feststellung von Tugendhaf-tigkeit gebunden, sondern umgekehrt: Wer sich auf eine Beziehungim Namen der Freundschaft einließ, signalisierte die Bereitschaftzur nachfolgenden Einhaltung der damit verbundenen Tugend-pflichten. »Freundschaft« war insofern (noch) kein Faktum, son-dern die symbolische Erklärung einer Bereitschaft. Ihre Bildungwar auf zukünftige Interaktion gerichtet, nicht auf vergangene. Erstdiese Umkehrung machte Freundschaft für das Networking geeig-net. Ich möchte diese Funktionalisierung als pragmatische Inversi-on bezeichnen.

Für die Frage des Vertrauens ergibt sich daraus ein Paradox:Unter Verstoß gegen eine Grundregel einschlägiger Vertrauensleh-ren war in der Gelehrtenpraxis in Form symbolischer Freund-schaftsbeziehungen ein moralischer Sanktionsmechanismus fürden weitgehend über Korrespondenznetze abgewickelten wissen-schaftlichen Austausch etabliert. Das damit gegebene Potenzial fürmoralischen Zwang nun allerdings stützte das Vertrauen in dieFunktionsfähigkeit von Netzwerken. Gerade in einer Ökonomievon Treu und Glauben strebten Akteure nach Sicherheiten, suchtensie nach Anhaltspunkten dafür, dass ihr Vertrauen berechtigt war.Dies erklärt den Aufwand der symbolischen Arbeit, der wiederholt

61 Hierher gehört der bei Hubert Steinke, Der nützliche Brief. Die Korre-spondenz zwischen Albrecht von Haller und Christoph Jakob Trew 1733-1763,Basel 1999, erörterte Gesichtspunkt der »nützlichen Freundschaft«.

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geleistet werden musste, um derartige Netzwerke aufrechtzuerhal-ten. Netzwerke wiederum boten das Spielfeld für die Ausübungmoralischen Zwangs und konnten ihm dadurch über bloß verbaleSignale hinaus eine soziale Realität verschaffen, die im Konfliktsichtbar werden konnte, aber auch in der »friedlichen« Interaktionunterschwellig präsent war. Ich möchte dies abschließend nocheinmal an einem Beispiel verdeutlichen.

In einem Brief vom 6. April 1557 wandte sich der Basler Hu-manist Conrad Wolffhart (genannt Lycosthenes) an den ZürcherKirchenvorsteher Heinrich Bullinger. Es handelt sich um ein Bitt-schreiben. Auf der Suche nach Bildvorlagen für die Illustrationseines großen Prodigienwerkes, eine Weltgeschichte der Wunder-zeichen,62 hatte Lycosthenes durch den Zürcher Archidiakon Lud-wig Lavater (1527-1586), der 1556 ein kleines Büchlein über Ko-meten veröffentlicht hatte, einen Hinweis auf Heinrich BullingersSammlung illustrierter Flugblätter erhalten. Daraufhin frischte Ly-costhenes den Briefwechsel mit dem Zürcher Antistes, der einigeJahre zuvor abgebrochen war, wieder auf. Der Brief vom 6. April1557 begann mit einer Beschwörung der alten Freundschaft, ein-gepackt in eine verklausulierte Entschuldigung für das langeSchweigen, das durch einen Schlaganfall mitverursacht wordenwar, der den Basler Theologen halbseitig lähmte.

Mag es auch sein, bester Bullinger, dass ich seit jener Zeit, da ich durchdie grausame Güte Gottes vom Schlagfluss heftig überfallen wurde,keinen Brief von Dir erhalten habe, will ich dennoch nicht dulden, dassdie Freundschaft zwischen uns durch irgendeine Unpässlichkeit dieserKrankheit getrennt wird.63

Auf diese captatio benevolentiae folgte eine Schilderung der Fol-geerscheinungen der Krankheit. Die petitio, die Bitte, der eigentli-che Sachverhalt, um den es ging, schloss sich an und wurde miteiner Schilderung der Umstände verbunden, die den VermittlerLavater lobend ins Spiel brachte und den Stand des geplanten Opuserläuterte. Obwohl die Bekanntschaft zwischen Lycosthenes undBullinger viele Jahre zurückreichte, darf man die Bedeutung des

62 Conrad Lycosthenes, Prodigiorum ac ostentorum chronicon, Basel 1557.63 Conrad Lycosthenes an Heinrich Bullinger, Basel, 6. April 1557; Zürich,

Zentralbibliothek: Ms. F 24, 471f. Vgl. Anm. 52.

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»Maklers« Lavater in diesem Falle nicht unterschätzen. Indem derjüngere und weniger prominente Basler Theologe dem älteren Zür-cher Kollegen gegenüber dessen Schwiegersohn ins Spiel brachte,wurde familiäre Nähe als soziales Kapital eingebracht. Zugleichimplizierte die Bezugnahme auf einen »Makler« neben der »hori-zontalen« Freundschaftsebene die »vertikale« Unterordnung desBittstellers.

Bullingers Antwort kennen wir nicht, aber dem letzten Schrei-ben dieser Korrespondenz vom 3. Oktober 1557 lässt sich entneh-men, dass er dem Boten des Basler Kollegen tatsächlich seineSammlung anvertraut hatte. Der kurzfristig erneuerte Briefwechselwar von Büchergeschenken begleitet. Bullinger übersandte imSommer seinen Apokalypse-Kommentar. Mit dem Brief vom3. Oktober erhielt er seine Materialien aus Basel zurück, ergänztum ein Exemplar der gerade erschienenen Wunderchronik.64

Im Hintergrund dieser Transaktion stand eine weitreichendeVernetzung Wolffharts mit dem lokalen Gelehrtenumfeld des Zür-cher Antistes. Verwandt war er mit einem der bedeutendsten He-braisten nach Reuchlin, Conrad Pellikan (1478-1556), der nochvon Zwingli an die Zürcher Hohe Schule berufen worden war unddort ab 1526 die Professur für Altes Testament besetzte. Von Pel-likan, seinem Onkel, hatte Lycosthenes 1529 in Zürich ein JahrUnterricht erhalten. Dieser Aufenthalt in der Stadt an der Limmaterklärt weitere Beziehungen zu Zürchern seiner Generation, zuConrad Gessner, Rudolf Gwalter (1519-1585) und Johannes Wolf(1521-1571), mit denen er auch Briefe wechselte. In den fünfzigerJahren des 16. Jahrhunderts war Gessner wie Pellikan als Professoran der Schola Tigurina tätig. Johannes Wolf war als StadtarztChorherr und bewegte sich gleichfalls im nächsten Umfeld derKirchenzentrale, ebenso Rudolf Gwalter als Pfarrer von St. Peter,einer der vier Zürcher Pfarrkirchen. Gwalter war überdies einer derengsten Vertrauten Bullingers und wurde später sein unmittelbarerNachfolger.

Eine derart hohe Dichte von Netzwerken wird von Netzwerk-analytikern häufig als Indiz für soziale Kontrolle gewertet. Die

64 Vgl. im einzelnen Mauelshagen, S. 85f., die entsprechenden Passagen ausdem Brief von Lycosthenes an Bullinger vom 3. Oktober 1557.

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stabilen Verflechtungen Wolffharts mit Zürich konnten auch ausSicht Bullingers als Kontrolle und somit als potenzielle Absiche-rung der erbetenen Transaktion gewertet werden. Wir können da-von ausgehen, dass die Sensibilität für soziale Verflechtung in derFrühen Neuzeit ausgeprägt genug war, um ihre Sicherungsfunktionzu reflektieren und gezielt einzusetzen. Soziale Kontrolle durchVernetzung aber ist hier nicht als Alternative zum Vertrauen, son-dern als Erleichterung der Entscheidung für eine vertrauensvolleVorschussleistung aufzufassen. Man könnte auch sagen, das kurz-fristige Risiko des Leihgebers wurde durch das Risiko eines län-gerfristigen sozialen Ansehensverlustes auf Seiten des Leihneh-mers reduziert. Ansehen und sein Verlust aber beruhten auf denmoralischen Codes der Tugendlehre und der daran anknüpfendenNormierung sozialer Beziehungen wie Freundschaft. Fehlverhaltenwurde daran bemessen.

In der Gelehrtenwelt, so könnte man resümieren, bot Freund-schaft den Code, Netzwerke aber waren das Spielfeld für die Aus-übung moralischer Gewalt. Netzwerke normierter Beziehungenlassen sich somit als Sicherungssysteme beschreiben – als sozialesNetz unter dem Drahtseilakt vertrauensvollen Handelns.