366

FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,
Page 2: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1

FRANZ VON SALES FRANZ VON SALES FRANZ VON SALES FRANZ VON SALES FRANZ VON SALES � GEISTLICHE GESPRÄCHE GEISTLICHE GESPRÄCHE GEISTLICHE GESPRÄCHE GEISTLICHE GESPRÄCHE GEISTLICHE GESPRÄCHE

Page 3: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

2

Deutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe der

WERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VON SON SON SON SON SALESALESALESALESALES

Band 2Band 2Band 2Band 2Band 2

Nach de r vo l l s t änd igen Ausgabe de rNach de r vo l l s t änd igen Ausgabe de rNach de r vo l l s t änd igen Ausgabe de rNach de r vo l l s t änd igen Ausgabe de rNach de r vo l l s t änd igen Ausgabe de r

OEUVRES DES SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DES SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DES SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DES SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DES SAINT FRANÇOIS DE SALESder He imsuchung Mar iä zu Annecy (1892-1931 )de r He imsuchung Mar iä zu Annecy (1892-1931 )de r He imsuchung Mar iä zu Annecy (1892-1931 )de r He imsuchung Mar iä zu Annecy (1892-1931 )de r He imsuchung Mar iä zu Annecy (1892-1931 )

herausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesunter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von P. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. F. F. F. F. Franz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.

Page 4: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

3

FFFFFranz von Salesranz von Salesranz von Salesranz von Salesranz von Sales

GEISTLICHE GESPRÄCHEGEISTLICHE GESPRÄCHEGEISTLICHE GESPRÄCHEGEISTLICHE GESPRÄCHEGEISTLICHE GESPRÄCHE

FFFFFranz-Sales-ranz-Sales-ranz-Sales-ranz-Sales-ranz-Sales-VVVVVer lager lager lager lager lag

Page 5: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

4

Das Original hat den Titel:Das Original hat den Titel:Das Original hat den Titel:Das Original hat den Titel:Das Original hat den Titel:ENTRETIENS DE SAINT FRANÇOIS DE SALES.ENTRETIENS DE SAINT FRANÇOIS DE SALES.ENTRETIENS DE SAINT FRANÇOIS DE SALES.ENTRETIENS DE SAINT FRANÇOIS DE SALES.ENTRETIENS DE SAINT FRANÇOIS DE SALES.

Aus dem Französischen übertragen hat esAus dem Französischen übertragen hat esAus dem Französischen übertragen hat esAus dem Französischen übertragen hat esAus dem Französischen übertragen hat esPPPPP. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. F. F. F. F. Franz Reis inger OSFS.ranz Reis inger OSFS.ranz Reis inger OSFS.ranz Reis inger OSFS.ranz Reis inger OSFS.

unter Mitarbeit von Schwestern der Heimsuchung zuunter Mitarbeit von Schwestern der Heimsuchung zuunter Mitarbeit von Schwestern der Heimsuchung zuunter Mitarbeit von Schwestern der Heimsuchung zuunter Mitarbeit von Schwestern der Heimsuchung zuZangbergZangbergZangbergZangbergZangberg.....

Mit Erlaubnis der Ordensoberen.Mit Erlaubnis der Ordensoberen.Mit Erlaubnis der Ordensoberen.Mit Erlaubnis der Ordensoberen.Mit Erlaubnis der Ordensoberen.Die Kirchl iche Druckerlaubnis ertei l te das Bischöfl icheDie Kirchl iche Druckerlaubnis ertei l te das Bischöfl icheDie Kirchl iche Druckerlaubnis ertei l te das Bischöfl icheDie Kirchl iche Druckerlaubnis ertei l te das Bischöfl icheDie Kirchl iche Druckerlaubnis ertei l te das Bischöfl iche

Generalvikariat Eichstätt am 9. Februar 1951Generalvikariat Eichstätt am 9. Februar 1951Generalvikariat Eichstätt am 9. Februar 1951Generalvikariat Eichstätt am 9. Februar 1951Generalvikariat Eichstätt am 9. Februar 1951

ISBN 3-7721-0001-52. Auflage 2002

© Franz-Sales-Verlag, EichstättAlle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Brönner & Daentler, Eichstätt

Page 6: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

5

V o r w o r tV o r w o r tV o r w o r tV o r w o r tV o r w o r t

Der zweite Band der deutschen Ausgabe der Werke des hl. Franzvon Sales trägt den Titel „Geistliche Gespräche“. Über Titel, Ur-sprung und Inhalt des Buches informiert die Einführung.

Hier sei nur kurz erwähnt, warum die „Geistlichen Gespräche“ alszweiter Band der gesammelten Werke des Heiligen erscheinen. Maß-gebend dafür war nicht nur die zeitliche Aufeinanderfolge der Über-setzungen, sondern auch der Inhalt der „Gespräche“, der gewisser-maßen den Übergang von der „Philothea“ zum „Theotimus“ bildet,vom Lehrer der Aszetik zum Meister der Mystik. In den „Gesprä-chen“ gibt es noch viele handfeste Belehrungen und Mahnungen,aber auch schon Weisungen, die bereits in das Gebiet der Mystikfallen.

Der vorliegenden Übersetzung liegt der vom Kloster der Heimsu-chung von Annecy im Jahr 1930 herausgegebene Text zugrunde. Diegroße 26-bändige, authentische Ausgabe der Werke des Heiligen hieltnoch am alten Text fest, den die hl. Johanna Franziska von Chantalim Jahr 1629 veröffentlicht hatte, der vieles ausließ, was der Heiligegesagt, und manches aus anderen Schriften des Heiligen hinzufügte.Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930herausgegebene Fassung überholt, die vom selben Kloster als „voll-ständig und endgültig“ erklärt wurde; sie enthält ohne Kürzungen,ohne Retusche und ohne Zusätze alles, was die Hörerinnen des Hei-ligen niedergeschrieben haben.

Die erste Auflage der hier gebotenen Übersetzung erschien bereits1939, ein Neudruck davon 1949. Die unverändert hier vorliegendedritte Auflage (11.-13. Tausend) erscheint nun im Rahmen und mitder Ausstattung der 12 Bände umfassenden deutschen Ausgabe derWerke des Heiligen, die der Franz-Sales-Verlag in rascher Reihenfol-ge herausgeben wird.

Wir hoffen, daß auch dieser Neudruck wieder zahlreiche geneigteLeser finden wird.

Eichstätt, den 17. Oktober 1957.P. Dr. Franz Reisinger.

Page 7: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

6

Zur EinführungZur EinführungZur EinführungZur EinführungZur Einführung

Franz von Sales ist, ohne es zu wissen und zu wollen, der Urheber der„Geistlichen Gespräche“. Er hat davon, außer einigen Notizen für das 1. Ge-spräch, nichts verfaßt. Seine geistlichen Töchter, die Schwestern der „Heim-suchung Mariä“, schrieben die schlichten, ungezwungenen Unterredungen nach,die er mit ihnen im Sprechzimmer oder im Garten des Klosters hielt. DieEhrfurcht, die sie vor ihrem Vater hatten, trieb sie an, sie mit der größtenGenauigkeit aufzuzeichnen und, soweit es an ihnen lag, nichts daran zu än-dern. Meistens hatte der Heilige das Gesprächsthema nicht vorbereitet. Manfragte ihn, unterbrach ihn auch oft mit Fragen und er antwortete schlicht,herzlich, oft in fein ironischer Weise, wenn die Fragen gar zu naiv waren.

Das alles ist uns in den Gesprächen erhalten geblieben. Die Sammlung die-ser Unterredungen ist also kein lang durchdachtes, wohlvorbereitetes Werk.Sie hat dafür den Reiz des Unmittelbaren, des Lebens, der ungeschminktenWahrheit. Man hat mit Recht gesagt, daß sie sich von den anderen Werken desHeiligen unterscheide wie ein Photoschnappschuß, der das Leben einfängt,von einer Atelierphotographie, wo alles genauer, geordneter, würdevoller, aberweniger lebendig ist. In den anderen, von ihm sorgfältig vorbereiteten Werkenwird der ganze Gegenstand, den er behandeln will, von allen Seiten beleuchtetund systematisch beschrieben. Hier vernehmen wir dagegen die großen see-lischen Anliegen, die ihm auf der Seele brennen, die seine Seele so erfüllen,daß er von ihrer Fülle mitteilen muß, die ihn so bedrängen, daß er in diesenwunderbaren Improvisationen immer wieder auf sie zurückkommen muß. Wennein Buch den Titel „Geist des hl. Franz von Sales“ verdient, so wohl eherdieses als die Sammlung von Anekdoten über den Heiligen, die sein Freund,der Bischof Camus, hinterlassen hat. Wenn man die Gespräche in ihrer ganzenTragweite verstehen will, muß man Einblick in die Anfänge des Ordens von derHeimsuchung haben, weshalb wir hier zunächst einen kurzen geschichtlichenÜberblick darüber bringen.

I . Die „I . Die „I . Die „I . Die „I . Die „Töchter der Heimsuchung Mar iä“Töchter der Heimsuchung Mar iä“Töchter der Heimsuchung Mar iä“Töchter der Heimsuchung Mar iä“Töchter der Heimsuchung Mar iä“1. Der Grundgedanke der Genossenschaft

Mehrere Jahre schon trug sich der hl. Franz von Sales mit dem Gedanken,eine neue religiöse Genossenschaft zu gründen. Verschiedene Beobachtungenund Erfahrungen hatten ihn dazu geführt. Als Bischof und gesuchter Seelen-führer hatte er Einblick in viele Klöster gewonnen und gesehen, wie manche

Page 8: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

7

von ihnen trotz einer ursprünglich sehr strengen Regel von ihrer ehemaligenGröße herabgesunken waren. Er fragte sich, ob nicht gerade dieses Übermaßan Kasteiungen am Verfall der Ordensdisziplin schuld gewesen sei, nachdemdie Begeisterung der Anfänge verflaut war.

Als Seelenführer kannte er manche edlen Seelen, Mädchen von schwacherKonstitution oder ältere Frauen und Witwen, denen der Zugang zum klöster-lichen Leben in den eifrigen Klöstern verflossen war, weil sie für die Kastei-ungen, Fasten, Nachtwachen, für das lange Chorgebet, wie sie damals in allenklösterlichen Regeln vorgeschrieben waren, nicht die nötige körperliche Kraftbesaßen. Er fragte sich, ob denn das Streben nach Vollkommenheit im gott-geweihten Stand denen verschlossen bleiben sollte, die wohl eine starke Seeleaber keinen kräftigen Leib hatten. – Diese Erwägungen ließen in ihm denEntschluß zur Gründung einer neuen religiösen Genossenschaft reifen undbestimmen auch deren Grundgedanken:

1. Das Wesentliche des Ordenslebens sollte festgehalten und bis zu seinenletzten Folgerungen geführt werden. Die Aufgabe seiner Töchter sollte sein,sich der „Vollkommenheit der göttlichen Liebe“ im vollen Sinn des Worteshinzugeben.

2. All das, was körperlich schwachen und älteren Frauen nicht möglich wäre,sollte von der Regel ausgeschlossen bleiben, also alle schweren körperlichenBußwerke und das zu sehr anstrengende Brevier, wofür das kleine Muttergottes-offizium gebetet werden sollte. An Stelle der körperlichen Abtötung sollteeine um so gründlichere innere Losschälung treten.

Es war ein ganz neuer Ordenstyp, den der Heilige schuf, allerdings im Ein-klang mit seinen Überzeugungen vom Wesen des geistlichen Lebens überhaupt(s. Anleitung 3,23). – Der Gedanke dieses neuen Ordens reifte in ihm zuimmer größerer Klarheit aus, je mehr er sich in die große Seele vertiefte, diedazu berufen war, die Stifterin und Mutter desselben zu werden.

2. Die ersten „Töchter der Heimsuchung Mariä“

Johanna Franziska von Chantal1 entstammte einer angesehenen Beamten-familie von Dijon in Burgund. Innige Liebe verband sie mit dem Mann, mitdem sie sich in ihrem 20. Lebensjahr vermählte und dem sie vier Kinder schenk-te, – bis ein Jagdunfall ihr Familienglück zerbrach. Sie war mit 29 Jahren

Zur Einführung

1 vgl . Andrè Ravier, Johanna Franziska von Chantal. Ihr Wesen und ihreGnade. Eichstätt 1992, Franz-Sales-Verlag.

Page 9: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

8 Zur Einführung

Witwe und widmete sich jetzt ganz ihren Kindern, den Armen und Gott. Warsie bisher eine rechtschaffene Christin gewesen, so begann sie nun die Pfadeder Heiligkeit zu beschreiten. „Durch die blutige Bresche dringt Gott in ihreSeele ein“ (Bremond). Ihre ersten Schritte waren allerdings in Dunkel gehüllt,das ein unwissender Seelenführer zunächst nur noch undurchdringlicher mach-te. Im Jahr 1604, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, begegnete sie dem hl.Franz von Sales und wenige Monate darauf wählte sie ihn zu ihrem Seelen-führer. In wunderbaren Briefen, die uns zum Teil erhalten sind, und in länge-ren Unterredungen formte nun der Heilige diese große Seele, er löste das Netzengmaschiger Bestimmungen, in das ihr früherer Seelenführer sie eingezwängt,und gab ihr die großen Richtlinien des geistlichen Lebens. – Seit ihrer Wit-wenschaft beherrschte Johanna die Sehnsucht nach einem Leben völliger Hin-gabe an Gott im heiligen Ordensstand. Sie schreibt davon schon 1604 an ihrenheiligen Seelenführer. Dieser ließ sie zunächst warten. Erst im Jahr 1607 gaber ihr in einer denkwürdigen Unterredung seine Absichten kund. – Zwischendem Plan des Heiligen und dessen Erfüllung türmten sich aber vorerst schierunüberwindlich erscheinende Hindernisse, die aber durch offensichtliches Ein-greifen der göttlichen Vorsehung nach drei Jahren beseitigt waren. JohannaFranziska von Chantal war bereit für ihre große Aufgabe, Stifterin und Mutterdes Ordens der Heimsuchung zu werden.

Fräulein von Brechard war unweit Monthelon zuhause, wo die Frau vonChantal die meisten Jahre ihrer Witwenschaft verbrachte. Ihrer Mutter vonfrühester Kindheit an beraubt, von ihrem Vater verstoßen, hatte sich das schö-ne, fromme Mädchen bald an die heiligmäßige Nachbarin angeschlossen. Siehatte wenig Unterricht in den heiligen Wahrheiten der Religion genossen, aberdie göttliche Liebe bemächtigte sich ihrer und entfachte in ihr einen wunder-baren Leidensmut, verbunden mit hochherziger Nächstenliebe. Mit Begeiste-rung nahm sie die Einladung des hl. Franz von Sales an, sich dem beginnendenOrden anzuschließen.

Fräulein von Favre, die zweite Gefährtin der Heiligen, schien zunächst einenanderen Lebensweg einschlagen zu wollen. Sie war die Tochter des Jugendfreun-des des Heiligen, des Senatspräsidenten und berühmten Rechtsgelehrten Favre.Das schöne, intelligente, verwöhnte, umschmeichelte Mädchen liebte über allesdie Freiheit; deshalb sagte ihr die Ehe ebensowenig zu wie das Kloster. Sietanzte leidenschaftlich gern, und beim Tanz traf sie der Strahl der Gnade. Franzvon Sales war von ihrer Kindheit an ihr Seelenführer gewesen; er hatte sie ge-lehrt, inmitten der Vergnügungen hie und da an Gott zu denken; sie tat es aucheinmal, da sie von allen bewundert mit dem Statthalter von Savoyen tanzte. Die

Page 10: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

9

Nichtigkeit ihres Handelns kam ihr bei diesem Gedanken plötzlich zum Be-wußtsein und ihr Entschluß war gefaßt, von jetzt an nur mehr für Gott zu leben.Sie teilte diesen Entschluß dem Heiligen mit. So wurde das 18 jährige Mädchenauserkoren, eine der Grundsäulen des neuen Ordens zu sein.

Als Vierte gesellte sich zu ihnen ein armes, ungebildetes aber ganz reinesund in den Dingen Gottes wohl bewandertes Mädchen, Anna Jaqueline Coste.Der Heilige hatte sie 14 Jahre vorher kennen gelernt, als er in Genf weilte, umdie Bekehrung des Patriarchen der kalvinischen Irrlehre, Beze, anzubahnen.Sie war im Gasthof, in dem der Heilige abgestiegen war, als Zimmermädchenbeschäftigt und war ihrem katholischen Glauben, dessen Ausübung in Genfunter Todesstrafe verboten war, treu geblieben. Der Heilige gab ihr in seinemHotelzimmer die heilige Kommunion und blieb fortan ihr Seelenführer. ImJahr 1608 schrieb er Frau von Chantal: „Ich muß Ihnen die Freude erzählen,die ich letzten Sonntag empfand. Ein Bauernmädchen, aber ganz adelig demHerzen und Streben nach, bat mich nach der heiligen Beichte, sie als dienendeSchwester in die Genossenschaft aufzunehmen, die ich gründen wolle. Ichfragte sie, woher sie dies habe, da es ja noch ganz in Gott verborgen ist. ‚Vonniemandem,‘ antwortete sie, ‚aber ich sage ihnen, was ich denke.’ Mein Gott,sagte ich mir, hast Du denn Dein Geheimnis diesem armen Dienstmädchengeoffenbart?“ So kam sie denn „und diente Gott in der Person den erstenSchwestern der Genossenschaft“.

3. Das Noviziatsjahr der ersten Schwestern

So waren die ersten Mitglieder des Ordens bereit. Am 6. Juni 1610 betratensie das kleine ärmliche Haus am Rande der Bischofsstadt Annecy, das voneiner Garten und Weingarten verbindenden Galerie den Namen „Haus derGalerie“ führte. Der Heilige gab seinen ersten Novizinnen noch nicht dieendgültigen Regeln. Wie alles Lebendige sollte der Orden sich selbst unterGottes Führung zu seiner endgültigen Form weiterentwickeln. Seine Grund-gedanken gibt er in einem Briefe wieder: „Wir beginnen mit der Armut. Unse-re Genossenschaft soll reich nur an guten Werken werden. Ihre Klausur wirdsein, daß kein Mann ihr Haus betreten soll, außer in den Fällen, wo es auch beiden reformierten Klöstern erlaubt ist. Auch Frauen dürfen das Haus nichtohne Erlaubnis des geistlichen Oberen betreten. Die Schwestern dürfen dasKloster nach dem Noviziat zum Zweck der Krankenpflege verlassen. Sie sollendas kleine Offizium singen, um dabei ihrem Geist eine heilige und göttlicheErholung zu geben. Außerdem geben sie sich verschiedenen Übungen hin,insbesondere dem heiligen Herzensgebete“ (Brief vom 24. 5. 1610)

Zur Einführung

Page 11: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

10

Die genaue Beobachtung der Vorschriften, die ihnen ihr Gründer gegeben,war ihre erste Sorge. So schreibt die hl. Johanna von Chantal: „Seit dem erstenTage, da wir uns ins Kloster zurückgezogen hatten, befolgten wir genau, wasman uns vorgeschrieben hatte. Der Heilige prägte uns eine solche Liebe zurvollkommenen Genauigkeit und Einfachheit ein, daß wir beim geringsten FehlerGewissensbisse empfanden. Es kann nicht mehr Offenherzigkeit, Unschuldund heilige Freude geben, als sie unter diesen lieben Seelen herrschte. Es läßtsich gar nicht sagen, wieviel Gnaden Gott diesen lieben Seelen schenkte; mansah in dieser kleinen Gemeinde einen Eifer für die genaue Beobachtung derRegel, einen Gebetsgeist, eine kindliche Geradheit und Unschuld, eine Lie-benswürdigkeit, Sanftmut und heilige Freude in den Gesprächen und eineherzliche Einigkeit unter ihnen, daß es eine paradiesische Wonne war, in die-sem Haus zu weilen. Unser heiliger Stifter besuchte uns oft, hörte unsereBeichten und hielt uns geistliche Vorträge, um uns die wahre Vollkommenheitzu lehren ...“

Zu den vier ersten Schwestern gesellten sich im Laufe des Jahres vier weite-re: Das 16jährige Fräulein Claudia Franziska Roget, eine zarte Blume, dieGott bald heimholen sollte, Frl. Peronne Maria von Chatel aus Chambery, dieschon im Noviziat mit besonderen Gebetsgnaden beschenkt wurde und eineder Säulen des Ordens werden sollte, Frl. Margarete Milletot, Tochter einesParlamentsrates von Dijon, und die 17jährige Adriana Fichet, die, mit einemseltenen Gedächtnis ausgestattet, bis in ihr hohes Alter die lebendige Überlie-ferung des Ordens sein durfte.

4. Die erste heilige Profeß

So nahte der 6. Juni 1611 heran, den der Heilige als Profeßtag seiner erstenSchwestern bestimmt hatte. Die heilige Profeß nahm der heilige Bischof selbstab. In seiner Ansprache verglich er die drei Schwestern mi den drei Weizenkör-nern, die einer ganzen Gegend Brot gegeben hatten. Nachher „opferten undweihten die drei Schwestern ihre Seele, ihren Leib und den Gebrauch ihrerGüter Gott und Unserer Lieben Frau, damit alles zu seiner Ehre nach denRegeln der Genossenschaft verwendet werde.“ – Franz von Sales wollte zu-nächst „kein anderes Gelöbnis als das des hl. Petrus, da ihn der Herr dreimalseine Liebe beteuern ließ“. Die Liebe zum göttlichen Bräutigam „sollte dieStelle der Gelübde einnehmen, damit sich an ihnen das Wort des Apostelsbewahrheite, daß das Band der Liebe das Band der Vollkommenheit ist“ (Sat-zungen in der ersten Form).

Zur Einführung

Page 12: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

11

5. Die ersten Jahre der Genossenschaft von der Heimsuchung zu Annecy

Wie der hl. Franz von Sales keine feierlichen Gelübde und überhaupt keinGelübde ablegen ließ, so verzichtete er auch auf die strenge Klausur zugunstender Nächstenliebe. Es durfte zwar kein Mann das Kloster betreten, außer in denvom Kirchenrecht vorgesehenen Fällen, Frauen aber durften in bestimmtenFällen im Kloster wohnen, auch wenn sie nicht in dasselbe eintreten wollten,und zwar Witwen, die sich aus dem Weltgetriebe entfernen wollten, ohne schonins Kloster eintreten zu können, ferner auch Frauen, die sich für einige Tagegeistlicher Erneuerung zurückziehen wollten, um sich auf die Generalbeichtevorzubereiten. Die Schwestern selber verließen während des ersten Profeßjahreszu bestimmten Zeiten das Kloster, um Werke der Nächstenliebe zu üben.

Schon im Jahr 1607, also drei Jahre vor der Gründung der Heimsuchung,schrieb Franz von Sales am 16. August an Frau von Chantal: „Wissen Sie, wieich gerne den Streit zwischen Marta und Maria geschlichtet hätte? ... Ichmöchte, daß meine Töchter ihre Zeit teilten, einen guten Teil den äußerenWerken der Liebe und den besseren Teil dem innerlichen Werk der Beschauungwidmeten“ (Brief vom 6. 5. 1610).

Aus diesem Text geht hervor, daß Franz von Sales die Krankenbesuche seinenTöchtern wohl als wichtige, aber nicht als erste Aufgabe zugedacht, daß ihreHauptaufgabe vielmehr sein sollte: „Töchter der göttlichen Liebe“ zu sein, d. h.daß sie sich vor allem dem beschaulichen Gebet widmen sollten. Die weitver-breitete Ansicht, der Heilige habe dasselbe bei der Gründung der Heimsuchunggewollt, was sein Freund, der hl. Vinzenz von Paul, später durch die Gründungder Barmherzigen Schwestern verwirklicht hat, ist also ein Irrtum.

Das innerliche Leben wuchs in den Töchtern des Heiligen so an Tiefe, derGebetsgeist nahm allmählich so sehr Besitz von diesen eifrigen Seelen, daßsich die Gemeinde unter Gottes Gnadenführung von selbst zum rein beschau-lichen Leben hinwandte, und wie die hl. Johanna von Chantal rückblickendfeststellt, die Schwestern eines Tages sich ganz umgewandelt fühlten und sichnach der Klausur sehnten (Briefe der Heiligen II, 306). Als der Erzbischof vonLyon die Einführung der Klausur wünschte, widerstrebte ihm daher hierinweder der Stifter noch die Gemeinde, die von Gott selbst in diese Richtunggeführt worden war.

Geniale Menschen, besonders wenn sie Heilige sind, werden naturgemäß vonkleinen Geistern bekrittelt. Man nannte das neue Kloster, das so wenigStrengheiten übte, das Kloster von Jesu Kreuzabstieg und seine BewohnerRosenwassernonnen. Man tadelte den „unvernünftigen“ Bischof, daß er einenOrden ohne materielle Mittel gründete und darin kränkliche Frauen aufnahm.

Zur Einführung

Page 13: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

12

Andere wieder stießen sich an der Jugend der Schwestern und den häufigenBesuchen des Heiligen und beschimpften den Heiligen und die Schwesternaufs Flegelhafteste.

Als eine junge Witwe eintrat, drohte sogar ihr Verehrer, das Kloster zustürmen, und lärmte eine ganze Nacht hindurch vor demselben, warf Fensterein, rüttelte an den Toren mit einer Meute von verkommenen Menschen undließ erst ab, als er sah, daß sich im Kloster niemand und vor allem nicht seineAngebetete um ihn kümmerte.

In dem Jahr nach der Profeß der ersten Schwestern verdoppelte sich fastihre Schar. Am 25. Januar traten zwei Kandidatinnen ein, die bald zu denbedeutendsten Schwestern des Ordens zählen sollten, Frl. Marie Amata deBlonay und die schöne 20jährige Joly von La Roche, früher Freundin desFräuleins Favre, über deren Frömmigkeit sie sich in ihrem Übermut lustigmachte, um dann selber von Gott geangelt zu werden. Im Sommer kam nochFrl. Maria Rosset, deren außerordentliche Gebetsgnaden und Ekstasen baldalle in Erstaunen versetzen sollten. Andere Novizinnen meldeten sich an.

Das Klösterlein von der Galerie wurde bald zu klein. Frau von Chantalkaufte also am See beim Dominikanerkloster ein größeres Haus und übersie-delte dorthin am 30. Oktober 1612 mit 14 Ordensfrauen. Da das Haus aber zuklein war, mußte man zum Bau eines größeren Klosters schreiten, wogegensich heftige Widerstände erhoben. Man bewarf sogar die Arbeiter mit Steinen,versteckte ihr Werkzeug, überschwemmte Teile des Bauplatzes. Eines Tagesmeldete man dem Heiligen, daß ein Wütender mit einer Hacke die Wehr nie-derschlagen wolle. Der Heilige eilte herbei und mahnte ihn ruhig aufzuhören,und als er sich darum nicht kümmerte, nahm er ihm mit festem Griff dieHacke aus der Hand.

Unter solchen Schwierigkeiten wurde der Bau ausgeführt. Gegen Ende desJahres 1614 wurde die Kapelle feierlich eingeweiht und Anfang des Jahres 1615konnten die Schwestern, jetzt 26 an der Zahl, in das neue Haus einziehen.

Das Kloster der Heimsuchung stand innerlich und äußerlich gefestigt da. Eswar jetzt bereit, seine Töchter in die weite Welt hinauszuschicken.

6. Die Heimsuchung Mariä als klausurierter OrdenLyon war die erste Stadt, die einen Ableger des Mutterklosters von Annecy

erhalten sollte. Die hl. Johanna von Chantal kam dort am 1. Februar 1615 mitdrei Schwestern an, nachdem der Erzbischof der Stadt, Kardinal Marquemont,den hl. Franz von Sales um eine Niederlassung seiner Genossenschaft gebetenhatte.

Zur Einführung

Page 14: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

13

Die Gemeinde in Lyon wetteiferte bald an Eifer mit der von Annecy. DerKardinal aber, der die Heiligkeit der Schwestern bewunderte, war mit vielenihrer Regeln und Gebräuche nicht einverstanden. Ordensfrauen ohne Klausur,ohne Gelübde, die die Kranken besuchten, kein Brevier beteten und Witwenaufnahmen, konnte er nicht begreifen. Ein reger Briefwechsel mit Franz vonSales setzt ein; die beiden Oberhirten besuchen sich gegenseitig. In einemPromemoria faßt der Kardinal Marquemont seine Wünsche zusammen; Franzvon Sales antwortet ihm am 2. Februar 1616. In unwesentlichen Dingen gibter nach; er wünscht zwar, daß die Heimsuchung eine Genossenschaft mit ein-fachen Gelübden bleibe, ist aber bereit, sich damit abzufinden, wenn sie zueinem Orden mit feierlichen Gelübden erhoben werden sollte. Er nimmt dieKlausur an, weigert sich aber unbedingt, das kleine Offizium mit dem Brevierzu vertauschen und die Witwen abzuweisen. Da gab es für ihn kein Nachgeben,weil sonst das eigentliche Ziel seiner Ordensgründung zerstört worden wäre.

Man ersieht daraus, was von der Legende zu halten ist, Franz von Sales habeschließlich einen ganz anderen Orden gegründet, als er vorgesehen hatte. – Inallem Wesentlichen ist Franz von Sales doch seinem ersten Plan treu geblieben;er hat nur Unwesentliches oder schon durch die Entwicklung Abgestorbenesfallen lassen.

Seine Gründung war so weit gediehen, daß er um die päpstliche Genehmi-gung ansuchen konnte. Paul V. antwortete ihm am 23. April 1618 durch eineBulle, in der er dem Bischof von Genf die Vollmacht erteilte, seine Genossen-schaft als Orden zu errichten, die Dispens vom Brevier für sieben Jahre gab,die dann von Papst Urban VIII. für ewige Zeiten erteilt wurde, und Regelnund Satzungen des neuen Ordens guthieß.

Vom Jahr 1616 an verbreitete sich die „Heimsuchung“ in geradezu wunder-barer Weise. Sechs Jahre später, beim Tod des Heiligen, zählte sie 13 Klöster.Im Todesjahre der hl. Johanna von Chantal, im Jahr 1641 bereits 87 Nieder-lassungen, vor Beginn der französischen Revolution 146, heute 182 Klöster,davon 12 im deutschen Sprachgebiet.

I I . Entstehung der „Gespräche“I I . Entstehung der „Gespräche“I I . Entstehung der „Gespräche“I I . Entstehung der „Gespräche“I I . Entstehung der „Gespräche“

Der Heiland hat nicht nur den Massen gepredigt, die ihn umdrängten, vieleseiner Unterweisungen waren dem engeren Kreise seiner Jünger und dem eng-sten seiner Apostel gewidmet. Ihnen erklärte er die Geheimnisse des Him-melreiches, ihnen, seinen „Freunden“, teilte er mit, was der Vater ihm gege-ben.

So predigte wohl auch der hl. Franz von Sales oft in der Kirche der Heimsu-

Zur Einführung

Page 15: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

14

chung wie in vielen anderen Kirchen die großen Lehren des Christentums.Zwei dieser Predigten sind in den Gesprächen wiedergegeben (als 3. und 20.Gespräch). Er sagte von sich selber, daß er bei diesen öffentlichen Predigtengleich einem Barbier seine Hörer mit Düften besprengen, von trostreichenWahrheiten rede und auf der Flöte spiele, während er bei den intimen Unter-redungen mit seinen Töchtern wohl mehr den Wundarzt mache und mit Mes-ser, Umschlägen und Pflaster arbeite (17. Gespräch).

Während der zwei Jahre, die die Heimsuchung das Haus der Galerie be-wohnte, kam der Heilige sogar bei schlechtem Wetter, bei Regen und Schnee,mindestens zwei- oder dreimal wöchentlich, las die heilige Messe, hörte dieBeichte der Schwestern, bestimmte die verschiedenen Gebräuche (s. S. 111)und hielt ihnen, wenn er Zeit dazu hatte, seine Unterweisungen. – War dasWetter schön, versammelte man sich im Garten. Der Heilige kam mit einemgeistlichen Begleiter, man brachte ihm einen Stuhl, die Schwestern setztensich ringsum auf den Rasen. Dann begann er in seiner langsamen, ruhigen Art.Ein Beispiel, wie solche Besprechungen begannen, gibt uns das 23. Gespräch(S. 315). „Als er eintrat, sagte er: Guten Abend, meine lieben Töchter, ichkomme, um noch ein Weilchen mit euch zu plaudern ... Was haben wir unsnoch zu sagen? Wohl nichts mehr. Freilich, Frauen wissen immer noch etwas.Wir wollen aber keine langen Einleitungen machen. Bitte setzen Sie sich,unsere Schwestern stehen immer noch.“ – Dann stellte oft eine Schwester eineFrage (s. S. 40, 65, 78 usw.), oder es war ihm vorher eine Frage oder eine Reihevon Fragen vorgelegt worden, die er entweder einzeln beantwortete (s. S. 241)oder von denen er eine auswählte, um sie ausführlich zu behandeln (s. S. 148).Oft auch unterbrachen ihn die Schwestern mit Fragen oder Einwendungen,die er sofort beantwortete, oder von denen er eine auswählte, um sie ausführ-lich zu behandeln (s. S. 158).

Es kam schon auch vor, daß ein Gewitter losbrach und alle zwang, sich indas Haus zu flüchten, wo dann der Heilige ruhig weiter sprach. – Man ver-sammelte sich auch zuweilen im Zimmer der Oberin. Mutter Fichet erzählt:„Unser Vater hat uns dort mehrere geistliche Unterweisungen gegeben. Da erdamals an der ‚Abhandlung über die Liebe Gottes‘ arbeitete, fragten ihn unse-re ersten Mütter, was er seit seinem letzten Besuch geschrieben habe. Er sagtees ihnen und gab ihnen dann schöne Belehrungen ... In diesem Zimmer nahmer auch Abschied von uns, als er nach Chambery ging.1 Er sprach uns vom

Zur Einführung

1 Im Jahr 1612 zu den Fastenpredigten.)

Page 16: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

15

bereitwilligen Gehorsam und von der Achtung, die wir unseren Oberen ent-gegenbringen sollen“ (Ausg. Annecy 6, 10 f).

Von den uns erhaltenen Gesprächen wurden die beiden Teile des 1. Gesprä-ches und das 11. im Haus der „Galerie“ gehalten (s. auch S. 418). Als dieses zuklein geworden und die Gemeinde vorläufig in das Haus am Kanal gezogenwar, hielt der Heilige die kleinen Versammlungen im Sprechzimmer. So war esauch später überall, besonders seit die Heimsuchung ein klausurierter Ordengeworden war. Das Sprechzimmer lag nahe an der Straße, und so konnte esvorkommen, daß der Lärm der Kinder auf der Straße so laut hineinschlug, daßder Heilige die Schwestern ersuchen mußte, ihre Fragen lauter zu stellen (s. S.322). Es kam wohl vor, daß er die Tür des Sprechzimmers schließen wollte,dann aber wieder auf seinen Platz zurückkehrte und sagte: „Draußen ist eineMenge Kinder, die mich so lieb anschauen, daß ich nicht den Mut habe, ihnendie Tür vor der Nase zu schließen.“

Der Heilige wollte zunächst nicht, daß sich die Schwestern schriftlich Noti-zen vom Gehörten machten. Er meinte, sie könnten alles in der „Abhandlungüber die Gottesliebe“ lesen. Der Inhalt dieses Buches wird wohl meistens denGegenstand der Besprechungen bestimmt haben. Jedenfalls begannen die Schwe-stern bald verschiedene, für sie besonders wertvolle Belehrungen aufzuzeich-nen. Die Schwester Fichet schrieb die ersten Gespräche aus dem Gedächtnisnach. Bald gesellte sich zu ihr die Schwester Claude Agnes Joly de la Roche,die nach dem Zeugnis der hl. Johanna von Chantal „mit einem so glücklichenGedächtnis ausgestattet war, daß sie alles, was der Heilige gesagt hatte, nocheinige Tage nachher wortwörtlich wiederholen konnte“ (Ausg. Annecy 6,12).Ihrer sorgfältigen Nachschrift verdanken wir die Gespräche aus dem Jahr 1615(2, 8, 9), 1616 (10) und 1617 (17, 22), dann die Gespräche aus dem Jahr 1618(3, 4, 12, 14, 16), aus dem Jahr 1619 (3, 21) und aus dem Jahr 1620 (6, 7, 15).In die an Gesprächen ärmere Zeit fällt die Fertigstellung der „Abhandlungüber die Gottesliebe“, die jeden freien Augenblick des heiligen Bischofs erfor-derte; deshalb verschonte die hl. Johanna von Chantal den Heiligen mit derBitte um Vorträge und mahnte auch ihre Töchter, auf die viele Arbeit ihresVaters Rücksicht zu nehmen (s. Ausg. Annecy 6, 13).

Die Schwester de la Roche reiste im Juli 1620 von Annecy ab, um dasKloster zu Orleans zu gründen. Bei diesem Anlaß gab der Heilige den Schwes-tern die schönen Aufmunterungen des 6. Gespräches (S. 87 ff). Ihre Nachfol-gerin im Nachschreiben der Gespräche war die Schwester Marguerite MarieMichel, die ebenfalls ein außerordentliches Gedächtnis besaß. „Man las ihreNachschrift in der Gemeinde vor, jede Schwester durfte ihre Bemerkungen

Zur Einführung

Page 17: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

16

dazu machen; aber fast nie hatte man irgend etwas dem hinzuzufügen, was siegeschrieben hatte“ (s. Ausg. Annecy 6, 15). Wir können wohl annehmen, daßman auch bei ihrer Vorgängerin und in Lyon so verfahren hat, sodaß eigentlichdie ganze Gemeinde die genaue Nachschrift der Schwester verbürgte. Ihr ver-danken wir die Gespräche aus dem Jahr 1621 (18, 19) und eines von 1622 (5).Die Schwestern von Lyon endlich sammelten mit größter Genauigkeit dieAntworten und Aussprüche, die uns im 23. und 24. Gespräch erhalten sind.

Selbstverständlich wurden die Nachschriften der Gespräche abgeschriebenund den verschiedenen Klöstern des Ordens zugeschickt. In der Korrespon-denz der hl. Johanna von Chantal wird das oft erwähnt (s. Ausg. Annecy 6, 14f). Schon im Jahr 1624, zwei Jahre nach dem Tod des Heiligen wurden dieGespräche in jedem Kloster einmal jährlich im Speisesaal vorgelesen (ebd. 6,16). Im selben Jahr denkt die hl. Johanna Franziska von Chantal daran, sieabdrucken zu lassen (ebd. 6, 17). Die vielen Arbeiten und Reisen hinderten siean der Verwirklichung ihres Planes, bis sie plötzlich im Jahr 1628 erfährt, daßdie Gespräche von einem Kloster an Freunde ausgeliehen worden waren und inDruck erscheinen sollten. Tatsächlich erschien das Werk im Mai 1628 in Lyon.Als die Heilige es in Händen hatte, war sie entsetzt, sowohl über die vielen denSinn ganz entstellenden Druckfehler, wie auch über die Freiheit, die sich dieDrucker nahmen, vieles zu veröffentlichen, was nicht für die Öffentlichkeitbestimmt war und von dieser verkehrt verstanden werden mußte. Mit der ge-wohnten Energie betrieb sie also eine Neubearbeitung der Gespräche und denDruck derselben, die dann im Jahr 1629 unter dem Titel „Die wahren geistli-chen Gespräche des seligen Franz von Sales ...“ in Lyon bei Coeurssilly er-schien. Diese Ausgabe der Gespräche wurde dann ungezählte Male nachge-druckt und in die meisten europäischen Sprachen übersetzt.

Die hl. Johanna von Chantal und ihre Berater gingen bei der Bearbeitungder Gespräche nach folgenden Grundsätzen vor: 1. es mußte alles ausgemerztwerden, was bei solchen, die dem Orden nicht gewogen waren, Anstoß erregenkonnte; 2. mußte die Ausdrucksweise verfeinert werden. Die familiären Aus-drücke mußten verschwinden; 3. sollte durch Hinzufügung von größeren Ab-schnitten aus den übrigen Werken des Heiligen das Buch an Majestät undErhabenheit gewinnen. – Den ersten zwei Grundsätzen ist ein großer und dazunoch der lebendigste, unmittelbarste Teil des Textes zum Opfer gefallen, der 3.Grundsatz hat zum Einschub von größeren Stellen aus Predigten und Briefendes Heiligen (etwa einem Achtel des Textes) geführt und dazu, daß aus geistli-chen Plaudereien Konferenzen gestaltet wurden und somit der wahre Charak-ter der Gespräche verwischt wurde.

Zur Einführung

Page 18: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

17

Zur Zeit der hl. Johanna von Chantal mochte es wohl nicht angebracht sein,die Gespräche anders herauszugeben, als sie es getan hat.

Heute ist der hl. Franz von Sales Kirchenlehrer, der Orden der Heimsu-chung einer der angesehensten Orden der Kirche; außerdem steht uns heuteder Sinn weniger nach Erhabenheit als nach Wahrheit und Leben. Es warsomit zu erwarten, daß man jetzt wieder auf den ursprünglichen Text zurück-gehen und alle Zusätze und Abänderungen entfernen würde. Das geschah inder großen Ausgabe von Annecy im Jahr 1895 nur zum Teil in den Fußnotenund im Anhang, wurde aber in der neuesten, von der Heimsuchung von Anne-cy als „vollständig und endgültig“ erklärten Ausgabe von 19331 nachgeholt,die auch von uns übersetzt wurde.

I I I . Inhalt der GesprächeI I I . Inhalt der GesprächeI I I . Inhalt der GesprächeI I I . Inhalt der GesprächeI I I . Inhalt der Gespräche2

Der Rahmen der Gespräche ist sehr weit gespannt. Er umfaßt nicht nur dieeigentlichen Übungen des Ordenslebens, in das der Heilige seine Töchter ein-führen wollte, sondern das geistliche Leben überhaupt im weitesten Sinne desWortes, dessen wesentliche Gesetze ja im Ordensleben gleiche Geltung habenwie im Leben der Frommen in der Welt.

1. Das „Stirb und werde“ gilt ja für alle, die dem göttlichen Meister folgenwollen, der gesagt hat: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst,nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Lk 9,23). Das leiderheute ganz abgegriffene und in seiner Bedeutung verengte Wort „Abtötung“ist eine schwerwiegende Angelegenheit für jeden Christen und natürlich inerster Linie für die Ordensleute, die mit dem Christsein ganz Ernst machenwollen. Das muß auch die Absicht sein, wenn man ins Kloster geht; jedenfallsaber muß dies das eine große Ziel sein, wenn man im Kloster bleiben will: „Unsniederreißen, uns kreuzigen, oder vielmehr uns von Gott niederreißen undkreuzigen lassen, damit er uns dann auch neu aufbaue als lebendige Tempelseiner göttlichen Majestät“ (S. 306). „Wer bei uns eintritt, kommt ja nur, umsich abzutöten. Das Kreuz, das wir auf der Brust tragen, erinnert uns ständigdaran“ (288). „Wir müssen sterben, damit Gott in uns lebe. Es ist unmöglich,die Vereinigung der Seele mit Gott auf einem anderen Weg als auf dem derAbtötung zu erreichen. Die Worte ‚man muß absterben’ sind bitter; dieser

Zur Einführung

1 Entretiens de Saint François de Sales, d’après les anciens manuscrits, publiéspar la Visitation d’Annecy, Annecy 1933.

2 Das Verzeichnis aller in den Gesprächen behandelten Fragen ist in derInhaltsangabe und im Register gegeben. Hier war man nur bestrebt, die großeLinie der Gedankengänge des Heiligen in seinen Gesprächen herauszuarbei-ten.

Page 19: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

18

Bitterkeit folgt aber eine große Süße auf dem Fuß; denn dieses Sterben verei-nigt uns mit Gott. Der alte Adam ist kein Gefäß für den edlen Wein dergöttlichen Liebe und muß daher zertrümmert werden“ (308).

So kommt denn der Heilige zu seinen Töchtern und zeigt ihnen, was sie ansich zertrümmern, worin sie sich absterben sollen. Predigt er in ihrer Kirche,dann zeigt er vor allem die Schönheit der Tugend und lockt zum Gotteslob.Sitzt er aber in ihrer Mitte, dann arbeitet er dort als Chirurg, schneidet,brennt, legt Umschläge und Pflaster auf die Wunden seiner Töchter, auchwenn es ihnen weh tut (240 f).

Denn man kommt nicht schon als Heiliger ins Kloster, sondern um heilig zuwerden. Sind auch alle noch so guten Willens, so bleiben ihnen doch so man-che Fehler, selbst den Oberinnen. Und der Heilige zählt sie in seiner lieben,fein ironischen Weise auf. Man könnte aus den „Gesprächen“ eine ganze Blü-tenlese kleiner Schwächen zusammenstellen,1 wie sie sich auch in den eifrig-sten Klöstern und bei den frömmsten Seelen finden.

Er unterscheidet aber wohlweislich zwischen Neigungen und Anhänglichkeit(109), zwischen dem, was sich in den unteren, den Sinnen verhafteten Schich-ten der Seele abspielt (Gefühle, Neigungen, Abneigungen), und dem, was inden höheren, von der Vernunft erleuchteten und vom freien Willen geleitetenZonen des Seelenlebens vor sich geht (s. 43, 48 usw.), zwischen den Fehlern,die aus diesen niederen Seelenschichten hervorbrechen, unseren schwachenWillen niederringen oder auch uns überrumpeln, bevor wir nur die Zeit haben,sie zu bemerken, – und den Fehlern, die tiefer sitzen, die unseren Willen zumbewußten Komplizen haben, von denen man nicht lassen will oder gegen dieman zum mindesten nicht den Mut und die Entschiedenheit aufbringt, die zuihrer Überwindung notwendig wären.

Wir sind Menschen, auch im Kloster, auch die Oberen sind es, auch dieHeiligen waren es (Franz von Sales führt oft Fehler von Heiligen an undkommt damit den Forderungen zuvor, die man heute an Heiligenleben stellt);deshalb werden wir immer Fehler der ersten Art begehen. Damit müssen wiruns abfinden und dürfen nicht den Mut verlieren. – Andererseits heißt es aber:1. Sein Leben lang mit aller Entschiedenheit kämpfen, um jede Anhänglich-keit zu Sündhaftem in uns auszumerzen, ja uns all dessen zu entäußern, woranunser Herz hängt, weil wir Gott nur allein anhangen dürfen (43 ff, 109 ff), –2. seine Leidenschaften und Launen im Zaum halten, sie durch die Vernunft

Zur Einführung

1 s. Jacques Leclercq, Saint François de Sales, Docteur de la perfection,Paris 1928, S . 157-184.

Page 20: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

19

in ihre Schranken zwängen, damit der Glaube und die Vernunft uns führe undnicht blinde Mächte der Stimmungen und Leidenschaften uns hin- und her-zerren (S. 51 usw.).

Deshalb brauchen wir eine starke, hochherzige Frömmigkeit, deshalb mußunsere Frömmigkeit auch innerlich sein (42 f), d. h. wir müssen alles mit derVernunft (42 f, 50 ff), nicht mechanisch tun, deshalb gibt es keine Demut, dienicht zugleich von der Hochherzigkeit begleitet ist (78 f), deshalb die energi-sche Ablehnung alles Weichlichen, alles Rührseligen, aller Verzärtelung seinerselbst und der anderen (61, 209 ff), deshalb die betonte Forderung einer dieäußere Haltung wie das Seelenleben bestimmenden Beherrschtheit (120 ff),daher die nur nebensächliche Bedeutung des Gefühlslebens, auch des religiö-sen Gefühlslebens, der „Tröstungen“ und geistlichen Freuden, da nicht diese,sondern Vernunft und Glaube uns zu führen haben (48, 52, 102 usw.).

2. So muß man also sich absterben, damit Gott in uns lebe (308). DasSterben ist die Vorbedingung, das Leben in und für Gott, die restlose Hingabean Gott ist das Ziel, die Hauptaufgabe unseres Lebens.

Sich Gott hingeben heißt nicht mehr die Launen und Leidenschaften, son-dern nur mehr Gottes Willen gelten lassen und mit aller Liebe und Sorgfaltalles tun, was er durch seinen in den Geboten, Räten, Regeln, Eingebungenausgesprochenen Willen verlangt. Es heißt das für Ordenspersonen, die ihreRegeln aufs gewissenhafteste befolgen (187 ff) und den Gehorsam ganz heilignehmen, ihn aus Liebe, ohne Rücksicht auf die Person des Oberen, bereitwil-lig und beharrlich erfüllen, weil man in ihm Gottes Willen sieht (29 ff); esheißt das für alle, die Gebote des Herrn, besonders das der Nächstenliebe bisin die letzten Feinheiten üben (65 ff, 116 ff, 224 ff).

Sich Gott hingeben heißt ferner mit ganzer Seele dem zustimmen, was Gottin seinem göttlichen Wohlgefallen in uns und um uns zuläßt (42 ff), allesWiderwärtige mit allen Umständen und Begleiterscheinungen willig anneh-men (44 ff, 104 usw.), nicht verzärtelt und empfindlich sein (209 ff), in allemzur Verfügung der göttlichen Vorsehung stehen, „nichts verlangen, nichts ab-schlagen“(104 ff), unser ganzes Vertrauen auf Gott setzen (40 ff, 60 ff), so beiallem sorgfältigen Mühen um unsere Vollkommenheiten doch sorglos sein,weil man alles Gott überläßt, von dessen Gnade man alles erwartet, und des-halb nicht ängstlich besorgt ist um Mittel, heilig zu werden, sich nicht immerumsieht, welche Fortschritte man gemacht hat, sondern einfach und schlichtseine Pflicht tut und alles übrige Gott überläßt (60 ff, 98 ff, 174 f, 191 ff).

Das ist die heilige Einfachheit, der die ganze Liebe des Heiligen gilt, Gottund sonst nichts, oder vielmehr Gott und alles in und für Gott.

Zur Einführung

Page 21: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

20

I N H A LI N H A LI N H A LI N H A LI N H A L T S - Ü B E R S I C H TT S - Ü B E R S I C H TT S - Ü B E R S I C H TT S - Ü B E R S I C H TT S - Ü B E R S I C H T

Vorwort 5Zur Einführung 6

1. G e s p r ä c h : Die Verpflichtung der Satzungen unddieEigenschaften der Frömmigkeit 29I. Die Verpflichtung der Satzungen 29

1 . Aus Verachtung fehlen ist schwere Sünde und wird von Gott schwerbestraft. – 2. Wann Verachtung, – 3. dann immer Sünde. – 4. Kennzei-chen der Verachtung. – 5. Verachtung nur einiger Regeln. – 6. Gottverhüte dies. – 7. Übertretung aus Schwäche. – 8. Aus Vergeßlichkeit.– 9. Aus Liebe beobachten.

II. Die Eigenschaften der Frömmigkeit 351. Innerlich, – 2. stark, – 3. hochherzig.

III. Liebe zur Genossenschaft 39

2. G e s p r ä c h : Vertrauen und Hingabe 40I. Vertrauen und Kenntnis der eigenen Armseligkeit 40II. Hingabe unser selbst 42

1. Sich entsagen und Gott hingeben, nichts vorbehalten. – 2. Gottesausgesprochener Wille und der Wille seines Wohlgefallens. – 3. Woman dem einen wie dem anderen nachkommen muß (Bsp. Krankheit).– 4. In Widerwärtigem, in der Abneigung. Verhalten bei Abneigungen.– 5. Innerliche Haltung einer Gott hingegebenen Seele. – 6. Vertrauender Gott hingegebenen Seele. – 7. Kann der Wille ganz absterben? – 8.Das Gebet der Ruhe in einer vollkommenen Seele. – 9. Der Grundunseres Vertrauens.

3. G e s p r ä c h : Predigt am Oktavtag der unschuldigenKinder 49I. Gleichmut beim ständigen Wechsel der Dinge 50

1. Die wechselnden Launen beim Wechsel der Dinge durch Vernunftüberwinden. – 2. Auch im geistlichen Leben sich von der Vernunftbeherrschen lassen. – 3. Gleichmut. – 4. Bsp. der heiligen Familie. –5. Sofort und ohne Bedenken gehorchen. – 6. Gelassenheit von Josefund Maria.

II. Die Führung unserer Vorgesetzten hochschätzen! 561. Von Gott uns gegeben. – 2. Die geistlichen „Gehilfinnen“ – 3. War-um der Herr sich nicht selbst um seine Familie annimmt. – 4. DieRangordnung in der heiligen Familie.

Page 22: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

21Inhaltsübersicht 4.-6. Gespräch

III. Vertrauen auf die Vorsehung 601. Die Sorge um uns dem Herrn überlassen. – 2. Auch um das geistlicheLeben. – 3. Sorgfältiges Mühen und Sorglosigkeit. – 4. Beim Gehor-sam keine Widerrede. – 5. Einfach gehorchen, auch wenn uns ein Amtgegeben wird.

4. G e s p r ä c h : Herzlichkeit und Geist der Demut 65A. Herzlichkeit

I. Worin besteht die herzliche Liebe? 651. Freundschaft setzt Vernunft voraus, – 2. und eine gewisse Überein-stimmung. – 3. Sie wurzelt im Herzen. – 4. Begleiterinnen der Liebe,die Freundlichkeit und Geselligkeit.

II. Liebe ohne ungeziemende Vertraulichkeit, heilige Liebe 70III. Einige Fragen 70

1. Über das Lachen. – 2. Über die Abneigung. – 3. Alle mit gleicherLiebe lieben. – 4. Kindliches Vertrauen zu ihnen hegen. – 5. Bei Ver-stößen dagegen nicht verzagt sein. B. Vom Geist der Demut 74

1 . Was der Geist der Demut ist. – 2. Lachen bei Schuldbekenntnis.– 3. Über Fehler anderer nicht denken noch reden. – 4. Wie manDemutsgesinnung erlangt. – 5. Vieles nur Anregung nicht Pflicht. – 6.Innige Liebe.

5. G e s p r ä c h : Die Tugend der Hochherzigkeit 781. Demut und Hochherzigkeit. – 2. Ohne Hochherzigkeit keine echteDemut. – 3. Demütig sein heißt auf Gott vertrauen. – 4. Reue mußVertrauen und Hochherzigkeit einschließen. – 5. Darf man niemalszweifeln, tun zu können, was verlangt wird? – 6. Keine Rührseligkeit! –7. Zu hoher Vollkommenheit berufen! – 8. Verhalten bei geistlicherDürre und Dunkelheit. – 9. Wann Zorn zu beichten ist.

6. G e s p r ä c h : Über die Neugründungen und die Tugendder Hoffnung 87

1. Abrahams Hoffnung. – 2. Apostelamt und Apostelverdienst derSchwestern. – 3. Mut und Gottvertrauen! – Nichts verlangen, nichtsabschlagen! – 4. Keine Trennung, alle gehen und alle bleiben. – 5. ZumGehen wie zum Bleiben ist Tugend notwendig. – 6. Nicht grübeln, obman die Fähigkeit für ein Amt besitzt. – 7. Wohlgerüche der Tugendverbreiten.

Page 23: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

22 Inhaltsübersicht 7.-10. Gespräch

7. G e s p r ä c h : Die drei Geistlichen Gesetze 97Einleitung: Die Gesetze der Tauben.

I. Ich will mich Gott hingeben, wie er sich mir hingibt 981. Sich Gottes Fürsorge überlassen. – 2. Seine Pflicht tun, keine Wün-sche. – 3. Keine Geschäftigkeit. – 4. Keine Sorge um unseren Fort-schritt . – 5. Den Heil igen fehlten viele Mittel zur Heil igkeit . –6. Fühlbarer Eifer nicht notwendig.

II. Je mehr du mir nimmst, desto mehr gebe ich dir 1041. Ijob. – 2. Von Gott die Mittel zur Vollkommenheit sich nehmenlassen. – 3. Unser Kreuz tragen. – 4. Auf geistliche Freuden verzich-ten.

III. Nur ein Lied: „Der Name des Herrn sei gebenedeit!“ 106Schluß: Inhalt der Gesetze ist die Liebe.

8. G e s p r ä c h : Loslösung von „Mein und Dein“ 1091. Hängen am „Mein und Dein“ kommt von Selbstüberschätzung. –2. Den Eigenwillen im gemeinsamen Willen aufgehen lassen. – 3. DieseLoslösung bis ins Einzelne vollziehen. – 4. Verhalten bei Tadel. –5. Alles freudig tun. – 6. Verhalten bei Versuchungen. – 7. Stufen derLoslösung. – 8. Loslösung von äußeren und leiblichen Gütern, vonHerzensgütern und vom Ruf. – 9. Losschälung von lieben Menschen. –10. Tugend ist nichts Schreckliches. – 11. An keinem Fehler hängen. –12. Verehrung für Obere und Vertrauen zu ihnen.

9. G e s p r ä c h : Die Liebe zu den Geschöpfen 1161. Natürliche und übernatürliche Liebe. – 2. Trotz Widerstrebens Lie-be bezeigen. – 3. Wir meinen jemand für Gott zu lieben. – 4. Unsfreuen, wenn andere eine Tugend üben. – 5. Die Glocke, Gottes Ruf. –6. Unnütze Worte. – 7. Wir wissen nicht um unseren Fortschritt. –Demut und Liebe.

10. G e s p r ä c h : Über die Bescheidenheit 120Einleitung: Die vierfache Bescheidenheit.

I. Der äußere Anstand 1201. Wichtige Tugend. – 2. Zeit und Ort bestimmen ihre Übung (Ar-senius).

II. Die geordnete innere Haltung 1241. Innere Ruhe und Beherrschung, – 2. Beherrschtheit des Verstandes.– 3. Viele Worte machen. Äußerer Anstand beim Beten. – 4. NichtsGemachtes!

III. Bescheidenheit im Reden und Umgang 127

Page 24: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

23Inhaltsübersicht 11.-13. Gespräch

IV. Bescheidenheit in der Kleidung 128Anhang: Verschiedene Fragen 128

1. Was tun, wenn uns ein Tadel ärgert? – 2. Gebet, Zerstreutheit. –3. Wie man zur Gottesliebe kommt. – 4. Wie man Gott und den Obe-ren einfach und rein gehorchen lernt. – 5. Dürfen Obere etwas gegenGottes Gebote verlangen? – 6. Wie man Entschlüsse festigt. – 7. Be-stimmte Gedanken bei Weihwasser usw. – 8. Vorsätze, die man wahr-scheinlich nicht halten wird. – 9. Einfalt oder Liebe?

11. G e s p r ä c h : Der Gehorsam 1401. Was Gehorsam ist. – 2. Seine Eigenschaften, Bsp. beharrlichen Ge-horsams (Pachomius). – 3. Versuchungen gegen den Gehorsam. –4. Unseren Verstand in Zucht halten. – 5. Beispiel des Herrn. –6. Hochherziges geistliches Leben. – 7. Geschmeidigkeit. – 8. Die Lie-be gibt den Dingen den Wert. – 9. Darf man besondere Gebete verrich-ten?

12. G e s p r ä c h : Die Tugend des Gehorsams 1401. Die 3 Arten und die 3 Eigenschaften des Gehorsams. – 2. Die 3Bedingungen des blinden Gehorsams. – 3. Erste Bedingung: Man ge-horcht nur, wenn nichts gegen Gottes Gebote befohlen wird, – 4. siehtaber nicht auf die Person des Befehlenden. – 5. Zweite Bedingung:Man fragt nicht nach Absicht und Zweck des Befehles. – 6. Man fragtnicht nach Mitteln, den Befehl auszuführen. – 7. Der rasche, bereit-willige Gehorsam. – 8. Der beharrliche Gehorsam. – 9. Der Wert desGehorsams. – 10. Lohn des Gehorsams.

Anhang: Verschiedene Fragen 1611. Ist man unter Sünde verpflichtet, alles zu tun, was angeordnet ist? –2. Muß man jede Verfehlung gegen den Gehorsam beichten? – 3. Wiekann man den Gehorsam lieben lernen? – 4. Darf man beim Oberin-nenwechsel Vergleiche anstellen? – 5. Darf man sich über Obere abfäl-lig äußern? – 6. Darf man den Gehorsam leichter nehmen, wenn manlange im Kloster ist? – 7. Darf man über Demütigungen mit Schwe-stern sprechen? – 8. Überwindung des eigenen Urteils. – 9. Soll maneinander auf Fehler aufmerksam machen? – 10. Auch auf Fehler beimChorgebet?

13. G e s p r ä c h : Über die Einfachheit 1731. Das Wesen der Einfachheit. – 2. Eine rein christliche Tugend. –3. Sie hält das Sorgen um die Mittel nach Vollkommenheit fern. –4. Sie schließt die anderen Beweggründe aus. – 5. Sie verträgt sich mitder Klugheit; – 6. verlangt nicht, daß man seine Leidenschaften offen-bare. – 7. Sie kommt nicht auf das Geschehene zurück. – 8. Sie ver-schweigt nichts der Oberin. – 9. Einfachheit im Gespräch. – 10. Über-

Page 25: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

24 Inhaltsübersicht 14.-16. Gespräch

läßt den Ausgang der Vorsehung. – 11. Antwortet wahrheitsgemäß. –12. Unsympathischen Menschen Beweise der Liebe geben? – 13. VonFehlern anderer die Oberin benachrichtigen? – 14. Soll die Oberintadeln? – 15. Die Oberin auf ihre Fehler aufmerksam machen? –16. Sich von der Oberin einfach führen lassen? – 17. Nur eine Liebe,Gott. – 18. Klugheit in der Welt. – 19. „Klugheit der Schlange“.

14. G e s p r ä c h : Über den Geist der Regel 187I. Vom Ordensgeist überhaupt 187

1. Geist des Elija. – 2. Der Geist der verschiedenen Orden. – 3. Ge-meinsames Ziel, gleiche Mittel; die Gelübde.

II. Geist der Heimsuchung 1911. Demut und Sanftmut. – 2. Nicht mehr tun. – 3. Die Regel ganzpünktlich beobachten. – 4. Was nicht zur Regel gehört. – 5. Deswegennicht ärmer an Verdienst. – 6. Länger im Chor bleiben. – 7. Dasselbetun wie die Gemeinde. – 8. Liebe zur Regel. – 9. Beispiel: Maria undJesus. – 10. Treue aus Liebe. – 11. Keine Ausnahmen für die Kräftigen.– 12. Die Darstellung Jesu im Tempel.

15. G e s p r ä c h : Über Selbstverzärtelung und Eigensinn 204I. Ist es gegen die Vollkommenheit, an der eigenenAnsicht zu hängen? 204

1. An der eigenen Ansicht hängen. – 2. Vorgesetzte müssen sich einUrteil bilden. – 3. Menschen, die am Urteil hängen. – 4. Wie Überwin-den? – 5. Das innerliche Gebet. – 6. Verzicht auf eigene Ansicht.

II. Selbstverzärtelung 2091. Affektive und effektive Liebe. – 2. Wir lieben auch uns auf diesezwei Weisen. – 3. Die Schwester mit dem beschämenden Gebrechen. –4. Nicht alle kleinen Beschwerden der Oberin vortragen. – 5. Wenneine Schwester sich nicht ausspricht. – 6. Seelische Verweichlichung. –7. Einfachheit mit der Oberin. – 8. Nicht weich sein. – 9. MürrischeOberinnen. – 10. Schmeicheln. – 11 Tatliebe und Gefühlsliebe.

III. Verschiedene Fragen 2191. Entbehrungen annehmen. – 2. Wenig haben wollen. – 3. Essen, wasvorgesetzt wird. – 4. Bitten um das, was man braucht. – 5. Aufpassen,ob einer Schwester etwas fehlt? – 6. Der Oberin eine feinere Serviette?– 7. Einfachheit und Hochherzigkeit.

16. G e s p r ä c h : Über die Nachgiebigkeit und dengöttlichen Willen 224I. Nachgiebigkeit gegen Vorgesetzte und Untergebene 224

1. Der ausgesprochene Wille Gottes und der Wille seines Wohlgefal-lens. – 2. Gegen andere nachgiebig sein, – 3. wenn ihr Wille natürli-chen Neigungen entspringt.

Page 26: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

25Inhaltsübersicht 17.-18. Gespräch

II. Über die Beichte 2301. Ehrfurcht vor Beichtvätern. – 2. Rat gegen die Regel. – 3. ÜberBeichtväter sich nicht beklagen. – 4. Rechenschaft bei der Oberin. –5. Genauigkeit bei der Beichte. – 6. Bei der Beichte aufrichtig undeinfach sein. – 7. Ehrfurcht vor den Predigern.

III. Abtötung der Eigenliebe 2371. Nach Liebkosungen der Oberin verlangen. – 2. Die zweifache Liebeund Meinung. – 3. Abtötung lieben, keine Weichlichkeit.

17. G e s p r ä c h : Verschiedene Fragen 240Einleitung: Barbier und Wundarzt.

I. Über die Abneigungen 2411. Beichtväter, die nicht wissen, was Abneigung ist. – 2. Was Abnei-gungen sind. – 3. Darf ich anderen ausweichen? – 4. Mittel gegen dieAbneigung, die Ablenkung.

II. Beklagen bei Mitschwestern 244III. Über die Bücher, die man uns zu lesen gibt 245IV. Über die Ohrenbläserei 246V. Fehler von Mitschwestern und Vorgesetzten 248VI. Die Oberin im Sprechzimmer 254VII. Wie man den Geist der Heimsuchung bewahren kann 257

18. G e s p r ä c h : Was beim Abstimmen über die Einkleidungund Profeß der Schwestern zu beachten istI. Über den Beruf 258

1. Warum viele ins Kloster gehen. – 2. Was Beruf ist. – 3. Wenn derWunsch wankt. – 4. Wie Gott beruft.

II. Eigenschaften, die für die Zulassung notwendig sind 2701. Für die erste Aufnahme ins Kloster. – 2. Für die Aufnahme insNoviziat. – 3. Für die Zulassung zur Profeß.

III. Fragen der Schwestern 2751. Eine verdrossene Novizin, – 2. über jeden Tadel aufgeregt, – 3. dieden Eintritt bereut, – 4. die über alles lacht. – 5. Wie man Charaktereunterscheiden kann. – 6. Darf man eine Novizin auf die Probe stellen?– 7. Wenn sie die Eltern gedrängt haben? – 8. Die nicht herzlich ist? –9. Mit der Oberin über die Novizinnen sprechen? – 10. Denen diePflicht schwer ist, – 11. die heimgehen möchten, – 12. die der Oberinzuliebe handeln, – 13. die taub sind, – 14. die schmeicheln, – 15. dieviel krank sind.

Page 27: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

26 Inhaltsübersicht 19. Gespräch-24.

19. G e s p r ä c h : Über die heiligen Sakramente 2831. Was sie sind und bewirken. – 2. Vorbereitung. – 3. Aufopferung derheiligen Kommunion. – 4. Gewinn aus den heiligen Sakramenten. –5. Öftere Kommunion. – 6. Wenn man über uns spricht. – 7. KeineÄngstlichkeit. – 8. Das heilige Offizium.

20. G e s p r ä c h: Predigt am Fest des hl. Josef 291

21. G e s p r ä c h: Über die Absicht beim Eintrittins Kloster 305

1. Verkehrte Absichten. – 2. Niederreißen und kreuzigen lassen. –3. Uns absterben. – 4. Gewissenhafte Beobachtung der Regel. –5. Leidenschaften überwinden. – 6. Die anderen nicht überflügeln wol-len. – 7. Glücklich sein. – 8. Öfter kommunizieren als die Gemeinde?

22. G e s p r ä c h: Die fünf Stufen der Demut 313

23. G e s p r ä c h: Letzte Unterredung unseres seligen Vatersüber verschiedene Fragen der Schwestern von Lyon 315I. Die Vorgesetzten 315II. Wunsch nach Ämtern und Wünsche überhaupt 316III. Richtig beichten 323IV. Mahnung und Tadel 327

Gegenwart Gottes. – Nichts verlangen, nichts abschlagen.

24. Antworten und Aussprüche unseres seligen Stifters,gesammelt im Kloster zu Lyon 330

1. Seelenfrieden. – 2. Oberinnenwechsel. – 3. Eine Generaloberin? –4. Irdische Angelegenheiten. – 5. Verköstigung des Beichtvaters. –6. Armut und Einfachheit. – 7. Über die Oberinnen. – 8. Das kleineOffizium. – 9. Beichte der Unvollkommenheiten. – 10. Reueakt. –11. Rekreation. – 12. Gedanken über andere. – 13. Gutes verschwei-gen. – 14. Gebet. – 15. Gegenwart Gottes. – 16. Furcht vor dem Tod;Befriedigung beim Essen. – 17. Schlaf beim Gebet. – 18. Vorbereitungauf die heilige Kommunion. – 19. Läßliche Sünden. – 20. Kommunion.– 21. Treue. – 22. Unvollkommenheiten anderer. – 23. Oberin. –24. Gebet. – 25. Rekreation. – 26. Einfachheit. – 27. Versuchungen. –28. Verzichten. – 29. „Nichtkönnen“. – 30. Sitzen beim Gebet. –31. Grübeln. – 32. Führung. – 33. Bedürfnisse des Leibes. – 34. Wunschnach Regeltreue. – 35. Gefühl der Befriedigung. – 36. Längere Gesprä-che. – 37. Demut. – 38. Helfen können. – 39. Liebe. – 40. Ungern vonsich reden. – 41. Keuschheit. – 42. Wort Gottes. – 43. Gott dienen. –44. Geistige Nahrung aus dem Glauben. – 45. Freude und Bitternis. –

Page 28: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

27Inhaltsübersicht 25.-Schluß

46. Erniedrigung. – 47. Alles zur Ehre Gottes. – 48. Ruhig bleiben. –49. Eigensinn. – 50. Kleinliche Wünsche. – 51. Kranke. – 52. Gehor-sam. – 53. Nur Gott dienen. – 54. Achtung gegen alle. – 55. Predigtund Beichte. – 56. Ausbreitung des Ordens. – 57. Geist Gottes. –58. Geduld. – 59. Vertrauen zur Oberin. – 60. Uneheliche Kinder. –61. Chorgebet. – 62. Zuwenig essen. – 63. Mit Lust essen. – 64. Lau-nenhafte Schwestern. – 65. Gebrechliche.

25. G e s p r ä c h: Was der selige Vater der SchwesterClaudia-Simplicienne gesagt hat 350

26. G e s p r ä c h: Auszug aus der Geschichte der „Galerie“ 352

Anmerkungen 355

Namenregister 366

Page 29: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

28 Vorwort

Page 30: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

29

E S L E B E J E S U S!

1. GesprächDie VDie VDie VDie VDie Verpflichtung der Satzungen und die Eigenschaferpflichtung der Satzungen und die Eigenschaferpflichtung der Satzungen und die Eigenschaferpflichtung der Satzungen und die Eigenschaferpflichtung der Satzungen und die Eigenschaften derten derten derten derten der

FrömmigkeitFrömmigkeitFrömmigkeitFrömmigkeitFrömmigkeit11111

I .I .I .I .I .

1. Die Regeln und Satzungen verpflichten an sich weder unter schwe-rer noch läßlicher Sünde; sie sind den Mitgliedern der Genossenschaftnur zu ihrer Leitung und Richtschnur gegeben.2

Würde man sie aber freiwillig, mit Absicht und aus Geringschätzungübertreten oder den Schwestern und Weltleuten Ärgernis geben, so wür-de man sich ohne Zweifel eines schweren Fehlers schuldig machen;3

denn wie könnte man den von schwerer Schuld freisprechen, der soweit geht, Göttliches zu entehren, seinen Stand zu verleugnen, den Or-den zu erschüttern und die Früchte des guten Beispiels und Wohl-geruches der Heiligkeit zu vergeuden und zu verderben?

Wer so mit Überlegung die Regel verachtet, den wird Gott gewißschwer strafen, vor allem mit der Entziehung der Gnadengaben desHeiligen Geistes, welche für gewöhnlich jenen genommen werden, dievon ihren guten Vorsätzen ablassen und von dem ihnen von Gott vorge-zeichneten Weg abweichen.

2. Die Verachtung und Mißachtung der Regel und Satzungen oderirgend eines anderen guten Werkes läßt sich auf Grund folgender Erwä-gungen feststellen:

Aus Verachtung vergeht man sich gegen eine Vorschrift, wenn mansie nicht nur freiwillig, sondern vorsätzlich verletzt oder außer achtläßt. Denn wenn man sie aus Unachtsamkeit, aus Vergeßlichkeit über-tritt oder von einer leidenschaftlichen Aufwallung überrumpelt wird,so ist die Sache anders zu beurteilen. Es ist z. B. verboten, ohne Erlaub-nis die Pforte zu überschreiten. Wenn nun die Pförtnerin Fremde ein-läßt und dabei, ohne überlegt zu haben, hinausgeht oder wenn sie Vateroder Mutter unerwartet vor der Pforte sieht und in freudiger Erregungauf sie zueilt, ohne an die Vorschrift zu denken, so verletzt sie die

Page 31: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

30 1. Verpflichtung der Satzungen

Regel gewiß nicht aus Verachtung. Die Verachtung schließt ja einenwohlüberlegten Willen ein, der unbedingt entschlossen ist zu tun, waser vorhat.

Wer also aus Verachtung eine Vorschrift verletzt oder aus Verach-tung ungehorsam ist, der ist nicht nur ungehorsam, sondern der will essein; er setzt nicht nur einen Akt des Ungehorsams, sondern er handeltin der Absicht, ungehorsam zu sein. – Es ist verboten, außer den Mahl-zeiten zu essen: Ißt also eine Schwester dann Birnen, Aprikosen oderanderes Obst, so fehlt sie gegen die Regel und begeht einen Un-gehorsam. Ißt sie, verlockt vom Genuß, den sie sich verspricht, so istsie nicht ungehorsam aus Widerspenstigkeit, sondern aus Genäschig-keit. Ißt sie aber, weil sie die Regel geringschätzt und sie weder beob-achten noch sich ihr unterwerfen will, dann fehlt sie aus Mißachtungder Regel und aus reinem Ungehorsam.

Wenn jemand gegen den Gehorsam fehlt, weil er etwas nicht lassenkann oder weil ihn ein leidenschaftliches Aufwallen übermannt, sowäre er froh, wenn er seine Leidenschaft befriedigen könnte, ohne un-gehorsam zu sein. Der eine hat Lust, jetzt zu essen, zugleich tut es ihmaber leid, sich dabei gegen den Gehorsam zu verfehlen. Der andereaber, der aus Verachtung und vorsätzlich ungehorsam ist, dem ist esnicht unangenehm, ungehorsam zu sein, sondern er hat Freude daran.Bei dem einen folgt der Ungehorsam auf die Tat oder begleitet sie,beim anderen geht der Ungehorsam der Tat voraus, er ist ihre Ursache,ihr Beweggrund, er äußert sich allerdings hier in der Naschhaftigkeit.

Wer entgegen den Vorschriften ißt, begeht als Folge oder Begleit-erscheinung einen Ungehorsam, obgleich er ihn vermeiden möchte, wenner anders seine Eßlust befriedigen könnte. So möchte sich auch der Trin-ker nicht betrinken, tut es aber trotzdem. Wer jedoch in Verachtung derRegel oder aus Ungehorsam ißt, will den Ungehorsam, sodaß er die Tatweder vollbringen würde, noch Lust dazu hätte, wenn ihn nicht der Willezum Ungehorsam antriebe. So ist also der eine ungehorsam, weil er et-was will, das er nicht haben kann, ohne sich gegen den Gehorsam zuverfehlen; der andere hingegen will dasselbe nur, weil er sich damit ge-gen den Gehorsam verfehlen kann. Dem einen unterläuft der Ungehor-sam bei seinem Tun, obwohl er ihm gerne ausweichen würde. Der anderesucht ihn und setzt die Tat nur um des Ungehorsams willen. Der einesagt: Ich bin ungehorsam, wenn ich diese Aprikose esse, ich kann sie janicht essen, ohne ungehorsam zu sein. Der andere sagt: Ich esse sie, weil

Page 32: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

311. Verpflichtung der Satzungen

ich ungehorsam sein will, und ich erreiche das, wenn ich esse. Im erstenFall sind Ungehorsam und Mißachtung der Regel die Folge der Tat, imzweiten Fall sind sie ihr Beweggrund.

3. Solch ausdrücklich gewollter Ungehorsam, solche Verachtung gu-ter und heiliger Dinge gehen aber niemals ohne Sünde ab, zum minde-sten nicht ohne läßliche Sünde. Das gilt auch für all das, was uns nuranempfohlen wird; wir können diese Ratschläge auch außer acht las-sen und etwas anderes wählen, ohne Gott damit zu beleidigen; aber mitGeringschätzung und Verachtung uns darüber hinwegsetzen, das kön-nen wir nicht, ohne dabei Gott zu beleidigen. Obwohl wir nicht ver-pflichtet sind, jegliches Gute aufzugreifen, so müssen wir es doch ach-ten und hochschätzen: wir dürfen es vor allem nicht geringschätzenund heruntersetzen.

Wer also die Regeln und Satzungen aus Verachtung verletzt, der hältsie für verächtlich und unnütz, und das ist eine große Überheblichkeitund Frechheit. Wer sie wohl für unnütz hält, sie aber trotzdem nichtbefolgen will, der gibt sein Vorhaben, das Streben nach der Vollkom-menheit, auf, zum großen Schaden des Nächsten, der Anstoß und Är-gernis nimmt; er widersetzt sich der Gesellschaft, bricht das der Ge-nossenschaft gegebene Versprechen und zersetzt ein Ordenshaus – al-les grobe Verfehlungen.

4. Zur genauen Unterscheidung, ob ein Ordensmitglied aus Verach-tung und Ungehorsam gegen die Regel verstößt, seien folgende Kennzei-chen dafür gegeben:

1. sich über die Zurechtweisung lustig machen und keinerlei Reuezeigen;

2. in den Fehlern verharren, ohne sich zu bessern;3. die Zweckmäßigkeit der Regel oder des Befehles bestreiten;4. andere zu den gleichen Übertretungen zu bewegen versuchen und

ihnen die Angst davor ausreden mit der Begründung, daß es sichnur um ganz ungefährliche Kleinigkeiten handle.

Diese Kennzeichen sind jedoch nicht so untrüglich, daß sie nichtauch anderen Ursachen als nur der Verachtung entspringen könnten;es kann z. B. sehr wohl vorkommen, daß sich jemand über den Tadlerlustig macht, weil er ihn selbst geringachtet, oder daß einer aus reinerSchwäche in einem Fehler verharrt oder aus Trotz und Zorn aufbegehrtoder daß jemand andere zu gewinnen sucht, um für seinen Fehler Mit-schuldige zu haben und sich selber so zu entlasten. Immerhin kann

Page 33: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

32 1. Verpflichtung der Satzungen

man unschwer aus den Umständen erkennen, ob das alles von der Ver-achtung herrührt; denn letzten Endes sind Frechheit und offensichtli-che Ungebundenheit die gewöhnlichen Folgen dieser Verachtung. Undwer sie im Herzen trägt, der wird sie auch bald im Mund führen, wiejener, den David sprechen läßt: „Wer ist unser Gebieter?“(Ps 12,5).

5. Ich muß noch ein Wort beifügen über eine Versuchung, die uns indieser Sache begegnen kann: es mag nämlich vorkommen, daß jemandnur eine oder zwei Regeln verletzt, die ihm weniger bedeutsam erschei-nen, alle anderen aber beobachtet und sich deshalb nicht für ungehor-sam oder ungebunden hält. Mein Gott, welche Selbstüberhebung! Dennwas der eine geringschätzt, wird von anderen hochgeschätzt – und um-gekehrt. Und so wird die eine Schwester die eine Regel umgehen, dieandere wird wieder eine andere Regel übertreten, eine dritte wird sichum diese Vorschriften nicht kümmern, eine vierte um jene nicht, undso reißt die Zuchtlosigkeit ein. Wenn sich der menschliche Geist nurvon seinen Neigungen und Abneigungen bestimmen läßt, was kann daanderes herauskommen als ein ewiges Hin- und Herschwanken undalle möglichen Fehler. Gestern war ich heiter gestimmt, da fiel mir dasStillschweigen schwer und der Versucher raunte mir zu, es habe garkeinen Wert. Heute bin ich traurig gestimmt, gleich wird er mir weis-machen, daß Ablenkung und Unterhaltung erst recht wertlos seien.Gestern, da ich in gehobener Stimmung war, freute mich das Singen,heute bin ich verdrossen und mag nicht singen. Solche Beispiele ließensich noch viele anführen.

Wer also glücklich sein und nach der Vollkommenheit streben will,der muß sich daran gewöhnen, nach der Vernunft, der Regel und demGehorsam zu leben, nicht aber nach Neigungen und Abneigungen; ermuß alle Regeln hochschätzen und, wenigstens dem höheren Willennach, auch lieben. Denn verachtet er heute die eine, so verachtet ermorgen die andere und übermorgen die dritte, und ist einmal das Bandder Pflichttreue gerissen, dann bröckelt nach und nach alles ab, wasvorher zusammengehalten wurde, und geht zugrunde.

6. Gott verhüte, daß jemals eine Tochter der Heimsuchung so weitvom Weg der Gottesliebe abirre und aus Ungehorsam, Halsstarrigkeitund Herzenshärte bis zur Verachtung der Regeln hinabsinke. Was könnteihr Schlimmeres und Traurigeres widerfahren? Noch dazu gibt es sowenige Regeln, die dem Orden ausschließlich zu eigen sind. Die meis-ten von ihnen, ja fast alle, sind entweder ganz allgemeine Vorschriften,

Page 34: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

331. Verpflichtung der Satzungen

die auch Weltleute beobachten müssen, wenn sie nur in etwa gottes-fürchtig und rechtschaffen leben wollen, oder es sind Regeln, die dieeinzelnen Ämter oder die selbstverständliche Zucht und Ordnung ei-nes Ordenshauses betreffen.

Hat also eine Schwester einmal eine Abneigung oder einen Wider-willen gegen die Satzungen und Vorschriften des Ordens, so möge siesich verhalten wie auch bei anderen Versuchungen; sie soll den Wider-willen mit der Vernunft und mit einem festen und guten Vorsatz, gefaßtim oberen Teil der Seele, bekämpfen, bis Gott ihr mit seinem Trost zuHilfe kommt und sie gleich Jakob, der von seiner Reise müde underschöpft war (Gen 28,11 f), erkennen läßt, wie die Regeln und die vonihr gewählte Lebensweise die wahre Himmelsleiter sind, auf der sie,ähnlich wie die Engel auf der Jakobsleiter, zu Gott emporsteigen durchdie Demut.

7. Wenn es aber geschehen sollte, daß sie nur aus Schwachheit – nichtaus Widerwillen – die Regeln übertreten, so sollen sie sich sogleich vorUnserm Herrn verdemütigen, ihn um Verzeihung bitten, ihren Vor-satz, gerade auf diese Vorschrift recht genau zu achten, erneuern, sol-len sich vor jedem Kleinmut, jeder Unruhe des Geistes hüten und miterneutem Vertrauen auf Gott in seine heilige Liebe flüchten!

Verletzungen der Regel, die nicht einem beabsichtigten Ungehor-sam und nicht einer Mißachtung, sondern der Nachlässigkeit, Trägheit,Schwäche oder einer Versuchung entstammen, können und müssen alsläßliche Sünden gebeichtet werden oder als Handlungen, bei welchensich doch eine läßliche Sünde vorfinden könnte. Obgleich nämlich dieRegel an sich nie unter Sünde verpflichtet, kann doch eine solche vor-liegen auf Grund von Nachlässigkeit, Trägheit, Übereilung und ähnli-cher Fehler. Es kommt selten vor, daß wir etwas für unseren FortschrittHeilsames freiwillig unterlassen, ohne zu fehlen, besonders wenn wiraufgefordert und berufen sind, es zu tun. Eine solche freiwillige Unter-lassung kann nur von Nachlässigkeit, von ungeordneter Anhänglich-keit oder vom Mangel an Eifer kommen. Wenn wir schon von jedemunnützen Wort Rechenschaft geben müssen (Mt 12,36), um wie vielmehr von jeder unbeachteten Aufforderung der Regel, die wir auf dieseWeise für uns nutzlos und fruchtlos gemacht haben.

8. Ich habe gesagt, daß die Unterlassung des Guten, das uns zumFortschritt dienen könnte, selten ohne Beleidigung Gottes abgehen wird.Es kann nämlich vorkommen, daß man das Gute nicht freiwillig unter-

Page 35: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

34 1. Verpflichtung der Satzungen

läßt, sondern weil man es vergessen hat oder nicht daran dachte oderirgendwie überrumpelt wurde. Dann ist aber das keine Sünde, wedereine große noch eine kleine, es sei denn, die Sache ist so wichtig, daßwir zur Aufmerksamkeit verpflichtet sind, um sie ja nicht zu vergessenoder außer acht zu lassen. Wenn z. B. eine Schwester das Stillschweigenbricht, weil sie an etwas anderes und nicht an das Schweigen denkt oderweil das Verlangen, etwas zu sagen, sie überrascht und ihr das Worteinfach entschlüpft, bevor sie daran denkt, es zu unterdrücken, so sün-digt sie zweifellos nicht. Das Stillschweigen an sich ist nicht so wichtig,daß man so ängstlich besorgt sein müßte, es ja nicht zu vergessen. Mansoll sich ja im Gegenteil während des Stillschweigens mit frommenund heiligen Gedanken befassen; vergißt man in der Aufmerksamkeitauf diese Gedanken, daß man das Stillschweigen halten muß, so kanndoch dieses Vergessen, das einer so guten Quelle entspringt, nichtschlecht sein und ebensowenig seine Folge, die Verletzung des Still-schweigens.

Vergäße aber eine Schwester auf die Betreuung einer Kranken, diedadurch in Gefahr käme, und wäre ihr dieser Dienst in der Weise auf-getragen, daß man sich auf sie verlassen hätte, so wäre es keine Ent-schuldigung, wenn sie vorbringen wollte: „Ich habe nicht daran ge-dacht, ich habe es vergessen!“ Denn diese Sache ist so wichtig, daß manalles daran setzen muß, sie nicht zu vergessen; vergißt man sie trotz-dem, so ist dies nicht entschuldbar, da eine so wichtige Angelegenheitvollkommene Aufmerksamkeit erforderte.

9. Man darf wohl annehmen, daß die Liebe in dem Maße, als sie inden Seelen der Töchter dieser Kongregation wächst, diese auch immersorgfältiger und genauer in der Beobachtung ihrer heiligen Vorschriftenmachen wird, obgleich sie an sich weder unter schwerer noch unterläßlicher Sünde verpflichten. Verpflichteten sie unter Todesstrafe, mitwelcher Gewissenhaftigkeit würde man sie doch da beobachten! Nunist aber „die Liebe stark wie der Tod“ (Hld 8,6), also ist auch ihr An-trieb zur Durchführung eines Vorsatzes ebenso stark wie die Andro-hung der Todesstrafe. Und weiter heißt es im Hohelied: „Der Liebes-eifer ist stark und fest wie die Hölle.“ Deshalb werden die eifrigenSeelen in der Kraft dieses Eifers genau so viel, ja noch mehr tun als inder Furcht vor der Höllenstrafe. Angespornt durch die sanfte Gewaltder Liebe, werden also die Schwestern dieser Kongregation mit der

Page 36: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

351. Eigenschaften der Frömmigkeit

Gnade Gottes die Regeln ebenso gewissenhaft beobachten, als wennsie dazu unter der Strafe ewiger Verdammnis verpflichtet wären.

Sie werden immer im Gedächtnis bewahren, was Salomo im Buchder Sprüche (19,16) sagt: „Wer das Gebot achtet, bewahrt seine Seele,und wer seinen Weg vernachlässigt, wird sterben.“ Dieser „Weg“ aberist für die Schwestern die Lebensweise, zu der Gott sie berufen hat.

I II II II II I

Die Eigenschaften der FrömmigkeitDie Eigenschaften der FrömmigkeitDie Eigenschaften der FrömmigkeitDie Eigenschaften der FrömmigkeitDie Eigenschaften der Frömmigkeit44444

Die Schwestern werden sich ganz besonders bemühen, in ihrem Her-zen eine innerliche, starke und hochherzige Frömmigkeit zu nähren.

1. Ich sage: innerlich, sodaß ihr Wille mit den äußeren guten Hand-lungen, großen wie kleinen, übereinstimmt. Nichts geschehe gewohn-heitsmäßig, vielmehr sei an allem der Wille mit seiner Wahl und Zu-stimmung beteiligt. Wenn auch zuweilen auf Grund der Gewohnheitdie äußere Handlung der inneren Zustimmung vorauseilt, so muß die-se doch sofort nacheilen. Habe ich mich äußerlich vor meinem Oberenverneigt, bevor ich mich innerlich vor ihm gebeugt habe durch meinedemütige Bereitwilligkeit, ihm zu gehorchen, so muß diese innere Hal-tung die äußere begleiten oder ihr wenigstens nachfolgen. Die Töchterdes Ordens von der Heimsuchung haben wenig äußere Vorschriften,wenig Kasteiungen, wenig Zeremonien, wenig Chorgebet: So sollen siealso ihre Herzen bereitwillig und liebend dazu stimmen, sollen dasÄußere aus dem Inneren erklingen lassen und das Innere durch dasÄußere steigern. Glut erzeugt Asche, – Asche aber hütet die Glut.

2. Die Frömmigkeit der Schwestern muß stark sein:1) um die Versuchungen zu ertragen, die denen niemals erspart blei-

ben, die ernsthaft Gott dienen wollen;2) um die Verschiedenheit der Gemüter, wie sie so in der Genossen-

schaft zusammenkommen, zu ertragen; und das ist für einen schwa-chen Geist beinahe die härteste Probe;

3) stark, um die eigenen Unvollkommenheiten zu ertragen, ohne da-bei die Ruhe zu verlieren;

4) stark, um die eigenen Unvollkommenheiten zu bekämpfen; wiewir nämlich eine zähe Demut brauchen, um bei der Fülle unserer Un-

Page 37: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

36 1. Eigenschaften der Frömmigkeit

zulänglichkeiten nicht den Mut zu verlieren, sondern voll Vertrauenauf Gott zu bauen, so brauchen wir auch einen gewaltigen Mut, um eineganz gründliche Besserung und vollkommene Läuterung in Angriff zunehmen;

5) stark, um das Gerede und Urteil einer Welt zu verachten, die esnie lassen kann, an den frommen Genossenschaften herumzunörgeln,besonders bei Beginn ihres Bestehens;

6) stark, um sich unabhängig zu machen von Neigungen, Freund-schaften und Liebhabereien, ihnen nicht nachzugeben, vielmehr im Lichtder wahren Frömmigkeit zu wandeln;

7) stark, um nicht von Herzenszärtlichkeiten und Tröstungen abzu-hängen, mögen sie von Gott oder von den Geschöpfen kommen, damitwir nicht darein verstrickt werden;

8) stark, um einen ständigen Krieg zu führen mit unseren bösen Nei-gungen, Launen, Gewohnheiten und Wünschen.

3. Die Frömmigkeit muß endlich hochherzig sein,1) um sich über Schwierigkeiten nicht zu wundern, sondern inmitten

derselben an Mut zu wachsen. Der hl. Bernhard sagt: „Nur der ist wahr-haft tapfer, dessen Mut an Mühen und Hindernissen wächst“ (Epist.256 ad Eugen, § 1);

2) um den höchsten Gipfel der christlichen Vollkommenheit erklim-men zu wollen, trotz all unserer gegenwärtigen Unvollkommenheitenund Schwachheiten, indem sie sich gleich der Braut im Hohelied inabsolutem Vertrauen auf das göttliche Erbarmen stützt und zum göttli-chen Freunde spricht: „Ziehe mich und ich werde laufen im Wohlge-ruche deiner Salben“ (Hld 1,3). Damit will sie sagen: Aus mir selberkann ich mich nicht zu dir hinbewegen, ziehst du mich aber, so kannich zu dir hineilen. Der göttliche Freund unserer Seelen läßt uns oft anunseren Armseligkeiten kleben, damit wir erkennen, daß unsere Be-freiung allein von ihm kommt, und uns dann diese Freiheit als einkostbares Angebinde seiner Güte teuer sei. Wie also die hochherzigeFrömmigkeit nie aufhört, Gott zu bitten: „Ziehe mich,“ so hört sieauch nie auf, diesen Lauf hochgemut zu erstreben, zu erhoffen, zu er-sehnen, nach den Worten: „Wir werden dir nacheilen.“ Man darf nichtbetrübt sein, wenn man dem Heiland nicht sogleich eilends folgt, so-fern man nur immer bittet: „Ziehe mich,“ und den Mut hat, zu versi-chern: „Ich werde laufen.“ Denn wenn wir auch jetzt noch nicht laufen,

Page 38: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

371. Eigenschaften der Frömmigkeit

so genügt es, daß wir mit Gottes Hilfe laufen werden. Setzt sich dochdiese Kongregation gleich allen anderen nicht aus vollkommenen Men-schen zusammen, sondern aus solchen, die vollkommen werden wol-len; nicht aus solchen, die schon laufen, sondern die laufen wollen, alsolernen wollen, zuerst Schritt vor Schritt zu setzen, dann rascher zugehen, dann zu eilen und endlich zu laufen.

3) Diese hochherzige Frömmigkeit verachtet keinen und schaut ohneAufregung ruhig zu, wie der eine langsam seines Weges zieht, der ande-re läuft oder gar fliegt, je nach den Einsprechungen und dem Maße dergöttlichen Gnade, die er erhält. Der hl. Paulus gibt den Römern dieErmahnung: „Der eine glaubt, alles essen zu können, ein anderer, derschwach ist, ißt Gemüse: So soll, wer ißt, den nicht verachten, der nichtißt; und wer nicht ißt, den nicht richten, der ißt. Jeder tue nach seinerErkenntnis: Wer ißt, esse im Herrn, und wer nicht ißt, tue so im Herrn,und beide sagen: Gott Dank“ (Röm 14,2 ff). – Die Regel läßt im Schuld-bekenntnis eine gewisse Freiheit. Manche Schwestern werden daranihren Nutzen finden, andere wieder nicht. Es sollen also jene, die ihrSchuldbekenntnis ablegen, die nicht verachten, die es nicht tun, undumgekehrt. – Desgleichen ist das Geißeln nicht Vorschrift. EinigenSchwestern kann es nützlich sein, andere wieder fühlen sich dazu weni-ger angetrieben. – Die Regeln schreiben nicht viel Fasten vor. Es kannaber wohl dieser oder jener Schwester aus besonderen Gründen befoh-len werden, mehr zu fasten. Dann sollen aber die Fastenden nicht dieEssenden verurteilen, noch die Essenden die Fastenden. Und so soll esin allem gehalten werden, was weder geboten noch verboten ist. Jedehandle nach ihrer Erkenntnis, das heißt: Jede gebrauche ihre Freiheit,richte keine, die es anders macht, und stelle auch ihre Art und Weisenicht als die beste hin. Denn es kann sehr wohl sein, daß ein Essenderin gleichem Maße oder noch mehr seinem eigenen Willen entsagt alsein Fastender, und einer, der sein Schuldbekenntnis nicht ablegt, sichim gleichen Grad selbst verleugnen wie der andere, der seine Schuldbekennt.

4) die hochherzige Frömmigkeit verlangt nicht nach Gefährtinnenfür ihr Tun, sondern nur für ihre Absicht, die ja einzig nur auf die Ver-herrlichung Gottes und den Fortschritt des Nächsten in der Gottes-liebe gerichtet ist; sie ist zufrieden, wenn man nur diesem Ziel zugeht,und kümmert sich nicht um den Weg, den man geht. Sie ist zufrieden,wenn der Fastende nur Gott zuliebe fastet und der Essende nur Gott

Page 39: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

38 1. Eigenschaften der Frömmigkeit

zuliebe ißt. Sie will also die anderen nicht zu sich herüberziehen, son-dern sie geht einfach, demütig und ruhig ihres Weges. Und käme es vor,daß jemand Speise zu sich nähme, nicht aus Liebe zu Gott, sondern ausLust am Essen, oder daß jemand die Geißelung unterließe, nicht ausLiebe zu Gott, sondern aus Abneigung gegen die Bußübung, so dürftenjene, die es anders machen, doch nicht richten, sie müßten still undliebenswürdig ihren Weg gehen, ohne die Schwachen zu verurteilenoder zu verachten. Sie mögen bedenken, daß sie vielleicht bei anderenGelegenheiten ihren eigenen Neigungen und Abneigungen gegenüberebenso weichlich sind wie diese.

Allerdings müssen jene, die mit solchen Neigungen und Abneigun-gen behaftet sind, sich wohl hüten, in ihrem Reden und Verhalten ir-gend ein Mißfallen darüber zu äußern, daß die anderen es besser ma-chen. Das wäre eine grobe Ungehörigkeit. Sie sollen vielmehr im Be-wußtsein ihrer eigenen Schwachheit zu den Tugendhafteren mit heili-ger Ruhe und herzlicher Hochschätzung aufschauen. So wird dann ihreSchwäche, aus der die Demut erblüht, ihnen ebenso fruchtreich sein,wie es die Tugendübungen für die anderen sind. Wird dieser Punkt gutverstanden und beobachtet, so bleibt in der Kongregation der Geisteines wunderbaren Friedens und einer lieblichen Milde erhalten. MögeMarta recht tätig sein, ohne dabei Magdalena zu tadeln. Magdalenaihrerseits gebe sich der Beschauung hin, ohne verächtlich auf Martaherunterzusehen; denn Unser Herr tritt für die ein, die getadelt wird.

5) Wenn aber solche Schwestern, die Abneigung gegen gute, frommeund bewährte Dinge empfinden oder sich zum weniger Guten hingezo-gen fühlen, mir Gehör schenken wollen, so werden sie sich Gewaltantun und gegen ihre Abneigungen und Begierden so viel als möglichangehen, um wahrhaft zur Herrschaft über sich selbst zu gelangen undGott mit großer Selbstüberwindung zu dienen. Sie werden ihrem Wi-derstreben widerstreben, sich der eigenen Widersetzlichkeit entgegen-stellen, sich von ihren Zuneigungen abwenden, von ihren Abneigungenablenken, in allem und über allem die Vernunft herrschen lassen, be-sonders dann, wenn Zeit zum Überlegen ist. Endlich werden sie sichbemühen, ein gefügiges, lenkbares Herz zu haben, das sich gerne inallem Erlaubten unterordnet und anpaßt, das bei jeder GelegenheitGehorsam und Liebe bekundet und so der Taube gleicht, deren Gefie-der alle Sonnenstrahlen auffängt und widerspiegelt. Selig die biegsa-men Herzen, denn sie werden nie brechen!

Page 40: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

391. Liebe zur Genossenschaft

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

Die Töchter der Heimsuchung werden von ihrer kleinen Genossen-schaft immer sehr demütig reden und werden hinsichtlich Ansehen undEhre jeder anderen Kongregation den Vorzug geben, doch keiner an Lie-be. Sie werden, wo immer sich Gelegenheit bietet, gerne bezeugen, wieglücklich sie sich in diesem Beruf fühlen. Auch eine verheiratete Fraumuß ja ihren Gatten jedem anderen Mann in der Liebe vorziehen, auchwenn sie vor anderen Männern eine größere Achtung hat. Ein jederliebt sein Vaterland mehr als die anderen Länder, wenn er vielleichtauch andere höher einschätzt, und jeder Lotse liebt das Fahrzeug, das erführt, mehr als alle anderen, mögen diese auch wertvoller und besserausgestattet sein. Wir wollen freimütig zugeben, daß die anderenOrdensgemeinschaften besser, reicher und vortrefflicher sind, alleinsie sind uns deshalb weder liebenswerter noch erstrebenswerter, da derHerr bestimmt hat, daß diese Kongregation unser Vaterland und unserSchifflein sei, und weil er wollte, daß wir ihr unser Herz angelobten. Sofrage man einen, wo denn ein Kindlein am sichersten geborgen wäreund am besten die ihm zukommende Nahrung fände, und er antwortet:Im Schoß, an der Brust der Mutter; denn obwohl es einen schönerenSchoß und eine bessere Milch geben kann, gibt es doch für das Kindnichts Geeigneteres und nichts Liebenswerteres. Das Nest der Schwal-be paßt besser für sie als das des Paradiesvogels.

Page 41: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

40

2. Gespräch

VVVVVere re re re rtrauen und Hingabetrauen und Hingabetrauen und Hingabetrauen und Hingabetrauen und Hingabe11111

I .I .I .I .I .

Frage: Kann eine Seele, die ihre Armseligkeit tief empfindet, mitgroßem Vertrauen zu Gott gehen?

Antwort: Die Seele, die ihre Armseligkeit erkennt, darf nicht nur eingroßes Vertrauen auf Gott haben, sondern sie kann überhaupt keinwahres Vertrauen haben, wenn ihr diese Erkenntnis fehlt. Gerade dasErkennen und Bekennen unserer Armseligkeit führt uns bei Gott ein.Die großen Heiligen wie Ijob, David und alle anderen begannen ihreGebete mit dem Bekenntnis ihrer Armseligkeit und Unwürdigkeit. Esist also zu unserem Heil, wenn wir uns arm, klein, verächtlich und derGegenwart Gottes unwert fühlen. Das bei den Alten so berühmte Wort„Erkenne dich selbst“ (Ausspruch des Sokrates nach der Inschrift zuDelphi) bezieht sich wohl zunächst auf die Erkenntnis der Größe undVortrefflichkeit der Seele und warnt uns davor, sie durch Handlungen,die ihres Adels unwürdig sind, zu erniedrigen und zu entweihen. Aberes will auch auf unsere Unwürdigkeit, Unvollkommenheit und Armse-ligkeit bezogen sein: je mehr wir nämlich unsere Armut und Schwächeerkennen, desto mehr werden wir uns der göttlichen Güte undErbarmungen überlassen. Zwischen der Barmherzigkeit und der Arm-seligkeit besteht ja eine so starke Bindung, daß sich die eine ohne dieandere nicht auswirken kann. Hätte Gott den Menschen nicht erschaf-fen, so wäre er gewiß ganz und gar gut gewesen, aber er hätte sein Erbar-men nicht durch die Tat bewiesen, da Barmherzigkeit sich nur amErbarmungsbedürftigen auswirken kann.

Ihr seht: je mehr wir unsere Armseligkeit anerkennen, desto mehrGrund haben wir, unser Vertrauen auf Gott zu setzen, da wir in unsselbst nichts haben, worauf wir bauen könnten. Das Mißtrauen gegenuns selbst entspringt der Erkenntnis unserer Fehlerhaftigkeit. Es istsehr gut, sich selber nicht zu trauen, aber was würde das nützen, wennman nicht zugleich sein ganzes Vertrauen Gott schenkte und sich sei-nen Erbarmungen überließe?

Ich setze voraus, daß von uns niemand Zweifel oder Mißtrauen anGottes Erbarmen hinsichtlich des ewigen Heiles hegt, sondern daß es

Page 42: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

412. Vertrauen

sich nur um eine gewisse Scheu und Scham dem Herrn gegenüber han-delt. Wir sind zuweilen untreu, haben aber gelesen, daß große Seelen,wie die hl. Katharina von Siena und die heilige Mutter Theresia, wennsie in einen Fehler gefallen waren, große Beschämung darüber empfan-den, und da macht uns die Eigenliebe weis, daß wir es ebenso machenmüßten, und legt uns Worte in den Mund wie: „Ach Herr, niemalswerde ich es wagen, mich Dir zu nahen, denn ich bin überaus erbärm-lich ...“ usw. Dies aber ist nichts anderes als Befriedigung der Eigenlie-be, die uns zum Narren hält. Ich leugne nicht, daß eine maßvolle Be-schämung gut sein mag; es entspringt der Vernunft, daß wir uns nacheiner Beleidigung Gottes ein wenig aus Demut zurückziehen und schä-men, wie wir ja auch einem Freund, den wir beleidigt haben, nur miteiner gewissen Scham gegenübertreten. Aber wir dürfen es dabei nichtbewenden lassen, denn die Tugenden der Demut, der Erniedrigung undBeschämung sind nur Mittel zum Zweck; wir müssen durch sie zur Verei-nigung unserer Seele mit Gott hinansteigen. Es wäre nichts Besonderes,sich seiner selbst zu entäußern und sich zu erniedrigen (was durchdiese Akte geschieht), wenn wir uns damit nicht ganz Gott hingeben,wie es uns der hl. Paulus im Kolosserbrief lehrt: „Ziehet den altenMenschen aus und den neuen an“ (3,9 f). Wir dürfen nicht entblößtbleiben, wir müssen uns mit Gott bekleiden. Wir treten gleichsam ei-nen Schritt zurück, um uns dann umso kräftiger durch einen Akt derLiebe und des Vertrauens in Gott hineinzustürzen. Unsere Beschämungdarf weder trübselig noch aufgeregt sein. Die Eigenliebe führt zu sol-cher Unruhe; man ärgert sich über seine Fehler aus Eigenliebe undnicht aus Liebe zu Gott.

Ihr sagt, daß ihr ein solches Vertrauen nicht fühlt. Trotzdem dürft ihrdiese Akte nicht unterlassen, ihr sollt vielmehr zum Herrn sagen: „Ob-gleich ich gar kein Vertrauen zu Dir fühle, so weiß ich doch, daß Dumein Gott bist und daß ich Dir ganz zu eigen bin, weiß, daß ich alleinauf Deine Güte vertraue, und so überlasse ich mich gänzlich DeinenHänden!“ Das Erwecken solcher Akte liegt stets in unserer Macht;fallen sie auch schwer, unmöglich sind sie nicht; gerade bei solchenGelegenheiten, in solchen Schwierigkeiten müssen wir dem Herrn un-sere Treue beweisen. Wenn wir solche Gebete auch ohne Lust und Be-friedigung verrichten, so soll uns das nicht kümmern, sind sie dochdem Herrn nur umso wohlgefälliger. Sagt auch nicht, daß ihr sie nur mitden Lippen sprecht und sie also nicht wahr seien; denn wäre das Herz

Page 43: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

42 2. Hingabe

nicht dabei, so würden die Lippen die Worte nicht formen. Habt ihr alsogebetet, dann bewahrt den Frieden, achtet nicht weiter auf eure Unruheund sprecht zum Herrn von etwas anderem.

Hiermit beschließen wir diese erste Frage. Es ist also gut, sich zuschämen, wenn wir unsere Armseligkeiten und Unvollkommenheitenerkennen und fühlen. Aber wir dürfen nicht dabei stehen bleiben undnoch weniger dürfen wir mutlos werden, müssen vielmehr in heiligemVertrauen unser Herz zu Gott erheben. Der Grund zum Vertrauenliegt ja in ihm, nicht in uns; wenn wir uns auch ändern, er ändert sichnie und ist immer gleich gut und barmherzig mit uns, ob wir schwachund unvollkommen oder stark und vollkommen sind. Ich pflege zusagen: unsere Armseligkeit ist der Thron der göttlichen Barmherzig-keit. Je größer also unsere Armseligkeit, desto größer unser Vertrauen.Das Vertrauen ist das Leben der Seele, nimmst du ihr das Vertrauen, sojagst du sie in den Tod.

I I .I I .I I .I I .I I .

Gehen wir jetzt zur zweiten Frage über: zur Hingabe unser selbst undzu den Übungen einer Gott ganz hingegebenen Seele.

1. Es handelt sich da um zwei Tugenden, von denen die eine das Zielder anderen ist: Sich entsagen und sich Gott hingeben. Seine Seele Gotthingeben und sich selbst verlassen heißt nichts anderes, als den eigenenWillen hingeben und aufgeben, um ihn Gott zu schenken. Wie gesagt,würden uns ja Entsagungen und Selbstaufgabe wenig nützen, geschähees nicht, um mit der göttlichen Majestät völlig eins zu werden. Nur indieser Absicht dürfen wir diesen Verzicht vornehmen, sonst wäre erumsonst getan, wie jener der alten Philosophen, die alles und sich selbstaufgegeben haben, nur um sich der Philosophie hinzugeben. So z. B.der berühmte Epiktet, der seinem Stand nach ein Sklave war; man wollteihm um seiner großen Weisheit willen die Freiheit schenken, er aberwollte sie nicht, er leistete den höchsten Verzicht und blieb freiwilligSklave und dies noch dazu in so großer Armut, daß man nach seinemTod nur eine Lampe bei ihm fand, die als einziges Stück aus der Hinter-lassenschaft eines so großen Mannes um teures Geld verkauft wurde.Wir aber wollen uns selbst und alles hingeben, nur um uns Gott zuüberlassen und uns seiner Güte anheimzustellen.

Page 44: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

432. Hingabe

Viele sagen zum Herrn: Ich überlasse mich Dir und behalte mir nichtsvor; wenige aber tun das auch wirklich. Eine solche Hingabe wird näm-lich nur dann wahrhaft durchgeführt, wenn wir ganz gleichmütig ohneUnterschied alles hinnehmen, was immer uns auch die göttliche Vorse-hung schicken mag: Glück oder Leid, Gesundheit oder Krankheit,Reichtum oder Armut, Achtung oder Verachtung, Ehre oder Schmach.Das ist aber nur vom höheren Teil der Seele zu verstehen; denn derniedere Teil der Seele und die natürliche Neigung werden sich zwei-fellos stets mehr von der Ehre als von der Verachtung, mehr vom Reich-tum als von der Armut angezogen fühlen, obwohl jedermann weiß, daßVerachtung, Niedrigkeit und Armut Gott wohlgefälliger sind als Hoch-schätzung und Überfluß.

2. Um diese Hingabe zu betätigen, müssen wir dem ausgesprochenenWillen Gottes und dem Willen seines Wohlgefallens folgen.2 Dem erstenunterwerfen wir uns, dem zweiten gegenüber sei unsere Haltung gleich-mütige Gelassenheit.

Gottes Willen ist ausgesprochen in seinen Räten und Eingebungen,in unseren Regeln und in den Anordnungen unserer Vorgesetzten. DerWille seines göttlichen Wohlgefallens zeigt sich in Dingen und Ge-schehnissen, die wir richtig voraussehen können. So weiß ich zum Bei-spiel nicht, ob ich morgen sterbe oder nicht; werde ich aber sterbens-krank, dann ersehe ich daraus, daß es Gott so wohlgefällt; ich überlassemich also seinem Wohlgefallen und sterbe gern. Ebensowenig weißich, ob in diesem Jahr die Ernte verhagelt wird oder nicht; sollte diesaber geschehen, so ist es Gottes Wohlgefallen. Noch einige Beispiele,die uns vertrauter sind und unserem Stand mehr entsprechen. Es kannvorkommen, daß ich an meinen geistlichen Übungen gar keine Freudehabe; sicher ist das der Wille Gottes, ich werde mich also zwischenFreude und Trostlosigkeit in völligem Gleichmut halten. Man gibt ei-ner Schwester einen Habit, der ihr nicht so gut paßt wie der, den siegewöhnlich trägt. Die Kleidermeisterin hat es mit ihr gut gemeint, esist also der Wille Gottes, daß sie dieses Kleid trägt, und sie muß es mitGleichmut annehmen. Man reicht dir im Refektorium eine Speise, dienicht so gut schmeckt; es ist dies sicher Gottes Zulassung; du mußt alsogleichmütig davon essen, ich meine, dem Willen nach. – Das gleichegilt von der Herzlichkeit und den Freundschaftsbezeigungen: erweistsie dir jemand nicht, so denke, daß Gott dies so zuläßt und daß dieBetreffende etwas Besseres zu tun hat. Warum soll sie auch daran den-

Page 45: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

44 2. Hingabe

ken, mit dir besonders lieb zu sein? Ist sie aber freundlich mit dir, sosieh auch darin Gottes Wohlgefallen und danke ihm für diese kleineFreude, die er dir bereitet.

3. Es gibt Fälle, in denen wir dem ausgesprochenen Willen Gottes undzugleich auch dem göttlichen Wohlgefallen nachkommen müssen: Wennich jetzt z. B. einen heftigen Fieberanfall bekäme, müßte ich darausentnehmen, daß Gott Wohlgefallen daran hätte, mich in Krankheit eben-so gelassen zu finden wie in Gesundheit. Zugleich aber ist es sein aus-gesprochener Wille, daß ich einen Arzt rufe und alle erforderlichenHeilmittel, die ich nur anwenden kann, auch anwende (ich meine nichtdie teuersten, sondern die gewöhnlichen und gebräuchlichsten). Gottgibt uns ja seinen Willen kund durch die den Arzneimitteln innewoh-nende Heilkraft, auf die uns die Heilige Schrift an mehreren Stellenhinweist, und die Kirche legt uns die Pflicht auf, davon Gebrauch zumachen. Tun wir das, dann warten wir in heiligem Gleichmut ab, ob dieKrankheit das Heilmittel überwindet oder das Heilmittel die Krank-heit. Wollte uns der Herr Gesundheit und Krankheit zur Wahl vorle-gen und sagen: „Wählst du die Gesundheit, werde ich dir auch nicht einFünklein meiner Gnade entziehen, wählst du die Krankheit, werde ichdir keinen Funken hinzugeben, mehr Freude aber machst du mir, wenndu die Krankheit wählst“ – wollte er so sagen, so würde eine ganz in dieHand Gottes hingegebene Seele ohne Zaudern die Krankheit wählen,und zwar nur deshalb, weil etwas mehr vom göttlichen Wohlgefallen inihr ist. Ja, müßte sie ihr ganzes Leben auf dem Krankenlager verbrin-gen und könnte sie nichts anderes mehr tun als leiden, so würde sie umnichts in der Welt sich etwas anderes wünschen. Die Heiligen im Him-mel sind so völlig eins geworden mit dem Willen Gottes, daß sie lieberden Himmel verlieren und in die Hölle hinabsteigen würden, wenndies Gott auch nur ein wenig wohlgefälliger wäre.

4. Diese Selbstentäußerung umfaßt auch die Hingabe an Gottes Wohl-gefallen in jeder Versuchung, in jeder Trockenheit, bei jeder Abneigung,bei jedem Widerwillen, in all dem Widerwärtigen, das im geistlichenLeben vorkommen kann. Die Seele sieht nichts anderes mehr als diesesgöttliche Wohlgefallen, wenn ihr dergleichen ohne eigene Schuld, ohneSünde zustößt.

Wenn wir den Abneigungen nicht nachgeben, sind sie für uns ein Lei-den, das wir tragen müssen wie jedes andere. Sobald sie in uns aufstei-gen, müssen wir aber nach ihrer Quelle suchen, denn oft entspringen

Page 46: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

452. Hingabe

sie unserer Unvollkommenheit. Das Übel ist leichter zu heilen, wennman es kennt; hat man es also erkannt, dann gilt es, die Leidenschaft,die ihre Quelle ist, einzudämmen.

Empfinden wir gegen jemand eine Abneigung, so müssen wir vorallem darauf sehen, dieser Person gegenüber nicht weniger, sondernmehr Akte der Nächstenliebe zu setzen, ihr Gefälligkeiten zu erwei-sen, sie ins Gespräch zu ziehen, mit ihr freundlich zu sein, – also nichtnur keine Abneigung fühlen lassen, sondern ihr noch mehr entgegen-kommen als sonst. So erweisen wir uns treu und gehorsam gegen Gottund seinen ausgesprochenen Willen. Was könnte dich auch hindern,dieser Schwester zu versichern, daß sie dir lieb ist wie dein eigenesLeben, daß du darunter leidest, gegen sie eine Abneigung zu fühlen? Soetwas darf man aber nur einer Profeßschwester sagen; denn einer Novi-zin wäre ein solcher Gedanke vielleicht unerträglich. Bei einerProfeßschwester dagegen wäre es sehr bedauerlich, wenn sie ihrer Mit-schwester bei dem Eingeständnis ihres Kummers und ihrer Abneigungnicht herzlich und verständnisvoll entgegenkäme, da jene doch so ver-trauensvoll zu ihr kommt, keine Schuld an der Abneigung trägt unddavon befreit sein möchte, wenn es Gott so gefiele. – Hat man dieseMittel angewandt, so möge man sich nicht mehr darüber ängstigen;man trage willig sein Leid, ohne Verlangen, davon befreit zu werden,und ergebe sich in Gottes heiligen Willen, der uns diese Prüfung zuge-dacht hat.

Es kommt auch zuweilen vor, daß man nicht gegen die PersonenAbneigung empfindet, sondern gegen ihr Tun. Solche Abneigungen sindnicht die schlimmsten, immerhin sind sie eine Unvollkommenheit;denn wenn jemand etwas tut, was nicht recht ist, so muß man mit ihmMitleid haben, nicht Abneigung gegen ihn. Wer z. B. viel auf Reinlich-keit hält, fühlt sich von einer unreinlichen Person abgestoßen, und wirdihr wegen ihrer Unsauberkeit schwerere Vorwürfe machen als wegeneiner schweren Sünde. Ein solches Vorgehen ist gewiß nicht in Ord-nung. – Fühlt man sich gleichmäßig von allem abgestoßen, was Gottbeleidigt, dann ist wohl der echte Eifer die Quelle dieser Abneigung; eswäre aber trotzdem gefährlich, die Abneigung gegen die Sache auf diePerson zu übertragen. Das zerstört zwar die Liebe nicht, nimmt ihrjedoch die herzerquickende Anmut.

Ich will damit nicht sagen, daß wir bei einer starken Abneigung mitder gleichen Freudigkeit reden können wie bei einer herzlichen Freund-

Page 47: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

46 2. Hingabe

schaft. In solchen Fällen vermag man wohl zu reden und alles zu tunwie sonst, aber es liegt nicht in unserer Macht, dabei eine ebenso freund-liche Miene zu zeigen, als hätten wir keine Schwierigkeiten. Ähnlichergeht es ja auch schwermütigen Menschen. Sie können wohl singen,spazieren gehen, in der Erholungszeit mitreden, aber es fehlt ihnendabei das Liebenswürdige und das freundliche Wesen heiterer Men-schen. Es wäre auch gar nicht angebracht, dies von den einen wie vonden anderen zu verlangen.

Wenn sich unsere Abneigungen nur darin äußern, daß man in Ge-sprächen mit dem Gegenstand der Abneigung nicht ganz so fröhlich istoder ihm nicht so frei in die Augen schauen kann, so ist dies nicht soschwer zu nehmen. Man hat dann wohl Grund, sich darüber zu de-mütigen und sich für gering zu achten, aber man braucht es nicht zubeichten. Ebensowenig ist es Sünde, wenn ich gezwungen bin, den Ge-genstand meiner Abneigung auf einen Fehler aufmerksam zu machen,und dabei etwas ungeduldig werde trotz meines Vorhabens, es mit Lie-be zu tun; es wird wohl fast jedem so gehen. Ein schlichter Akt derDemut vor Gott genügt dann, um diesen Fehler wieder gutzumachen.Hält aber die Abneigung an und lassen wir uns vor ihr zu entsprechen-den Handlungen und Worten hinreißen, dann ist dies bestimmt alsschlecht zu bezeichnen: denn wenn das Herz den Weg zum Mund ge-funden (Mt 12,34; 15,11 und 18-20), so ist dies ein Zeichen, daß derWille schuldig ist, daß er die erste Regung nicht unterdrückt hat.

5. Jetzt möchtet ihr noch gerne wissen, womit sich die ganz in GottesHand hingegebene Seele innerlich beschäftigen soll? Sie tut nur das eine:sie weilt bei ihrem Herrn, sie kümmert sich um nichts mehr, weder umLeib noch Seele. Ihre Barke segelt unter dem Schutz der göttlichenVorsehung; warum dann sich sorgen, was aus ihr wird? Der Herr, demsie sich ganz anheimgegeben, sorgt ja hinlänglich für sie. Damit will ichjedoch nicht sagen, daß wir uns nicht um die Dinge kümmern sollen,die uns obliegen. Hat z. B. eine Schwester den Garten zu besorgen, sodarf sie nicht sagen: „Ich brauche mich nicht darum zu kümmern, derHerr wird es schon recht machen!“ Es geht auch nicht an, daß die Obe-rin oder die Novizenmeisterin unter dem Vorwand, sie hätten sich ganzGott hingegeben und alles seiner Sorge anheimgestellt, es unterlassen,die Anweisungen zu lesen, die sie für die Durchführung ihrer Ämterbenötigen.

Page 48: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

472. Hingabe

6. Ihr habt mir soeben gesagt, es gehöre großes Vertrauen dazu, sich soganz restlos der göttlichen Vorsehung zu überlassen. Das ist wohl wahr.Wenn wir aber auf alles verzichten, dann sorgt der Herr für alles undlenkt alles. Wenn wir uns hingegen etwas vorbehalten, weil wir es ihmnicht anvertrauen wollen, so läßt er es uns, wie wenn er sagen wollte:Wenn du dich für so klug hältst, dies ohne mich tun zu können, dannmach es nur allein, du siehst dann schon, wie weit du damit kommst.Die Gott geweihten Seelen im Ordensstande müssen restlos auf allesverzichten. Die hl. Magdalena, die sich dem Willen des Herrn ganzanheimgegeben hatte, saß zu seinen Füßen und lauschte seinen Worten(Lk 10,31). Hörte der Meister zu reden auf, so hörte sie aufzuzuhorchen, rührte sich aber nicht und blieb bei ihm. So hat auch dieganz Gott hingegebene Seele nichts anderes zu tun, als in Gottes Um-armung zu ruhen, wie ein Kind im Schoß der Mutter. Stellt sie es aufden Boden, damit es laufe, so läuft es, bis die Mutter es wieder auf denArm nimmt. Und will die Mutter das Kind tragen, so läßt es auch diesgeschehen. Es weiß nicht, wohin es geht, und denkt auch nicht daran, esläßt sich einfach tragen, wohin die Mutter will. Die Seele, die in allemGottes Wohlgefallen liebt, macht es auch so, sie läßt sich tragen, schreitetaber zugleich auch voran, da sie mit großer Sorgfalt das ausführt, wasGottes ausgesprochener Wille von ihr verlangt.

7. Ihr fragt jetzt, ob es denn möglich ist, daß unser Wille so ganz in Gotterstirbt, daß wir dann gar nicht mehr wissen, was wir wollen oder nichtwollen.

Antwort: Wir mögen noch so sehr an Gott hingegeben sein, unsereSelbständigkeit und unser freier Wille verbleiben uns doch immer nochund immer wieder wird ein Wunsch, ein Begehren in uns aufsteigen,Aber dann ist das kein unbedingter Wille, kein fester Wunsch, dennsobald eine ganz dem Wohlgefallen Gottes hingegebene Seele Wün-sche und Verlangen wahrnimmt, läßt sie dieselben im Willen Gottesersterben.

8. „Ihr möchtet auch wissen, ob eine noch sehr unvollkommene Seelewährend der Betrachtung ihre Zeit nützlich verbringt, wenn sie ganz ein-fach auf die göttliche Gegenwart hinmerkt.

Antwort: Die Seele darf ruhig in diesem Zustand verbleiben, wennGott sie in denselben versetzt; denn es geschieht nicht selten, daß derHerr auch Seelen, die noch nicht ganz geläutert sind, diese Ruhe undStille schenkt. Während sie aber noch der Reinigung bedürfen, müssen

Page 49: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

48 2. Hingabe

sie dafür außerhalb der Betrachtungszeiten die zu ihrer Besserung nö-tigen Erwägungen und Überlegungen machen. Denn wenn Gott sie auchnoch so sehr gesammelt hält, so bleibt ihnen dennoch genug Freiheit,mit dem Verstand über verschiedene gleichgültige Dinge nachzuden-ken. Warum also sollten sie nicht die Übung der Tugenden überdenkenund ihre Vorsätze fassen können? Es gibt sehr vollkommene Menschen,denen Gott niemals solche Wonne und Ruhezustände schenkt; sie tunalles nur mit dem höheren Teil ihrer Seele und mit Gewalt; nur mit derhöchsten Spitze ihrer Vernunft lassen sie ihren Willen im Willen Got-tes ersterben. Und dieses Sterben ist der Tod am Kreuz (Phil 2,8), derviel erhabener und hochherziger ist als jener andere Tod, den man mehrein Entschlafen als ein Ersterben nennen kann. Die Seele, die das Schiff-lein der göttlichen Vorsehung bestiegen, läßt sich ruhig auf den Wellendahintragen, gleich einem Menschen, der schlafend auf ruhiger Seedahinfährt und trotzdem vorwärts kommt. Dieses friedliche Sterben istein Gnadengeschenk, das andere ist Verdienst.3

9. Und nun möchtet ihr noch wissen, auf welchem Grund sich unserVertrauen aufbauen soll. Es muß auf die unendliche Güte Gottes und aufdie Verdienste des Leidens und Sterbens Unseres Herrn Jesus Christusgegründet sein, mit der Voraussetzung unsererseits, daß wir den festen,unabänderlichen Entschluß in uns tragen, Gott ganz anzugehören unduns in allem ohne jeden Vorbehalt seiner Vorsehung zu überlassen. Eswäre unvernünftig, Gott zu sagen: „Ich vertraue auf Dich, will Dir abernicht ganz angehören.“ Beachtet aber wohl, ich sage nicht, man müssediesen Vorsatz fühlen, aber haben muß man ihn und wissen, daß man ihnhat. Wir dürfen uns nicht darum kümmern, ob wir etwas fühlen oder nicht,da die meisten unserer Gefühle und Befriedigungen nur Auswüchse un-serer Eigenliebe sind. Wir dürfen auch nicht meinen, daß wir bei alldieser Hingabe und Gleichmütigkeit niemals einen Wunsch haben wer-den, der dem göttlichen Willen entgegen ist, oder daß unsere Natur nie-mals widerstreben wird. Dies wird immer wieder vorkommen, denn fürgewöhnlich versteht der niedere Teil der Seele nichts von den Tugenden,die im höheren ihren Sitz haben. Man darf sich darum nicht kümmernund nicht hinschauen, was er will, sondern muß trotz allem den göttli-chen Willen umfangen, um ganz eins mit ihm zu sein.

Nur wenige Menschen gelangen zu diesen Höhen vollkommenen Sich-Verlassens; aber nach diesen Höhen verlangen, das müssen wir alle, einjeder nach seinen schwachen Kräften und Fähigkeiten.

Page 50: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

49

3. GesprächPredigt am Oktavtag der Unschuldigen KinderPredigt am Oktavtag der Unschuldigen KinderPredigt am Oktavtag der Unschuldigen KinderPredigt am Oktavtag der Unschuldigen KinderPredigt am Oktavtag der Unschuldigen Kinder11111

Wir feiern die Oktav vom Fest der Unschuldigen Kinder und lesenmit der Kirche im Evangelium des Tages, daß „der Engel des Herrn“dem glorreichen hl. Josef „im Traumgesicht“ gebot, „das Kind undseine Mutter“ zu nehmen und „nach Ägypten“ zu fliehen. Herodes ver-teidigte seine Herrschaft mit eifersüchtiger Sorge. Er hatte Angst, derHerr würde sie ihm nehmen, deshalb trachtete er ihm nach dem Leben.Als die Weisen nicht mehr nach Jerusalem zurückgekommen waren,nahmen Furcht und Wut in ihm so überhand, daß er den Befehl gab,alle Knäblein unter zwei Jahren zu töten. So vermeinte er die Sicher-heit zu haben, daß der Herr auch darunter sein werde und ihm seineHerrscherwürde nicht verloren gehe.

Dieses Evangelium ist überreich an schönen Gedanken. Ich bin über-zeugt, daß ihr bei der Betrachtung dieses Festes schon auf so manchesgekommen seid. Bei der Fülle seines Inhaltes könntet ihr aber dochVerschiedenes übersehen haben. Ich will nicht diesem oder jenemGedanken nachgehen, den ihr vielleicht übergangen habt, ich will auchnicht alles erwähnen, was man noch etwa herausholen könnte, das wür-de zu viel Zeit nehmen; ich möchte euch ganz einfach jetzt das sagen,was Gott mir eingeben will.

An einem Gemälde, auf dem ein Mensch in Lebensgröße oder einRiese im Kampf abgebildet ist, sind die einzelnen Personen besser zusehen als bei einem Bild, das etwas Kleines oder auch einige kleinebewegte Gegenstände darstellt. Bei einem kleinen Bild braucht manlange, bis man jede Stellung und Wendung, jede Falte und jedes Fält-chen, jeden Geisteszug und jede kleine Einzelheit gesehen hat, undman wird immer wieder etwas Neues daran entdecken. Beim großenGemälde hingegen kann man leicht schon auf den ersten Blick allesüberschauen.

Nun, bei den Glaubensgeheimnissen, die den Herrn, Unsere LiebeFrau, den hl. Josef, die Hirten, die Anbetung der Weisen offenbaren,sehen wir die in der Darstellung ausgedrückten Geheimnisse leicht aufden ersten Blick. Anders auf dieser gedrängten Darstellung der vielenKindlein, die fast einem Ameisenhaufen gleichen. Hier kann man nichtleicht alles sogleich sehen; so oft man das Geheimnis betrachtet, wirdman immer wieder etwas Neues entdecken.

Page 51: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

50 3. Gleichmut

I .I .I .I .I .

So komme ich also zum Evangelienbericht und knüpfe an die Erwä-gung des großen hl. Chrysostomus an, der bei der Erklärung diesesEvangeliums von der Unbeständigkeit allen Geschehens im irdischenLeben spricht. Wie überaus nützlich ist es doch, wenn man sich diesvor Augen hält. Tut man es nicht, so wird man leicht verzagt und son-derlich, unruhig und launisch, unbeständig und wankelmütig in seinenEntschlüssen.

1. Wir möchten, daß es auf unserem Weg weder Schwierigkeiten nochWiderwärtigkeiten noch Plagen gäbe. Wir wünschten uns Freude ohneRückschlag, immer Gutes ohne Böses, Gesundheit ohne Krankheit,Ruhe ohne Mühen, Frieden ohne Aufregung. Welch ein Unsinn! Manverlangt Unmögliches, denn die ungetrübte Reinheit gibt es nur imParadies: Das Gute, das Ausruhen, die Freude, alles ist nur im Himmelganz rein, ohne jegliche Beimischung von Unruhe und Leid. Dagegenweist die Hölle Schlechtigkeit, Verzweiflung, Aufruhr und Unrast inebenso unverfälschter Reinheit auf, ohne daß dort irgend etwas Gutes,irgendwie Hoffnung, Ruhe und Frieden zu finden wären. In diesemvergänglichen Leben gibt es aber nichts Gutes, dem nicht Böses aufdem Fuß folgte, keinen Reichtum ohne Sorgen, kein Ruhen ohne Pla-ge, keine Freude ohne Leid, keine Gesundheit ohne Krankheiten. Kurz-um, alles ist miteinander vermischt, es ist ein ständiges Auf und Ab,Hin und Her.

Gott wollte den Wechsel der Jahreszeiten: auf den Sommer sollte derHerbst, auf den Winter der Frühling folgen, damit wir einsehen, daß indiesem Leben nichts von Bestand, nichts „von Dauer“ (Koh 2,11) istund alles Zeitliche ständig in Fluß, den Veränderungen und dem Wech-sel unterworfen. Aber wie gesagt, weil man sich dieser Wahrheit sowenig bewußt ist, deshalb die wechselnden Launen und Stimmungen.Man hört eben nicht auf die Vernunft, die Gott uns verliehen, und dochmacht gerade sie uns Gott ähnlich, weil ihr Unwandelbarkeit,Beständigkeit und Festigkeit zu eigen sind.

Als Gott sprach: „Laßt uns den Menschen machen nach unseremBild und Gleichnis,“ gab er ihm zugleich die Vernunft und den Ge-brauch derselben, damit er denken, überlegen, das Gute vom Bösenunterscheiden und die Dinge nach ihrem Wert wählen oder ablehnenkönne. Die Vernunft stellt uns über die Tiere und macht uns zum Herrn

Page 52: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

513. Gleichmut

über sie. Nachdem Gott unsere Stammeltern erschaffen hatte, übergaber ihnen die Herrschaft über „die Fische des Meeres und die Tiere derErde“ (Gen 1,28-30) und deshalb auch die Kenntnis jeder Tierart, so-wie die Mittel, über sie zu herrschen, ihr Herr und Gebieter zu sein.Gott hat den Menschen nicht nur darin begünstigt, daß er ihm die Herr-schaft über die Tiere übertragen hat durch die Vernunft, die ihn gott-ähnlich macht; er hat ihm auch Macht gegeben über jede Art von Ge-schehnissen und Ereignissen. Man sagt, daß der Weise, also der Mensch,der sich von der Vernunft leiten läßt, der Sternenwelt gebietet. Das sollheißen, daß er bei den mannigfachen Vorkommnissen und Ereignissendurch den Gebrauch der Vernunft fest und unbeirrt bleiben wird. ObRegen oder Sonnenschein, ob Windstille oder Sturm, was kümmert esden Weisen? Er weiß, daß hienieden nichts „von Dauer“ ist, daß hiernicht die Ruhestätte ist. Unverzagt harrt er in Kümmernis des Trostes;gefaßt wartet er in Krankheit die Gesundung ab; sieht er aber den Todnahen, dann preist er Gott, weil er nach diesem Leben die Ruhe derEwigkeit erhofft. Kommt die Armut zu ihm, so grämt er sich nicht,denn er weiß, daß im Erdenleben Reichtum mit Armut wechselt. Wirder mißachtet, so ist er sich bewußt, daß Wertschätzung ein wetterwen-disch Ding auf Erden ist und oft in Schande und Verachtung umschlägt.Kurz, in guten wie in schlimmen Tagen hält er unerschütterlich, be-ständig und entschieden an seinem ernsten Entschluß fest, nur nachdem Genuß ewiger Güter zu streben und zu verlangen.

2. Aber nicht nur die flüchtigen, körperhaften Dinge sind unbeständigund immer in Umwandlung begriffen; dasselbe ist auch vom Verlaufdes geistlichen Lebens zu sagen. Festigkeit und Stetigkeit sind hier umso notwendiger, je höher das geistliche Leben über dem sterblichenund körperlichen Leben steht. Es ist ganz verkehrt, frei von Launensein zu wollen, solange wir nicht der Vernunft folgen und gehorchen.Man kann oft hören: „Schauen Sie nur, jetzt ist dieses Kind noch soklein und hat doch schon den Gebrauch der Vernunft.“ So haben zwarviele den Gebrauch der Vernunft, lassen sich aber nicht von ihr leiten.Gott gab dem Menschen die Vernunft, damit sie ihn führe, aber diemeisten lassen die Herrschaft nicht ihr, sondern den Leidenschaften,obwohl diese doch nach der von Gott gewollten Ordnung der Vernunftgehorchen sollten.

Ich will mich noch einfacher ausdrücken: Die meisten Weltkinderlassen sich von ihren Leidenschaften statt von der Vernunft beherrschen

Page 53: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

52 3. Gleichmut

und leiten; deshalb sind sie auch meist verschroben, launisch und wet-terwendisch. Haben sie Lust, früh aufzustehen oder spät zu Bett zugehen, so handeln sie nach dieser Lust. Wollen sie einen Ausflug ma-chen, dann stehen sie in aller Herrgottsfrühe auf; wollen sie ausschla-fen, dann bleiben sie eben liegen. Wollen sie zeitig zu Mittag oder zuAbend essen, dann essen sie zeitig; wollen sie spät essen, essen sie spät.– Aber sie folgen ihren Launen nicht nur in diesen Dingen, sondernauch in ihrem Umgang: wer ihnen paßt, dem passen sie sich an, denanderen aber nicht. Sie lassen sich von ihren Neigungen, Sympathienund Leidenschaften fortreißen und man findet unter Weltkindern nichtsSchlimmes daran. Die Welt hält solche Menschen weder für verschro-ben noch für launisch, solange sie niemand sonderlich lästig fallen.Und warum nicht? Aus dem einfachen Grund, weil das unter Welt-kindern ein weitverbreitetes Übel ist. Im Ordensstand aber darf mansich von seinen Leidenschaften ganz und gar nicht bestimmen lassen.Man darf dies um so weniger, als die „Regeln“ alle äußeren Übungen,wie das Beten, Essen, Schlafen regeln, alle anderen Tätigkeiten durchden Gehorsam oder durch das Glockenzeichen festgelegt sind und manim Kloster immer denselben Umgang hat, da doch alle immer beisam-men bleiben müssen.

Worin äußert sich also bei uns diese wetterwendische und unbe-ständige Gesinnung? Im Wechsel der Stimmungen, Launen und Wün-sche. Jetzt bin ich heiter gestimmt, weil mir alles nach Wunsch geht,gleich darauf bin ich traurig, weil mir wider Erwarten etwas Unange-nehmes widerfahren ist. Nun, es kann dir doch nichts Neues sein, daßes hier auf Erden keine reine Freuden gibt und immer ein TropfenBitterkeit dabei ist und daß dieses Leben reich an derlei Zwischenfäl-len ist. Heute freut dich das Beten, du fühlst dich wie neu belebt undwillst ganz entschieden und ganz eifrig Gott dienen. Morgen ist es dirschwer und schon ist der ganze Schwung dahin und du seufzest: Ach,ich bin so müde, so mutlos! Sag mir: Du willst doch der Vernunft fol-gen? Nun, wie urteilt sie? Gestern war es schön, Gott zu dienen, also istes heute auch recht schön. Es ist ja immer derselbe Gott, gleich wertdes Dienstes, ob es uns schwer fällt oder ob es uns freut.

Heute wollen wir dies, morgen das. Heute sehe ich eine Person etwastun, was mir an ihr gefällt, ein andermal aber mißfällt es mir derart, daßich sie kaum mehr anschauen kann. Heute ist mir ein Mensch sehr lieb,ich unterhalte mich überaus gern mit ihm, morgen geht er mir auf die

Page 54: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

533. Gleichmut

Nerven. Und warum eigentlich? Ist er heute weniger angenehm als ge-stern? Wir wollen doch auf die Vernunft hören. Sie sagt uns aber, daßwir diesen Menschen schon deshalb lieb haben müssen, weil er dasAbbild der göttlichen Majestät ist, somit uns sein Umgang jetzt ebensofreuen soll wie sonst. Trifft das nicht zu, so hat das seinen Grund darin,daß wir uns von unseren Neigungen, Leidenschaften und Gefühlen lei-ten lassen und so das von Gott in uns gelegte Gesetz umstoßen, dasalles der Vernunft unterstellt. Denn lassen wir sie nicht über unsereSeelenkräfte, Fähigkeiten, Neigungen, Leidenschaften und Gefühle,kurz, über unser ganzes Innenleben herrschen, was wird dann die Folgesein? Ein fortwährendes Auf und Ab, Hin und Her, ein stetes Sich-Ändern, die Herrschaft der Launen. Heute werden wir tapfer sein, mor-gen feige, flüchtig und faul; heute fröhlich, morgen trübsinnig. EineStunde lang werden wir ruhig sein, dafür zwei Tage lang aufgeregt – undunser Leben vergeht im Nichtstun und Zeitvergeuden.

3. Es ist also diese erste Erwägung eine Anregung und Aufforderung,über das Wechselvolle, Schwankende und Unbeständige sowohl in denleiblichen wie in den geistlichen Dingen nachzudenken, damit uns et-waige Überraschungen nicht kopfscheu machen und der Wechsel derDinge uns nicht zum Stimmungswechsel verleite. Gott hat uns mit Ver-nunft begabt, ihr müssen wir willig gehorchen, müssen entschieden,beharrlich und unbeeinflußbar an unserem einmal gefaßten Entschlußfesthalten, haben wir uns doch vorgenommen, Gott treu, beherzt, glü-hendeifrig und hochgemut zu dienen und niemals davon abzugehen.

Hätte ich jetzt Menschen vor mir, die das Gesagte nicht so ohne Wei-teres verstehen, so würde ich mir alle Mühe geben, es ihnen ganz klarzu machen. Euch aber habe ich, wie ihr wißt, bei jeder Gelegenheit denheiligen Gleichmut als die eigentliche, unumgänglich notwendige Tu-gend des Ordensstandes besonders ans Herz gelegt.2 Alle Ordensstifterhaben darauf hingearbeitet, den Stimmungen und der Geistesverfas-sung ihrer Söhne und Töchter diese Stetigkeit und Festigkeit mitzutei-len. Deshalb haben sie Vorschriften, Statuten und Regeln aufgestellt,die den Ordensmitgliedern gleichsam als Brücke dienen sollten, vonder Stetigkeit ihrer Vorschriften und Übungen hinüber zu finden zuder so liebenswerten und erstrebenswerten Stetigkeit der Seelen-verfassung inmitten der Unstetigkeit der Dinge unseres leiblichen wiegeistlichen Lebens.

Page 55: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

54 3. Gleichmut

4. Der große hl. Chrysostomus sagt: O Mensch, du ärgerst dich, weildir nicht alles nach Wunsch geht. Schämst du dich nicht, etwas habenzu wollen, was nicht einmal der Familie des Herrn beschieden war, inderen Leben immer alles anders kam. Unsere Liebe Frau erhält dieBotschaft, daß sie vom Heiligen Geist einen Sohn empfangen werde –Unseren Herrn und Heiland! O diese Freude, dieses Frohlocken indem heiligen Augenblick der Menschwerdung des Ewigen Wortes! Nacheiniger Zeit bemerkt der hl. Josef, daß sie Mutter wird, er weiß, daß esnicht durch ihn ist. O dieser Kummer für ihn, diese Herzensnot! Undwas für ein Weh, was für eine Bitternis in der Seele Unserer LiebenFrau, als sie gewahrte, daß ihr Gemahl daran war, sie zu verlassen. IhreBescheidenheit ließ es ja nicht zu, dem hl. Josef zu offenbaren, welcheEhre und Gnade ihr von Gott zuteil geworden war. Wie froh warenbald darauf wieder beide, als der Engel kam, dem hl. Josef das Geheim-nis entschleierte und dieser furchtbare Sturm wieder vorüber war.

Als Unsere Liebe Frau ihren Sohn gebar, kündeten Engel seine Ge-burt, Hirten und Weise kamen, ihn anzubeten. Stellt euch den Jubelund die Herzensseligkeit der Eltern vor! Aber es dauert nicht lange, dasagt „der Engel des Herrn“ zum hl. Josef „im Traum“: „Nimm dasKind und seine Mutter“ und „fliehe nach Ägypten, denn Herodes willdas Kind töten“ (Mt 2,13). Da hätten Unsere Liebe Frau und der hl.Josef schon Grund gehabt, sich zu grämen. Der Engel behandelt ihnwie einen richtigen Ordensmann: „Nimm das Kind und seine Mutter,“sagt er, „und fliehe nach Ägypten und bleibe dort, bis ich es dir sage.“Was bedeutet das wohl? Hätte da der hl. Josef nicht erwidern können:„Du heißt mich gehen, hat denn das nicht bis morgen Zeit? Wohin sollich in der Nacht gehen? Es ist nichts vorbereitet. Wie soll ich das Kindfortbringen? Sind meine Arme kräftig genug, es auf der ganzen Reisezu tragen, oder meinst du, die Mutter solle es abwechselnd mit mirtragen? Siehst du denn nicht, wie zart sie ist? Ich habe für die Reiseweder Pferd noch Geld. Und gerade nach Ägypten soll ich gehen? Weißtdu denn nicht, daß die Ägypter die geschworenen Feinde der Israelitensind? Wer wird uns dort aufnehmen?“ Diese und ähnliche Einwändehätten wir wohl vorgebracht. Er aber sagt kein Wort, entzieht sich demGehorsam nicht, geht noch zur selben Stunde und tut alles, was ihm derEngel aufgetragen.

5. Über diesen Auftrag läßt sich viel Schönes sagen. Das erste, was eruns lehrt, ist, sofort und ohne Bedenken zu gehorchen. Der Faule über-

Page 56: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

553. Gleichmut

legt hin und her und spricht wie der hl. Augustinus vor seiner Bekeh-rung (Bek 8,5): Ich möchte doch noch etwas zusehen; „noch ein we-nig“; ich werde mich dann schon bekehren. Der Heilige Geist duldetaber keinen Aufschub, er verlangt ein rasches Eingehen auf seineEinsprechungen. Unsere Faulheit richtet uns zugrunde, sie ist schulddaran, daß wir immer sagen: „Morgen fange ich an, mich zu bessern.“Ja, warum denn nicht sofort anfangen, warum nicht jetzt, da Gott unslockt und drängt? Warum? Ja, weil wir uns derart verzärteln, daß wiralles scheuen, was uns aus der vermeintlichen Ruhe aufstören könnte,aus einer Ruhe, die doch nichts anderes ist als Stumpfheit und Faulheit.In diesem Zustand wollen wir einfach auf gar nichts eingehen, was unslockt, aus uns herauszugehen. Wir machen es da genau so wie der Fau-le, der sich beklagt, daß man ihn bewegen will auszugehen, und sagt:Was soll ich denn da draußen, „ein Löwe ist auf dem Weg“ (Spr 22,13;26,13), und „auf den Straßen“ sind Bären, die mich gewiß auffressenwerden. Wie verkehrt ist es, Gottes Boten – seine Einsprechungen –mehrmals vergebens an der Tür unseres Herzens klopfen und pochenzu lassen, bevor wir uns entschließen, aufzumachen und ihn einzulas-sen. Ist nicht zu befürchten, daß wir Gott damit zum Zorn reizen undihn zwingen, uns unserem Schicksal zu überlassen?

6. Beachten wir auch, wie ruhig, unerschütterlich und gelassen Mariaund Josef blieben, obwohl ihr Leben eine bunte Aufeinanderfolge trü-ber und froher Tage war. Haben wir dann einen Grund, uns darüberaufzuregen und zu wundern, wenn wir im Haus Gottes, in der Ordens-gemeinde dasselbe finden, was auch in der heiligen Familie nicht fehl-te, in der heiligen Familie, wo doch die Beharrlichkeit, Festigkeit undZuverlässigkeit selber in der Person des Herrn ihren Wohnsitz auf-geschlagen hatten? Man muß sich das immer wieder vorsagen und vor-stellen, damit es uns ganz fest in die Seele geprägt bleibe. Wenn auchdie Dinge in buntem Wechsel aufeinander folgen, so darf dies Seeleund Geist keineswegs verleiten, wechselnden Launen nachzugeben. Ander Launenhaftigkeit sind ja nur die ungeordneten Leidenschaften, Nei-gungen und Anhänglichkeiten schuld, die doch keine Gewalt über unshaben sollten. Wir dürfen uns von ihnen nicht aufstacheln lassen, et-was, und wäre es noch so geringfügig, haben zu wollen, zu tun oder zulassen, was in Widerspruch steht mit dem, was uns die Vernunft Gottzuliebe tun oder lassen heißt.

Page 57: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

56 3. Geistliche Gehilfinnen

I I .I I .I I .I I .I I .

Nun komme ich zum 2. Punkt unserer Evangelienbetrachtung: „DerEngel des Herrn“ sagt zum hl. Josef: „Nimm das Kind ...“ usw.

1. „Der Engel des Herrn.“ Wir wollen ein wenig bei diesem Wortstehen bleiben, wollen bedenken, wie hoch wir die Hilfe, den Beistandund die Führung jener schätzen sollen, die Gott uns an die Seite gegeben,damit wir unter ihrem Schutz sicheren Fußes auf dem Weg zur Voll-kommenheit vorankommen. Ich möchte zunächst bemerken, daß dieBezeichnung „Engel des Herrn“ hier nicht im gleichen Sinn gebrauchtwird wie dann, wenn wir vom Engel dieses oder jenes Menschen spre-chen, denn dann meinen wir damit den Schutzengel, der sich im Auf-trag Gottes um uns annimmt. Der Herr, der König und Heerführer derEngel, bedarf aber keines Schutzengels, bedurfte seiner auch nicht wäh-rend seines Erdenlebens. Mit dem Ausdruck „Engel des Herrn“ istvielmehr jener Engel gemeint, der bestimmt war, Familie und Haus desHerrn zu schützen und ihm und der Allerseligsten Jungfrau zu dienen.

2. Ich möchte hier eine schlichte Anwendung des eben Gesagten ge-ben. Man hat dieser Tage die Ämter und auch die geistlichen „Ge-hilfinnen“3 gewechselt. Welche Aufgabe hat nun eine solche „Gehil-fin“ und warum wird sie einer jeden an die Seite gegeben? Der hl. Gre-gor sagt: „Wenn wir unser Vorhaben, unsere Seele zu retten und heiligzu werden, entschieden und beharrlich durchführen wollen, müssenwir es in dieser armseligen Welt machen wie Menschen, die über eineEisfläche gehen. Sie nehmen einander bei der Hand oder beim Arm,damit, wenn der eine ausgleitet, der andere ihn noch aufhalten könneund sie sich so gegenseitig stützen.“4

Unser Leben gleicht einem solchen Gehen über vereistes Land. Al-les, was uns da in den Weg kommt, kann uns Anstoß sein, das Gleichge-wicht zu verlieren und hinzufallen: bald ist es ein Ärger, bald ein Gere-de, bald schlechte Laune, in der uns kein Mensch etwas recht machenkann. Dann wieder ekelt uns der Beruf an, weil wir in einem Anfall vonSchwermut glauben, daß wir doch nichts leisten. Kurz, alles Möglichekommt da in unserer seelischen Kleinwelt vor. Der Mensch ist ja eineWelt im Kleinen, besser gesagt, eine kleine Welt für sich; denn alles,was im Weltall zu sehen ist, gibt es auch da: Unsere Leidenschaften z.

Page 58: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

573. Geistliche Gehilfinnen

B. gleichen vernunftlosen Tieren; ebenso haben die Sinne, die Neigun-gen, die Gefühle, die Kräfte, die Fähigkeiten unserer Seele, jedes seinebesondere Bedeutung, worauf ich jetzt nicht näher eingehen kann. –Ich will also den Gedanken, den ich auszuführen begonnen hatte, wie-der aufnehmen: Wir bekommen „Gehilfinnen“, damit wir schön aufdem Weg bleiben und nicht hinfallen, oder wenn wir auch fallen, mitihrer Hilfe gleich wieder aufstehen. Mit diesen Gehilfinnen müssenwir ganz offen, herzlich, aufrichtig und vertrauensvoll sein, denn Gotthat sie uns gegeben, damit wir im geistlichen Leben vorankommen.Wir müssen mit ihnen umgehen wie mit unseren Schutzengeln und sieauch für solche halten. Unsere Schutzengel sind ja beauftragt, uns mitihren Einsprechungen zu Hilfe zu kommen, in Gefahren zu beschüt-zen, die Fehler zu rügen, den Tugendeifer zu schüren. Weiter ist es ihreAufgabe, unser Beten und Bitten zum Thron der Güte und des Erbar-mens, zum Herrn emporzutragen und dann uns die Bestätigung zu über-bringen, daß er unsere Gebete angenommen hat. Endlich vermitteltuns der Schutzengel auch die Gnaden, die Gott uns durch seine Für-sprache und Fürbitte geben will. Nun, die geistlichen „Gehilfinnen“sind unsere sichtbaren Schutzengel. Was der unsichtbare gute Geist inder Seele wirkt, das tut der sichtbare gute Geist vor unseren Augen;auch er macht uns auf die Fehler aufmerksam, muntert uns auf, wennwir daran sind zu erlahmen und zu erliegen, feuert uns an, damit wirunser Ziel, die Vollkommenheit, erreichen, gibt uns Ratschläge undWinke, damit wir nicht fallen; sind wir aber in einen Fehler gefallen, sorichtet er uns wieder auf. Und sind wir verdrossen und verekelt, so hilfter uns diese Plage geduldig ertragen, betet zu Gott um Kraft, daß wiruns geduldig weiterplagen wollen, und um die Gnade, der Versuchungnicht nachzugeben. Ihr seht also, wie hoch ihr den Beistand und dieFürsorge eurer sichtbaren Schutzengel schätzen sollt.

3. Ich frage mich ferner, warum wohl der Herr, die ewige Weisheit,sich nicht selbst um seine Familie annimmt? Ich meine, warum wohlsetzte er nicht selbst den hl. Josef und seine überaus geliebte Mutter inKenntnis von all dem, was ihnen bevorstand? Hätte er nicht seinemPflegevater ins Ohr flüstern können: „Wir wollen nach Ägypten ziehenund dort einige Zeit bleiben!“ Es steht ja fest, daß Jesus den vollenGebrauch der Vernunft besaß vom Augenblick an, da ihn die Allerselig-ste Jungfrau in ihrem Schoß empfing. Wenn er auch nicht reden wollte,bevor es an der Zeit war, wenn er dieses Wunder auch nicht wirken

Page 59: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

58 3. Geistliche Gehilfinnen

wollte, so hätte er es doch geistigerweise seiner heiligsten Mutter oderdem hl. Josef mitteilen können. Warum tat er es nicht? Warum über-ließ er dies lieber dem Engel, der doch weit unter Unserer Lieben Fraustand? Auch das hat sein Geheimnis. Der Herr wollte dem hl. Gabrielin keiner Weise vorgreifen, war doch dieser Engel vom himmlischenVater beauftragt, der glorreichen Jungfrau das Geheimnis der Mensch-werdung zu verkünden und gleichsam als Haushofmeister der heiligenFamilie darüber zu wachen, daß bei den verschiedenen Ereignissennichts an das neugeborene Kindlein herankäme, was ihm das Lebenkosten könnte. Darum auch veranlaßte er den hl. Josef, es eilends nachÄgypten zu bringen, damit es der Grausamkeit des Herodes entgehe,der ihm nach dem Leben strebte. Der Heiland wollte nicht selbständigsein, er wollte sich tragen lassen, gleichviel, von wem und wohin, als ober sich selbst für zu wenig klug gehalten hätte, sich und seine Familie zuführen. Und so läßt der Herr den Engel frei schalten und walten, einenEngel, der weder an Weisheit noch an Wissenschaft auch nur von wei-tem an die göttliche Majestät herankommen konnte.

Wir aber, wir getrauen uns zu behaupten, daß wir uns sehr wohl sel-ber führen könnten, daß wir die von Gott uns zugeteilten Führer undsichtbaren Engel nicht mehr brauchen, wir wagen es, ihre Hilfe abzu-lehnen, weil wir an ihrer Fähigkeit, uns zu betreuen, zweifeln? Sagt mirdoch, stand denn der Engel über dem Herrn oder über Unserer LiebenFrau? Hatte er mehr Verstand, mehr Urteil? Auf keinen Fall! War ergeeigneter oder mit besonderen Gnaden ausgestattet? Auch das ist nichtdenkbar, denn der Herr war Gott und Mensch zugleich, somit war auchUnsere Liebe Frau als die Mutter Gottes reicher an Gnaden undVollkommenheiten als alle Engel insgesamt. Und dennoch: Der Engelbefiehlt und Jesus und Maria gehorchen.

4. Betrachtet auch die Rangordnung, die in dieser Familie eingehal-ten wird. Jedermann weiß, daß die Mutter Gottes über dem hl. Josefstand, daß sie mehr Einsicht und Eignung besaß, der Familie und demHaus vorzustehen, als der hl. Josef. Trotzdem wendet sich der Engel füralles, was auf der Hinreise wie auf der Rückreise zu geschehen hatte,und für alles andere nicht an die Mutter Gottes, sondern an den hl.Josef. Scheint uns das nicht eine Taktlosigkeit gegen die Herrin desHauses gewesen zu sein, die sie gewiß war, da sie doch das Kleinod desewigen Vaters auf den Armen trug. Hätte sie nicht Ursache gehabt,wegen dieses Vorgehens und dieser Behandlung beleidigt zu sein? Hät-

Page 60: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

593. Geistliche Gehilfinnen

te sie nicht zu ihrem Gemahl sagen können: „Warum soll ich nachÄgypten ziehen, da es mir mein Sohn nicht geoffenbart und auch derEngel nicht gesagt hat?“ Aber Unsere Liebe Frau sagt kein Wort, eskränkt sie nicht, daß sich der Engel an den hl. Josef wendet, sie ge-horcht ganz einfach, weil sie weiß: Gott hat es so angeordnet. Sie fragtnicht nach dem Warum, es genügt ihr, daß Gott es so haben will unddaß es ihn freut, wenn man ohne Wenn und Aber gehorcht. Sie hättesagen können: „Ich stehe doch höher als der Engel und der hl. Josef.“Sie sagt aber nichts, denkt nicht einmal daran.

Seht, Gott behandelt gerne die Menschen so, um sie zu lehren, ganzheilig, ganz aus Liebe zu gehorchen. Der hl. Petrus war ein derber,ungeschlachter Mann, ein alter Fischer aus niederem und unangesehe-nem Stand. Der hl. Johannes hingegen war ein feiner, junger Mann,freundlich, liebenswürdig und gebildet, während Petrus ungebildet war.Und doch will Gott, daß gerade der hl. Petrus die anderen führe unddaß er der Hirte aller werde; er will, daß der hl. Johannes unter denensei, die vom hl. Petrus geführt werden und ihm gehorchen. Wie merk-würdig ist doch der menschliche Geist! Er will sich nicht dazu auf-schwingen, die verborgenen Geheimnisse Gottes und seinen heiligenWillen anzubeten, wenn er nicht in etwa auch das Warum versteht.„Aber ich habe doch mehr Wissen und mehr Erfahrung“, und weißGott, was man noch alles vorbringt. Einwände, die nur zu Unruhe,Verdrossenheit und zu verbitterten Reden führen. „Warum gibt manmir dieses Amt? Warum hat man das jetzt gesagt? Warum weist mander Schwester gerade diese Arbeit zu und nicht eine andere?“ Wie trau-rig! Wenn man schon einmal alles kritisch untersucht, dann ist man aufdem besten Weg, den Herzensfrieden zu verlieren. Gott will es so – dasist Grund genug und muß uns genügen. – „Wer aber bürgt mir dafür,daß es Gottes Wille ist?“ – Wir möchten, daß Gott uns alles in vertrau-licher Mitteilung offenbare. Erwarten wir denn, daß er uns seinen Wil-len durch einen Engel wissen lasse? Das tat er nicht einmal bei UnsererLieben Frau, wenigstens nicht im vorliegenden Fall. Er ließ ihr viel-mehr seinen Willen durch den hl. Josef sagen, dem sie gleichsam alsihrem Vorgesetzten unterstellt war. Wir möchten zu gerne, daß Gottselbst uns belehrt über dies und das, sodaß er uns Kenntnis gebe inEkstasen, Verzückungen und Visionen. Weiß Gott, was für dummesZeug wir uns da einbilden, statt uns demütig von jenen, die Gott uns andie Seite gegeben, den lieblichen und allgemeinen Weg heiliger Füg-

Page 61: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

60 3. Vertrauen auf die Vorsehung

samkeit führen zu lassen, ihren Weisungen zu folgen und die heiligeOrdensregel zu beobachten.

So wollen wir denn nicht über die Fähigkeit jener nachgrübeln, de-nen wir Gehorsam schulden; es mag uns genügen zu wissen, daß Gottunseren Gehorsam fordert. Dann werden wir unsere Seele dazu brin-gen, ganz schlicht den beseligenden Weg heiliger und friedlicher De-mut zu gehen, wodurch wir Gott unendlich wohlgefällig werden.

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

Wir kommen zum dritten Punkt unserer Evangelienbetrachtung:„Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten und bleibedort, bis ich es dir sage.“

1. Wahrhaftig, des Engels Rat ist kurz und bündig; er behandelt denhl. Josef ganz wie einen guten Ordensmann: „Geh jetzt und komm erstwieder, wenn ich es dir sage.“ Die Art und Weise, wie der Engel mitdem hl. Josef verfährt, ist die dritte Lehre für uns: Wir sollen für dieFahrt auf dem Meer der göttlichen Vorsehung weder Brot noch Rudernoch Segel noch Steuer noch irgendwelche Vorräte mitnehmen, son-dern die Sorge um uns und unsere Angelegenheiten ganz dem Herrnüberlassen, ohne Wenn und Aber, ohne Angst vor dem, was vielleichtvorkommen könnte. Der Engel sagt ganz einfach: „Nimm das Kindund seine Mutter und fliehe nach Ägypten!“ Er sagt nichts über denWeg, nichts von den Reisevorräten, nichts über das genaue Ziel, er sagtnicht, wer sie in Ägypten aufnehmen werde noch wovon sie dort lebensollten. Hätte da der hl. Josef nicht widersprechen und fragen können:„Gleich soll ich gehen? Eilt denn das so?“ Ja, es muß jetzt sein. DiesesJetzt lehrt uns das Sofort, das der Heilige Geist von uns fordert, wenner uns zuruft: „Auf, auf! Heraus aus dir selber, heraus aus deinen Un-vollkommenheiten!“ Der Heilige Geist mag eben kein Aufschieben,kein Zuwarten leiden.

Seht doch, wie Gott mit Abraham, dem Vater und Vorbild voll-kommener Ordensleute, umgeht: „Ziehe weg aus deinem Land undvon deiner Sippe“ (Gen 12). „Wie meinst Du, Herr? Ich soll die Stadtverlassen? Sag mir doch, soll ich nach Osten oder nach Westen gehen?“So hätte Abraham fragen können. Aber er erlaubt sich keine Widerre-de, weigert sich nicht, verläßt seine Heimat und geht, wohin GottesGeist ihn führt.

Page 62: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

613. Vertrauen auf die Vorsehung

Der hl. Josef hätte zum Engel auch sagen können: „Du heißt mich dasKind und seine Mutter nehmen und fortziehen, dann sag mir doch auch,woher ich für sie zu essen bekomme: du weißt ja, daß ich kein Geldhabe.“ Nichts von all dem sagt Josef; er überläßt alles dem lieben Gott,der schon dafür sorgen wird. Und Gott sorgte auch für sie, er half, wennauch nicht in reichem Maße, doch immerhin soweit, daß Josef mitHilfe seiner Arbeit und mildtätiger Menschen seinen bescheidenen Le-bensunterhalt finden konnte. In ähnlicher Weise sind auch alle Ordens-leute der altchristlichen Zeit herrliche Vorbilder des Gottvertrauens.Sie waren davon überzeugt, daß Gott ihnen alles zum Leben Notwendi-ge verschaffen würde, und überließen sich so gänzlich der Fürsorge dergöttlichen Vorsehung.

2. Aber nicht nur für das zeitliche Wohl müssen wir uns der göttlichenVorsehung überlassen, sondern auch und besonders für unser geistlichesLeben, für das Streben nach Vollkommenheit. Das übertriebene Sor-gen um das eigene Ich bringt um den inneren Frieden, macht launischund wetterwendisch. Wir halten alles für verloren, wenn uns etwas ge-gen den Strich geht, wenn wir uns nicht ganz vollkommen sehen oderuns bei ganz geringen Fehlern ertappen. Ist es denn etwas so Besonde-res, wenn wir auf dem Weg zur Vollkommenheit hin und wieder stol-pern? – „Aber ich bin so erbärmlich, so voller Fehler!“ Siehst du esein? Dann danke Gott für diese Erkenntnis und jammere nicht so viel.Wohl dir, wenn du erkennst, daß du ganz armselig bist! Danke Gott fürdiese Einsicht, sei nicht so weich mit dir selbst und laß das Klagen überdeine Schwäche.

Verweichlichen wir unseren Körper, so widerspricht dies der Voll-kommenheit, aber noch mehr widerstrebt ihr die Verzärtelung der See-le. – „Ach, ich bin dem Heiland so untreu und habe daher keine Freudemehr am Beten.“ – Jammerschade, gewiß! – „Aber ich muß so oft dieFreuden Gottes entbehren, es scheint mir daher, daß der Gott allerFreuden mir nicht gut ist.“ – Schön gesagt! Gibt denn Gott denen, dieer lieb hat, immer nur Freuden? Waren je reine Geschöpfe würdiger,von Gott geliebt zu werden, als Maria und Josef? Wurde je eines mehrvon Gott geliebt als diese beiden? Schaut, ob sie immer nur Freudenhatten! Gab es je ein tieferes Leid als das des hl. Josef, da er wahrnahm,daß Maria Mutter geworden und ohne sein Zutun? Groß war sein Kum-mer und seine Herzensnot, auch darum so groß, weil ja die Liebe dieheftigste der Leidenschaften ist und die Eifersucht der Gipfel allen

Page 63: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

62 3. Vertrauen auf die Vorsehung

Leides, – wie ja auch die Braut im Hohelied (8,6) sagt: „Stark wie derTod ist die Liebe.“ Die Liebe bringt in der Seele dieselben Wirkungenhervor wie der Tod im Leib. Der Eifer aber, die Eifersucht „ist hart wiedie Hölle“. Denkt euch also hinein in das große Weh des armen hl.Josef, denkt euch aber auch hinein in das Herzeleid Unserer LiebenFrau, als sie merkte, welche Meinung er von ihr haben mußte, der ihrund dem auch sie so teuer war. Die eifernde Liebe zehrte an ihm, erwußte sich keinen Rat; es schien ihm das Beste, sie stillschweigend zuentlassen, denn Vorwürfe wollte er ihr keine machen, dafür war sie ihmzu lieb und hatte er sie zu hoch geschätzt.

„Ja, ich leide aber so sehr unter meinen Versuchungen und Unvoll-kommenheiten!“ – Das glaube ich gerne. Aber sagt, ist das zu ver-gleichen mit dem Kummer des hl. Josef und Unserer Lieben Frau?Und selbst wenn, hätten wir überhaupt ein Recht zu klagen und zujammern, da auch der hl. Josef sich nicht beklagt und nichts anmerkenläßt? Er sagt kein einziges bitteres Wort, ist nicht unfreundlich mitUnserer Lieben Frau, tut ihr nichts zuleide, sondern trägt still seinenKummer und hat nur die Absicht, sie zu entlassen. Weiß Gott aber, waser ihr alles hätte antun können!

Du sagst: „Diese Person ist mir so unsympathisch, ich muß mich soüberwinden, um mit ihr nur zu reden; alles was sie tut, ärgert mich.“ –Das hat nichts zu sagen; auf keinen Fall darf man ihr den Widerwillenmerken lassen. Was kann sie dafür? Lernen wir uns benehmen wie Un-sere Liebe Frau und St. Josef. Bewahren wir bei allem, was uns gegenden Strich geht, die Ruhe und lassen wir Gott sorgen; er wird denKummer wegnehmen, wenn er es für gut findet. Unsere Liebe Frauhätte es in der Hand gehabt, den Sturm zu beschwichtigen; sie wollte esaber nicht tun und überließ lieber den Ausgang dieser Angelegenheitganz einfach der göttlichen Vorsehung.

3. Wie verschieden, ja förmlich in schriller Dissonanz klingen dochan der Laute Baß und Diskant, die tiefste und höchste Saite, und wienotwendig ist es, sie aufeinander abzustimmen, soll das LautenspielWohlklang besitzen. Mit der Laute unserer Seele ist es nicht anders; damüssen auch zwei dissonierende Saiten auf einander abgestimmt wer-den; Sorgfältiges Mühen und Sorglosigkeit um die eigene Vervollkomm-nung, für die wir Gott ganz sorgen lassen wollen.5 Ich will damit sagen:Wir sollen für unsere Vervollkommnung jene sorgfältige Mühe verwen-den, die Gott von uns verlangt, aber trotzdem das Sorgen um unsere

Page 64: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

633. Vertrauen auf die Vorsehung

Vollkommenheit Gott überlassen. Gott will, daß wir mit ruhiger undgelassener Sorgfalt alles tun, was unsere Vorgesetzten für gut finden,und daß wir immer gewissenhaft auf dem Weg vorwärtsgehen, den Or-densregel und Gehorsam uns weisen, – für alles Übrige aber uns seinerväterlichen Fürsorge überlassen und, soweit es möglich ist, den Seelen-frieden bewahren, denn „im Frieden ward bereitet Gottes Ort“ (Ps76,3), d. h. in einem zur Ruhe gekommenen und ruhegesättigten Her-zen.

Ihr wißt ja, wenn es auf einem See ganz windstill geworden ist undkein Lüftchen die Wellen kräuselt, dann spiegelt sich in einer wolken-losen Nacht der ganze Sternenhimmel so schön klar darin ab, daß esscheint, als sähet ihr die Pracht über euch nun zu euren Füßen: sovermag auch die Seele das Bild Unseres Herrn in sich aufzunehmen,wenn es in ihr windstill geworden, d. h. wenn keine unnütze Sorge,keine Laune, keine Verstimmung sie stört und beunruhigt. Doch wenndie Stürme der Leidenschaft sie verwirren, trüben und aufwühlen, wennsich die Seele von ihnen beherrschen und nicht die Vernunft Herr seinläßt, – dann wird die Seele niemals der glatte Spiegel sein können, aufdem das so schöne und so liebenswürdige Antlitz unseres gekreuzigtenHerrn und all seine herrlichen Tugenden erscheinen, und niemals wirdsie sein Brautgemach werden.

Wir wollen also die Sorge um uns dem Belieben der göttlichen Vor-sehung überlassen, dabei aber redlich und schlicht bemüht sein, unsnach besten Kräften zu bessern, sorgsam darauf bedacht, daß nichtsunsere Seele verwirre noch aus der Ruhe bringe.

4. Nun noch ein Wort zum Auftrag, so lange in Ägypten zu bleiben,bis durch den Engel die Weisung zur Rückkehr kommt.

Auch da fragt der hl. Josef nicht: „Wann, Herr, wirst Du mir diessagen?“ Er belehrt uns damit, daß wir bei Anordnungen nicht fragensollen, auf wie lange Zeit sie gelten, sondern uns einfach an die Aus-führung machen und den vollkommenen Gehorsam Abrahams nach-ahmen. Als Gott ihm befahl, seinen Sohn zu opfern, kam weder Wider-rede noch Klage über seine Lippen, er führte vielmehr den Befehl Got-tes augenblicklich aus. Daher gab ihm Gott auch einen Erweis seinerbesonderen Huld. Er begnügte sich mit seiner Willensbereitschaft undließ ihn einen Widder finden, den er dann an Stelle seines Sohnes aufdem Berg opferte.

Page 65: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

64 3. Vertrauen auf die Vorsehung

5. Zum Schluß möchte ich noch darauf aufmerksam machen, wieeinfach der hl. Josef dem Engel gehorchte, als ihm dieser befahl, nachÄgypten zu ziehen. Hätte er nicht gut sagen können: „Du trägst mir auf,das Kind fortzubringen, um es hier einem Feind zu entziehen, dabeigibst du uns aber tausend Feinden preis, da wir doch Israeliten sind.“Der Heilige aber grübelt nicht über den Befehl nach und zieht ganzruhig und vertrauensvoll nach Ägypten. Wir müssen es auch so ma-chen. Überträgt man uns ein Amt, so wollen wir nicht sagen: „MeinGott, ich bin so unüberlegt, ich werde nichts als Dummheiten ma-chen“; oder: „Ich bin jetzt schon so zerfahren, wie wird das erst wer-den, wenn ich Pförtnerin bin, wo man an der Pforte doch alle mögli-chen Neuigkeiten hört. Dürfte ich aber in meiner Zelle bleiben, o dakönnte ich so zurückgezogen sein; nichts würde da meine Ruhe undSammlung stören.“

Geht nur in aller Einfalt nach Ägypten, mitten unter die Feinde, dieihr dort finden werdet! Gott, der euch dorthin sendet, wird euch behü-ten, und ihr werdet nicht getötet werden. Bleibt ihr aber im Land Israel,wo der Feind eures Willens herrscht, werdet ihr sicher des Todes sein.– Sucht man sich selber Ämter und Beschäftigungen, so ist zu befürch-ten, daß man dann seinen Pflichten nicht genügen wird. Übergibt manuns aber ein Amt, eine Beschäftigung im Gehorsam, dann nehmen wires doch ohne Widerrede an! Gott ist mit uns: er läßt uns dann fürunsere Vervollkommnung mehr gewinnen, als wenn uns dieses Amtnicht übertragen worden wäre. Ich erinnere euch an den Ausspruch deshl. Kassian, den ihr schon gehört habt, aber gewiß noch einmal mitNutzen vernehmen werdet: „Zur Tugend gehört nicht, daß uns die Ge-legenheiten zum Fall in die entgegengesetzten Fehler mangeln. Es istnicht gesagt, daß ich geduldig und sanftmütig bin, wenn ich den Um-gang mit den Menschen meide. So bin ich z. B., als ich ganz allein inmeiner Zelle war, in so heftigen Zorn geraten, daß ich beim Feuer-machen den Stahl auf den Boden geworfen habe aus Wut darüber, daßdas Werg nicht Feuer fangen wollte.“

Ich muß nun Schluß machen. Ich lasse euch beim Heiland in Ägyp-ten zurück. Ich meine, und andere denken das gleiche, er wird wohlschon damals, wenn er mit der ihm vom hl. Josef aufgetragenen Arbeitfertig war und Zeit dazu hatte, kleine Kreuze zusammengenagelt habenzum Zeichen, wie sehr es ihn nach seiner letzten Stunde, der Stunde derWelterlösung verlangte. Es lebe Jesus!

Page 66: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

65

4. Gespräch

Herzlichkeit und Geist der DemutHerzlichkeit und Geist der DemutHerzlichkeit und Geist der DemutHerzlichkeit und Geist der DemutHerzlichkeit und Geist der Demut11111

H e r z l i c h k e i t

Unsere Mutter2 fragt: Was haben die Schwestern zu tun, damit ihreLiebe zueinander bei aller Herzlichkeit nicht in unschickliche Ver-traulichkeit ausarte? Eigentlich geben die Regeln hierüber schon ge-nügend Aufschluß. Unsere Mutter wird aber wahrscheinlich wissenwollen, wie diese uns so sehr empfohlene Herzlichkeit beschaffen seinsoll. – Über diese erste Frage müssen wir uns vor allem klar werden;dann wird es uns auch leichter, in die zweite Frage, das Maßhalten inden Äußerungen der Herzlichkeit, Licht zu bringen.

I .I .I .I .I .

Dem Wunsch unserer Mutter willfahrend, wollen wir also zunächstdas eingehender besprechen, was in den Satzungen wohl ganz gut, abernur in großen Linien festgelegt ist. Worin besteht die herzliche Liebe,die die Schwestern untereinander pflegen sollen?

1. Da müssen wir vor allem wissen, daß Herzlichkeit einfach dasWesen aufrichtiger, wahrer Freundschaft ist. Diese kann es aber nurzwischen vernunftbegabten Wesen geben, wie für ihr Entstehen und ihrFortdauern nur Vernunftgründe maßgebend sein können.

Liebe zueinander haben auch Tiere, Freundschaft jedoch nicht, weilsie vernunftlose Wesen sind. Sie lieben sich, weil sie ihrer Natur nachzusammenpassen. Ja, sie können sogar Menschen lieben, das beobach-ten wir oft genug. Einige Schriftsteller wußten darüber Merkwürdigeszu berichten. So hing z. B. ein Delphin sosehr an einem Kind, daß er beidessen Tod auch einging. – Trotzdem kann man dies nicht Freundschaftnennen, denn zur Freundschaft gehört sowohl Gegenseitigkeit der Lie-be wie auch Vernunft als das Band der Freundschaft. Ich betone das,weil es Menschen gibt, die Freundschaften schließen, ohne die Ver-nunft dabei zu befragen. Solche Beziehungen verdienen aber den Na-men Freundschaft nicht, weil sie kein edles Ziel verfolgen und nichtvon der Vernunft geleitet sind. So kommen z. B. im Fasching übermü-tige Burschen zusammen, trinken einander Bruderschaft zu und gebär-

Page 67: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

66 4. Herzlichkeit

den sich, wie wenn sie große Freunde wären. In Wirklichkeit sind sie esnicht. Was sie verbrüdert, sind Verrücktheiten und nicht die Vernunft,ohne die es keine echte Freundschaft geben kann.

2. Die Erfahrung lehrt uns, daß zur Freundschaft außer der Vernunftnoch eine gewisse Übereinstimmung in Beruf, Ideal oder Veranlagung ge-hört. Die festeste und echteste Freundschaft ist doch wohl die zwischenBrüdern. Darum nannten sich auch die Christen der Urkirche Bruderund Schwester. Als später die ursprünglich so warme Bruderliebe imchristlichen Volk erkaltete, entstanden die Orden, deren Mitgliedern eszur Pflicht gemacht wurde, sich Brüder und Schwestern zu nennen. Siesollten damit zeigen, daß sie herzliche und aufrichtige Freundschaft für-einander empfänden oder zum mindesten anstreben wollten.

Weder die Liebe des Vaters zu seinem Kind, noch die Liebe des Kin-des zum Vater ist Freundschaft. Die Liebe ist hier grundverschieden; esfehlt die Beziehung, von der wir eben sprachen. Die Liebe der Eltern istgetragen von Würde und Autorität, die der Kinder erfüllt von Ehr-furcht und Untertänigkeit. Unter Geschwistern hingegen ist die Liebeaufeinander abgestimmt, da auch die Lebensverhältnisse zusammen-stimmen. Damit ist dann auch eine feste, dauernde und gediegeneFreundschaft gegeben, die mit keiner anderen verglichen werden kann.Alle anderen Arten von Freundschaft sind entweder ungleich oderkünstlich herbeigeführt. Das gilt z. B. von den Beziehungen der Ehe-leute untereinander, die durch schriftliche, notariell beglaubigte Ver-träge oder einfach durch mündlich gegebenes Versprechen zustande-kommen. Hierher gehören auch jene Freundschaften zwischen Welt-kindern, die aus materiellem Interesse oder gar aus leichtfertigen Grün-den geschlossen werden und meist in die Brüche gehen. Die Freund-schaft unter Brüdern hingegen hat Bestand, weil nichts Gemachtes da-bei ist, daher ist sie auch vorbildlich. Aus diesem Grund nennen sichauch die Ordensleute Brüder und Schwestern, ihre Liebe verdient wirk-lich Freundschaft zu heißen und ihre Freundschaft ist nicht gewöhn-lich, sondern herzlich.

3. Ihr fragt aber nun: Was ist eigentlich herzliche Freundschaft? – Ichantworte: Es ist eine Freundschaft, die im Herzen wurzelt. Die Liebehat ihren Sitz im Herzen. Wir können die Mitmenschen nie zu viellieben und somit auch in der Liebe nie die Grenzen der Vernunft über-schreiten, sofern die Liebe wirklich im Herzen wurzelt; die Äußerungender Liebe allerdings können verkehrt, übertrieben und unvernünftig

Page 68: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

674. Herzlichkeit

sein. Der glorreiche hl. Bernhard sagt: „Das Maß der Liebe zu Gott istLiebe ohne Maß.“ Und weiter sagt er: Setze der Liebe keine Schranken,lasse sie ihre Äste breiten, so weit sie nur kann. Was für die Gottesliebegilt, das gilt auch für die Nächstenliebe; doch muß die Liebe zu Gottden Ton angeben, muß den höchsten Rang einnehmen. Tut sie das, danndürfen wir unseren Mitmenschen so viel Liebe schenken, als wir nurimmer haben. Es darf uns nicht genug sein, sie nach göttlichem Gebotnur zu lieben wie uns selbst; wir müssen sie mehr lieben als uns selbst;das ist das Gebot der Vollkommenheit, so lehrt es uns das Evangelium:„So, wie ich euch geliebt habe, sollt auch ihr einander lieben,“ (Joh13,34; 15,12) sagt der Herr. In die Worte, „wie ich euch geliebt habe“,muß man sich recht hineinversenken: Sie bedeuten, daß ihr einandermehr lieben sollt als euch selbst. Der Herr hat ja die Menschen immersich selbst vorgezogen; er handelt auch jetzt immer wieder so, sooft wirihn in der heiligen Kommunion empfangen, sooft er uns da zur Speisewird. Daher verlangt er auch von uns eine so große Liebe, daß wir im-mer die anderen uns selbst vorziehen. Alles hat er für uns getan, was ernur tun konnte, nur das eine: sich dem ewigen Verderben anheimge-ben, das tat er nicht, hat es weder tun dürfen, noch tun können, weil ernicht sündigen konnte; nur das Sündigen führt ja zum ewigen Verder-ben. – Weil er alles für uns getan, deshalb will er, daß auch wir so vielfüreinander tun, als wir nur können; – das gehört einfach zur Vollkom-menheit – ausgenommen das eine: die ewige Seligkeit verlieren wol-len. Von diesem allein abgesehen, sollen wir uns den Nächsten und vorallem unseren Mitschwestern niemals versagen, sollen vielmehr im-mer bereit sein, alles für sie zu tun und zu erleiden, was immer es sei.So fest und treu und herzlich soll unsere Freundschaft sein.

4. Diese herzliche Liebe muß zwei Tugenden als Begleiterinnen ha-ben, die Freundlichkeit und die Geselligkeit. Die Freundlichkeit breiteteine gewisse Liebenswürdigkeit über die sachlichen und geschäftlichenBeziehungen aus, die Geselligkeit macht uns zuvorkommend und an-genehm im zwanglosen Verkehr wie in der Unterhaltung.

Jeder Tugend entsprechen, wie schon öfter erwähnt wurde, zwei ein-ander entgegengesetzte Laster. Die Freigebigkeit kann in Verschwen-dung ausarten oder in Geiz und Knauserei ersticken. Verausgabt sichein Mensch über seine Verhältnisse, so ist er ein Verschwender, gibt erweniger, als er hergeben könnte, dann ist er ein Geizhals und Knauser.Auch die Tugend der Freundlichkeit steht zwischen zwei Lastern, dem

Page 69: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

68 4. Herzlichkeit

düsteren Ernst und der steifen Würde einerseits und der übertriebenenZärtlichkeit und der Schmeichelzunge andererseits. Die Tugend derFreundlichkeit hält die goldene Mitte. Sie versteht sich zu Zärtlichkei-ten nur da, wo sie ihr angebracht erscheinen, und bewahrt dabei in An-passung an die betreffende Person oder an die jeweiligen Umstände einefeine Zurückhaltung. Ich bin schon dafür, daß man auch zärtlich sei, –ich meine das im Ernst, nicht im Scherz, – und zwar dann, wenn eineSchwester krank oder traurig ist oder wenn sie einen Kummer hat; es tutihr dann so wohl, wenn man recht lieb mit ihr ist. Wollen wir bei einerKranken unser gewohntes ernstes Gesicht machen und mit ihr nichtfreundlicher umgehen, als wenn sie gesund ist, so wäre das verkehrt. Imallgemeinen aber soll man mit Liebkosungen nicht so verschwenderischsein, mit zuckersüßen Worten nicht so herumwerfen und den Nächstbe-sten förmlich damit bombardieren. Verzuckerte Speisen widersteheneinem, weil sie zu süß und fad schmecken. Genau so zuwider wird einZuviel an Zärtlichkeiten. Sie verfehlen ihren Zweck, man kümmert sichnicht um gedankenlos gegebene Liebeserweise. Wollte man auf Speiseneine ganze Hand voll Zucker oder Salz streuen, so würden sie versalzenoder zu süß und deshalb ungenießbar; sind sie aber im rechten Verhält-nis gesalzen oder gezuckert, so schmecken sie gut und regen den Appetitan. So haben auch Liebenswürdigkeiten, die klug und maßvoll gewährtwerden, ihr Gutes und wirken wohltuend.

Nun zur Tugend der Geselligkeit. Sie verlangt, daß man zu heiligem,maßvollem Frohsinn seinen Teil beitrage und sich an der Erholung undan den zwanglosen Unterhaltungen, die unseren Mitmenschen Freudeund Entspannung geben, gerne beteilige. Wir dürfen also den anderennicht lästig fallen, weil wir dabei düster oder verdrießlich dreinschauenoder uns weigern, in der Erholungszeit fröhlich mitzutun; – auch nichtwie Pedanten alles austüfteln und jedes Wort hundertmal im Mundherumdrehen, damit es ja genügend überlegt sei und nicht am Endeangefochten werden könnte. Solche Leute haben bei jeder Rede undHandlung Angst vor der Kritik; sie erforschen andauernd ihr Gewis-sen, nicht um zu wissen, ob sie Gott beleidigt, sondern ob sie jemandAnlaß gegeben hätten, von ihnen eine geringere Meinung zu haben.Deshalb mag sie niemand leiden; ihr Verhalten ist genau das Gegenteilvon Geselligkeit, denn diese Tugend verlangt ein offenes und freundli-ches Wesen, sie will, daß man gerne alles tue, um den Mitmenschen zuhelfen und ihnen Freude zu bereiten.

Page 70: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

694. Herzlichkeit

Von der Geselligkeit haben wir auch schon im Gespräch über dieBescheidenheit3 gesprochen; somit will ich mich nicht lange dabei auf-halten. – Es ist sehr schwer, ins Schwarze zu treffen, auch wenn man gutzielt und gut schießt. Aber das ist sicher, hinzielen müssen wir aufsSchwarze, auf den Kern der Tugend, die wir über alles lieben sollen, obes sich um Demut, Herzlichkeit oder eine andere Tugend handelt. Tref-fen wir aber nicht gleich ins Schwarze, so sollen wir uns darüber nichtwundern und dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen; wenn wir nurwenigstens die Scheibe treffen und der Schuß möglichst nahe beimSchwarzen sitzt. Selbst die Heiligen haben nicht alle Tugenden vollkom-men getroffen. Der Herr und Unsere Liebe Frau allein waren in jederTugend gleich vollkommen. Die Heiligen haben die Tugenden sehr un-terschiedlich geübt. Wie verschieden im Charakter waren z. B. der hl.Augustinus und der hl. Hieronymus. Das zeigt sich deutlich in ihrenSchriften. Wer war milder als der hl. Augustinus? Alles, was er ge-schrieben, atmet Sanftmut und Güte. Wie unerbittlich streng, ich möchtefast sagen rauhborstig war dagegen der hl. Hieronymus! Schaut ihn nuran mit seinem langen Bart, in der Hand einen Stein, mit dem er sich dieBrust zerschlägt! Und in seinen Briefen wettert er eigentlich fast im-mer. Und doch war der eine wie der andere außerordentlich tugend-haft. Augustinus zeichnete sich durch Milde, Hieronymus durch Stren-ge aus; sie besitzen nicht diese zwei Tugenden in gleichem Maße, sindaber trotzdem große Heilige. Auch die heiligen Apostel Paulus undJohannes waren große Heilige, aber auch nicht gleich milde und gleichstreng, sie waren ja von ganz verschiedener Gemütsart, das sieht man inihren Schriften. Der hl. Johannes ist ganz Sanftmut und Innigkeit. „Mei-ne Kindlein,“ so schreibt er stets in seinen Briefen, liebt er doch seineChristengemeinde überaus zärtlich. Die Liebe des hl. Paulus zu seinenGemeinden war wohl nicht so zärtlich, dafür aber stark undunerschütterlich.

Wundern wir uns also nicht, wenn wir nicht alle gleich sanft undgleich milde sind. Die Hauptsache ist, daß wir den Nächsten mit demHerzen lieben, daß wir ihn lieben, wie der Herr uns geliebt hat; d. h.also, daß wir ihn mehr lieben als uns selbst, daß wir ihn in allem unse-rer eigenen Person vorziehen und ihm nichts abschlagen, was ihm die-nen könnte. Nur das eine, wie gesagt, dürften wir nicht tun: uns ihmzuliebe dem ewigen Verderben preisgeben. Nehmen wir auch ruhigalle Gelegenheiten wahr, unsere Liebe nach außen zu bekunden, und

Page 71: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

70 4. Herzlichkeit

passen wir uns dem Mitmenschen an, wann immer es vernünftigerwei-se erforderlich oder nützlich erscheint. Freuen wir uns mit den Fröhli-chen und weinen wir „mit den Weinenden“ (Röm 12,15).

I I .I I .I I .I I .I I .

Ich komme nun zum zweiten Teil unserer Frage: Wir sollen den Mit-schwestern unsere Liebe zeigen, ohne dabei ungehörig vertraulich zuwerden, wie es in der Ordensregel heißt. Wie soll man sich also daverhalten? Vor allem so: es muß über unserer Vertraulichkeit und un-seren Freundschaftserweisen der Schimmer der Heiligkeit liegen, wiedies der hl. Paulus in seinen Briefen mit den Worten andeutet: „Grüßeteinander mit heiligem Kuß“ (Röm 16,16; 1 Kor 16,20; 2 Kor 13,12).Es war damals so Brauch, daß Freunde sich bei einer Begegnung mitdem Kuß begrüßten; auch der Herr paßt sich seinen Aposteln gegen-über dieser Sitte an. Das ersehen wir aus dem Verrat des Judas, der denKuß mißbrauchte, um den Herrn zu überliefern. „Den ich küssen wer-de, der ist’s; den ergreifet“ (Mt 26,48 f).

Die Ordensleute begrüßten einander ehedem mit den Worten: „Deogratias“ und gaben so ihrer Freude, sich zu sehen, Ausdruck. Damitwollten sie sagen: Dank sei Gott für die Freude, dich zu sehen, meinlieber Bruder. Zeigen wir also meine lieben Töchter, den Mitschwesternruhig, daß wir sie lieb haben und gern mit ihnen zusammen sind; gebenwir aber diese Freundschaftserweise immer auf heilige Weise, sodaßdabei Gott nicht beleidigt, sondern verherrlicht und gepriesen werde.Der hl. Paulus lehrt uns, der Liebe heiligen Ausdruck zu geben, er willsie aber auch liebenswürdig ausgedrückt haben, so wie er z. B. den Rö-mern schreibt: „Grüßet“ mir den und den, „er weiß“, daß er mir teuerist,„... grüßet jenen anderen, den ich wie einen Bruder liebe, grüßetseine Mutter, die auch die meine ist ...“ (Röm 16,5-13).

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

E i n i g e F r a g e n

1. Sie fragen mich, meine Tochter, ob Sie im Chor oder im Speise-saal, wenn die anderen lachen, mitlachen sollen, nachdem man Sie auchsonst schon zu ernst findet. Sie glauben gegen die Herzlichkeit zu ver-

Page 72: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

714. Herzlichkeit

stoßen, wenn Sie nicht mittun? – Nun, im Chor darf man überhauptnicht lachen, das ist ganz und gar nicht der Ort dafür. Wenn aber imSpeisesaal alle lachen, dann würde ich mitlachen. Lacht aber ein Dut-zend Schwestern nicht mit, dann halte ich es mit diesen.

2. Nun gleich hier noch ein paar Worte über die Abneigung. Wir ha-ben ja schon öfter darüber gesprochen, ich kann mich also kurz fassen.Ist uns jemand nicht so sympathisch, so können wir auch in sein Lachennicht so herzlich einstimmen; und wenn wir nicht gut beisammen sind,so ist es uns auch nicht möglich, so heiter zu sein, das braucht uns nichtzu wundern. Freilich, ein wenig lächeln können und sollten wir schonin solchen Fällen; jedenfalls dürfen wir nicht abweisend und zugeknöpftsein, wenn man mit uns spricht. Gelingt uns wenigstens das, dann dür-fen wir schon ganz zufrieden sein, denn es ist nicht so einfach, einfreundliches Gesicht zu zeigen, wenn wir leidenschaftlich erregt sind;vor allem ist es dann schwer, wenn uns jemand zuwider ist oder wennwir uns nicht wohl fühlen. Doch über diese Dinge haben wir schon sooft gesprochen, deshalb genügt dieser Hinweis: Richten wir uns aufdem Weg zur Vollkommenheit ganz nach dem höheren Seelenteil undkümmern wir uns nicht um die Erregung im niederen Seelenteil, sonstkommen wir aus den Sorgen und Aufregungen niemals heraus und blei-ben immer auf derselben Stelle kleben. Lassen wir die niedere Seelebrummen, überhören wir ihre Wünsche, hören wir nur auf die Ver-nunft, die uns zuredet, uns in allem und bei allem zu überwinden, da-mit wir Gott wohlgefallen und zugleich die Ordensregel halten, die unszu herzlicher Liebe verpflichtet.

3. Nun möchtet ihr auch noch gerne wissen, ob ihr einer Schwester, dieihr um ihrer Tugendhaftigkeit willen höher schätzt, auch mehr Liebezeigen dürft. Ich antworte: Wir dürfen und müssen den Tugendhafterenwohl mehr wohlgefällige Liebe zuwenden, aber nicht mehr wohlwol-lende Liebe, dürfen ihnen um ihrer Tugendhaftigkeit willen auch nichtmehr Liebe zeigen als den anderen. Aus zwei Gründen dürfen wir dasnicht tun:

1) weil der Herr das auch nicht getan hat, denn er scheint im Ge-genteil die Unvollkommenen lieber gehabt zu haben als die anderen,sagt er doch: Ich bin nicht gekommen für „Gerechte“, sondern für „Sün-der“ (Mt 9,13). Nicht die Menschen, die uns mehr Freude als Mühemachen, müssen wir herzlich lieben, sondern gerade jenen, die unsbesonders brauchen, müssen wir nicht nur helfen, wir sollen ihnen auch

Page 73: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

72 4. Herzlichkeit

besondere Liebe erweisen; zeigen wir doch damit, daß wir die wahreNächstenliebe üben. Wir müssen uns den Bedürfnissen des Nächstenanpassen. Im übrigen aber müssen wir gegen alle gleich liebevoll sein,denn der Herr hat nicht gesagt: Liebt die Tugendhafteren, sondern „liebteinander so, wie ich euch geliebt habe“ (Joh 13,34; 15,12), macht kei-nen Unterschied, schließt keinen aus und wäre er noch so unvollkom-men.

2) Wir können nicht beurteilen, wer vollkommener, wer an Tugen-den reicher ist. Darum dürfen wir auch nicht dem einen mehr Liebezeigen als dem anderen, noch uns verleiten lassen, die einen mehr alsdie anderen zu lieben. Der Schein trügt und oft halten wir jemand fürtugendhaft, der es in den Augen Gottes ganz und gar nicht ist. Nur erallein kennt die Menschen. Es kann sein, daß ihr an einer Schwester ofteinen groben Fehler oder so manche Unvollkommenheit bemerkt, unddoch ist sie vor Gott tugendhafter und Gott wohlgefälliger als andere,weil sie trotz all ihrer Fehler tapfer bleibt und sich, auch wenn sie nochso oft stolpert, weder irre noch ängstlich machen läßt; tugendhafterund Gott wohlgefälliger auch wegen der Demut und der Liebe zuVerdemütigungen, die sie aus ihren Fehlern schöpft. Ja, wohlgefälligerund lieber als eine andere mit vielleicht einem Dutzend erworbeneroder angeborener Tugenden, die dabei aber weniger oft auf die Probegestellt wird, sich weniger plagen muß, somit vielleicht auch wenigerMut und Demut hat, weil sie seltener fällt.

Der hl. Petrus ließ sich oft zu Fehlern hinreißen, weil er sich vonseinem Temperament und seinen Leidenschaften tragen ließ (ich spre-che von der Zeit vor der Herabkunft des Heiligen Geistes, nicht vonder Zeit nachher), und trotzdem wählte ihn der Herr zum Haupt derApostel, zeichnete ihn vor allen anderen aus und bestimmte ihn zuseinem Nachfolger, weil er sich durch seine Fehler nicht entmutigenließ und sich darüber auch nicht wunderte. Deshalb hat auch niemandein Recht zu sagen, der hl. Petrus hätte weniger Liebe als der hl. Johan-nes oder einer der anderen Apostel verdient oder wäre weniger tugend-haft und Gott weniger wohlgefälliger gewesen.

Die beiden angeführten Gründe müssen uns also bestimmen, alleunsere Mitschwestern mit gleicher Liebe zu empfangen. Sie sollen allemerken, daß wir sie recht von Herzen lieb haben. Dann werden auchbesondere Liebesworte und Freundschaftsbeteuerungen so gut wie über-flüssig. Besondere Sympathie für einen Menschen macht die Liebe nicht

Page 74: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

734. Herzlichkeit

vollkommener, setzt sie im Gegenteil vielleicht schon bei ganz gering-fügigen Anlässen großen Schwankungen aus. Verspüren wir aber docheinen Drang in uns, die eine oder andere Schwester lieber zu haben, sosollen wir darüber hinweggehen und vor allem ihr nichts davon sagen.Denn nicht aus Neigung sollen wir den Nächsten lieben, sondern weiler tugendhaft ist oder es zu werden verspricht.

Tun wir für unsere Mitmenschen in leiblicher wie in seelischer Hin-sicht, was wir nur können; beten wir für sie und seien wir stets vonHerzen hilfsbereit, dann beweisen wir am besten, daß wir sie wirklichvon Herzen lieb haben. Eine Freundschaft, die sich in schönen Wortenerschöpft, hat wenig Wert; das ist nicht Liebe, wie sie der Herr unserwiesen. Ihm war es nicht genug, uns nur in Worten seiner Liebe zuversichern, er ging weit darüber hinaus; er erbrachte den Beweis seinerLiebe durch all das, was er für uns getan hat.

4. Nun noch dies: Herzliche Liebe ist ohne kindliches Vertrauen nichtdenkbar; beide Tugenden gehören aufs innigste zusammen. Wenn einKind eine schöne Feder oder sonst etwas Neues hat, gibt es keine Ruhe,bis alle Spielkameraden das Ding bewundert und sich mitgefreut ha-ben. Tut ihm der Finger weh oder hat es eine Wespe gestochen, dannmüssen alle mit ihm jammern und jedem, der ihm in den Weg kommt,klagt es sein Leid, jeder muß es bemitleiden und auf den wehen Fingerblasen. Freilich sollen wir Großen es nicht den Kleinen in allem nach-machen. Ich will mit diesem Vergleich nur sagen, daß die kindlicheZutraulichkeit uns weitherzig machen soll. Wir sollen unsere kleinenKostbarkeiten und bescheidenen geistlichen Freuden herzeigen undmitteilen und nicht so ängstlich darauf aus sein, unsere Fehler zu ver-bergen. Wer allerdings große Gnaden empfangen hat, das Gebet derRuhe oder ähnliches, soll sich dessen nicht rühmen. Was aber die be-scheidenen geistlichen Freuden und Güter betrifft, so möchte ich schon,daß ihr weder spröde noch zugeknöpft seid, sondern daß ihr euch mitkindlichem Vertrauen aussprecht, ohne euch hervorzutun noch her-auszustreichen. Was unsere Fehler angeht, so soll es uns nicht darumzu tun sein, sie zuzudecken. Damit, daß wir sie nicht sehen lassen wol-len, werden wir weder in den Augen der Schwestern fehlerlos sein,noch werden unsere Fehler damit geringer. Sie werden vielleicht sogarschlimmer und gefährlicher, als wenn sie offensichtlich wären und unszur Beschämung dienten.

Page 75: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

74 4. Geist der Demut

Seien wir also weder erstaunt noch kleinmütig, wenn wir uns vor denAugen der Schwestern bei Fehlern und Unvollkommenheiten ertap-pen, seien wir vielmehr froh, wenn man uns so sieht, wie wir wirklichsind. Ja, ich habe einen Fehler, eine Dummheit gemacht, das ist wahr,aber ich habe sie vor Schwestern gemacht, die mich herzlich lieb ha-ben; sie werden mich und meinen Fehler wohl ertragen, sie werdengegen mich nicht aufgebracht sein, sondern mir Mitleid entgegen-bringen. Dieses Vertrauen zu den Mitschwestern wird noch mehr zurHerzlichkeit und zur Seelenruhe beitragen. Wir kommen ja so leichtaus der Fassung, wenn wir merken, daß andere eine noch so kleineSchwäche an uns finden, wie wenn unser Versagen etwas Besondereswäre.

5. Zum Schluß unseres Gespräches über die Herzlichkeit noch einGedanke, den wir festhalten wollen: Kommt es vor, daß wir einmalnicht so liebenswürdig waren, so sollen wir uns darüber nicht aufregenund auch nicht meinen, daß wir überhaupt keine herzliche Liebe hät-ten. Wir haben sie trotzdem. Vereinzelte Verstöße machen den Men-schen noch nicht schlecht, vor allem dann nicht, wenn er den gutenWillen hat, sich zu bessern.

V o m G e i s t e d e r D e m u t

1. Unsere Ordensregeln schreiben vor, alles im Geist der Demut zutun. Ihr fragt mich, was das bedeutet. Es ist dies etwas ganz Wichtiges.Bevor ich es aber etwas näher erkläre, muß ich zum besseren Verständ-nis etwas vorausschicken.

Zwischen Hochmut an sich, Gewohnheitshochmut und Gesinnungs-hochmut oder Hochmutsgeist ist ein Unterschied. Ein einzelner Aktdes Hochmuts ist Hochmut an sich; setzt man oft und bei jeder Gele-genheit Akte des Hochmuts, so ist man dem Gewohnheitshochmut ver-fallen. Geist und Gesinnung des Hochmuts ist es aber, sich im Hoch-mut zu gefallen und Gelegenheiten dafür zu suchen. In der Demut gibtes die gleichen Unterschiede: Demut an sich ist verschieden von derGewohnheit der Demut und der Gesinnung, dem Geist der Demut.Irgend einen Akt der Demut setzen, heißt sich verdemütigen. Solcheverdemütigenden Akte immer wieder bei jeder Gelegenheit setzen, dasheißt, sich die Demut angewöhnt haben. An der Demut Gefallen ha-ben, Verdemütigungen und Verachtung überall suchen, sodaß bei al-

Page 76: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

754. Geist der Demut

lem, was man tut, es die erste Absicht ist, sich zu verdemütigen undsich zu erniedrigen, und die Gelegenheiten dazu freudig aufgreifen,ganz vertraut damit sein, das ist Gesinnungsdemut, der Geist der De-mut. Alles im Geist der Demut tun, heißt also: sich keine Gelegenheitzur Verdemütigung und Erniedrigung entgehen lassen.

2. Es wird gefragt, ob man gegen die Demut fehlt, wenn man über dasSchuldbekenntnis (die „Kulp“) einer Mitschwester oder über die Feh-ler der Vorleserin lacht. – Nein, gewiß nicht. Denn, meine lieben Töch-ter, für den Lachreiz können wir nichts, können auch nichts dagegenmachen, weil wir nicht im voraus wissen, wann wir lachen und zumLachen gereizt werden. Der Herr konnte nicht lachen, weil es für ihnkeine Überraschung gab, er wußte alles schon im voraus. Lächeln aller-dings konnte er schon, das tat er aber ganz bewußt. Narren lachen beijeder Gelegenheit, sie denken nicht voraus und so kommt ihnen allesüberraschend. Der Weise aber lacht nicht so leicht, weil er denkt unddie Dinge kommen sieht.

3. Wir verletzen also die Demut nicht, wenn es beim Auflachen bleibtund wir über den Anlaß dazu nicht weiter nachdenken und auch dar-über nicht mit anderen reden. Das dürften wir nämlich nicht tun, vorallem dann nicht, wenn es sich um Fehler anderer handelt. Solch einVerhalten stünde ja auch in Widerspruch mit der Frage, die ihr einmalgestellt, was man tun müsse, um vom Nächsten eine gute Meinung zubewahren oder zu erhalten. Diese kann man ja nur erhalten oder be-wahren, wenn man auf dessen Tugenden schaut und seine Fehler nichtbeachtet. Solange wir nicht durch ein Amt verpflichtet sind, uns mitihm zu befasssen, sollen sich weder unsere Augen noch unsere Gedan-ken mit seinen Fehlern beschäftigen: „Die Liebe flieht das Böse,“ sagtder heilige Apostel Paulus (1 Kor 13,5).

Wir wollen alles, was unsere Mitschwestern tun, nur im bestmög-lichen Sinn deuten und nie einen Verdacht aufkommen lassen. In zwei-felhaften Fällen wollen wir davon überzeugt sein, daß wir nichtsSchlechtes bemerkt haben, daß vielmehr unsere eigene Unvollkom-menheit uns auf einen solchen Gedanken gebracht hat; so schützen wiruns dann gegen die so gefährliche und ganz zu verabscheuende Sündedes freventlichen Urteils. Der hl. Josef ist auch hierin ein schönes Vor-bild; er sah diese so heilige Jungfrau Mutter werden und wußte nicht,wie dies geschehen war. Er wollte aber über sie kein Urteil fällen, son-dern überließ dieses Gott allein. – Wo etwas offenkundig schlecht ist,

Page 77: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

76 4. Geist der Demut

soll es uns leid tun; wir wollen uns dann der Fehler unserer Mit-schwestern schämen, wie wenn sie unsere eigenen wären, und Gott eben-so inständig bitten, daß er ihnen helfe, sich zu bessern, als ob wir selbstdiese Fehler begangen hätten.

4. Haben wir nun alles besprochen? Wie man zu dieser Demutsgesin-nung kommt, wollt ihr noch wissen? Ja, meine lieben Töchter, nurdurch das Hineinversenken in die Schönheit und in den Wert dieserTugend, damit wir Lust bekommen, sie immer und überall beharrlichzu üben. Es gibt ebensowenig ein Geheimmittel, sie zu erwerben, wiebei anderen Tugenden, die man sich auch nur durch oft wiederholteTugendakte aneignen kann.

5. Zu guter Letzt möchte ich noch bemerken, daß alles, was ich nungesagt, nicht als Verpflichtung, sondern nur als Anregung aufzufassenist. Wir sprachen z. B. neulich davon, daß man Gerichte in der Reihen-folge essen solle, wie sie verabreicht werden. Das ist nun nicht so strengzu nehmen. Wird als erster Gang Milchbrei gegeben, eine Schwesterißt ihn aber nicht gern so heiß, dann darf sie ruhig warten, bis er abge-kühlt ist. Und wer ihn nicht lauwarm mag, weil er dann an Kleistererinnert, der soll ihn ruhig heiß essen. Beklagen wir uns nur nicht überden Vater, daß er dies und das haben will, denn der arme Vater willdurchaus nicht haben, daß wir uns die Zunge verbrennen. Also einfachsein! Hat eine Schwester gegen manche Speisen einen Widerwillen, sobraucht sie nicht alles wahllos zu essen, sie soll dann einfach von demherausnehmen, was sie vertragen kann. So tut also jede Schwester gut,wenn sie sich an das Gesagte hält; verpflichtet dazu ist keine.

6. Das gilt auch für die Liebe, die wir, wie gesagt, allen Schwestern ingleicher Weise entgegenbringen sollen, selbstverständlich soweit es unsmöglich ist. Mit ganz derselben Innigkeit auch die zu lieben, die unsweniger nahe stehen oder nicht so zu uns passen wie jene, für die wirSympathie fühlen, liegt nicht in unserer Macht. Der große hl. Bernhardmacht über die Psalmworte: „Ecce quam bonum“ (Ps 132, 1 f) folgen-de Betrachtung: Wie wertvoll ist es, sagt er, wenn Brüder in Eintrachtbeisammen wohnen, denn diese Eintracht ist kostbar gleich dem Salb-öl, das über das Haupt des Hohepriesters Aaron ausgegossen wurde,bereitet aus den köstlichen Spezereien.

Er vergleicht also die Liebe der Ordensleute untereinander, ihre in-nige Verbundenheit, mit dem kostbaren Salböl und die verschiedenenTugenden der einzelnen Ordensmitglieder mit den Spezereien in die-

Page 78: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

774. Geist der Demut

sem Öl. Denn da ist wohl keiner, der nicht trotz all seiner Armseligkeiteinige Tugenden gleich wohlriechenden Spezereien besäße. Diese Tu-genden insgesamt werden durch die herzliche Liebe zu einer einzigen,die ob ihres wunderbaren Wohlgeruches wert befunden wird, gleichkostbarem Salböl über das Haupt des Hohepriesters – Unseres HerrnJesus Christus – ausgegossen zu werden, und eine unaussprechlicheSüße ausströmen. Sie macht die Schwestern, die in dieser begehrenswer-ten Einheit zusammengeschlossen sind, dem Herrn unendlich wohlge-fällig und ihrer Berufung überaus würdig.

Alles zur Ehre und Verherrlichung Jesu Christi, der AllerseligstenJungfrau Maria und des glorreichen hl. Josef!

Page 79: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

78 5. Hochherzigkeit

5. Gespräch

Die TDie TDie TDie TDie Tugend der Hochherugend der Hochherugend der Hochherugend der Hochherugend der Hochherz igkzigkzigkzigkzigkeiteiteiteiteit11111

1. Ihr möchtet wissen, was Starkmut und Hochherzigkeit ist. Bevorich darauf eingehe, will ich zuerst noch eine andere Frage beantworten,die mir schon oft gestellt worden ist, worin nämlich die vollkommeneDemut besteht. Die Lösung dieser Frage führt uns dann auch zum Ver-ständnis der beiden Tugenden Starkmut und Hochherzigkeit, ohne dieman keine Tochter der Heimsuchung sein kann. Demut also heißt of-fenherzig eingestehen, daß man ein reines Nichts ist und sich selbst auchso einschätzt.

Um dies recht zu verstehen, muß man wissen, daß wir zweierlei Güterbesitzen: die einen sind in uns und von uns, die anderen sind wohl inuns, aber nicht von uns.

Ich sage: Güter, die von uns sind; das heißt aber nicht, daß sie nur vonuns stammen und nicht von Gott; aus uns selbst haben wir ja nichts undsind nichts als Armseligkeit. Güter von uns heißt vielmehr: Güter, dieGott so tief in uns hineingelegt, daß sie von uns zu kommen scheinenwie z. B. Gesundheit, Reichtum, erworbene Kenntnisse, Schönheit unddergleichen mehr. Demut duldet nun nicht, daß wir uns dieser Güterwegen höher einschätzen, daß wir uns ihrer rühmen; sie sind ihr gleichnichts. Das ist auch durchaus vernünftig, sind sie doch vergänglich,veränderlich, ein Besitz von heute auf morgen; ihretwegen sind wirGott auch nicht wohlgefälliger. – Wie wenig kann man sich auf Reich-tum verlassen, der von Zeitumständen, von der Witterung und Ähnli-chem abhängt. Und Schönheit? Wie schnell ist sie zerstört! Ein kleinesGeschwür im Gesicht und aller Reiz ist dahin. Und Wissen? Eine klei-ne Störung im Gehirn – und alles, was wir wußten, ist vergessen undentschwunden.

Die Demut legt also mit Recht auf alle diese Güter keinen besonde-ren Wert. Je mehr sie uns demütig und bescheiden macht dadurch, daßwir unser Nichts erkennen und uns dazu bekennen, desto mehr bringtsie uns durch die niedere Einschätzung der Güter, die in uns und vonuns sind, zu einer höheren Bewertung jener, die wohl in uns aber nichtvon uns sind. Diese Güter sind: Glaube, Hoffnung, das bißchen Liebe,das in uns ist, ferner jene von Gott verliehene Fähigkeit, uns durch die

Page 80: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

795. Hochherzigkeit

Gnade mit ihm zu vereinigen, bei uns auch der Beruf, der uns, soweit esin diesem Leben möglich ist, die Gewißheit der ewigen Herrlichkeit,des ewigen Glückes verleiht. Die also aus der Demut kommende Wert-schätzung der Güter: Glaube, Hoffnung und Liebe ist die Grundlage derHochherzigkeit.2

2. Seht, mit den Gütern, die in uns und von uns sind, beschäftigt sichdie Demut; mit den anderen die Hochherzigkeit. Demut traut sich sel-ber nichts zu, sie weiß sich arm und schwach. Hochherzigkeit dagegensagt mit dem Apostel Paulus: „Ich vermag alles in dem, der mich stärkt“(Phil 4,13). Demut flößt Mißtrauen zu sich selber ein, HochherzigkeitVertrauen auf Gott. Ihr seht, daß die beiden Tugenden Demut und Hoch-herzigkeit unzertrennlich zusammengehören.

Es gibt Menschen, die in falscher und kindlicher Demut das Gute,das sie haben, nicht sehen wollen. Sie haben unrecht; man muß dieGüter, die von Gott kommen, erkennen, achten und hoch in Ehrenhalten; man darf sie nicht auf eine Stufe stellen mit den Gütern, die inuns und von uns sind, darf sie nicht unterschätzen.

Nicht nur die wahren Christen haben immer erkannt, daß wir vonden zwei Arten Gütern in uns die eine betrachten sollen, um uns zuverdemütigen, die andere, um Gott zu verherrlichen, der sie uns ge-schenkt; auch die Philosophen haben dies erkannt, denn der Satz: „Er-kenne dich selbst“ ist nicht nur von unserer Geringheit und Armseligkeitzu verstehen, er gilt genau so gut für die Hoheit und Würde unsererSeele. Gott hat ja in seiner Güte die Seele befähigt, sich mit der Gott-heit zu vereinigen, und einen gewissen Trieb in uns hineingelegt, deruns nach dieser Vereinigung, in der unsere ganze Seligkeit liegt, sehnenund streben läßt.

Demut ohne Hochherzigkeit ist zweifellos falsche Demut. Wohl sollsie bekennen: Ich bin nichts und kann nichts, aber dann sofort derHochherzigkeit das Wort lassen, die sagt: Unmögliches gibt es für michnicht, wird es auch nie geben, denn ich vertraue auf Gott, er vermagalles. Getragen von solchem Vertrauen, macht sie sich mutig an alles,was man sie tun heißt und was man ihr rät, wäre es auch noch so schwer.

3. Ich versichere euch, eine solche Seele hält es nicht für unmöglich,sogar ein Wunder zu tun, wenn es im Gehorsam von ihr verlangt würde.Wenn sie sich mit heiliger Herzenseinfalt an ihre Aufgabe macht, wirdGott eher ein Wunder tun als ihr die Fähigkeit zur Ausführung dieserAufgabe versagen, da sie ja nicht auf ihr eigenes Können baut, sondern

Page 81: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

80 5. Hochherzigkeit

infolge der hohen Meinung handelt, die sie von den ihr zuteil geworde-nen Gaben Gottes hat. Sie sagt sich: Wenn Gott mich schon zu einemso hohen Stand der Vollkommenheit berufen hat, daß es hieniedenkeinen höheren gibt, was kann mich daran hindern, ihn auch zu errei-chen, habe ich doch die Zuversicht, „daß, der das gute Werk angefan-gen,“ es auch „vollenden wird“ (Phil 1,6).

Seid aber darauf bedacht, das alles ohne Überhebung zu tun; wir kön-nen sehr wohl auf Gott vertrauen und zugleich aus Furcht zu fallenrecht auf der Hut sein. Gerade dieses Gottvertrauen soll uns dazu be-wegen, uns in acht zu nehmen, sowie wachsam und sorgsam alles auf-zugreifen, was unsere Heiligung fördert und uns vorwärts bringt.

Demütig sein heißt nicht nur, sich mißtrauen, es heißt auch: auf Gottvertrauen. Aus diesem Mißtrauen gegen uns und die eigene Kraft er-blüht das Vertrauen auf Gott, aus diesem Vertrauen wiederum die Hoch-herzigkeit, von der wir reden. Die allerseligste Jungfrau gibt uns hierinein sehr bedeutsames Beispiel: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn,“ sonennt sie sich selber. Das ist ein Akt allergrößter Demut. Er ist umsogrößer, als sie ihre Niedrigkeit den Lobsprüchen des Engels entgegen-hält, der ihr verkündet, daß sie die Mutter Gottes wird und das Kind inihrem Schoß „Sohn des Allerhöchsten“ genannt werden soll, ja allenLobpreisungen und dieser unausdenkbar hohen Würde ihre Geringheitund Unwürdigkeit gegenüberstellt, da sie sich als die „Magd des Herrn“bezeichnet. Nachdem sie aber so der Demut Genüge getan, schwingtsich ihre Seele allsogleich zu einem herrlichen Akt der Hochherzig-keit auf – beachtet das wohl – und sie spricht: „Mir geschehe nachdeinem Wort!“ Sie wollte damit sagen: Schau ich auf das, was ich ausmir selber bin, so muß ich meine Untauglichkeit für eine solche Gnadebekennen; schaue ich aber auf das Gute in mir, das ich von Gott habe,und auf den hochheiligen Willen Gottes, der in deinen Worten ausge-sprochen ist, so glaube ich, daß es sein kann und sein wird. So antwortetsie denn ohne das geringste Bedenken: „Mir geschehe nach deinemWort.“

4. Wenige erwecken Akte der Reue so, wie sie sein sollen. Wohl demü-tigen wir uns vor der göttlichen Majestät, schämen uns auch ob unserergroßen und vielfachen Untreue; wir kommen aber zu keinem Akt desVertrauens, der unseren Mut zu beleben vermag kraft der festen Hoff-nung, daß uns Gott in seiner Güte die Gnade geben wird, nunmehrgewissenhafter zu sein und seiner Liebe treuer zu entsprechen. Auf

Page 82: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

815. Hochherzigkeit

diesen Akt des Vertrauens müßte sogleich der Akt der Hochherzigkeitfolgen, etwa in dieser Weise: Ich weiß gewiß, daß die Gnade mir niefehlen wird, und deshalb glaube ich auch, daß Gott nicht zulassen wird,daß ich der Gnade nicht entspreche. – Man kann nun einwenden: „Wennich mich der Gnade entziehe, wird sie mir entzogen.“ – Das ist freilichrichtig. – „Jedoch, wenn ich mich ihr bisher so oft entzogen, wer gibtmir Gewißheit, daß es in Zukunft nicht wieder geschehen wird?“ – Diehochherzige Seele redet nicht so, sie sagt vielmehr: „Nein, ich werdeGott nicht mehr untreu sein.“ Sie ist sich ja ihres festen Willens be-wußt, nicht mehr untreu zu werden; somit unternimmt sie furchtlosalles, ohne irgend etwas auszunehmen, was sie als Gott wohlgefälligerkennt. Und während sie all dies unternimmt, ist sie davon überzeugt,auch alles zu können, zwar nicht aus sich, sondern aus Gott, auf den sieihr ganzes Vertrauen wirft, für den sie alles tut und in Angriff nimmt,was ihr aufgetragen oder geraten wird.

5. Ihr fragt, ob ihr also niemals daran zweifeln dürft, wirklich allesausführen zu können, was man von euch verlangt. Ich antworte mitNein. Die Hochherzigkeit verbietet es. Allerdings müssen wir hier, wieich schon oft erklärt habe, den Unterschied zwischen dem höheren undniederen Seelenbezirk zu Hilfe nehmen. Im höheren Seelenteil dürfenwir nicht zweifeln. Es ist sehr wohl möglich, daß im niederen Seelen-teil eine Menge Bedenken auftauchen und es uns schwer wird, das über-tragene Amt anzunehmen. Die hochherzige Seele lacht aber über alldas und kümmert sich nicht darum, sie macht sich in aller Einfachheitans Werk und läßt sich das Gefühl der Unfähigkeit in keiner Weiseanmerken, weder durch ein Wort noch durch irgend eine Handlung. –Wir anderen aber sind nur allzu gern bereit, allen zu zeigen, daß wirsehr demütig sind und eine recht geringe Meinung von uns haben usw.Das ist aber nichts weniger als Demut. Echte Demut fügt sich demUrteil jener, die uns nach Gottes Willen führen sollen.

In der „Anleitung zum frommen Leben“ habe ich ein sehr beachtens-wertes Beispiel angeführt, das gut hierher paßt: König Ahas (Jes 7,3-12) war in große Furcht geraten, denn zwei andere Könige, die Jerusa-lem belagerten, hatten ihm einen blutigen Krieg aufgezwungen. Da be-fahl Gott dem Propheten Jesaja, zu Ahas zu gehen und ihn in seinemNamen zu trösten, ihm den Sieg und den Triumph über seine Feinde zuverheißen. Und Jesaja sagte zu Ahas: „Erbitte von Gott ein Zeichen amHimmel oben oder unten in der Tiefe des Meeres,“ er wird es dir ge-

Page 83: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

82 5. Hochherzigkeit

ben. Ahas aber zweifelte an der Güte und Freigebigkeit Gottes undsagte: Nein, „ich werde“ das nicht tun, ich will „den Herrn nicht ver-suchen“. Der Bösewicht sagte das aber nicht aus Ehrfurcht vor Gott, ersagte es im Gegenteil, weil er Gott, der in jener Zeit durch Wunderverherrlicht werden wollte, die Ehre verweigerte. Er lehnte es ab, sichein Zeichen zu erbitten, wie Gott ihm angeboten hatte, und beleidigteso Gott, weil er dem Propheten, der zu ihm gesandt worden war, GottesWillen kundzutun, den Gehorsam verweigerte.

Wir dürfen also nie daran zweifeln, daß wir auch ausführen können,was man von uns verlangt, denn unsere Vorgesetzten wissen, was wir zuleisten imstande sind. – Ihr meint, daß eure Oberen von so manchereurer Unzulänglichkeiten und von euren großen Mängeln keine Ah-nung haben und nur nach dem äußeren trügerischen Schein urteilen. –Nein, man braucht euch keinen unbedingten Glauben zu schenken,wenn ihr in einem Anfall von Mutlosigkeit von eurer Armseligkeit undvon euren vielen Mängeln redet, wie man euch ja auch nicht für voll-kommen zu halten braucht, wenn ihr nicht von euren Fehlern sprecht.Jeder ist doch gewöhnlich so, wie er sich gibt. Die Tugend offenbartsich in der Treue, sie zu üben, unsere Schwächen kommen auch inunseren Handlungen zum Vorschein. Wer nicht gerade verschlagen ist,wird wohl kaum seine Vorgesetzten täuschen.

Ihr sagt aber, es hat doch Heilige gegeben, die sich gegen die ihnenzugedachte Aufgabe ganz entschieden gesträubt haben. Gewiß, das ta-ten sie aber nicht nur auf Grund ihrer niederen Selbsteinschätzung. Sieschlugen vielmehr die Ämter hauptsächlich deshalb aus, weil sie sa-hen, daß man sie ihnen auferlegen wollte nur wegen äußerer Tugend-übungen wie Fasten, Almosen, Bußübungen und Kasteiungen, daß mansich aber dabei nicht auf die echten innerlichen Tugenden stützte, diesie unter ihrer Demut zu verbergen und zu verstecken wußten; sie wur-den von Leuten gesucht und überlaufen, die sie nur vom Hörensagenkannten. – In ähnlichen Fällen könnte schon ein Widerstand berech-tigt sein. Wißt ihr aber, bei wem? Nun z. B. bei einer Schwester aus demKloster zu Dijon, der eine Oberin von Annecy, ohne sie je gesehen undgekannt zu haben, befehlen wollte, das Amt einer Oberin anzutreten.Eine Schwester des hiesigen Klosters aber dürfte sich im höheren Teilihrer Seele nie bemüßigt fühlen, Gegengründe vorzubringen, weil ihrdiese Ernennung widerstrebt. Sie müßte vielmehr dieses Amt so see-lenruhig und tapfer auf sich nehmen, als wenn sie sich ganz dafür geeig-

Page 84: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

835. Hochherzigkeit

net hielte. Aber ich merke schon die List der Eigenliebe: Wir habenAngst, aus dieser Sache wenig ehrenvoll hervorzugehen, wir sind sosehr auf unseren guten Ruf erpicht, daß wir in unserem Amt schongleich Meister sein wollen, denen niemals etwas daneben geht, beileibenicht einfache Lehrlinge.

6. Ihr versteht nun wohl im Großen und Ganzen, was Starkmut undHochherzigkeit ist; zwei Tugenden, die wir so gerne hier sehen möch-ten, damit all die kindischen Fadheiten und Rührseligkeiten von hierverschwänden, die uns auf dem Weg zur Vollkommenheit nur aufhal-ten und am Vorwärtskommen hindern. Der Nährboden für dieseWeichlichkeiten sind die sinnlosen Grübeleien, die man besonders gerneanstellt, wenn man auf seinem Weg in einen Fehler hineingestolpert ist.Ganz fällt man ja hier durch Gottes Gnade nicht, wir haben es wenig-stens noch nicht gesehen, es kommt nur vor, daß man strauchelt. Stattsich nun ganz ruhig zu demütigen und wieder mit neuem Mut zu erhe-ben, grübelt man über seine Armseligkeit nach und bemitleidet sich:„Ach, wie elend bin ich daran, ich bin wirklich zu nichts nutz.“ Schonkommt die Mutlosigkeit dazu und man sagt sich: „Es hat keinen Sinn,daß ich mir noch Hoffnung mache, es wird ja doch nichts mehr aus mir.Wozu soll man sich mit mir noch abgeben, es ist ja doch nur verloreneZeit!“ Wir möchten dann fast, daß man uns wirklich stehen ließe, wiewenn man davon überzeugt wäre, daß mit uns nichts zu machen ist.

Mein Gott, wie fern liegen doch alle diese Dinge einer hochherzigenSeele, die die richtige hohe Einschätzung der ihr von Gott gewordenenGüter besitzt! Sie regt sich weder über die Schwere noch über die Grö-ße der Aufgabe auf, noch über die lange Zeit, die sie erfordert, nochüber die Verzögerung der Vollendung des Werkes, das sie unternom-men hat.

7. Die Töchter der Heimsuchung sind alle zu einer hohen Voll-kommenheit berufen; das, was sie unternommen haben, gehört zumdenkbar Höchsten und Größten. Sie wollen ja nicht nur mit dem gött-lichen Willen ganz eins werden, – denn das sollen alle Christen anstre-ben – sie wollen auch noch in Gottes Wünschen und Absichten aufge-hen, sogar bevor sie ihnen bekannt sind. Und könnten sie sich nochetwas Vollkommeneres ausdenken, gäbe es eine noch höhere Stufe derVollkommenheit als das Aufgehen in Gottes heiligem Willen, in sei-nen Wünschen und Absichten, so würden sie auch das sicher anstreben,sind sie ja ihrem Beruf nach zum Höchsten verpflichtet. Es muß also

Page 85: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

84 5. Hochherzigkeit

hier der Geist einer kraftvollen und hochgemuten Frömmigkeit herr-schen, wie ich schon oft betont habe.

8. Eine hochgemute Seele nimmt ferner geistliche Dürre ebenso willigentgegen wie die Wonnen geistlicher Freude, innere Schwierigkeiten,Trostlosigkeit und Niedergeschlagenheit, so erdrückend sie auch seinmögen, ebenso willig wie feurige Begeisterung, begleitet von sichtba-rem Erfolg, von innerlicher Ruhe und von Seelenfrieden. Sie weiß ja, esist ein und derselbe Herr, der ihr Freuden wie Leiden schickt; sie weiß,es ist dieselbe ganz große Liebe, die ihn dazu treibt, da er sie durchSeelenleid und Geistesnacht zu einer hohen Vollkommenheit empor-reißen will, zum Verzicht auf alle geistlichen Freuden in dieser Welt.Sie ist davon überzeugt, daß er, der sie jetzt dieser geistlichen Freudenberaubt, sie ihr im Himmel auf ewig wiedergeben wird.

Ihr sagt, daß ihr während dieser geistigen Dunkelheit nicht imstandeseid, solchen Gedanken nachzugehen; es scheint euch, als könntet ihrdem Heiland kein einziges Wort sagen. – Ihr sagt ganz richtig: es scheineeuch, denn in Wirklichkeit ist es nicht so. Das Konzil von Trient hatdahin entschieden und wir müssen es glauben: Gott zieht sich nie ganzzurück, seine Gnade verläßt uns nie ganz, sodaß wir immer beteuernkönnen, daß wir trotz all der inneren Verwirrung ganz nur ihm gehörenund ihn nicht beleidigen wollen.

Freilich spielt sich das alles nur im höheren Teil der Seele ab, derniedere merkt von diesem Vorgang nichts. Da ist es immer noch Nacht,und so wird die Seele unruhig und hält sich für minderwertig; sie fängtdann an, sich zu bemitleiden, als ob dies etwas besonders Klagens-wertes wäre, wenn wir einmal der geistlichen Freude beraubt sind. Ach,bedenken wir doch, wie unvergleichlich schwer sich Unser Herr undMeister von inneren Leiden quälen lassen wollte! Hört, was er amKreuzesstamm ausruft: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“Tiefste Not umfängt ihn, nur die Spitze seiner Seele ist noch nicht inQual getaucht. Nur mühsam spricht er, aber er spricht doch zu Gottund zeigt uns so, daß es auch uns in solcher Lage nicht unmöglich seinwird.

Man fragt, was in solcher Gemütsverfassung das Bessere ist, mit Gottvon seinem Leid und Elend oder von Anderem zu sprechen. Ich antwor-te: In dieser Verfassung und auch in anderen Versuchungen ist es bes-ser, das Gemüt zu beruhigen, den Geist von seinem Leid und von seinerUnruhe abzulenken und daher mit Gott von anderen Dingen als von

Page 86: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

855. Hochherzigkeit

seinem Leiden zu reden. Handeln wir anders, so vergrößern wir nur dasLeid durch dieses weichliche Bemitleiden unser selbst; wir können janaturgemäß unser Leid nicht ansehen, ohne über uns selbst Mitleid zuempfinden.

Ihr meint, wenn ihr auf euer Leid nicht achtet, dann werdet ihr auchnicht daran denken, mit dem Heiland darüber zu reden. Wasverschlägt’s? Wir machen es geradeso wie ein Kind, wenn es eine Bienegestochen hat. Gleich läuft es zur Mutter, die es bemitleiden und selbstauf sein Wehweh blasen muß, das es ja schon längst nicht mehr spürt.So laufen auch wir zur Würdigen Mutter, um ihr zu klagen, daß wir soschwer leiden; wir vergrößern noch unser Leid, während wir die klein-ste Einzelheit erzählen, ohne auch nur den geringsten Umstand zu ver-gessen, der uns ein wenig Mitleid eintragen könnte. Was sind das dochfür Kindereien! Sind wir in irgend einer Sache untreu gewesen, danngestehen wir es ruhig ein; haben wir uns nichts vorzuwerfen, so sagenwir das auch mit wenigen Worten und ohne Übertreibung, weil wir jaunseren Vorgesetzten Offenheit schulden.

9. Da sagt eine Schwester, es kämen ihr Bedenken, wenn sie eine zor-nige Aufwallung oder irgend eine andere Versuchung nicht beichtet.Nun, wenn man dem Beichtvater eine Übersicht über sein Seelenlebengeben will, ist es wohl gut, auch dies zu berichten, aber nicht als Stofffür die Beichte, sondern um darüber belehrt zu werden, wie man sichbei solchen Schwierigkeiten verhalten soll, vorausgesetzt, daß man nichtganz sicher weiß, ob man nicht doch ein wenig eingewilligt hat. Dennwollte man beichten, daß man zwei Tage lang stark zum Zorn versuchtwar, aber nicht nachgegeben hat, dann würde man ja keine Sünde be-kennen, sondern einen Tugendakt. – Aber ich weiß nicht recht, ob ichnicht vielleicht doch nachgegeben habe. – Nun, dann untersucht manreiflich, ob ein Zweifel begründet ist. Vielleicht hat man sich währenddieser zwei Tage eine Viertelstunde lang weniger gut gehalten. Ist es so,dann sagt man ganz einfach, daß man eine Viertelstunde lang im Un-terdrücken des Zornes nachlässig war. Daß die Versuchung zwei Tageanhielt, braucht man nicht zu sagen, es sei denn, daß man von seinemBeichtvater einen Rat wünscht oder eine eingehendere Rechenschaftablegen will; dann ist es gewiß vorteilhaft, davon zu sprechen. Bei ge-wöhnlichen Beichten bleibt es aber besser unerwähnt, denn das Redendarüber dient meist nur der eigenen Befriedigung. Und fällt es etwas

Page 87: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

86 5. Hochherzigkeit

schwer, darüber zu schweigen, so nehme man das hin wie alles andere,was sich nicht ändern läßt.

Es lebe Jesus, die glorreiche Jungfrau und der große hl. Josef!

Page 88: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

87

6. Gespräch

Über die Neugründungen und die TÜber die Neugründungen und die TÜber die Neugründungen und die TÜber die Neugründungen und die TÜber die Neugründungen und die Tugend der Hoffnung.ugend der Hoffnung.ugend der Hoffnung.ugend der Hoffnung.ugend der Hoffnung.11111

1. Unter den Tugenden, welche die Heiligen dem Patriarchen Abra-ham nachrühmen, hebt der hl. Paulus besonders die Hoffnung hervor:Abraham „hoffte wider alle Hoffnung“, sagt der Apostel im Römer-brief (4,18). Gott hatte ihm verheißen, daß er seine „Nachkommen-schaft mehren“ werde „wie die Sterne des Himmels und den Sand amMeer“ (Gen 15,5; 22,17). Und dennoch gibt er ihm den Befehl, seinenSohn Isaak zu töten (Gen 22,2). Abraham verliert die Hoffnung nicht;„wider alle Hoffnung“ hofft er, daß Gott sein Wort halten werde, auchwenn er den Sohn tötet, wie ihm befohlen wird. Wahrlich eine starkeHoffnung, für die der Vater keine andere Stütze hat als eben das WortGottes. Ja, ein Felsengrund ist Gottes Wort; denn es trügt nicht.

Abraham zieht also fort, den Willen Gottes zu tun, und er tut es miteiner Einfachheit, die ihresgleichen sucht. Gott hatte ihm vorher denBefehl gegeben, aus seinem Land, von seiner Sippe weg an den Orthinzuziehen, den er ihm angeben werde (1.Mos12,1); er kennzeichnetdiesen Ort nicht näher, damit Abraham sich einfach blindlings dergöttlichen Vorsehung überlasse. Abraham hatte kein Bedenken geäu-ßert, kein Wort der Widerrede gesagt. So auch jetzt nicht, da ihm Gottbefahl, Isaak zu opfern. Während die beiden nun drei Tage und dreiNächte dahinzogen, fragte Isaak, der das Holz für das Brandopfer trug,den Vater, wo denn das Schlachtopfer sei. Abraham antwortete: „Gottwird dafür sorgen, mein Sohn“ (Gen 22,6-8).

Was für ein Glück wäre es doch für uns, wenn auch wir uns darangewöhnen könnten, unser Herz, sooft es erregt ist, mit diesem „Gottwird dafür sorgen“ zu beruhigen, um dann ebenso frei von Angst, Auf-regung und Unrast zu sein wie Isaak, der nichts mehr erwiderte, weil erfest glaubte, daß Gott „dafür sorgen“ würde, wie der Vater gesagt.

Ja, Gott verlangt von uns schon ein ganz großes Vertrauen auf seinväterliches Sorgen, auf seine göttliche Fürsorge. Aber warum solltenwir ihm nicht vertrauen, da er noch keinen getäuscht? Es hat nochkeiner sein Vertrauen auf Gott gesetzt, ohne reiche Frucht dieses Gott-vertrauens zu empfangen. Ich sage dies hier für uns, denn bei Welt-

Page 89: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

88 6. Neugründungen

kindern ist das Vertrauen oft vermessen und daher in den Augen Got-tes wertlos.

Bedenken wir, was unser Herr und Meister die Apostel lehrt, um siezu diesem reinen und liebenden Vertrauen zu erziehen: „Als ich euchaussandte ohne Beutel und Tasche,“ ohne Geld, ohne Mundvorrat undKleider, „hat euch etwas gemangelt?“ Und sie antworten: „Nichts!“(Lk 13, 35). Also „sorgt euch nicht um das, was ihr essen und trinken,noch was ihr anziehen mögt“ (Lk 12,22). Und wo immer ihr hinkommt,„sorgt auch nicht, was ihr vor den Obrigkeiten“ und den hohen Herrenreden sollt; denn immer und überall wird euch der himmlische Vatermit allem versorgen, „wessen ihr bedürft“ (Lk 12,10; Mt 10,20).

Sorgt euch also nicht, was ihr reden sollt. Nun sagt da eine Schwester:„Ja, ich bin aber so ungebildet, ich kann mit so hohen Herrschaftennicht umgehen, ich weiß und kann nichts.“ – Kümmere dich nicht dar-um! Geh nur und vertrau auf Gott. Er hat doch gesagt: Und selbst wenn„ein Weib ihres Kindes vergäße, so werde ich doch deiner“ nicht ver-gessen. Er hat uns in sein Herz hineingebettet und „in seine Händehineingeprägt“ (Jes 49,15 f). Glaubt ihr denn, daß Er der für „die Vö-gel des Himmels und die Tiere der Erde, die nicht säen und nicht ern-ten“ (Mt 6,26; Lk 12,24), so gut sorgt, je vergäße, den Menschen, dersich ganz auf ihn verläßt, mit allem zu versorgen, wessen er bedarf?Den Menschen, dem er die Fähigkeit gegeben, mit ihm, dem höchstenGute, vereint zu werden?

2. Meine lieben Schwestern, für euren Abschied scheinen mir das dierechten Gedanken! Wohl steht euch Frauen die Apostelwürde nicht zu,aber zum Apostelamt seid ihr befähigt, da ihr doch Apostelverdiensteernten könnt. Das Wort: „Verdienst“ möchte ich freilich unter uns nichtviel gebrauchen; als Aufmunterung zum Guten widerstrebt es mir; dar-um sage ich lieber: auch ihr könnt Gott in gewissem Sinne ebensovieleDienste leisten und ebensoviel zu seiner Verherrlichung beitragen, wiedie Apostel. Meine lieben Töchter, ihr habt wahrlich allen Grund, euchvon Herzen darüber zu freuen, daß sich Gott euer für ein so hervorra-gendes Werk bedienen will; ihr habt allen Grund, euch als hochgeehrtvon seiner göttlichen Majestät anzusehen, da Gott von euch dasselbeerwartet, was er auch von seinen Aposteln verlangt und wozu er sie indie Welt ausgesandt hat, dasselbe, wozu der Herr selbst in die Weltgekommen ist. Er kam, den Menschen „das Leben“ zu geben (Joh20,21). Und nicht nur einfach „das Leben“, sondern ein „überreiches“,

Page 90: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

896. Neugründungen

ein besseres Leben durch die Gnade, die er ihnen schenken will. DieApostel wurden mit dem gleichen Auftrag in alle Welt gesandt, dennder Herr sprach zu ihnen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sendeich euch“; geht, bringt den Menschen das Leben (Joh 20,21). Es solleuch aber nicht genug sein, daß sie durch die Lehre, die ihr ihnen mit-teilen werdet, ein reicheres Leben gewinnen. Sie werden das Lebenhaben, wenn sie an meine Worte glauben, die ihr ihnen erschließt; siewerden das Leben in reicher Fülle besitzen, wenn ihr ihnen meine Leh-re vorlebt. Kümmert euch nicht darum, ob euren Mühen die reicheErnte beschieden wird, die ihr erwartet. Von euch verlangt man nur dasBestellen des ausgedorrten, unfruchtbaren Erdreiches, nicht den Er-trag. Man fragt nicht, ob ihr geerntet, sondern nur, ob ihr euch umsorgfältige Aussaat bemüht habt.

Meine geliebten Töchter, auch ihr werdet jetzt, gleich den Aposteln,hierhin und dorthin entsandt, damit die Seelen „das Leben haben“ undein reiches Leben erwerben. Was wird denn eure Aufgabe sein? An-deren Menschen Kenntnis zu geben vom Vollkommenheitsstreben ineurer Genossenschaft und durch diese Kenntnis viele für eure Lebens-weise zu gewinnen. Aber sagt mir, wenn ihr auch nicht predigt, nochdie heiligen Sakramente spendet, noch von Sünden lossprecht, wie dieApostel getan, teilt ihr nicht dennoch den Menschen das Leben mit?Oder besser gesagt, spendet ihr nicht das Leben so und sovielen jungenSeelen, die von eurem Beispiel angezogen vielleicht jetzt nach Hunder-ten ins Kloster kommen, – Seelen, die draußen in der Welt zugrundegegangen wären, nun aber im Himmel einmal ewig, ewig selig seinwerden? Seid ihr ihnen nicht Mittlerinnen zu diesem Leben, das voll-kommener und Gott wohlgefälliger ist und das sie mehr und mehrbefähigen wird, in Gottes Güte vollkommener aufzugehen? Ihr werdetsie ja in der echten und reinen Gottesliebe unterweisen und damit zujenem überreichen Leben hinführen, das Christus den Menschen ge-bracht hat: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu bringen, und waswill ich anderes, als daß es brenne?“ (Lk 12,4). Und anderswo (Lev5,12): „Das Feuer auf dem Altar soll immerfort brennen,“ es darf nie-mals ausgelöscht werden. Er will also, daß auf dem Altar unseres Her-zens immerfort das Feuer seiner Liebe lodere.

Der Herr macht euch zu Aposteln; die Apostelwürde fällt euch zwarnicht zu, aber die Apostelarbeit und das Apostelverdienst. Was für einegroße Gnade ist das, meine lieben Schwestern! Ihr werdet zwar nicht

Page 91: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

90 6. Neugründungen

predigen, das ist nicht Sache der Frauen, wenngleich die hl. Magdalenaund ihre Schwester es getan; dafür leistet ihr aber, wie ich soeben aus-geführt habe, apostolische Tätigkeit in der Ausbreitung eurer Kongre-gation und der klösterlichen Lebensweise.

3. So geht denn, das auszuführen, wozu euch Gott berufen hat. Gehtvoll Mut! Geht in aller Einfalt! Überfallen euch Ängste, dann ruft eu-rer Seele zu: „Gott wird dafür sorgen“ (Gen 22,8). Quält euch derGedanke an das eigene Unvermögen, so flüchtet zu Gott, vertraut euchihm an! Die Apostel waren fast alle ungelehrte Fischer; Gott heiligteaber jeden nach der ihm zuerteilten Aufgabe. Vertraut auf ihn, stützteuch auf die göttliche Vorsehung und fürchtet euch vor nichts! Sagtnicht: „Mir fehlt die Gabe der geschickten Rede!“ Es liegt nichts dar-an. Geht ruhig voran, ohne euch abzusorgen, ohne darüber nachzugrü-beln; Gott wird euch zu rechter Zeit sagen, was ihr reden, er wird euchzeigen, was ihr tun sollt. Fehlt es euch an Tugend oder seht ihr keine aneuch, so seid nicht darum bekümmert. Wenn ihr im Gehorsam und zurEhre Gottes daran geht, Seelen zu führen oder eine andere Aufgabe zubewältigen, dann wird auch Gott für euch sorgen, ja er ist dann gerade-zu verpflichtet, euch alles zu geben, was ihr für euch selber und für dieSeelen braucht, die er euch anvertrauen wird.

Was ihr da unternehmt, ist freilich eine Sache von hoher Wichtigkeitund weittragender Bedeutung; es wäre aber falsch, am glücklichen Ge-lingen zu zweifeln. Ihr tut es ja im Gehorsam und nicht aus eigenemAntrieb. Grund zur Furcht müßten wir nur dann haben, wenn wir Ämterund Würden inner- oder außerhalb des Ordens angestrebt und auchinfolge unserer Bemühungen erhalten hätten. Ist dies aber nicht derFall gewesen, dann wollen wir demütig unseren Nacken unter das Jochbeugen und gerne die Bürde auf uns nehmen. Demütigen wir uns, denndas dürfen wir nie unterlassen; bauen wir aber immer auf die Akte derDemut die Tugend der Hochherzigkeit auf, sonst sind sie wertlos.

Es liegt mir außerordentlich viel daran, euch diese ungemein wert-volle Parole ins Herz hineinzugraben: Nichts verlangen – nichts ab-schlagen! Nehmt an, was man euch gibt, und verlangt nicht, was maneuch nicht gibt. Handelt ihr so, dann „werdet ihr Ruhe finden für eureSeele“ (Mt 11,29). Ja, meine lieben Schwestern, festigt euer Herz indieser heiligen Gelassenheit, nehmt alles an, was man euch geben wird,und verlangt nicht nach dem, was man euch nicht geben will. Mit einemWort, laßt alles Wünschen, übergebt vielmehr euch und all eure An-

Page 92: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

916. Neugründungen

gelegenheiten ganz und gar der göttlichen Vorsehung. Laßt sie mit euchschalten und walten, wie sie will, so wie die Kinder sich ganz demBelieben ihrer Amme überlassen. Mag euch die Vorsehung auf denrechten oder linken Arm nehmen, laßt sie tun, was ihr beliebt; Kindernist dies ja auch ganz gleichgültig. Mag sie euch hinlegen oder aufheben,laßt sie nach ihrem Gutdünken handeln. Sie ist eine gute Mutter undweiß besser als ihr selbst, was euch frommt. Damit will ich sagen: Läßteuch die göttliche Vorsehung Leiden, Widerwärtigkeiten und Prüfun-gen zukommen, so weist sie nicht ab, nehmt alles gerne, ruhig und inLiebe an. Schickt sie euch keine Leiden, läßt sie auch keine an euchherankommen, dann wünscht sie nicht und verlangt nicht danach. Das-selbe gilt für geistliche Freuden; nehmt sie dankbar an, wenn sie euchzufließen, sehnt euch aber nicht danach, wenn sie ausbleiben. Bemühteuch vielmehr, soweit es möglich ist, euer Herz in der steten Bereit-schaft zu halten, alles willig hinzunehmen, was euch die göttliche Vor-sehung schickt.

Wir dürfen nicht vergessen, daß in uns ein doppelter Wille ist. Deneinen, der zur Sinnlichkeit hinzieht, dürfen wir nicht einmal beachten.Verlangt man im Orden etwas von uns, was Gefahren in sich birgt, z. B.das Amt einer Oberin anzunehmen, so lehnen wir es nicht ab. Verlangtman es nicht von uns, so sehnen wir uns auch nicht danach. Haltet es soin allem. Wer nicht schon selber die Erfahrung gemacht hat, glaubt esnicht, wie viel man mit diesem „Nichts verlangen – nichts abschlagen“für seine Seele gewinnt. Man verliert dann nicht seine Zeit mit Herum-suchen nach immer neuen Mitteln zur Vollkommenheit, sondern hältsich einfach und gewissenhaft an die, die man auf seinem Weg findet.

4. Wie ich so an euren Abschied dachte und an den unvermeidlichenSchmerz, der damit für euch verbunden ist, kam mir der Gedanke,euch etwas zu sagen, was diesen Schmerz doch etwas lindern könnte.Gewiß will ich damit nicht sagen, daß ihr nicht ein wenig weinen dürft.Ihr könnt ja eure Tränen nicht zurückhalten. Seid ihr doch so langefriedlich und liebevoll vereint gewesen im gleichen Tun und Lassen, –und das hat eure Herzen so aneinander gekettet, daß eine Trennungeuch fast undenkbar dünkt.

Nun, meine lieben Töchter, dieser Abschied ist auch keine Trennung,denn alle zieht ihr hinaus und alle bleibt ihr hier. Die Fortziehenden

Page 93: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

92 6. Neugründungen

verweilen hier in den Zurückbleibenden und diese ziehen hinaus in derPerson der Scheidenden. Diese durch die Liebe hervorgebrachte heili-ge Einheit ist eine der wesentlichen Früchte des Ordenslebens. In die-sem innigen Einssein werden die vielen Herzen ein Herz, werden dievielen Glieder ein Leib (Apg 4,32). Der Ordensstand bildet aus allenOrdensleuten eine solche Einheit, daß sie alle zusammen wie eineOrdensperson sind. So seid ihr, meine lieben Schwestern, alle Oberinin der Person der Oberin, Köchin in der Person der Köchin, Sakristaninin der Person der Sakristanin, und so ist es mit allen Ämtern. Die Lai-enschwestern singen das Offizium in der Person der Chorschwesternund diese richten die Speisen her in der Person jener, die dafür be-stimmt sind. Warum ist das so? Nun, aus dem einfachen Grund, weildie einen nicht das Offizium singen könnten, wären die anderen nichtbei der Hausarbeit. Gäbe es keine Küchenschwestern, so müßten ebendie Chorschwestern kochen. Und wäre die eine Schwester nicht dieOberin, so wäre es eben eine andere. Genau so bleiben also die Fortzie-henden hier und die Hierbleibenden ziehen fort. Denn könnten diezum Fortreisen bestimmten Schwestern es nicht tun, so müßten stattihrer jene fortziehen, die jetzt dazu bestimmt sind, hier zu bleiben.

Aber vor allem gehen oder bleiben wir ebenso gerne, meine liebenTöchter, weil wir die absolute Gewißheit haben, daß es sich zwischenuns nur um eine räumliche Trennung handelt, da wir im Geiste unlös-lich vereint sind. Was bedeutet räumliche Trennung? Einmal müssenwir voneinander gehen, ob wir wollen oder nicht.

Zu fürchten wäre nur das eine, daß die Herzen nicht mehr zueinan-der fänden, daß keine Einigkeit der Seelen zustande käme. Wir aber,wir werden nicht nur immer ganz innig miteinander verbunden blei-ben, sondern vielmehr durch das zarte und innige „Band der Liebe“immer noch mehr ein Herz und eine Seele sein, und je mehr wir in derVollkommenheit vorankommen, umso inniger wird diese unsere Ver-bundenheit. Je mehr wir der Vereinigung mit Gott fähig geworden,desto mehr werden wir ja auch untereinander eins sein. Jede heiligeKommunion macht diese Einigung vollkommener, weil wir durch dieVereinigung mit dem Heiland zu einer immer festeren Einheit werden.Darum wird auch der Empfang des Himmelsbrotes, dieses anbetungs-würdigen Sakramentes, Kommunion, also Vereinigung genannt. Zwi-schen den Mitgliedern ein und desselben Ordens herrscht auch voll-kommene Gemeinschaft, sodaß nicht nur die zeitlichen, sondern auch

Page 94: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

936. Neugründungen

die geistlichen Güter gleichsam zusammengeworfen und Gemeingutaller werden. Die Ordensleute haben keinen persönlichen Besitz, dasie freiwillige Armut gelobt haben. Auch die Tugenden, guten Werkeund Verdienste des einzelnen gehören allen insgesamt; ein jeder hatAnteil daran, wenn er nur in der Liebe bleibt und sich treu an die Re-geln des Ordens hält, in den Gott ihn geführt hat. Wer also in der Kücheoder sonst irgendwo beschäftigt ist, obliegt auch dem beschaulichenGebet in der Person der betenden Mitschwestern, und wer sich geradeausruht, hat Anteil an der Arbeit der Schwester, die im Gehorsam ar-beitet.

Seht, meine lieben Töchter, so ist dieses „Fortziehen und doch Hier-bleiben“gemeint. Jetzt begreift ihr auch, warum ihr alle nicht nur heute,sondern bei allen Gelegenheiten tapfer gehorchen, aus Liebe gehorchensollt. Haben doch die Zurückbleibenden Anteil an der Arbeit und denFrüchten der Reise jener, die fortziehen, und die Scheidenden teilen dieRuhe und Beschaulichkeit der Mitschwestern, die daheimbleiben.

5. Meine lieben Töchter, zum Gehen wie zum Bleiben habt ihr vieleTugenden und großen Tugendeifer nötig. Die einen brauchen Mut undGottvertrauen, damit sie gern und demütig das tun, was Gott jetzt vonihnen haben will. Sie werden so manchesmal Heimweh haben nachdem Haus, das ihre erste Heimat war, nach den Schwestern, die sie solieb hatten, nach dem Gedankenaustausch, der ihnen so wohlgetan; siewerden Heimweh haben nach den Eltern, Verwandten und Bekannten,kurz nach all den Dingen, an denen unsere Natur zeitlebens hängt; siewerden sich zurücksehnen nach der ihnen so lieb gewordenen Gebor-genheit. Aber auch die Schwestern, die hier bleiben, brauchen viel Mut,damit sie die Fügsamkeit, die Demut und die Gelassenheit beharrlichüben; Mut ferner zur ständigen Bereitschaft, auch ihrerseits hinauszu-ziehen, wenn der Ruf an sie ergeht. Ihr seht ja selbst, meine geliebtenTöchter, daß unsere Kongregation wächst und die Niederlassungen sichmehren. Deshalb müßt ihr auch in allen Tugenden wachsen, müßt dieTugendakte vermehren und euren Mut stählen, um fähig zu werden,nach Gottes Willen Verwendung zu finden.

Wenn ich so an die ersten Anfänge unserer Kongregation zurück-denke, scheinen sie mir die Geschichte Abrahams widerzuspiegeln.Gott hatte ihm verheißen, seine „Nachkommenschaft zu mehren wiedie Sterne des Himmels und wie den Sand am Meer“. Dennoch befiehlter ihm, den Sohn zu opfern, durch den ja gerade die Verheißung erfüllt

Page 95: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

94 6. Neugründungen

werden sollte. Er aber zweifelt nicht, er „hofft wider alle Hoffnung“und diese Hoffnung war nicht vergebens. – Nun, als die drei erstenSchwestern sich hier zusammenfanden, um die Lebensweise zu begin-nen, die ihr jetzt führt, war es schon von Ewigkeit her der Plan Gottes,ihre „Nachkommenschaft“ zu segnen und in außerordentlicher Weisezu „mehren“. Wer hätte aber damals auf einen solchen Gedanken kom-men können? Dachten wir uns doch, daß die Schwestern hier in diesemHäuschen, abgeschlossen von der Welt, für die Welt gestorben seinsollten. Und so wurden sie geopfert, vielmehr, sie opferten sich freiwil-lig. Gott freute aber dieses Opfer so sehr, daß er den Schwestern nichtnur ein neues „Leben gab“, sondern ein so „überreiches“ Leben, daß siees mit der Gnade Gottes sogar noch anderen Seelen mitteilen können,wie wir es nun sehen.

Bei diesen drei ersten Schwestern muß ich lebhaft an jene drei Getreide-körner auf dem Wagen des Triptolemus denken. Sie waren mit dem Stroh,das zur Verpackung der Waffen diente, in ein getreideloses Land ge-kommen. Dort säte man sie aus, sie gingen auf und vermehrten sich insolchen Mengen, daß schon nach wenigen Jahren überall Getreide an-gebaut werden konnte.

Der liebe Gott hat nun in seiner Fürsorge diese drei Schwestern gleichGetreidekörnern mit seiner Segenshand in die Erde der Heimsuchunggesenkt, und nachdem sie dort einige Zeit der Welt verborgen waren,haben sie nun, wie wir sehen, viel Frucht gebracht; so viel Frucht, daßanscheinend bald alle Länder daran Anteil haben werden.

Glücklich die Seele, die sich in Wahrheit und bedingungslos dem DienstGottes weiht; Gott läßt nicht zu, daß ihr Leben unfruchtbar und unnützsei. Für ein Nichts, das sie aus Liebe zu Gott verläßt, wird ihr unermeß-licher Lohn in diesem Leben wie im Jenseits. Was für eine Gnade,wenn er sich unser bedienen will, um den Seelen zu helfen, die er soinnig liebt, für deren Erlösung er so viel gelitten. Das ist eine ganzunvergleichlich hohe Auszeichnung, an der uns außerordentlich vielgelegen sein muß. Dient also eifrig den Seelen, scheut weder Arbeit,noch Mühe, noch Opfer! Für alles wird euch reichlicher Lohn. Abernicht die Belohnung soll die treibende Kraft sein, sondern der Wunsch,Gott zu gefallen und ihn zu verherrlichen.

6. So zieht denn hin! Haltet tapfer fest an euren Übungen; untersuchtnicht lange, ob ihr für die Aufgaben, die man euch zuweist, die nötigenFähigkeiten besitzt. Es ist viel besser für uns, wenn wir sie an uns nicht

Page 96: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

956. Neugründungen

sehen; wir bleiben dann demütig, überschätzen unsere Kraft nicht, über-heben uns nicht und verlassen uns dafür um so mehr auf Gott. Bewäh-ren wir uns in der Tugend, die wir gerade besonders brauchen, danndürfen wir sicher sein, daß Gott uns zur rechten Zeit auch das Nötigegibt. Lassen wir alles Wünschen und Befürchten, überlassen wir unsdafür ganz der göttlichen Vorsehung, damit sie mit uns mache, was siewill. Wozu eher das eine als das andere wünschen? Sollte uns nicht allesgleichviel wert sein? Ihm angehören, seinen Willen lieben, das genügt,um ihm zu gefallen. Ich für meinen Teil verstehe nicht, warum wir unszu einer Arbeit lieber hergeben als zur anderen, – im Kloster schon garnicht. Der Gehorsam macht doch jedes Amt, jede Tätigkeit, jede Ver-richtung in Gottes Augen gleich angenehm und gleich wertvoll. Hättenwir die Wahl, so müßten wir gerade die niedrigsten Arbeiten am lieb-sten tun, und wenn es die ekelhaftesten wären. Haben wir aber nicht dieWahl, dann tun wir alles gleich gern. Ist unser Amt ehrenvoll in denAugen der Welt, dann bleiben wir klein vor Gott. Und dünkt unserAmt der Welt verächtlich, dann sei es uns ein Ehrenamt vor Gott. Mei-ne lieben Töchter, bewahrt meine Worte mit Liebe und Treue, ob sienun eure seelische Haltung oder die äußeren Übungen betreffen. Wolltnur das, was Gott für euch will, und nehmt alle Äußerungen und alleWirkungen dieses göttlichen Willens liebevollen Herzens entgegen,ohne euch um etwas anderes zu kümmern.

7. Was soll ich euch sonst noch sagen, meine lieben Schwestern?Liegt doch unser ganzes Glück in dieser Hingabe an Gottes Willen. Ichwill mit einem Bild aus dem Alten Testament schließen: Die Israelitenwaren lange Zeit ohne König gewesen, nun wollten sie plötzlich einenHerrscher haben. O kurzsichtiger Menschenverstand! War denn dasVolk führerlos gewesen, hatte nicht Gott sich seiner angenommen, esgeführt und verteidigt? Jetzt kamen sie zu Samuel, dem Propheten, unddieser versprach, einen König von Gott zu erbitten. Darob erzürnt, ließaber der Herr den Israeliten sagen, daß sie den König zwar haben soll-ten, aber dieser werde sie mit Herrschergewalt regieren und ihre Söhneund Töchter wegnehmen; die Söhne werde er als Köche, Soldaten undHauptleute verwenden, die Töchter als Köchinnen und Salbenbereiter-innen.

Meine lieben Töchter, in ähnlicher Weise verwendet auch der Herrdie Seelen, die ihm dienen wollen. In der Ordensgemeinschaft gibt esverschiedene Ämter und Berufe; ich möchte nun meinen, daß Gott die

Page 97: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

96 6. Neugründungen

fortziehenden Schwestern dazu bestimmt hat, wohltuende Salben zubereiten. Ja, gewiß! Er hat euch beauftragt, die Tugenden, die in eurerKongregation gepflegt werden, gleich lieblichen Wohlgerüchen zu ver-strömen. Die Mädchen lieben Wohlgerüche gar sehr. Die Braut imHohelied vergleicht den Namen ihres Bräutigams mit einem „Öl“, dasüberaus angenehmen Duft verbreitet, so köstlich ist er, daß „die Mägd-lein“ ihm nacheilen (Hld 1,2).

Verbreitet also, meine geliebten Schwestern, wo immer ihr hinkommt,die Wohlgerüche echter Demut, Sanftmut und Liebe, damit die Seelen,angelockt vom Duft, euch nacheilen und eure Lebensweise annehmen.Dann werden auch sie schon hier in der Zeit heiligen Herzensfriedenund liebegesättigte Ruhe genießen und in der Ewigkeit die Seligkeitohne Ende.

Eure Kongregation wurde neulich so trefflich mit einem Bienenstockverglichen. Ja, sie ist ein Bienenstock, der schon mehrere Schwärmeausgesandt hat. Ein Unterschied ist aber doch dabei: Das neue Bienen-volk fliegt aus, sich ein neues Reich zu gründen. Es wählt sich eineneue Königin, für die es kämpft und arbeitet. Ihr, meine lieben Töch-ter, zieht zwar in ein neues Bienenhaus, das heißt ihr gründet eine neueNiederlassung, doch euer König bleibt derselbe, es ist der gekreuzigteHerr Jesus Christus, unter dessen Herrschaft ihr überall wohl geborgenseid. Er bleibt euer König, solange ihr ihn haben wollt. Seid also unbe-sorgt, nichts wird euch fehlen. Sorgt nur dafür, daß ihr in der Liebe undTreue wachset. Haltet euch dicht an seiner Seite, dann wird alles rechtwerden. Laßt euch alles von ihm lehren, laßt euch in allem von ihmberaten. Er ist der treue Freund, der mit euch gehen wird, der euchlenken wird, der sich um euch annehmen wird. Von ganzem Herzenbitte ich ihn um diese Gnade.

Page 98: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

97

7. Gespräch

Die drei geistlichen GesetzeDie drei geistlichen GesetzeDie drei geistlichen GesetzeDie drei geistlichen GesetzeDie drei geistlichen Gesetze

Die Heilige Schrift berichtet, daß die Tochter Jiftachs sich von ihremVater eine Frist von zwei Monaten ausbat, um ihre Jungfrauschaft zubeweinen, bevor sie zum Tod geführt würde. Seitdem ist es unter denTöchtern Israels Brauch, alljährlich an bestimmten Tagen den Tod derTochter Jiftachs zu beweinen (Ri 11,30-40). Und wollte man sie umden Grund ihres Wehklagens fragen, so würden sie sagen: Wir weinen,weil einstmals um dieselbe Zeit die Tochter Jiftachs geweint hat.

Wir feiern alljährlich mit festlicher Freude den Tag der heiligen dreiKönige und halten am althergebrachten frohen Brauch fest, uns an die-sem Tag einen König zu wählen.1 Fragte man uns, warum wir das tun, sowürden wir antworten: Wir geben unserer Freude Ausdruck, weil sicheinst am selben Tag Unsere Liebe Frau und glorreiche Herrin über dieAnkunft der heiligen drei Könige gefreut hat, die aus weiter Ferne ge-kommen waren, ihren Sohn anzubeten als den erhabenen Herrn undKönig der Welt.

Heuer hat also mich das Los getroffen, euer König zu sein. So will icheuch denn schnell meine Gesetze geben, da doch meine Königswürdemit der Festoktav erlischt. – Sie haben für euch Geltung, bis ihr imnächsten Jahr von einem neuen König wieder neue Gesetze erhaltet.

Als ich so hin- und herdachte, welche Gesetze ich wohl erlassen könn-te, da fiel mein Blick auf das Evangelium des heutigen Tages, das dieTaufe Jesu im Jordan und die Herabkunft des Heiligen Geistes in Ge-stalt einer Taube schildert. Ich überlegte, daß der Heilige Geist dieLiebe des Vaters und des Sohnes ist und daß ich euch daher auch Geset-ze geben muß, die ganz Liebe sind, Gesetze, die ich doch den Taubenentlehnen darf, da der Heilige Geist die Gestalt einer Taube angenom-men hat – und Seelen, die der göttlichen Majestät dienen wollen, rei-nen, liebenden Tauben gleichen, weshalb im Hohelied die Braut auchoft „Taube“ genannt wird.

Wie jedes Tier folgt auch die Taube ihren Gesetzen, die aber bei ihrganz Liebe zu sein scheinen. Es ist eine Freude, sie zu beobachten. –Wie schön ist z. B. ihr Gesetz der Reinlichkeit. Gibt es ein reinlicheresTier als die Taube? Wenn auch der Taubenschlag noch so schmutzig ist,eine unsaubere Taube hat man noch nicht gesehen, ihr Gefieder ist

Page 99: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

98 7. Geistliche Gesetze

immer glatt und glänzend. Wie sagt uns doch auch ihr Gesetz der Ein-falt zu, so sehr, daß der Heiland sie als Vorbild aufstellt: „Seid einfältigwie die Tauben und klug wie die Schlangen“ (Mt 10,16). Wie anzie-hend ist ihr Gesetz der Sanftmut; sie kennen nicht Gift und Galle. – Sobefolgen sie noch viele liebliche Gesetze, die für Seelen, die Gott imKloster dienen wollen, recht nützlich wären.

Es wird euch aber kaum darum zu tun sein, Gesetze, die ihr schonerhalten habt, neuerdings zu bekommen. So habe ich heute für euchnur drei Gesetze ausersehen, die euch einen großen Gewinn bringenwerden, wenn ihr sie gut beobachtet, die auch der betrachtenden Seeleungemein zusagen, da sie ganz Liebe sind und das Feinste vom Feinenfür die Vollkommenheit des geistlichen Lebens. Es sind sozusagen dreiGeheimnisse und besonders wertvoll als Mittel für dasVollkommenheitsstreben, weil sie jenen, deren Lebensaufgabe geradedieses Streben ist, weniger bekannt sind.

Wie lauten also diese drei Gesetze?

I .I .I .I .I .

Das erste, das ich vorhabe, euch zu geben, heißt: lch will mich Gotthingeben, wie er sich mir ganz hingibt.

1. Betrachtet die Taube: Sie hat nur das eine Verlangen, alles für denTauber zu tun: Sie denkt nicht an sich; sie weiß nur das eine: „MeinGeliebter ist ganz mein und ich bin ganz sein“ (Hld 2,16; 6,2; 7,10), erdenkt stets an mich und ich verlasse mich auf ihn. Ich bin seiner sicher.Mag er fliegen, wohin er will, ich glaube an seine Liebe und Treue, ichüberlasse mich ganz seiner sorgenden Liebe. Vielleicht habt ihr gese-hen, wenn auch nicht beachtet, daß die Taube, wenn sie brütet, nie dieEier verläßt, bevor die Jungen ausgeschlüpft sind. Auch dann fliegt sienoch nicht vom Nest fort, sondern betreut die Jungen, solange sie esnötig haben. Sie holt nicht einmal für sich selber Futter, sondern über-läßt diese Aufgabe dem Männchen, das sie treulich umsorgt, ihr nichtnur Körner, sondern auch Wasser im Schnabel bringt, damit sie nichtverdurstet; es nimmt sich rührend um sie an, damit ihr ja nichts abgehe.Es ist auch noch nie vorgekommen, daß eine Taube während der Brut-zeit verhungert ist. Die Taube tut also alles dem Tauber zuliebe: Siebrütet die Eier aus und zieht die Jungen auf, während der Tauber sei-

Page 100: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

997. Geistliche Gesetze

nerseits die Taube versorgt, die ihm alle Sorge um sie überläßt. Sie willnichts weiter, als ihm gefallen; er will nichts weiter, als sie versorgen.

Dieses erste Gesetz, alles nur für Gott zu tun und ihm alle Sorge füruns zu überlassen, ist ebenso schön wie wertvoll für uns. Es gilt nichtnur für das zeitliche Leben, – hier ist es für uns ja eine Selbst-verständlichkeit, – sondern auch für das geistliche Leben, für den Fort-schritt der Seele in der Vollkommenheit.

Seht, die Taube entfernt sich nicht von den Eiern, sie tut nur das, wasder Tauber von ihr will, und der Tauber lohnt es ihr, indem er für siesorgt, sodaß ihr nichts abgeht. – Wollten wir es doch auch so machenund alles für den Heiligen Geist, den Geliebten unserer Seele tun, wieglücklich könnten wir dann sein! Er würde so gut für uns sorgen; ja, jevertrauensvoller wir uns seiner Fürsorge überließen, desto aufmerksa-mer würde er uns mit allem versorgen, wessen wir bedürfen. Wir bräuch-ten keine Angst zu haben, daß uns je etwas abginge, er liebt ja mitunendlicher Liebe die Seele, die sich ihm ganz überläßt. – Die Taube,die ihren Tauber für sich sorgen läßt, lebt so glücklich, friedlich undruhig dahin. Aber tausendmal glücklicher ist die Seele, die den Heili-gen Geist für sie und für alles, was sie braucht, sorgen läßt, sie ist nurvon dem einen Gedanken beseelt, dem Geliebten ihrer Seele zu gefal-len, indem sie seine Gaben hütet und mit ihnen wirkt. Schon hier aufErden wird ihr eine so köstliche Ruhe und Stille zuteil, wie sie die Weltnie geben könnte, ein Friede, der ein Vorgeschmack jenes Friedens imHimmel ist, wo sie in bräutlicher Umarmung die ganze Wonne derVereinigung mit ihrem Gott genießen wird.

2. Die Taube brütet auf den Eiern, bis die Jungen ausgeschlüpft sind.So müssen auch wir unsere Vorsätze hüten und warm halten, bis sie ihreWirkungen zeitigen, – und unter ihnen besonders einen Vorsatz, der inseiner Bedeutung alle anderen überragt und deshalb besonders gepflegtund umhegt zu werden verdient, wenn wir dem Heiligen Geist, demBräutigam unserer Seelen, der ganz Liebe und Güte für uns ist, gefallenwollen. Ich meine damit den Wunsch, der uns beseelte, als wir in denOrdensstand eintraten, das Verlangen nach Vollkommenheit, das einAst am Baum der Gottesliebe, ja ein Ast in seiner Krone ist.

Dieses Verlangen darf aber nicht über die Mittel hinausgehen, dieunsere Regeln und Satzungen vorschreiben. Sie weisen uns den Wegzur Vollkommenheit, die zu erstreben wir uns verpflichtet haben. Sowollen wir denn dieses große Vorhaben unser Leben lang hüten und

Page 101: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

100 7. Geistliche Gesetze

pflegen, damit unsere Seele sich umgestalte zu einem Geschöpf, ähn-lich ihrem Vater, der die Vollkommenheit selber ist. – Dabei wollenwir aber den Tauben gleich auf unseren Eiern bleiben, d. h. uns mit denMitteln begnügen, die uns für unsere Vervollkommnung vorgeschrie-ben sind, und alles Sorgen um uns dem Heiligen Geist, dem einzigGeliebten unserer Seele überlassen, der nicht zulassen wird, daß unsetwas von dem abgehe, was notwendig ist, um ihm wohlzugefallen.

Wie traurig ist es, Seelen zu sehen, – und leider gibt es deren viele, –die nach Vollkommenheit streben wollen, es aber für das Wichtigstehalten, recht viele und vielerlei Wünsche zu hegen. So fahnden sie nachallen möglichen Mitteln, versuchen bald dies, bald das, sind immerunzufrieden und kommen nie zur Ruhe. Kaum haben sie einen Wunsch,so lassen sie ihn auch schon wieder fallen und greifen einen anderenauf. – Die Hennen legen ein Ei nach dem anderen, brüten keines ausund so bekommen sie keine Küchlein. Die Tauben hingegen brütenihre Eier aus und versorgen die Jungen, bis sie flügge sind und sich ihrFutter selber holen können. Und haben die Hennen einmal Küchlein,dann tun sie ganz aufgeregt und glucksen und lärmen in einem fort,während die Tauben sich ruhig und still verhalten, nicht gurren undnicht herumflattern. – So gibt es auch Menschen, die bei jedem ihrerVorsätze ein großes Getue machen, ihn jedermann sagen müssen undjeden Nächstbesten fragen, ob er nicht neue Mittel wisse, um heilig zuwerden. Kurz, vor lauter Reden über die Mittel zur Vollkommenheitvergessen sie ganz auf das wichtigste aller Mittel: Still sein und auf ihnsein ganzes Vertrauen werfen, der allein dem, was sie angebaut und ge-pflanzt haben, das Gedeihen geben kann (1 Kor 3,6 f).

3. Alles Gute in uns hängt von Gottes Gnade ab, auf sie müssen wirdaher auch unser ganzes Vertrauen setzen. Menschen aber, die immerin fiebriger Hast sind, um soviel als möglich zu leisten, scheinen mehrauf ihre eigene Arbeit und auf diese vielen Übungen zu bauen. Sieglauben nie genug getan zu haben, – und damit haben sie eigentlichrecht, nur dürfen sie dabei nicht die Ruhe verlieren, müssen alles mitrecht liebevoller und gewissenhafter Sorgfalt tun und dabei immer vonder Gnade und nicht von den Übungen und deren Erfolg abhängigbleiben, d. h. nicht den Erfolg von ihrer Arbeit allein, ohne GottesGnade, erhoffen.

Seelen, die auf der Suche nach Vollkommenheit so geschäftig tun,scheinen nicht zu wissen oder vergessen zu haben, was ihnen der Pro-

Page 102: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1017. Geistliche Gesetze

phet Jeremia zuruft: „Du armer Mensch, du rühmst dich deiner Arbeitund deines Fleißes. Weißt du nicht, daß du wohl den Acker bestellen,pflügen und die Saat ausstreuen sollst, daß aber Gott den Pflanzen dasWachstum gibt, daß ihm der befruchtende Regen und die reiche Ernte zuverdanken ist? Du magst wohl die Pflanzen begießen, es wird dir abernichts nützen, wenn Gott nicht deiner Arbeit seinen Segen gibt. So ver-dankst du die Ernte nicht deinem Schweiß, sondern seiner Güte; von ihrmußt du dich also ganz abhängig fühlen“ (Jer 5,24; 9,23; 12,13).

Unsere Pflicht ist es freilich, gut zu arbeiten, der Erfolg unserer Arbeitaber steht bei Gott. „Gott hat sein Mühen geehrt und ihm reiche Fruchtgeschenkt“ (Weish 10,10), so läßt uns die Kirche am Fest der heiligenBekenner singen, damit wir einsehen, daß wir ohne die Gnade nichtskönnen, daß wir von uns nichts erwarten dürfen und allein auf die Gna-de vertrauen müssen. Nur keine aufgeregte Hast bei unserer Arbeit! Siewird gut ausfallen, wenn wir uns bemühen, sie in aller Ruhe eifrig undgewissenhaft zu tun, nicht von ihr den Erfolg erwarten, sondern vonGott und seiner Gnade.

4. Sorgen wir uns doch nicht ängstlich darum, ob wir vorwärts kom-men und wie viele Fortschritte wir im Seelenleben machen. An dieserängstlichen Besorgnis hat Gott keine Freude; sie ist nichts als eineBefriedigung der Eigenliebe, dieses Plagegeistes, der weiß Gott wasalles tun will und doch nichts fertig bringt. Eine einzige Arbeit, in allerGemütsruhe verrichtet, ist wertvoller als viele Arbeiten, bei denen wiruns überstürzen.

Die Taube will nichts weiter, als in aller Einfalt die ihr zukommendePflicht erfüllen; alles andere überläßt sie ihrem Gefährten. Eine Seele,die Gott liebt, wendet mit der Einfalt der Taube und ohne Hast dieMittel an, die ihr zur Erlangung der Vollkommenheit vorgeschriebensind. Sie schaut nicht nach anderen aus, und wären sie auch noch sowertvoll. Sie weiß: Mein Geliebter denkt für mich, darauf verlasse ichmich; er sorgt für mich, also vertraue ich auf ihn; er liebt mich, ichliebe ihn und darum bin ich ganz sein.

Kürzlich fragten mich fromme Klosterfrauen: „Mein Gott, was wer-den wir wohl in diesem Jahr alles tun? Voriges Jahr haben wir dreimalwöchentlich gefastet, dreimal uns gegeißelt. Da müssen wir doch indiesem Jahr um einiges mehr tun; einmal, um Gott für das vergangeneJahr zu danken, dann aber auch, damit wir in der Gottesliebe wach-sen.“ Darauf erwiderte ich: „Ihr sagt ganz richtig, ,einiges mehr‘, aber

Page 103: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

102 7. Geistliche Gesetze

nicht in dem Sinn, wie ihr es meint. Nicht die Übungen der Frömmigkeitmüssen wir vermehren, sondern wir müssen unsere Übungen mit ver-mehrter Vollkommenheit verrichten, d. h. wir müssen dabei immer mehrunserem Bräutigam vertrauen und uns selbst mißtrauen. Voriges Jahrhabt ihr dreimal in der Woche gefastet und dreimal euch gegeißelt;wolltet ihr nun diese Übungen verdoppeln, so ginge das heuer geradenoch. Was aber macht ihr dann im nächsten Jahr? Da müßte eure Wo-che entweder neun Tage haben, oder ihr müßtet zweimal an einem Tagfasten.“

Was für ein Unsinn, sich nach dem Martyrium in Indien zu sehnenund dabei die Standespflichten zu vernachlässigen! Aber auch welcheSelbsttäuschung, mehr essen zu wollen, als man verdauen kann! Wirsind gar nicht imstande, all das Viele zu verdauen, das wir in Angriffnehmen, weil wir zu wenig innere Wärme haben. Und trotzdem wollenwir diese ängstliche Hast, recht viel zu tun, nicht ablegen. – Viele geist-liche Bücher, vor allem die Neuerscheinungen lesen, viel und schönüber Gott und geistliche Dinge reden, um uns, wie wir sagen, zur Fröm-migkeit anzuregen; – alles ganz recht! – Viele Predigten anhören, rechtoft Vorträge halten – das begeistert! – Sehr oft kommunizieren, nochöfter beichten, Kranke pflegen, recht schön über alles reden, was inunserer Seele vorgeht, um so unser eifriges Verlangen, so schnell alsmöglich heilig zu werden, kundzutun – ist das nicht alles recht geeig-net, das Ziel, das wir uns gesteckt haben, auch zu erreichen? Ja gewiß,aber nur solange wir im Rahmen des Gehorsams und in voller Abhän-gigkeit von der Gnade Gottes bleiben, d. h. solange wir unser Vertrau-en nicht auf all diese Dinge setzen, so gut sie auch sein mögen, sondernnur auf Gott, der allein unserem Arbeiten den Erfolg geben kann (2Kor 9,10; 1 Tim 6,15).

5. Meine lieben Töchter! Schaut euch einmal das Leben der großenheiligen Ordensleute genauer an. Wie war z. B. der hl. Antonius seinerhohen Heiligkeit wegen überaus geehrt von Gott und den Menschen!Hat er so viel gelesen, häufig kommuniziert und viele Predigten ge-hört? O nein! Er hat ganz einfach alles den heiligen Einsiedlern ab-geschaut, dem einen die Enthaltsamkeit, dem anderen das Beten, undhat so gleich einer emsigen Biene überall den Blütenstaub der Tugen-den eingeheimst, um daraus den Honig eines erbaulichen, heiligen Le-bens zu bilden.

Page 104: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1037. Geistliche Gesetze

Und der hl. Paulus, der erste Einsiedler, hat er seine Heiligkeit infrommen Büchern gefunden? Er hat überhaupt kein Buch besessen.Oder hat er so oft kommuniziert und gebeichtet? Nur zweimal in sei-nem Leben! Dann hat er vielleicht recht viele Vorträge und Predigtengehört? O nein, er hat in der Wüste keinen Menschen zu Gesicht be-kommen; nur einmal besuchte ihn der hl. Antonius, und das kurz vorseinem Tod. Wißt ihr, wie er heilig geworden ist? Er ist dem Ruf Gottesgefolgt, hat nicht rechts und nicht links geschaut, sondern das, was ereinmal begonnen, auch beharrlich durchgeführt.

Und hatten die großen Heiligen, die sich der Führung des hl. Pachomiusunterstellten, Bücher, hörten sie Predigten? Nichts von all dem. UndVorträge? Dann und wann einen. Beichteten und kommunizierten sieoft? An Hochfesten. Wohnten sie vielen heiligen Messen bei? Nur anSonn- und Feiertagen, sonst nicht. Wie nur konnten dann diese Heiligenmit so karger geistlicher Nahrung ihre Seele gesund, kräftig und mutigentschlossen erhalten, um die Tugenden zu erringen und auf das Ziel, dassie sich gesteckt, hinzuarbeiten? Und wir, die wir so reichlich mit allemversorgt sind, kommen trotzdem von Kräften, d. h. unser Tugendstrebenist kraftlos und saftlos. Und werden einmal die geistlichen Freuden spär-licher, dann fehlt uns gleich jede Lust und Energie zum Ruf des Herrn. –Wir müssen es doch diesen heiligen Ordensleuten gleichtun, müsseneifrig und demütig unsere Pflicht, d. h. das, was Gott unserem Standentsprechend von uns haben will, erfüllen, nur an das denken, was er vonuns haben will, und dürfen uns ja nicht einbilden, wir könnten bessereMittel finden, um vollkommen zu werden.

6. Da höre ich nun den Einwand: „Sie sagen, wir sollen unserer Pflichteifrig obliegen. Wie kann ich dies aber, da ich ja nicht eifrig bin?“ Nun,du wirst eben keinen fühlbaren Eifer haben, denn diesen gibt Gott,wem er will, wir können ihn uns nicht nach Belieben geben. – Dasgleiche gilt von der „demütigen“ Pflichterfüllung. Da darf man sichauch nicht entschuldigen und sagen: „Ich besitze die Tugend der De-mut nicht, es liegt nicht in meiner Macht, sie zu haben“; der HeiligeGeist, der die Güte selbst ist, gibt sie dem, der darum bittet (Lk 11,13).Ich sprach hier nicht vom Gefühl der Demut, vom Gefühl derGeringheit, das uns antreibt, uns in allem so liebenswürdig zuverdemütigen. Ich spreche vielmehr von jener Demut, die uns die eige-ne Erbärmlichkeit erkennen und die erkannte Niedrigkeit lieben läßt.Das ist die wahre Demut!

Page 105: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

104 7. Geistliche Gesetze

Früher hat man lange nicht so viel studiert wie heutzutage. Auch diegroßen Heiligen, wie der hl. Augustinus, der hl. Gregor, der hl. Hilarius,haben nicht so viel studiert. Sie haben so viel geschrieben und gepre-digt, ihre Ämter nahmen sie so sehr in Anspruch, daß ihnen keine Zeitfür das Studium blieb. Dafür aber hatten sie ein großes Vertrauen aufGott und auf seine Gnade und ein großes Mißtrauen gegen sich selbst.Sie erachteten sich für nichts, bauten nicht auf eigenen Fleiß und eige-ne Arbeit und taten all das Große, was sie geleistet; allein im Vertrauenauf Gottes Gnade und Allmacht. „Durch Dich, o Herr, arbeiten wirund so arbeiten wir für Dich. Du segnest unser heißes Bemühen, Dugibst den Erfolg.“ So sprachen die Heiligen, und deshalb zeitigten ihreSchriften und ihre Predigten auch wunderbare Erfolge. Wir aber bauenauf unsere schönen Worte, auf unsere Redekunst, auf unser Wissen,und so zerstiebt unser Bemühen wie Seifenblasen und unser ganzerErfolg ist Selbstgefälligkeit.

Zusammenfassend wiederhole ich das erste Gesetz: Wir müssen unsGott hingeben, alles für ihn allein tun, jede Sorge um uns ihm überlas-sen, der sich mit unvergleichlicher Fürsorge unser annehmen wird. –Je aufrichtiger und tiefer unser Vertrauen zu ihm ist, um so eingehen-der ist seine Sorge für uns.

I I .I I .I I .I I .I I .

1. Als zweites Gesetz wollte ich euch ein Wort geben, das in derSprache der Tauben ungefähr so lautet: „Je mehr du mir nimmst, destomehr gebe ich dir.“ Wie ist das zu verstehen? Sowie die Täublein anfan-gen groß zu werden, nimmt der Besitzer des Taubenschlages sie weg,und sogleich legt die Taube wieder Eier für eine neue Brut. Läßt manihr aber die Jungen, so beschäftigt sie sich so lange mit ihnen, daß siedie Nachzucht vernachlässigt. „Je mehr du mir nimmst, desto mehrgebe ich dir.“ Ich will euch den Sinn dieses Sätzleins an einem Beispielerklären. Der große Gottesdiener Ijob, den der Herr mit eigenem Mundrühmt (Ijob 1,6; 2,3; 42,7 f), brach unter all dem vielen Mißgeschick,das ihn traf, nicht zusammen. Je mehr Gott ihm nahm, desto mehrschenkte er ihm wieder. Was hätte er in guten Tagen nicht alles getan?Wie viele Werke der Nächstenliebe! Er selbst zählt sie auf: „Ich war,Fuß dem Lahmen‘, d. h. ich ließ ihn tragen oder setzte ihn auf meinen

Page 106: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1057. Geistliche Gesetze

Esel, auf mein Kamel. Ich war ,Auge dem Blinden’ (Ijob 29,15 f), d. h.ich ließ ihn führen. Ich sorgte für die Hungrigen und bot den Bedräng-ten Zuflucht!“ – Dann ist er bettelarm geworden. Aber er klagte nicht,daß Gott ihm die Mittel entzogen, Gutes zu tun, er sagte mit der Taube:„Je mehr du mir nimmst, desto mehr gebe ich dir.“ Freilich nicht Al-mosen, denn er besaß nichts mehr, dafür aber den Akt der Ergebungund Geduld beim Verlust aller seiner Kinder und seines ganzen Besit-zes. Und damit tat er mehr als mit allen seinen großen Werken derNächstenliebe zur Zeit seines Wohlstandes, und dieser einzige Akt derGeduld machte ihn Gott wohlgefälliger als all die Werke der Näch-stenliebe, denn bei ihnen allen war ihm keine so starke und hochherzi-ge Liebe vonnöten, wie bei diesem einen Akt der Geduld.

2. Um also dieses zweite so liebenswürdige Gesetz zu beobachten,müssen wir es machen wie die Tauben: wir müssen uns vom Herrn undMeister die Täublein – das sind die Mittel zur Verwirklichung unsererWünsche – ruhig wegnehmen lassen, und wären sie auch noch so gut.Mag er sie uns nehmen, wann immer er will, wir wollen nicht klagen,wollen uns auch nicht über ihn beklagen, als ob uns ein Unrecht ge-schähe. Wir haben dann nicht unsere Wünsche und Übungen zu ver-doppeln, wohl aber die Gewissenhaftigkeit, mit der wir sie verrichten.Dann werden wir gewiß mit einem einzigen Akt mehr gewinnen als mithundert anderen, die wir nach eigener Wahl und Lust setzen.

3. Von seinem Kreuz will uns der Heiland nur ganz wenig auferlegen,er läßt es uns nur am Balkenende anfassen und tragen und verlangt sogewissermaßen geehrt zu werden, wie die Hofdamen, denen man dieSchleppe trägt. Unser Kreuz aber, das er uns auf die Schulter legt, sollenwir ganz tragen – was wir leider nicht tun. Denn schon geben wir allesverloren, wenn er uns die bislang gewährte Freude an unseren Übungennimmt. Wir meinen, er entzöge uns mit der Freude auch die Mittel,unser Vorhaben durchzuführen.

4. Schaut euch einmal eine Seele an, die in Zeiten innerer Freudeschön bei ihren Übungen wie eine Taube bei ihren Eiern geblieben ist.Sie hat den teuren Geliebten für alles sorgen lassen. Ihr Beten war eineinziges Verlangen, ihm zu gefallen, sie war in seiner Gegenwart ganzSeligkeit, ganz Versunkenheit, sie überließ sich seiner Sorge in lieben-der Hingabe. – Wie lieb und schön ist doch das alles! Wahrhaftig hüb-sche Taubeneier! – Und wenn wir nun auf die Früchte sehen, auf dieTäublein? Was tat eine solche Seele nicht alles! Werke der Nächsten-

Page 107: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

106 7. Geistliche Gesetze

liebe in reicher Fülle. Ein bescheidenes Wesen vor den Leuten, das alleerbaute (Phil 4,5); alle, die sie sahen und kannten, bewunderten sie.„Die Abtötungen,“ sagt sie, „fielen mir damals leicht, sie waren mireine Wonne, das Gehorchen ein Vergnügen. Kaum ertönte das ersteGlockenzeichen, so sprang ich schon auf, ich benützte jede Gelegen-heit zu einem Tugendakt und es war in mir eine große Ruhe, ein tieferFriede. – Jetzt aber widert mich alles an, ich bin wie ausgedörrt, ichkann fast nicht mehr beten, und so habe ich auch keine Lust mehr, anmir zu arbeiten, und mein früherer Eifer ist mir ganz abhanden gekom-men; kurz, Frost und Rauhreif haben meine Seele heimgesucht.“ – Ja,das wundert mich nicht. Schaut nur, wie sie sich über ihr Mißgeschickbeklagt. Die Unzufriedenheit steht ihr auf dem Gesicht geschrieben;sie läßt den Kopf hängen, ist verdrossen, wie geistesabwesend und ver-stört. Die Arme! Das kann man nicht mit ansehen; man muß sie fragen,was sie hat. „Was ich habe? Ach, ich kann nicht mehr, mir ist alleszuwider, nichts freut mich mehr, ich bin voll Unruhe.“ – Aber welcherUnruhe voll? Es gibt doch eine Unruhe, die zur Demut und zum Lebenführt, und eine, die zur Verzweiflung und zum Tod treibt. -„Ich kannIhnen nur sagen, ich bin so durcheinander, daß ich gar keinen Mutmehr habe vorwärtszustreben.“ – Gott, wie kann man doch so weich-lich sein! Wenn einmal die Freude fehlt, ist auch schon der ganze Mutdahin. So darf man es nicht machen. Je mehr geistliche Freude Gottuns nimmt, desto mehr eifrige Treue geben wir ihm. Ein Akt der Treuein geistlicher Dürre wiegt mehr als viele Akte in Gefühlsüberschwang.Zu diesem einen Akt gehört eine stärkere Liebe, wie ich schon vorhinan Ijob gezeigt, wenn wir auch meinen, diese Liebe wäre weniger innigund weniger befriedigend. „Je mehr du mir nimmst, desto mehr gebeich“; das also ist das zweite Gesetz. Es ist mein sehnlichster Wunsch,daß ihr es befolgt.

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

Und das dritte Gesetz der Tauben:Ihr Gurren hat nur eine Melodie, sie ist ihr Freudengesang und ist

auch ihr Klagelied. Diese Melodie singen sie, wenn sie betrübt auf ei-nem Baum sitzen und den Jungen nachtrauern, die das Wiesel oderKäutzchen geholt hat (denn nur der Herr des Taubenschlages darf diejungen Täublein aus dem Nest nehmen), – diese eine Melodie singen

Page 108: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1077. Geistliche Gesetze

sie aber auch dann, wenn der Tauber sich ihnen nähert und sie sichdarüber freuen. Es ist immer dasselbe Gurren in Lust wie in Leid.

Diese eine einzige Haltung für die Freude wie für den Schmerz wün-sche ich auch euch, meine lieben Schwestern; ich meine, euer Geistsoll in allem den heiligen Gleichmut bewahren; ich sage: der Geist,denn Stimmung und Neigung können nicht gleich bleiben. Ich möchte,daß ihr euch um das ganze Getue des niederen Seelenbereiches über-haupt nicht kümmert. Dieser stiftet ja all die Unruhe und Launenhaf-tigkeit an, wenn der höhere Seelenteil nicht seine Pflicht tut, wenn ernicht der überlegene bleibt. Darum muß dieser höhere Seelenteil, wiees im „Geistlichen Kampf“ heißt, Wachposten aufstellen, die nach denFeinden Ausschau halten, sonst wird er überrumpelt von den Umtrie-ben und Angriffen des niederen Seelenteiles, der sich unserer Sinne,Neigungen und Leidenschaften bemächtigt, um uns zu befehlen undunter seine Gesetze zu zwingen. – Im höheren Seelenbereich heißt esalso fest und entschlossen sein, um nach dem Tugendleben zu streben,wie es unser Beruf fordert, und den Gleichmut zu wahren in guten wiein schlimmen Tagen, in der Wonne wie im Leid, im Licht wie im Dun-kel, in Dürre wie im Überschwang.

Auch hier ist uns Ijob wiederum Vorbild. Eine einzige Melodie durch-zieht sein Lebenslied: „Der Name des Herrn sei gebenedeit!“ (2,10).Das ist das Liebeslied seiner Dankbarkeit, da Gott seinen Besitz ver-mehrt, ihm viele Kinder schenkt, ihm alles gibt, was eines MenschenHerz nur wünschen kann. Das ist das Liebeslied seiner Klage in äußer-ster Bitternis: „Der Name des Herrn sei gebenedeit!“ Er singt es inseinen Leiden wie in seinen Freuden. „Wir haben das Gute aus derHand des Herrn empfangen, warum sollten wir das Böse nicht hinneh-men? Der Herr hat mir Kinder und Besitztum gegeben, der Herr hat esmir wieder genommen, sein heiliger Name sei gebenedeit.“ (1,21) –Immer nur die eine Melodie. „Der Name des Herrn sei gebenedeit!“ O,wie teuer war doch Gott diese heilige, keusche und liebende Seele!

Meine geliebten Töchter, möchten doch auch wir alles aus der Handdes Herrn annehmen, das Gute wie das Böse, Freud wie Leid, dabeiimmer den Gesang der Liebe anstimmen: „Der Name des Herrn seigebenedeit!“ und ihn auf der gleichen Melodie heiliger Gelassenheitsingen. Sind wir so glücklich, in diesem Sinn zu handeln, dann wird eingroßer Friede in uns sein. Wir wollen nicht den Menschen gleichen, dieden Kopf hängen lassen, wenn die innere Freudigkeit fehlt, und gleich

Page 109: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

108 7. Geistliche Gesetze

wieder trällern, wenn sie wieder da ist. So machen es ja auch die Affen,die bei trübem Wetter trübsinnig und gereizt sind, bei schönem Wetterwie toll auf und ab hüpfen und sich herumtreiben.

Nun habe ich als euer König meine Gesetze erlassen. Wie Liebe nurihr Inhalt ist, so verpflichtet dazu auch wieder nur die Liebe. Es wird unsalso die Liebe zu unserem Herrn und Heiland anfeuern, diese Gesetzezu beachten und sie zu erfüllen, damit wir mit der Taube im Hohelieddem Bräutigam unserer Seele sagen dürfen: „Mein Geliebter ist ganzmein und ich bin ganz sein.“ Ihm allein will ich gefallen, er geht mirnicht von der Seite in zärtlicher Sorge, ich schmiege mich an ihn ininnigem Vertrauen. Haben wir in diesem Leben sorglich alles für denGeliebten unserer Seele getan, dann lohnt er uns die Treue und sorgtfür unseren Anteil an seiner Glorie. Dort in der Ewigkeit schauen wirdann die Seligkeit all der Seelen, die ganz in ihrer Pflicht aufgegangensind und sich ganz Gott hingegeben haben, dem allein ihr Mühen galt.Sie haben um sich und ihre Vollkommenheit nicht ängstlich und unnö-tig gesorgt, wie wir das tun. Und so ist die Frucht all ihrer Mühenunbeschreiblich süße Ruhe, unaussprechlicher Friede, denn ewig ru-hen sie an der Brust des Geliebten.

Auch die Seligkeit jener Seelen, die das zweite Gesetz erfüllten, wirdgroß sein. Sie ließen sich ja von ihrem Herrn und Heiland alle ihreTäublein wegnehmen und waren darüber nicht ärgerlich und nicht trost-los. Hochherzig sagten sie: „Je mehr du mir nimmst, desto mehr gebeich dir. Ich bleibe dir kindlich ergeben, auch wenn es dir gefällt, miralles zu nehmen.“ Je bereitwilliger wir auf die Freuden verzichten, diewir in unseren geistlichen Übungen gerne finden möchten, und je treu-er wir sie trotz Ekel, Kälte und Dürre verrichten, desto mehr dürfen wirim Himmel Gott preisen und verherrlichen. – Und wir werden umsojubelnder dereinst dort oben in unvergänglicher Wonne das Lied: „Lobund Preis sei dem Herrn“ (Offb 5,9-13; 7,12) singen, je freudiger wir eshier in diesem sterblichen und vergänglichen Leben trotz Bitterkeit,Entbehrungen und Ekel angestimmt haben in liebenswürdiger Gelassen-heit, die wir recht sorgsam bewahren wollen. Amen.

Page 110: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

109

8. Gespräch

Loslösung von „Mein und Dein“Loslösung von „Mein und Dein“Loslösung von „Mein und Dein“Loslösung von „Mein und Dein“Loslösung von „Mein und Dein“11111

1. Das kleinliche Hängen am „Mein und Dein“ ist noch ein Über-bleibsel von der Welt, die nichts Kostbareres kennt und darin ihr höch-stes Glück sieht. Ursache ist die Selbstüberschätzung. Wir halten unsfür etwas so Hervorragendes, daß alle Dinge für uns im Wert steigen,wenn sie mit uns in Berührung kommen, aber im Wert sinken, wenn sieunseren Mitmenschen dienen, für die wir eben nicht viel übrig haben.Wären wir demütig, wären wir losgelöst von uns selbst und überzeugt,daß wir vor Gott ein Nichts sind, dann würden wir es für ganz unwich-tig halten, ob die Sachen uns gehören, ja wir würden es uns zur Ehreanrechnen, Dinge zu benützen, die anderen gedient haben.

Wie in allem, so muß man auch hier unterscheiden zwischen Neigungund Anhänglichkeit.2 Wo es sich nämlich um eine bloße Neigung han-delt, liegt kein Grund zur Beunruhigung vor; es hängt ja nicht von unsab, ob wir schlechte Neigungen haben oder nicht. – Ein Beispiel: BeimWechseln der Kleider3 bekommt eine Schwester einen minderen Habit.Fühlt sie darüber eine kleine Verstimmung, so ist dies noch keine Sün-de, vorausgesetzt, daß sie es im höheren Seelenbereich gerne annimmt.Das gleiche gilt auch von anderen ähnlichen Gefühlen, die in uns auf-steigen. Wenn man mir z. B. hinterbringt, daß jemand über mich ge-schimpft hat – oder wenn mir etwas in die Quere kommt, dann steigtwohl der Zorn in mir auf, das Blut kocht und alles empört sich in mir;schaue ich aber dabei auf den Heiland und bete für den, der mich ge-kränkt hat, so habe ich in keiner Weise gesündigt. Selbst wenn nochtagelang nachher immer wieder bittere Gedanken gegen diese Personin mir auftauchen, so brauche ich mir nichts vorzuwerfen, wenn ich nurvon Zeit zu Zeit diese Gedanken ablehne; denn es liegt nicht in meinerMacht, diese Gefühle zum Schweigen zu bringen. – Würde aber dieoben erwähnte Schwester ihrer Verstimmung über das minder guteKleid, das sie erhalten hat, nachgeben, so wäre das ohne Frage ein gro-ßer Fehler, denn ihr Verhalten wäre Untreue gegen Gott und gegenihre Verpflichtung, nach Vollkommenheit zu streben.

2. Ein solches Versagen kommt dann vor, wenn der eigene Wille nichtim gemeinsamen Willen aufgegangen ist, wie es doch Pflicht eines jedenMenschen ist, der in ein Kloster eintritt. Es sollte für jede Schwester

Page 111: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

110 8. Mein und Dein

etwas ganz Selbstverständliches sein, ihren eigenen Willen draußen zulassen und nur mehr nach dem Willen Gottes zu leben. Glücklich dieSeele, die keinen anderen Willen mehr hat als den der Ordensgemeinde,die alles eigene Wollen Tag für Tag aus dem gemeinsamen Wollenschöpft.4

In diesem Sinn müssen wir auch das Heilandswort: „Sorgt nicht ängst-lich für den morgigen Tag“ (Mt 6,34) verstehen. Es bezieht sich nichtnur auf Nahrung und Kleidung, sondern auch auf die geistlichen Übun-gen. – Fragt euch also jemand: „Was wollt ihr morgen tun?“, dann solltihr antworten: „Heute tu ich das, was mir für heute aufgetragen ist; wasich morgen tun werde, weiß ich nicht, weil mir nicht bekannt ist, wel-chen Auftrag ich morgen erhalten werde.“

Wer so handelt, kann sich über nichts ärgern; denn wo diese echteGelassenheit herrscht, kann es keine Unzufriedenheit und keine Ver-grämtheit geben. Freilich, in fünf Jahren lernt man dies nicht, manbraucht schon seine zehn Jahre dazu. Wundern wir uns also nicht, wennunsere Schwestern noch nicht so weit sind; sie sind aber alle aufrichtiggewillt, diese Tugendhöhe zu erreichen. – Bestünde jedoch eine Schwe-ster auf diesem „Mein und Dein“, so müßte sie es sich schon außerhalbder Klosterpforte holen, denn innerhalb des Klosters kommt so etwasnicht in Frage.

3. Die Loslösung vom „Mein und Dein“ muß jedoch nicht nur imgroßen und ganzen, sondern bis ins einzelne durchgeführt werden. Es istrecht einfach zu sagen: „Ich trete ins Kloster der Heimsuchung ein.“Und heißt es dann, man müsse sich selbst verleugnen und den eigenenWillen aufgeben, so antwortet man recht schön: Ja, man wolle es gernetun. – Aber wenn es ernst wird, wenn der Verzicht im einzelnen von unsverlangt wird, dann gehen die Schwierigkeiten an. Darum erwäge manwohl alles, was den eigenen Stand betrifft, und alles, was damit zusam-menhängt.

Ist man leidenschaftlich erregt, so soll man ja nichts aus diesem Zu-stand heraus tun. Kommt aber doch eine kleine Entgleisung vor, –werfen wir z. B. verärgert einen Federhalter hin – so ist das noch keinStoff für die Beichte; man bekenne es der Oberin und nehme sich dasnächste Mal besser zusammen, sonst leistet man seinen Schwächen frei-willig Vorschub.

Wir müssen alles in Ehren halten und hochschätzen, was zur Ordens-genossenschaft gehört, und damit auch alle Abtötungen und alle

Page 112: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1118. Mein und Dein

Andachts- und Frömmigkeitsübungen, soweit sie mit dem Geist unse-rer Kongregation übereinstimmen und von den Vorgesetzten gutgehei-ßen werden. Es kann nun vorkommen, daß die eine oder andere Schwe-ster infolge einer schlechten Geistesverfassung gegen gewisse Übun-gen Abneigung empfindet. So stößt sich vielleicht eine Schwester dar-an, daß man den Boden küßt, eine andere, daß man sich seiner Fehleranklagt; es wäre aber eine geradezu unglaubliche Anmaßung, dieseÜbungen deshalb geringzuschätzen und zu bekritteln, und es stündenicht gut mit der, die das täte. Bei uns kommt ja auch so etwas nicht vor.

Ich habe noch immer die Beobachtung gemacht, daß Lässigkeit undMutlosigkeit die Ursachen sind, warum geistliche Personen so weit her-absinken. Lässige Menschen können sich zur Selbstüberwindung nichtaufschwingen, haben auch kein Verlangen danach, von anderen dazuangeregt zu werden. Deshalb sehen sie es auch nicht gern, wenn anderesich überwinden. – Mutlosigkeit wieder führt zu fadem Gejammer:„Mein Gott, wie schwer ist das doch! Nie ist man fertig! Immer wiedergibt es etwas anderes! Immer wieder heißt es von neuem anfangen!“ –So dürfen wir uns nicht verhalten. Man darf nicht seinen Neigungenund Abneigungen folgen; vielmehr sollen uns die Vernunft und dieWeisungen der Vorgesetzten Führer auf unserem Weg sein.

4. Wie aber sollen wir uns verhalten, wenn wir getadelt und gede-mütigt werden? Ja, würde man uns schon zwei Stunden vorher daraufvorbereiten, so wäre es ein Leichtes, die Demütigung ruhig hinzuneh-men. Tritt sie aber plötzlich an uns heran, so ist es sehr schwer, gelassenzu bleiben. – Abtötungen, die wir uns selber wählen, machen uns, selbstwenn sie uns noch so sehr gegen die Natur gehen, keine Schwierigkeit,weil sie unserer Eitelkeit schmeicheln. Wir müssen aber auch jene, dieuns von den Vorgesetzten auferlegt werden, in Demut und Ehrfurchtentgegennehmen; denn Gott schickt sie uns, sie liegen im Plan dergöttlichen Vorsehung; aus Liebe werden sie uns auferlegt. Wir müssendies jedenfalls voraussetzen, es ist nicht unsere Sache, darüber zu urtei-len, ob Leidenschaft dabei mit im Spiel war oder nicht. Kommt unsaber solches in den Sinn, so müssen wir es tragen wie jedes Leid, in allerRuhe und mit dem Blick auf Gottes Hand, die es uns auferlegt. Dennist Gott auch nicht der Urheber des Übels, – nämlich dieser Leiden-schaft – so nimmt er es doch in seine Hand, da es schon so kommensollte, und legt es uns auf das Haupt, um uns durch das Ertragen diesesLeides Gelegenheit zu Verdiensten zu geben.

Page 113: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

112 8. Mein und Dein

5. Greifen wir freudig alles auf, was uns vorwärts bringen kann, undseien wir froh, wenn wir sehen, daß auch unsere Mitschwestern ihrer-seits alles tun, um in der Vollkommenheit vorwärts zu kommen. Wirmüssen all das hoch in Ehren halten; denn solche kleine, anscheinendwenig wertvolle Übungen sind nützlicher als große. Zu großen Taten istselten Gelegenheit, die kleinen aber begegnen uns zu Hunderten. Ver-wenden wir viel Sorgfalt und Liebe auf diese kleinen Dinge, z. B. daßwir leise reden, leise gehen, uns sauber und nett anziehen. Diese Dingehaben ihre Bedeutung: wenn z. B. eine Schwester die Tür zuschlägtoder so laut durch die Gänge geht, daß es nur so hallt, dann stört siewohl Schwestern, die gerade beten; wenn eine Schwester unordentlichoder schlampig gekleidet ist, so reizt sie andere zum Lachen oder lenktsie von Gott ab, schadet ihnen also, usw.

Das alles ist vom Übel. Unsere Liebe soll ja immer in Tätigkeit sein,um uns soviel als möglich gegenseitig Gutes zu tun, da wir ja alles ge-meinsam besitzen. Auch der Heiland ist unser gemeinsamer Besitz. Erwill nicht, daß ihn jemand für sich allein habe, er will vielmehr derma-ßen den Einzelnen angehören, daß er zugleich gemeinsamer Besitz al-ler sei – und dermaßen will er gemeinsamer Besitz aller sein, daß erdoch jedem im einzelnen angehöre.

6. Wird man von einer Versuchung überfallen, die in Gefahr zu sündi-gen bringt, so beteure man oft, – besonders wenn die Versuchung an-hält – daß man nicht zustimmen und Gott nicht beleidigen will, undbezeuge das auch noch anders, dadurch z. B., daß man den Boden küßt,die Hände zum Himmel hebt, Stoßgebetlein zum Heiland spricht unddergleichen mehr tut. Auf diese Weise kommt man zur Ruhe und quältsich nicht mit dem Gedanken, am Ende doch eingewilligt zu haben: beider Gewissenserforschung erinnert man sich dieser äußeren Handlun-gen und hat dann, soweit es hienieden möglich ist, die Gewißheit, derVersuchung nicht nachgegeben zu haben.

7. Die echte Loslösung vollzieht sich stufenweise:Erste Stufe: wir müssen die Loslösung lieben lernen; dazu führt uns

die Betrachtung ihrer Schönheit; die zweite Stufe ist der Entschluß, derdieser Liebe entspringt, denn wir entschließen uns leicht zu etwas, waswir lieben; die dritte Stufe endlich ist, daß wir sie vollziehen – und dasist nun wohl schwer.

Page 114: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1138. Mein und Dein

8. Wir müssen uns von drei Arten von Gütern loslösen: von den Gü-tern, die außer uns liegen, von jenen, die ihren Sitz im menschlichenLeib haben, und von jenen, die unser Herz betreffen.

Zu den äußeren Gütern gehört alles, was wir beim Eintritt ins Klosterdraußen in der Welt gelassen haben: Elternhaus, Verwandte usw. Wirlösen uns von ihnen los, wenn wir sie dem Heiland zurückgeben undnach dieser Übergabe das Maß der Liebe, das wir diesen Gütern weiterbewahren sollen, von ihm erbitten. Wir dürfen nicht lieblos werden, nochbraucht unsere Zuneigung eine ganz gleichmäßige oder gar gleichgülti-ge zu sein. Zu den Eltern und den eigenen Kindern5 soll sie tiefer als zuden anderen und so den verschiedenen Menschen gegenüber richtigabgestuft sein; den Rang aber bestimmt die Tugend der Liebe.

Zu den leiblichen Gütern gehören Schönheit, Gesundheit und der-gleichen Dinge mehr. Auch auf sie muß man verzichten. Und so fragtman den Spiegel nicht mehr, ob man schön sei, fragt nicht nach Ge-sundheit oder Krankheit; der höhere Wille wenigstens tut das nicht.Freilich, die Natur wehrt sich dagegen und zettert manchmal, vor al-lem dann, wenn man in der Vollkommenheit noch nicht weit voran ist.Man bleibt also in kranken Tagen so zufrieden wie in gesunden undnimmt die Arzneien und die Speisen, wie sie uns vorgesetzt werden; –ich meine selbstverständlich das alles vom vernunftmäßigen Handeln,ich kümmere mich ja nicht um die Neigungen.

Dann gibt es noch all das, was seinen Sitz im Herzen hat; die Seelen-freuden und süßen Gefühle des geistlichen Lebens. Diese sind an sichgut. Warum aber dann sich ihrer entäußern? – Wir müssen es trotzdemtun. Wir wollen sie in die Hände des Herrn legen, daß er damit nachseinem Gutdünken verfahre; wir wollen uns seinem Dienst hingeben,ganz gleich, ob wir uns ihrer erfreuen oder nicht.

Es gibt aber auch noch andere Güter, die weder zu den äußeren, nochzu den leiblichen, noch zu den inneren gehören, ich meine jene, die vonder Meinung der Mitmenschen abhängen: Ehre, Hochschätzung, Rufusw. Auf das alles müssen wir vollständig verzichten. Wir wollen keineandere Ehre als die Ehre unserer Kongregation, in allem nur die Ver-herrlichung Gottes zu suchen; wir wollen keine andere Hochschät-zung, keinen anderen Ruf als den unserer Gemeinde, in allem zur Er-bauung zu dienen.

9. Begegnen wir lieben Menschen, so freuen wir uns, sie zu sehen.Zeigen wir ihnen, daß wir sie gern haben, so ist das kein Verstoß gegen

Page 115: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

114 8. Mein und Dein

die Losschälung, solange wir im Gefühl und in dessen ÄußerungenMaß halten und solange das Herz diesen Menschen nicht nachläuft,wenn sie abwesend sind. Wie auch sollten Dinge, die wir vor uns haben,nicht auf unser Gemüt wirken? Das wäre genau so, als wollten wir zueinem Menschen, vor dem ein Löwe oder Bär steht, sagen: „Du darfstkeine Angst haben.“ Wir können also über die Begegnung mit einemlieben Menschen gar nicht anders als erfreut und glücklich sein, und dadies dem Willen Gottes entspricht, leidet unsere Tugend keinen Scha-den. Ja, es ist nicht einmal gegen die Losschälung, wenn ich traurig bin,daß eine beabsichtigte Begegnung, die für mich wertvoll und zugleichzur Ehre Gottes gewesen wäre, nicht zustande kommt. Ich darf michauch bemühen, die Hindernisse zu beseitigen, die dieser Zusammen-kunft entgegenstehen, nur darf ich mich dabei nicht von der Aufregungübermannen lassen.

10. Ihr seht also, daß es um die Tugend gar nicht etwas so Schreckli-ches ist. Das meint man nur immer, weil man von ihr eine ganz falscheVorstellung hat und weil man sich einbildet, der Weg zum Himmelwäre ungeheuer schwierig. Die das meinen, irren sich und haben un-recht. Hören wir, was David zum Herrn sagt: Dein Gesetz ist überausmild und leicht, es ist „süßer als Honig“ und „Honigseim“ (Ps 119,103;19,11; 119,4). Ganz die gleiche Ansicht müssen wir von unserem Standhaben, daß er nämlich nicht nur gut und schön, sondern auch überausanziehend und liebenswert ist. Haben wir diese Überzeugung, dannwerden wir alles, was zu unserem Stand gehört, mit großer Liebe tun.

11. Meine lieben Schwestern! Man wird nie zur Vollkommenheit ge-langen, solange man noch an einem Fehler, und wäre er noch so klein, jasogar nur an einem unnützen Gedanken hängt. Man glaubt nicht, wiesehr dies der Seele schadet; erlaubt man nämlich dem Geist, bei unnüt-zen Gedanken zu verweilen, so kommt er bald ganz von selbst aufschlechte Gedanken. Deshalb glatt abscheiden, sobald Schlechtes imAnzug ist, und wäre es noch so gering!

Ist es wirklich wahr, daß wir keinerlei Anhänglichkeiten mehr ha-ben, wie es uns zuweilen scheint? Prüfen wir uns doch darüber. Sagmir, wie handelst du, wenn du gelobt wirst? Unterstreichst du dieseAnerkennung nicht mit diesem oder jenem Wort, das du hinzufügst,oder forderst du nicht das Lob heraus, indem du scheinheilig sagst, daßGedächtnis und Geist nicht mehr so gut arbeiten, sodaß du dich imReden schwerer tust als früher? Spürt man da nicht gleich, daß du nur

Page 116: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1158. Mein und Dein

hören willst: „Nein, Sie sprechen im Gegenteil noch immer ganz aus-gezeichnet!“

Durchsucht also euer Gewissen nach allen Selbstgefälligkeiten. Esist gar nicht so schwer, sie zu finden. Es braucht euch bloß etwas in dieQuere zu kommen, dann merkt ihr gleich, wie es steht. Bleibt ihr gelas-sen, ob ihr das Vorhaben ausführen könnt oder nicht, dann seid ihr freivon Anhänglichkeit; werdet ihr aber erregt, dann wißt ihr gewiß, daßeuer Herz daran hängt. Unsere Liebeskräfte sind ungemein kostbar, dasie in ihrer Gesamtheit nur der Gottesliebe dienen sollen. Wir müssendaher sorgfältig bedacht sein, sie nicht auf wertlose Dinge zu verschwen-den. Eine einzige Sünde, die wir aus Anhänglichkeit an einen Fehlerbegehen, wirft uns weiter zurück als hundert Fehler, an denen wir nichthängen, die wir ohne Überlegung begehen.

12. Wir schulden unseren Vorgesetzten mehr Ehrfurcht und Hoch-schätzung als unseren lieben Schutzengeln, die wohl Gottes Gesandtesind; unsere Oberen aber sind Gottes Stellvertreter. In diesem Sinnsagt der Heiland: „Wer euch hört, der hört mich, wer euch verachtet,der verachtet mich“ (Lk 10,16).

Ihr fragt, was zu tun ist, wenn eine Schwester mit der Oberin oder dersie vertretenden Assistentin nicht über ihr Inneres sprechen kann, weilsie das Vertrauen nicht aufbringt. – Nun, da tut die Oberin am besten,der betreffenden Schwester bereitwillig zu gestatten, sich der Schwe-ster anzuvertrauen, die sie sich dazu wünscht und erbittet. Die Oberinwird sich nichts anmerken lassen, sie wird im Gegenteil erfreut sein,daß es Gott gefiel, ihr eine Arbeit abzunehmen. Für die Schwesterfreilich wäre ein solches Verhalten gleichbedeutend mit einer sehr gro-ßen Unvollkommenheit, denn sie soll in der Oberin Gott sehen, ineiner einfachen Schwester braucht sie das aber nicht in diesem Maßezu tun.

Page 117: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

116

9. Gespräch

Die Liebe zu den GeschöpfenDie Liebe zu den GeschöpfenDie Liebe zu den GeschöpfenDie Liebe zu den GeschöpfenDie Liebe zu den Geschöpfen11111

1. Manche Liebe erscheint in den Augen der Menschen groß und herr-lich, die in den Augen Gottes nichtig und wertlos ist, und zwar deshalb,weil solche Freundschaften nicht auf der echten Liebe, auf Gott, ge-gründet sind (Joh 4,8 f), sondern auf gewissen natürlichen Bindungenund Neigungen beruhen oder auf Eigenschaften, die den Menschen lo-benswert und angenehm erscheinen. Dagegen gibt es wieder Freund-schaften, die bei Weltmenschen für gering und gehaltlos gelten, vorGott aber gehaltvoll und wertvoll sind, weil Gott ihr Inhalt und Ziel istund kein persönliches Interesse dabei im Plan ist. Jede Liebestat gegenMenschen, die man so uneigennützig liebt, ist unendlich wertvoller, daja alles allein nur für Gott getan wird. Beruht aber die Liebe auf einernatürlichen Zuneigung, so sind alle Dienstleistungen und Aufmerk-samkeiten viel weniger wert, weil sie uns Freude und Befriedigung be-reiten und daher mehr aus diesem Antrieb denn aus wahrer Liebe zuGott erwiesen werden.

Die rein natürlichen Freundschaften haben auch deshalb geringerenWert, weil sie nicht von Dauer sind. Aus nichtssagenden Gründen ange-knüpft, lockern sie sich, sobald es eine Probe zu bestehen gilt, undgehen in die Brüche. Eine Freundschaft aber, die aus Liebe zu Gottgepflegt wird, bewährt sich, weil eben Gott ihr festes und unveränder-liches Fundament ist. Die hl. Katharina von Siena drückt das schön ineinem Vergleich aus. Sie sagt: „Füllst du ein Glas an einem laufendenBrunnen und trinkst daraus, ohne es vom Wasserstrahl wegzunehmen,so magst du trinken, soviel du willst, das Glas wird nie leer. Ziehst dues aber vom fließenden Wasser weg, dann ist es leer, sobald du getrun-ken hast, was drinnen war.“ Bei den Freundschaften ist es nicht anders:Solange sie vom Quell gespeist werden, trocknen sie nie aus.

2. Selbst Freundschaften und Zeichen der Liebe, die wir gegen alleLust für Menschen aufbringen, die uns unsympathisch sind, haben mehrWert und gefallen Gott besser als alles, was wir aus sinnlicher Zunei-gung tun. Ein solches Verhalten ist nicht doppelzüngig und nicht un-wahr, denn nur die niedere Seele fühlt das Widerstreben, und dieseAkte der Liebe werden von der Seele auf Grund der Vernunft, ihrervornehmsten Kraft, gesetzt. Wenn also der Mensch, mit dem ich recht

Page 118: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1179. Liebe zu den Geschöpfen

herzlich bin, z. B. wüßte, daß ich mit ihm so bin, weil er mir unsympa-thisch ist, so bräuchte er das nicht übel zu nehmen, er möge es vielmehrschätzen und Beweisen natürlicher Zuneigung vorziehen. Für eine Ab-neigung kann man ja nichts; sie ist an sich noch nicht schlecht und wirdes erst, wenn wir unter ihrem Einfluß handeln. Abneigungen sind viel-mehr ein Mittel, viele schöne Tugenden zu üben. Der Heiland selbstdankt es uns mehr, wenn wir trotz äußersten Widerstrebens zu ihmgehen, um seine Füße zu küssen, als wenn wir es mit innerlicher Befrie-digung tun. Selig daher, wer nichts Liebenswürdiges an sich hat; denner weiß, daß die Liebe, die ihm zuteil wird, großen Wert hat, weil Gottihr Urgrund ist.

3. Wir meinen oft, einen Menschen für Gott zu lieben, und doch liebenwir ihn für uns selbst. Wir geben vor, ihn seiner Tugenden wegen zulieben, dabei ist aber die Befriedigung, die uns sein Umgang gewährt,der wirkliche Grund unserer Liebe. Freilich, eine Seele, die voll Eiferund guten Willens zu dir kommt, alle deine Ratschläge getreu befolgt,beharrlich und ruhig den Weg geht, den du sie weist, ist doch eine weitgrößere Befriedigung für dich als eine ständig beunruhigte undzerfahrene Seele, die den Weg des Guten nur zaudernd geht und der duhundertmal dasselbe sagen mußt. Zweifellos freust du dich mehr überdie eifrige Seele, und so liebst du sie also nicht für Gott, sonst müßtedir ja die saumseligere, die genau so gut sein Eigentum ist, lieber sein,gerade weil an ihr mehr für Gott zu tun ist. Freilich gebührt mehr Liebeeiner Seele, in der mehr von Gott ist, d. h. mehr Tugend zu finden ist,durch die wir ja an den göttlichen Eigenschaften teilhaben. Würdet ihrz. B. einen Menschen sehen, der tugendhafter ist als der geistliche Va-ter, so müßtet ihr ihn auch mehr lieben; trotzdem gebührt aber auchdem geistlichen Vater viel Liebe, da er ja euer Vater und Seelenführerist.

4. Wir sollen das Gute an unseren Mitmenschen lieben, wie das Gutean uns selbst; das gilt besonders für Ordensleute, denen alles Gemein-gut sein muß. Seien wir also nicht traurig, wenn eine Schwester eineTugend auf unsere Kosten übt. Ich treffe z. B. an der Tür mit einerjüngeren Schwester zusammen und lasse ihr den Vortritt. Ich übe michin der Demut und sie übt sich in der Einfachheit, wenn sie vorausgehtund dann bei passender Gelegenheit mir die Tür zuvorkommend auf-macht. – Ich bringe einer Schwester einen Stuhl oder überlasse ihrmeinen Platz. Da soll die betreffende Schwester nun über meinen klei-

Page 119: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

118 9. Liebe zu den Geschöpfen

nen Gewinn froh sein und sich denken: die Gelegenheit zu einemTugendakt ist mir zwar entgangen, ich freue mich aber, daß meine Mit-schwester ihn üben durfte. Durch diese Freude hat man dann sogareinen Anteil an ihrem Gewinn. Aber nicht nur Traurigkeit soll unsferne sein, wenn eine Mitschwester die Tugend übt und nicht wir; wirsollen sogar bereit sein, alles Erdenkliche dazu beizutragen, bis zu un-serer Haut, wenn dies notwendig wäre. Wenn nur Gott dabei verherrlichtwird; das Wie und Durchwen ist Nebensache. Ja, es muß uns so sehrNebensache sein, daß wir dem Heiland auf die Frage: „Wem möchtetihr die Gelegenheit zu diesem Tugendakt zukommen lassen?“ – ant-worten könnten: „Herr, jener Schwester, die Dich am meisten verherr-licht!“ Haben wir nicht die Wahl, dann soll es unser Wunsch sein, sel-ber die Tugend zu üben, da wohlgeordnete Liebe bei sich selbst be-ginnt. Müssen wir jedoch eine Gelegenheit ungenützt lassen, dann sei-en wir froh, begrüßen wir es freudigst, wenn diese Tugendübung eineranderen zufällt; so ist uns dann wirklich alles zum „gemeinsamen Be-sitz“ geworden (Apg 2,44; 4,32). Das gleiche gilt für die zeitlichenGüter. Ist im Haus das Notwendige vorhanden, dann soll es uns gleich-gültig sein, ob wir oder andere es beschafft haben. Entdecken wir abernoch so etwas wie Anhänglichkeit an diese Dinge, dann ist das einBeweis, daß das „Mein und Dein“ noch nicht überwunden ist.

5. Ertönt die Glocke, das Zeichen für den Gehorsam, so soll es unsereÜberzeugung sein, daß der Herr uns ruft. Wir müssen da sofort auf-stehen, selbst wenn wir gerade für Gott beschäftigt wären. Eine jungeFrau läßt auch alles liegen und stehen, wenn der Mann sie ruft, sie eiltzu ihm auch dann, wenn sie gerade für ihn beschäftigt ist. Zwar ist einkleines Zögern noch keine Untreue, aber es ist doch gewissenhafterund Gott sehr wohlgefällig, wenn man nicht zögert. Es gibt viele Dinge,die man unterlassen kann, ohne zu sündigen, deren Übung aber echteTugend ist, z. B. nicht laut reden, leise gehen, die Augen nicht herum-schweifen lassen, zur Rekreation beitragen – und ähnliches, was zurreligiösen Haltung und zur Eingezogenheit gehört.

6. In unseren Klöstern mit guter Observanz werden wenig unnützeWorte geredet. Gewiß sagt man nicht immer nur das Notwendige, aberes hat doch immer irgend einen Zweck, sei es, man teilt einfach seineGedanken mit, um andere zu unterhalten, sei es, man spricht, um zurErholung und zum Gespräch beizutragen, wie es jede Schwester tunsoll – und so ist dieses Reden kein unnützes Geschwätz, weil es der

Page 120: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

1199. Liebe zu den Geschöpfen

Erholung und damit einem nützlichen Zweck dient. Würde aber eineSchwester außerhalb der Erholung, zu einer Zeit, da man über geistli-che Dinge sprechen soll, etwa einen Traum erzählen, so wäre dies ge-wiß ein unnützes Geschwätz. Ebenso, wenn man etwas mit vielen über-flüssigen Worten erklärte; es wäre freilich keine Sünde, wenn sich dieBetreffende in ihrer Unwissenheit nicht besser ausdrücken könnte.

7. Wir selber werden niemals erkennen können, wie es um unsere Voll-kommenheit steht. Es geht uns da wie den Reisenden zur See, die nichtwissen, ob sie vorwärts kommen oder nicht. Der Kapitän aber, der sichauf die Kunst der Schiffahrt versteht, der weiß es. Wir können wohl denFortschritt der anderen beurteilen, unseren eigenen aber nicht. Vonunseren guten Werken können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob wirsie vollkommen getan; das würde sich auch nicht mit der Demut ver-tragen. Die Tugendhaftigkeit der Mitmenschen können wir also schonbeurteilen, wir dürfen uns aber nicht verleiten lassen, mit Bestimmt-heit den einen für besser zu halten als den anderen, denn der Scheintrügt. Wer in den Augen der Welt sehr tugendhaft ist, der ist es in denAugen Gottes vielleicht weniger als ein anderer, der sehr fehlerhaft zusein scheint.

Demut ist nicht nur liebevoll, sie ist auch zart und schmiegsam. Liebeist Demut, die zur Höhe steigt, Demut ist Liebe, die sich niederneigt.Demut hat ihre höchste Stufe erklommen, wenn der Eigenwille erlo-schen ist; die Demut erfüllt „jegliche Gerechtigkeit“ (Mt 3,15).

Page 121: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

120 10. Bescheidenheit

10. Gespräch

Über die BescheidenheitÜber die BescheidenheitÜber die BescheidenheitÜber die BescheidenheitÜber die Bescheidenheit11111

Ihr möchtet wissen, was Bescheidenheit ist? Nun es gibt vier Artenvon Bescheidenheit:

1. der äußere Anstand, 2. die wohlgeordnete innere Haltung, 3. die Wohlerzogenheit in Rede und Umgang, 4. die Wohlanständigkeit in der Kleidung.Unter Bescheidenheit im vorzüglichen Sinn des Wortes verstehen

wir in besonderer Weise den äußeren Anstand. Das Gegenteil dieserBescheidenheit ist Ausgelassenheit in Bewegung und Betragen, alsoUngeniertheit einerseits und Geziertheit, Affektiertheit andererseits.

Zur zweiten Art der Bescheidenheit gehört die innerliche Vornehm-heit im Denken und Wollen. Das Gegenteil davon ist einerseits unge-ordnete Wißbegier, die alles Mögliche anfängt und nichts durchführt;andererseits das Gegenteil davon: ein nicht minder gefährlicher Stumpf-sinn, eine gewisse Interesselosigkeit, die von Vollkommenheit und al-lem, was damit zusammenhängt, nichts wissen will, die aber auch nichtslernen will.

Zur dritten Art der Bescheidenheit gehört die Wohlerzogenheit inRede und Verkehr, also im Umgang mit dem Nächsten. Das Gegenteildieser Art von Bescheidenheit ist einerseits linkisches, schwerfälligesWesen, das hindert, zur allgemeinen Unterhaltung etwas beizutragen;andererseits Redseligkeit, die niemand zu Wort kommen läßt.

Zur vierten Art der Bescheidenheit gehört die Wohlanständigkeit inder Kleidung; das Gegenteil davon ist Unsauberkeit einerseits und Putz-sucht andererseits.

Sagt mir also: Von welcher Art Bescheidenheit soll ich nun reden?

I .I .I .I .I .

1. Die erste Art der Bescheidenheit, der äußere Anstand ist aus ver-schiedenen Gründen eine überaus wichtige Tugend; vor allem deshalb,

1) weil sie uns eine große Selbstbeherrschung auferlegt. Keine Tu-gend verlangt solche Achtsamkeit; aber gerade darin, daß sie uns im-mer in Zucht hält, liegt ihr hoher Wert. Denn alles, was uns im Zaum

Page 122: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

12110. Bescheidenheit

hält, damit wir für Gott leben können, ist unendlich verdienstvoll, wennich auch hier unter euch das Wort „Verdienst“ nicht gerne gebrauche –ich meine es aber im Sinne von „Gott wohlgefällig“.

2) weil sie uns die Selbstbeherrschung nicht nur manchmal auferlegt,sondern immer und überall, allein und mit anderen und in allen Lagen,selbst beim Schlafen. Ein großer Heiliger gab einem seiner Jünger denRat, sich im Gedanken an die Gegenwart Gottes züchtig zur Ruhe zubegeben und sich dabei so zu benehmen, als wenn Unser Herr noch alsMensch wie vor seinem Leiden und Sterben unter uns wandle und ihmbefehle, sich jetzt vor ihm schlafen zu legen. Der Heilige fährt fort:„Wenn auch dein leibliches Ohr ihn nicht hört, dein leibliches Augeihn nicht sieht, verhalte dich trotzdem so, als nähmest du ihn mit denSinnen wahr, denn er ist in der Tat bei dir und schaut dich an, auchwährend du schläfst.“ Mein Gott! Wie bescheiden und sittsam würdenwir zu Bett gehen, wenn wir den Heiland sehen könnten! Gewiß wür-den wir ganz fromm die Arme über der Brust kreuzen.

Die Bescheidenheit hält uns also stets in Zucht im Gedanken an dieEngel, die immer um uns herum sind, und im Gedanken an Gott, derüberall gegenwärtig ist, vor dessen Augen wir uns immer bescheidenverhalten wollen.

3) weil sie soviel zur Erbauung des Nächsten beiträgt. Ich kann euchsagen, daß die einfache äußere Bescheidenheit schon viele Menschenzu Gott zurückgeführt hat. So hat einmal der hl. Franziskus eine ganzeSchar junger Leute an sich gezogen, bloß weil er in überaus bescheide-ner Haltung die Stadt durchwanderte, ohne auch nur ein Wort zu sagen.Wegen seines bescheidenen Wesens allein folgten sie ihm und batenihn, sie zu belehren. Neulich machte mich ein Kapuzinerpater auf ei-nen Ordensbruder, der ihn begleitete, aufmerksam und sagte mir:„Schauen Sie, dieser Bruder predigt nicht und spricht fast mit niemand,er führt ein ganz zurückgezogenes Leben, und doch hat er gerade mitseiner Bescheidenheit schon viele Menschen angezogen und dem Or-den zugeführt.“ Die Bescheidenheit ist eine stumme Predigt. Der hl.Paulus legt sie den Philippern ganz besonders ans Herz. Er schreibtihnen: „Eure Bescheidenheit werde allen Menschen kund“ (Phil 4,5).Und zu seinem Schüler Timotheus sagt er, der Bischof müsse ge-schmückt sein, zwar nicht mit Seidengewändern, wohl aber mit derBescheidenheit (1 Tim 3,2). Durch sein bescheidenes Auftreten wirder jeden ermutigen, sich ihm vertrauensvoll zu nähern; sein Benehmen

Page 123: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

122 10. Bescheidenheit

wird weder ungeschlacht noch leichtfertig sein, sodaß es die Weltkinderzwar wagen, zu ihm zu gehen, ihn aber dabei doch nicht für einen ihres-gleichen halten.

2. Zeit, Ort und Personen bestimmen die Übung der Bescheidenheit.Wer z. B. während der Rekreation ebenso ernst bliebe wie außerhalbderselben, würde der nicht unangenehm auffallen? So manche Bewe-gung und Gebärde wirkt außerhalb der Rekreation unpassend und istes doch während derselben ganz und gar nicht. Wer bei einer ernstenBeschäftigung lacht oder sich gehen läßt, wie man das zur Zeit derRekreation sehr wohl tun darf, der würde mit Recht für leichtfertig undunbescheiden gehalten. Man muß auch stets bedenken, wo man ist, mitwem man verkehrt, in welcher Gesellschaft man sich befindet, und vorallem kommt es auf die Personen an. Anders sieht die Bescheidenheiteiner Frau in der Welt aus, anders die einer Klosterfrau. Ein Mädchendraußen in der Welt, das mit niedergeschlagenen Augen einherginge,würde man ebenso ungünstig beurteilen wie eine Klosterfrau, die ihrenBlick umherschweifen ließe. Was bei dem einen Bescheidenheit ist,kann bei dem anderen das Gegenteil sein, je nach seinem Stand. So gutbejahrten Menschen würdevolles Benehmen steht, bei jüngeren würdees affektiert wirken; ihre Haltung muß schlicht und demütig sein.

Ich will euch etwas erzählen, was ich dieser Tage gelesen habe. DerKaiser Theodosius wollte als frommer Katholik seinen Sohn zu einemwürdigen Thronfolger heranbilden. Er wandte sich deshalb an den hei-ligen Papst Damasus mit der Bitte, einen Erzieher zu suchen, der die-ser Aufgabe gewachsen wäre. Damasus schickte ihm Arsenius. Nacheinigen Jahren aber bekam dieser, der beim Kaiser in selten hoherGunst stand, das Hofleben mit all seinem Tand satt. Es hinderte ihnzwar niemand, ein frommes Leben zu führen, aber er konnte sich sowenig an die Luft und an das Treiben bei Hof gewöhnen, daß er be-schloß, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und zu den Wüsten-vätern zu gehen. Er führte dieses Vorhaben sofort aus. Die heiligenEinsiedler-Väter hatten schon viel von der hohen Tugend des Arseniusgehört, sie freuten sich deshalb sehr, ihn in ihrer Mitte zu haben.Arsenius schloß sich besonders zwei Vätern an, von denen der einePastor hieß, und trat mit ihnen in freundschaftliche Beziehung. EinesTages hatten sich alle Väter zu einer geistlichen Konferenz versammelt(das war schon zu allen Zeiten unter frommen Leuten Brauch). Einerder Mönche machte nun den Oberen darauf aufmerksam, daß Arsenius

Page 124: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

12310. Bescheidenheit

die Gewohnheit habe, die Beine übereinander zu schlagen, und sichalso unschicklich benehme. Der Obere erwiderte: „Ja, das habe ich schonbemerkt, Arsenius ist aber ein so vortrefflicher Mann, der sich in derWelt tadellos gehalten; diese Gewohnheit hat er vom Hof mitgebracht.“

Es tat dem Oberen leid, Arsenius wegen einer so geringfügigen Sa-che, in der von Sünde gar keine Rede sein konnte, zu tadeln, er wollteihm aber diese Untugend doch gerne abgewöhnen, gerade weil sie dieeinzige an ihm war. Da sagte Pastor: „Vater, seien Sie unbesorgt, daskann man ihm schon sagen: er wird sogar sehr dankbar dafür sein.Vielleicht machen wir es so, wenn es Ihnen recht ist: Morgen, wenn wiralle beisammen sind, setze ich mich auch so hin und Sie geben mir vorallen Vätern einen Verweis; dann hört er, daß man so nicht dasitzendarf.“ Als Pastor nun zurechtgewiesen wurde, warf sich Arsenius aufden Boden und bat um Verzeihung, denn er habe diesen Verstoß immergemacht, auch wenn der Vater es nicht gesehen habe, denn es sei dasseine gewöhnliche Haltung bei Hof gewesen. Arsenius bat um eineBuße, die ihm jedoch nicht auferlegt wurde. Von diesem Tag an saß ernie mehr mit gekreuzten Beinen da.

An dieser Erzählung ist verschiedenes lehrreich: 1. Die Klugheit undfeine Zurückhaltung des Oberen, der wegen einer so geringfügigen Sa-che Arsenius nicht mit einem Verweis kränken wollte und doch einenWeg suchte, ihm die Untugend abzugewöhnen. 2. Die peinliche Sorg-samkeit aller, auch die geringste Unschicklichkeit zu bannen. 3. DieGutartigkeit des Arsenius, der sich zu seinem Fehler bekannte; sein be-harrlicher Wille, diesen Fehler abzulegen und eine solche Kleinigkeit zuunterlassen, die bei Hof gang und gäbe war, bei den Mönchen jedochAnstoß erregte. – Und noch etwas können wir aus dieser Erzählung ler-nen: Nicht erstaunt zu sein, wenn wir uns noch mit einer Gewohnheit ausder Zeit unseres Weltlebens behaftet sehen, da ein so großer Mann wieArsenius nach so langer Gemeinschaft mit den Wüstenvätern nicht ganzfrei davon war. Man legt seine Unvollkommenheiten nicht so schnell ab.Wundern wir uns also nicht, wenn wir noch recht viele haben. Die Haupt-sache ist, daß wir den Willen haben, sie abzulegen.

Nein, meine Tochter, es ist kein liebloses Urteilen, wenn ich denVerweis auf mich beziehe, den die Oberin einer anderen für einen Feh-ler, den ich auch mache, deshalb erteilt, damit ich mich bessere, ohnedaß sie mich direkt tadelt. Wir werden uns dann tief verdemütigen,wenn wir gewahren, daß sie unsere Empfindlichkeit kennt und recht

Page 125: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

124 10. Bescheidenheit

gut weiß, daß uns ein direkter Verweis verletzen würde. DieseVerdemütigung wollen wir innig lieben. Wir täten gut daran, wieArsenius offen einzugestehen, daß wir den gleichen Fehler auch ma-chen, – vorausgesetzt, daß dies in aller Ruhe und Gelassenheit geschieht.

I I .I I .I I .I I .I I .

Von den anderen Arten der Bescheidenheit möchtet ihr also auchetwas wissen?

1. Nun, wie der äußere Anstand den Körper, so beeinflußt die wohl-geordnete innere Haltung – die zweite Art der Bescheidenheit – dieSeele. Der äußere Anstand bestimmt die Bewegungen, Gebärden unddas äußere Verhalten, vermeidet Ungeniertheit und Ausgelassenheitebenso wie Affektiertheit. Die innere Bescheidenheit sorgt für die Ruheund Beherrschtheit unserer seelischen Kräfte, also des Verstandes undWillens; sie versagt dem Verstand ungeordnete Wißbegier – ihn zügeltsie ja mit besonderer Sorgfalt, – und verweigert dem Willen seine zahl-losen Wünsche, damit er sich nur auf das eine Notwendige werfe, vondem es heißt: „Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nicht wirdgenommen werden“ (Lk 10,42); und dieses eine ist: Gott gefallen wol-len. Marta ist uns ein Beispiel für die Unbescheidenheit des Wollens,denn sie überstürzt sich, beansprucht die ganze Dienerschaft, rennt hinund her vor lauter Eifer, für den Herrn ja alles recht schön und tadelloszu machen. Sie kann sich in der Bereitung der Speisen gar nicht genugtun, so reichlich und gut möchte sie den Herrn bewirten. – So springtauch der Wille, wenn er von der Bescheidenheit nicht im Zaum ge-halten wird, von einem Gegenstand zum anderen, um sich zur Gottes-liebe anzufeuern, und sucht nach immer neuen Mitteln, Gott zu die-nen. Und doch gehört nicht so viel dazu: Sich eng an den Herrn haltenund wie Maria zu seinen Füßen sitzen, ihn um seine Liebe bitten, das istmehr wert, als lange darüber nachzustudieren, wie und womit wir seineLiebe gewinnen könnten. – Durch die Bescheidenheit wird so der Wil-le auf die unserem Stand entsprechenden, die Gottesliebe förderndenÜbungen und Mittel festgelegt.

2. Diese innere Bescheidenheit arbeitet, wie gesagt, hauptsächlich ander Unterwerfung des Verstandes und dies vor allem deshalb, weil dieuns angeborene Neugierde eine Feindin alles gründlichen Wissens ist;wer neugierig ist, nimmt sich nicht die Zeit, etwas gründlich zu lernen.

Page 126: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

12510. Bescheidenheit

– Dann bekämpft die Bescheidenheit auch die entgegengesetzten Feh-ler, nämlich Stumpfsinn und Gedankenfaulheit, die selbst notwendigemWissen abhold sind. Diese Verstandeszucht ist für unsere Vollkom-menheit von hoher Bedeutung, weil der Wille, sosehr er auch an einerSache hängt, doch von ihr abgebracht wird, wenn der Verstand ihm dasAnziehende einer anderen Sache zeigt.

Ein Ordensmann fragte einmal den großen hl. Thomas, wie er zuhoher Gelehrsamkeit gelangen könne. „Wenn du nur ein Buch liest,“antwortete der Heilige. Kürzlich las ich in der Regel, die der hl. Au-gustinus für seine Klosterfrauen verfaßte, daß die Schwestern nur jeneBücher lesen sollten, die sie von der Oberin erhalten. Die gleiche Vor-schrift gab er auch seinen Mönchen, denn er wußte nur zu gut, wieschädlich die Neugierde ist, immer wieder anderes zu hören als das,was zum Dienst Gottes notwendig ist, und das ist gewiß nicht viel.Sucht also nicht neugierig alles Mögliche zu wissen, haltet euch viel-mehr in aller Einfachheit an die Beobachtung der Regel, dann dient ihrGott auf vollkommene Weise. Die geistlichen Konferenzen und diePredigten, die ihr hört, wollen ja nicht immer nur belehren, sondern siewollen vor allem der Erholung und Belebung des Geistes dienen. UmGott zu lieben, braucht man nicht gelehrt zu sein. Der hl. Bonaventura,dessen Fest wir heute feiern, sagte einem Ordensmann: „Ein einfachesWeiblein kann Gott genau so gut lieben, wie der größte Gelehrte.“ Vieltun macht vollkommen, nicht aber viel wissen.

Da ich gerade von dieser Neugierde, immer neue Mittel der Voll-kommenheit ausfindig zu machen, spreche, fallen mir zwei Kloster-frauen aus zwei strengen Orden ein, die ich beide gekannt habe. Dieeine hatte sich die Ausdrucksweise der hl. Theresia vor lauter Lesen inihren Schriften derart angeeignet, daß sie eine hl. Theresia im Kleinenzu sein schien. Sie selbst hielt sich auch dafür. Sie prägte sich alles, wasdie hl. Theresia in ihrem Leben getan, so in die Phantasie ein, daß siewirklich glaubte, dasselbe durchzumachen wie ihr Ideal, sogar die„Geistesspannungen“ und „Fähigkeitsunterbrechungen“, wie die hl.Theresia sie hatte. Andere wieder beschäftigen sich so eingehend mitdem Leben der hl. Katharina von Siena oder gar jener von Genua, daßsie sich für die reinsten Katharinen halten. Diese frommen Seelen sindbei ihrer eingebildeten Heiligkeit wenigstens noch zufrieden; freilichist dieses ihr Befriedigtsein ein Wahn. – Die zweite der genannten Klo-sterfrauen war von ganz anderer Gemütsart. Gerade wegen ihrer uner-

Page 127: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

126 10. Bescheidenheit

sättlichen Gier nach immer neuen Mitteln und Wegen zur Vollkom-menheit blieb sie immer unbefriedigt. Sie gab sich alle Mühe voranzu-kommen, meinte aber, es müsse immer noch einen besseren Weg gebenals den, den sie geführt wurde. So lebte die eine selbstzufrieden in ein-gebildeter Heiligkeit und war wunschlos glücklich; die andere war un-zufrieden, weil sie nichts von ihrer Vollkommenheit sah, und sehntesich immer nach anderem. Die Bescheidenheit aber hält die goldeneMitte und beschränkt die Wißbegier auf das Notwendige.

3. Gewiß, meine liebe Tochter, das Viele-Worte-machen, wenn es mitwenigen auch gesagt werden kann, ist Unbescheidenheit und somitselbstverständlich zu unterlassen, besonders in dem Fall, von dem Siesprechen, wenn man sich nur entschuldigen will. Ganz abgesehen vondem Fehler gegen die Bescheidenheit ist es noch ein weiterer Fehler,nicht als fehlerhaft und unvollkommen erkannt werden zu wollen. Dasist gegen die Demut, denn Demut liebt die Verdemütigung.

Noch ein Wort über den äußeren Anstand, von dem wir schon ge-sprochen. Man glaubt nicht, wie er zur wohlgeordneten inneren Hal-tung und zum inneren Frieden beiträgt. Das zeigt sich vor allem beimBeten. Alle heiligen Väter, die auf das Gebet so großes Gewicht gelegthaben, sind der Ansicht, daß eine fromme Haltung, wie Knien, Hände-falten, die Arme über der Brust kreuzen, viel ausmacht. Diese Haltungverhilft uns in ungeahnter Weise, in Gottes Gegenwart gesammelt undauf ihn konzentriert zu bleiben.

4. Ihr möchtet gerne wissen, ob es ein Verstoß gegen die Beschei-denheit ist, wenn man den Kopf senkt oder schief hält oder die Augenverdreht. Dazu sage ich: Geschieht es unwissentlich und ohne die Ab-sicht, damit eine besondere Frömmigkeit zu betonen, dann ist nichtsdabei. Wir müssen aber jede affektierte Haltung vermeiden, denn allesGemachte muß uns bis in die Seele hinein zuwider sein. Es darf kein„Sanctificetur“ geben ohne „nomen tuum“, d. h. man muß es sorgfältigmeiden, den Frommen zu spielen, wie ich es selber einmal gemachthabe. – Das lustige Geschichtlein kann ich hier ruhig erzählen, es paßtgerade so schön her. Als Studentlein hier in Annecy hatte ich den bren-nenden Wunsch, heilig und vollkommen zu werden. Ich bildete mirein, daß ich, um mein Ziel zu erreichen, beim Gebet den Kopf schiefhalten müsse, denn ein anderer, ein heiligmäßiger Student, tat das auch.Ich führte das eine ganze Zeit lang durch, – heiliger bin ich davon abernicht geworden.

Page 128: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

12710. Bescheidenheit

Doch zurück zu meinem Gegenstand: Manche nennen diese zweiteArt Bescheidenheit eine ständige Wachsamkeit des Geistes, ein geflis-sentliches Bemühen, den Geist in den Grenzen der Bescheidenheit zuhalten, sodaß man nur einfach das Notwendige wissen will und jedeNeugierde nach anderem unterdrückt.

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

Die dritte Art der Bescheidenheit betrifft das Reden und den Umgang.Worte, die außerhalb der Erholung unpassend sind, sind es zur Zeit, dasich der Geist mit gutem Recht erholen und entspannen soll, durchausnicht. Es wäre sehr anmaßend, da nur von hohen und erhabenen Dingenreden und hören zu wollen, denn die Bescheidenheit betätigt sich, wieschon gesagt, verschieden, je nach Zeit, Umständen und Personen. Dar-über las ich neulich etwas vom hl. Pachomius. Bevor er sein Mönchsle-ben in der Wüste begann, hatte er schwere Versuchungen zu bestehen.Der Teufel erschien ihm oft und in vielerlei Gestalt. Der Biograph desHeiligen berichtet: „Als Pachomius eines Tages in den Wald zum Holz-fällen ging, stürzte ein Rudel höllischer Geister auf ihn los, um ihn zuerschrecken. Sie stellten sich wie bewaffnete Wachposten vor ihm aufund riefen einander zu: ,Platz da für den Heiligen!‘ Pachomius erkannteden Teufel und durchschaute sein Machwerk. Er lächelte und sagte: ,Spot-tet nur, ich werde doch noch heilig.‘ Als der Teufel sah, daß er Pachomiusweder überrumpeln noch verzagt machen konnte, nahm er sich vor, ihnmit einem Scherz zu fangen, nachdem Pachomius sich das erstemal überihn lustig gemacht hatte. Er band also eine Menge dicker Stricke an einBaumblatt fest. Die Teufel hingen sich daran und zogen aus Leibeskräf-ten und schrien und schwitzten, als ob sie sich furchtbar plagen müßten.Als der Heilige aufschaute und diesen Humbug sah, stellte er sich denHeiland am Baum des Kreuzes hängend vor und machte das Kreuzzei-chen. Als der Teufel merkte, daß Pachomius seine Aufmerksamkeit aufdie Frucht des Baumes richtete und nicht auf sein Blatt, schlich er be-stürzt und beschämt davon.“

„Weinen hat seine Zeit und Lachen hat seine Zeit, Schweigen hat seineZeit und Reden hat seine Zeit“ (Eccles 3,4 f) – das lehrt uns dieser großeHeilige mit seinem Verhalten in Versuchungen. Diese Bescheidenheitbestimmt unsere Art zu reden, damit sie angenehm sei, nicht zu laut,nicht zu leise, nicht zu langsam und nicht zu hastig. Sie hält immer die

Page 129: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

128 10. Bescheidenheit

Mitte, läßt auch andere zu Wort kommen, unterbricht nicht, was nachGeschwätzigkeit aussieht, redet aber auch mit und stört die Unterhal-tung weder durch Unbeholfenheit noch durch Blasiertheit.

I VI VI VI VI V.....

Die vierte Art der Bescheidenheit bezieht sich auf die Kleidung. Dar-über wäre zu sagen, daß man sich vor Unsauberkeit und Schlampereiebenso in acht nehmen soll wie vor dem anderen Extrem, der über-triebenen Sorgfalt, die darauf ausgeht, sich herauszuputzen und wie„aus dem Ei geschält“ zu sein. Der hl. Bernhard tritt sehr für die äußereSauberkeit ein und sieht in ihr einen Beweis für die Seelenreinheit. InBezug auf die Sauberkeit befremdet uns etwas im Leben des hl. Hilarion,tat er doch einem Edelmann gegenüber, der ihn aufgesucht hatte, denAusspruch: „Am Kleid eines Büßers dürfe man sich keine Sauberkeiterwarten.“ Er wollte damit sagen, daß unser Leib nur ein übelriechen-der, verpesteter Kadaver sei, an dem man keine Sauberkeit zu suchenhabe. Der Heilige ist in diesem Ausspruch gewiß bewunderungswür-dig, aber nicht nachzuahmen. Man soll nicht übertrieben reinlich, mandarf aber auch gewiß nicht unsauber sein. Der hl. Hilarion sprach ebenzu einem Höfling, dem er die Verweichlichung ansah, und so fühlte ersich, wie mir scheint, veranlaßt, etwas derber zu reden. Wer ein krum-mes Bäumchen gerade machen will, der richtet es nicht nur auf, derbiegt es auch nach der entgegengesetzten Seite, damit es wieder in sei-ner ursprünglich geraden Richtung wächst. – So viel nun über die Be-scheidenheit; ich glaube, daß ich alles deutlich genug erklärt habe.

V e r s c h i e d e n e F r a g e n

1. Ihr möchtet gerne wissen, was ihr tun müßt, um einen Tadel nichtunangenehm zu empfinden und dann nicht bitter zu werden.

Das Aufsteigen einer zornigen Regung und das Aufwallen des Bluteskönnen wir nicht hindern. Seien wir froh, wenn wir eine Viertelstundevor dem Tod diese vollkommene Beherrschtheit erreicht haben. Aberauf eines müssen wir sorgfältig achten, daß sich, sobald der Aufruhrverebbt ist, keine bitteren Gedanken festsetzen, die es uns erschweren,mit der Person, die uns zurechtgewiesen, ebenso zutraulich, lieb und

Page 130: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

12910. Fragen

ruhig zu reden wie vorher. – Ihr sagt, daß ihr diese Gedanken weitfortjagt und sie doch immer wieder zurückkommen. – Ja, meine liebenTöchter, ihr macht es eben vielleicht so, wie die Bürger einer Stadt beieinem nächtlichen Aufruhr: sie verjagen wohl die Aufständischen, werfensie aber nicht zur Stadt hinaus, und so können sie sich in den Gäßchenund Winkeln bis zum Morgen versteckt halten, fallen dann über dieBewohner her und überwältigen sie. Ihr verjagt die Verstimmung überdie Zurechtweisung, aber nicht so energisch und gründlich, daß sichnicht ein Rest davon irgendwo in einen Winkel eures Herzens hinein-verkriechen könnte. Ihr wollt zwar nicht verstimmt sein, aber doch voneurer Meinung nicht abgehen, daß die Zurechtweisung nicht am Platzwar oder in der Leidenschaft oder wer weiß warum erteilt wurde. Sehtihr denn nicht, wie der Aufständische über euch herfallen und euchunerhört quälen wird, wenn ihr ihn nicht sofort weit davonjagt?

Was ist in solcher Lage zu tun? Sich eng an den Heiland anschmiegenund von ganz anderen Dingen mit ihm reden. – Wenn sich aber dasGefühl nicht beschwichtigen läßt, vielmehr die Gedanken auf das erlit-tene Unrecht geradezu hindrängt? – Ach Gott! Das ist dann wirklichnicht der geeignete Augenblick, dem Gefühl beizubringen, daß der Ta-del notwendig und angebracht war, und seine Zustimmung zu verlan-gen. Nein, das kommt erst dann, wenn die Seele wieder besänftigt undberuhigt ist. Während des inneren Aufruhrs sollen wir nichts sagen undnichts unternehmen, so sehr wir uns auch dazu berechtigt glauben, son-dern nur zäh an dem Vorsatz festhalten, uns ja nicht mitreißen zu las-sen. In einer solchen Gemütsverfassung finden wir nämlich immer ge-nug Gründe für unseren Ärger, sie kommen uns massenhaft in denSinn. Wir dürfen aber nicht auf einen einzigen von ihnen hören, soglaubhaft sie scheinen. Halten wir uns, wie gesagt, eng an Gott, verde-mütigen wir uns zuerst vor der göttlichen Majestät und dann reden wirmit Gott von etwas ganz anderem.

Aber merkt wohl auf diesen Rat, den ich immer gern wiederhole,weil er so nützlich ist: Ihr müßt euch ruhig und friedlich verdemütigen,nicht verärgert und aufgeregt. Das ist ja so oft unser Unheil, daß unsereDemuts-Akte vor Gott grimmig und verdrossen sind. Die Folge davonist, daß unser Geist sich nicht beruhigt und diese Demuts-Akte ohneFrucht bleiben. Verdemütigen wir uns also vor der Majestät Gottes mitruhigem Vertrauen, dann wird die Verstimmung weichen und unserGemüt wird sich wieder aufheitern und beruhigen. Wir werden dann

Page 131: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

130 10. Fragen

auch die Nichtigkeit all dieser Gründe einsehen, die Eigenwille undEigenliebe uns einflüstern, und werden mit den Menschen, die uns ta-delten, ebenso unbefangen reden wie zuvor. – Ihr überwindet euch schon,sagt ihr, und redet mit ihnen, aber wenn das Gespräch nicht so ausfällt,wie ihr es euch wünscht, dann kommt die Versuchung zur Bitterkeitwieder. – Seht, das kommt von denselben üblen Ursachen, die ich schonangeführt habe. Es kann euch doch ganz gleich bleiben, ob man so oderso mit euch redet, wenn nur ihr eure Pflicht tut.

Wenn man es so recht bedenkt, so gibt es wohl keinen Menschen,dem ein Tadel nicht zuwider wäre. Nach 15 Jahren eines ganz heilig-mäßigen Lebens in der Wüste wurde dem hl. Pachomius von Gott geof-fenbart, daß er eine große Anzahl Seelen gewinnen werde und vielesich in der Wüste unter seine Führung begeben würden. Einige Ordens-leute waren schon bei ihm, darunter auch sein älterer Bruder Johannes,den er als ersten aufgenommen hatte. Pachomius vergrößerte nun aufdiese göttliche Mitteilung hin das Kloster und ließ viele Zellen bauen.Sein Bruder, der seine Gründe nicht kannte, verwies es ihm in seinerLiebe zur heiligen Armut mit heftigen Worten. Er fragte ihn, ob erwohl auf diese Weise dem Heiland nachzufolgen glaube, der währendseines Erdendaseins „nichts“ hatte, „wohin er sein Haupt legen könn-te“. Er dagegen lasse ein so großes Kloster bauen und verschwendeaußerdem seine Zeit. Noch viele andere Vorwürfe fügte er hinzu.Pachomius empfand trotz seiner großen Heiligkeit diesen Tadel soschmerzlich, daß er sich abwenden mußte, um sich seinen Ärger nichtanmerken zu lassen. Er ging dann weg, warf sich vor Gott auf die Knie,bat ihn um Verzeihung und klagte ihm, daß er nach so vielen Jahren derWüsteneinsamkeit immer noch so unbeherrscht war, wie er meinte. Erbetete dann so innig und so demütig, daß ihm die Gnade zuteil wurde,nie mehr in Ungeduld zu fallen.

Selbst der hl. Franziskus2 brauste noch gegen Ende seines Lebenseinmal auf. Er arbeitete im Garten und setzte Kohlpflänzchen. EinBruder sah, daß er es falsch machte, und beredete es ihm. Darübergeriet Franziskus, der schon so viele Ekstasen gehabt und mit demHeiland in innigster Vertrautheit verkehrte, so viel schon zur EhreGottes getan und so oft sich überwunden hatte, in so heftigen Zorn, daßihm beinahe ein Schimpfwort entschlüpfte. Schon wollte er es ausspre-chen, hielt es aber gerade noch zurück und stopfte sich eine HandvollMist in den Mund mit den Worten: „Da, du böse Zunge, ich werde es

Page 132: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

13110. Fragen

dir austreiben, deinen Bruder zu beleidigen.“ Und kniefällig bat erdann diesen Mitbruder um Verzeihung.

Dürfen wir uns da wundern, daß wir aufbrausen möchten, sobald unsjemand tadelt oder widerspricht? Wir müssen aber auch dem Beispieldieser Heiligen folgen, die sich sofort überwanden, der eine, indem erzum Gebet seine Zuflucht nahm, der andere, indem er seinen Mit-bruder gleich um Verzeihung bat. Beide gaben ihren Gefühlen in kei-ner Weise nach, sondern überwanden sie, und so war der Tadel einGewinn für sie.

Ihr sagt, daß ihr die Zurechtweisung gutwillig annehmt und billigt,sie gerecht und berechtigt findet, daß ihr euch aber der Oberin gegen-über befangen fühlt, weil ihr sie verstimmt oder ihr Anlaß zu Ärgergegeben habt. Und darum traut ihr euch nicht mehr zu ihr, obwohl ihrdie Demütigung, die euch der Fehler eingetragen hat, liebt. – Nun,meine lieben Töchter, da steckt die Eigenliebe dahinter. Ihr wißt wohlnoch nicht, daß unser Inneres eine Art Kloster ist. Die Eigenliebe ist daOberin; sie legt also die Bußen auf. Und die Buße für den begangenenFehler ist eben gerade diese Hemmung, ist die Angst, eure Oberin amEnde doch verstimmt zu haben und deshalb von ihr weniger geschätztzu werden, als wenn ihr den Fehler nicht begangen hättet. – Ich glaubedamit denen, die eine Zurechtweisung erhalten, genug gesagt zu haben.

Nun noch ein Wort für diejenigen die Zurechtweisungen erteilen. Werzu tadeln hat, muß taktvoll den rechten Augenblick abwarten; auchdarf er sich weder gekränkt noch erstaunt zeigen, wenn die Zurechtwei-sung unangenehm empfunden wird. Jeder Tadel schmeckt bitter. Abernun genug darüber.

2. Was wollt ihr noch wissen? Wie ihr so ganz gerade auf Gott zugehenkönnt, ohne nach rechts und links zu schauen? Meine Töchter, dieseFrage ist mir sehr lieb, weil die Antwort schon darin enthalten ist:Ganz gerade auf Gott zugehen und nicht nach rechts und links schau-en, wie ihr sagt, so muß man es machen. Aber das wolltet ihr eigentlichnicht gefragt haben, ihr meintet vielmehr: wie ihr euch so tief in Gottfestigen könnt, daß nichts euch von ihm zu lösen, nichts euch wegzu-locken vermag. – Zwei Dinge gehören dazu: Sterben – und in den Him-mel kommen. Dann erst können wir nie mehr von Gott getrennt wer-den, dann erst werden wir unlöslich ihm anhangen und ganz eins mitihm geworden sein. – Aber auch das war es nicht, was ihr eigentlichwissen wollt, sondern ihr wünscht euch ein Mittel, daß keine Fliege, d.

Page 133: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

132 10. Fragen

h. auch nicht die geringste Zerstreuung euren Geist von Gott abziehe.– Erlaubt einmal, meine Töchter, nur die Sünde trennt euch von Gott,nicht aber eine Mücke, eine Zerstreutheit, wie ihr meint. Kraft unseresam Morgen gefaßten Vorsatzes, mit Gott vereint zu sein, uns seinerGegenwart bewußt zu sein, bleiben wir in seiner Gegenwart, bleiben esauch dann, wenn wir schlafen, weil wir ja alles in seinem Namen tunund um seinen heiligen Willen zu erfüllen. Mir ist, als hörte ich seinegöttliche Güte sagen: „Schlaft nur, ruht euch aus, mein Auge wachtüber euch, ich behüte und verteidige euch gegen den ‚brüllenden Lö-wen, der umhergeht und euch verschlingen möchte‘ “ (1 Petr 5,8). Sehtalso, wie gut es doch ist, sich sittsam schlafen zu legen. Der bewußteWandel in der Gegenwart Gottes ist das Mittel, alles recht zu machen;denn wer bedenkt, daß Gott ihn anschaut, der wird nicht sündigen kön-nen. Selbst läßliche Sünden sind nicht imstande, uns von Gott abzu-bringen. Wohl halten sie uns auf dem Weg ein wenig auf, aber sie führenuns davon nicht weg. Und noch viel weniger vermögen dies einfacheZerstreuungen, wie ich es schon in der „Anleitung“ erklärt habe.

Unser Gebet ist trotz unserer Zerstreutheit Gott nicht weniger an-genehm und uns nicht weniger nützlich. Es hat vielleicht gerade des-halb, weil wir uns Plagen müssen, mehr Wert, als wenn wir mit Tröstun-gen überhäuft wären; nur dürfen wir nicht freiwillig und vorsätzlich beiden Zerstreuungen verweilen, müssen sie vielmehr beharrlich abwei-sen. Das gleiche gilt von der Schwierigkeit, uns tagsüber auf Gott undhimmlische Dinge zu konzentrieren. Wir müssen uns alle Mühe geben,unseren Geist gleichsam festzuhalten, wir dürfen ihm nicht erlauben,Insekten und Schmetterlingen nachzujagen. Wir müssen mit ihm um-gehen, wie eine Mutter mit ihrem Kind. Das Büblein möchte so gernallen Schmetterlingen nachlaufen, um sie zu fangen. Die Mutter aberhält es am Arm und sagt: „Schau, Kind, wenn du den Schmetterlingennachläufst, wirst du dich erhitzen und krank werden; bleib schön beimir!“ Das Büblein bleibt so lange bei der Mutter, bis es wieder einenSchmetterling sieht, dem es gleich nachlaufen möchte, wenn die Mut-ter es nicht neuerdings festhielte. Was kann man da machen? Nichts,als Geduld haben, sich die Mühe nicht verdrießen lassen, denn wirplagen uns ja aus Liebe zu Gott.

Wenn ihr vorhin sagtet, daß ihr nicht zu Gott gelangen könnt und daßer euch daher weit weg zu sein scheint, so wolltet ihr wohl damit sagen,wenn ich euch recht verstehe, daß ihr seine Gegenwart nicht spürt. In

Page 134: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

13310. Fragen

Gottes Gegenwart sein und Gottes Gegenwart fühlen, ist nämlich zwei-erlei. Das meintet ihr wohl, nicht wahr? – O meine Töchter, nur Gottkann uns das Gefühl seiner Gegenwart schenken, aus uns selbst könnenwir das Gefühl nicht haben.

Ihr fragt, wie ihr es machen sollt, um immer die große Ehrfurcht vorGottes Gegenwart zu bewahren, da ihr diese Gnade doch gar nicht ver-dient. – Da könnt ihr nichts anderes tun als, wie ihr es selbst sagt:bedenken, daß er Gott ist und wir ganz armselige Geschöpfe, die einersolchen Ehre nicht wert sind. So beschäftigte sich der hl. Franz vonAssisi eine ganze Nacht lang mit der Frage: „Wer bist Du und wer binich?“ – Ihr seht, eure Fragen enthalten alle schon ihre Antwort.

3. Ihr wollt wissen, wie ihr zur Gottesliebe kommen könnt.Nun, ich sage euch darauf: Ihr müßt Gott lieben wollen. Statt lange zu

fragen und zu grübeln, wie ihr euren Geist an Gott binden könnt, be-schäftigt euch immerwährend mit ihm. Glaubt mir, das ist von allenWegen der kürzeste zum Ziel. Je ausgegossener wir sind, desto zerfah-rener und desto unfähiger sind wir, uns in ihn zu versenken, uns mitihm zu vereinigen, der uns ganz und ungeteilt besitzen will. Es gibtSeelen, die vor lauter Überlegen, wie sie es machen sollen, überhauptzu nichts kommen. Die Vollkommenheit unserer Seele besteht in derVereinigung mit Gott, die wir nicht erreichen mit Viel-Wissen, wohlaber mit Viel-Tun. Gehen wir daher mit recht großer Einfachheit andiese heilige Aufgabe heran. Wer sich nämlich fortwährend nach demkürzesten Weg in die Stadt erkundigt, dem kann es widerfahren, daß erspäter hinkommt als andere, die auf der Straße geblieben sind, weil dereine sagt: Sie gehen falsch, Sie machen einen Umweg; der andere: Siemüssen zurückgehen und dann in den und den Weg einbiegen. Mankehrt dann um und geht daher wieder zurück, und so kommt man nichtvorwärts, wenn man viel fragt. Wer nach dem Weg zum Himmel gefragtwird, hat eigentlich ganz recht, wenn er so antwortet wie jener, dergesagt hat: wenn Sie dahin gehen wollen, dann müssen Sie immer gera-deaus gehen, immer einen Fuß vor den anderen setzen, dann kommenSie schon hin, wohin Sie wollen.“ So sagt man also denvollkommenheitsdurstigen Seelen: Bleibt einfach immer auf der Stra-ße eures Berufes. Kümmert euch mehr darum, eure Pflicht zu tun, alsimmer nach dem kürzesten Weg zu fragen.

Page 135: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

134 10. Fragen

Erlaubt mir aber, euch aufzudecken, wo ihr mit euren Fragen hinaus-wollt. Ihr hättet zu gern, daß ich euch einen ganz fertigen Weg zur Voll-kommenheit zeige, eine so gut ausgearbeitete Vollkommen-heitsmethode, daß ihr sie gleichsam nur aufzusetzen bräuchtet wie eu-ren Schleier. Ihr möchtet ganz mühelos vollkommen werden. Es hateuch nicht so recht gepaßt, daß ich sagte: dies und das müßt ihr tun; daswar es nicht, was ihr eigentlich hören wolltet; ich hätte euch die Voll-kommenheit ganz fertig servieren sollen. Ja, wenn ich das zustandebrächte, dann wäre ich der vollkommenste Mensch der Welt; könnteich sie anderen so ohne weiteres verleihen, so würde ich sie zu allererstmir selber geben. – Man hält die Vollkommenheit oft für eine Kunst,die man sich mühelos aneignen könne, sobald man hinter ihr Geheim-nis gekommen ist. Das ist aber ein Irrtum. Streben wir die Vereinigungmit dem vielgeliebten Heiland an, dann müssen wir uns beharrlich inder Liebe üben, müssen treu alles aus reiner Liebe tun – das ist dasGeheimnis.

Wohlgemerkt: Mit diesem Üben und Tun meine ich nur das höhere See-lenleben. Achten wir so wenig auf Widerwillen und Widerstreben im niede-ren Seelenteil, wie Wanderer auf fernes Hundegekläff. Wer bei einem Fest-essen jedes Gericht verkostet und von allen Speisen nascht, verdirbt sich denMagen, verbringt eine schlaflose Nacht und erbricht in einem fort. Seelen,die alle Methoden und Mittel, die vollkommen machen oder machen könn-ten, kennen und ausprobieren wollen, ergeht es nicht anders. Ihr Wille hatnicht genug Wärme, all diese Mittel durchzuarbeiten und anzuwenden; da-her dann die Beschwerden und Verstimmungen, die das stille und friedlicheBeisammensein mit dem Heiland stören und so um das eine Notwendigebringen, das „Maria erwählt“ (Lk 10,42) und das ihr nicht genommen wer-den wird.

4. Nun zu eurer Frage, wie ihr zu einem ganz einfachen, reinen Ge-horsam gegen Gott und die Vorgesetzten kommt.

Die Frage ist gut gestellt, sie enthält bereits die Antwort. Einfach ge-horchen heißt folgen mit der einfachen Absicht, Gott und der Oberin zugehorchen. Zu dieser einfachen Absicht können noch Beweggründe hin-zukommen; ihr tut z. B. den Willen Gottes, weil ihr wißt, daß euer Lohnewig sein wird, ferner weil die Ungehorsamen Gott nicht schauen wer-den. Das alles ist an sich gut, aber weder einfach noch rein, die Absichtist vermischt und verdoppelt. Gehorcht ihr der Oberin aus Liebe zu Gottund zugleich, um ihr zu gefallen und von ihr geschätzt zu werden, so ist

Page 136: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

13510. Fragen

das kein reiner Gehorsam aus Liebe zu Gott. Der Wunsch, der Oberin zugefallen, bringt uns sehr häufig um das Verdienst des Gehorsams und umden Seelenfrieden. Sehen wir nämlich, daß sie mit uns unzufrieden ist, sobeunruhigen wir uns und sind verstört, als ob von der Zufriedenheit derOberin unser ganzes Glück abhinge. Und wir sollten doch dieVerdemütigung freudig annehmen und innig lieb haben. Eine Seele, dienichts den Vorgesetzten, sondern alles ganz treu nur Gott zuliebe tut undgrundsätzlich nur Gott in den Vorgesetzten sieht, o die würde sich selberdie größte Wohltat erweisen, denn Zweck und Ziel solch reinen Gehor-sams sind Gott außerordentlich angenehm. Dieses Wohlgefallen Gottessollen wir im Auge haben und nicht den Lohn. Haben wir diese Gesin-nung, dann sind uns alle Vorgesetzten gleich lieb, weil wir in einem jedennur Gott sehen.

5. Meine Mutter, Sie fragen, ob die Vorgesetzten berechtigt sind, vonihren Untergebenen Dinge zu verlangen, die den Geboten Gottes oderder Kirche widersprechen. – Nein, das dürfen sie nicht; auch nicht, umsie zu prüfen. Denn die Autorität der Ordensoberen untersteht denGeboten der Kirche, wie die Gebote der Kirche ihrerseits den GebotenGottes untergeordnet sind, d. h. den Geboten Gottes unterstehen. Ichweiß schon, daß einige Obere derartiges verlangt haben. Ich möchteaber meinen, daß aus Einfältigkeit befohlen und gehorcht wurde, unddas mag beide Teile entschuldigen. Hätten sie es besser verstanden, sohätten sie es nicht getan, auch nicht tun dürfen.

Die Ordensoberen dürfen ihre Untergebenen aber je nach Notwen-digkeit von gewissen Geboten der Kirche dispensieren, wenn sie vomPapst die entsprechende Vollmacht haben.3 Eine Oberin bemerkt z. B.,daß einer kränklichen Schwester das Fasten nicht gut bekommt. Siekann und soll dieser Schwester für den einen oder anderen Tag dasFasten ruhig untersagen; vom ganzen vierzigtägigen Fasten kann frei-lich nur der Beichtvater dispensieren; und vom Genuß der verbotenenFleischspeisen nur eine höhere Instanz. – Es kommen aber der OberinBedenken, ob die Schwester wirklich so kränklich ist, daß sie nichtfasten kann. – Nun, hinsichtlich des Fastens braucht man gewiß nichtengherzig zu sein; besser mehr Liebe als mehr Strenge, das ist auch derWunsch der Kirche. Glaubt aber die Schwester, ganz gut fasten zu kön-nen, so kann sie es der Oberin einfach sagen; und besteht die Oberindarauf, daß sie nicht faste, dann soll die Schwester ohne Bedenken ebennicht fasten. Läßt sie ihr aber die Wahl, so mag sie tun, was sie will.

Page 137: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

136 10. Fragen

Man darf sehr wohl am Morgen und im Laufe des Tages zwei oderdrei Scheiben Brot mit etwas Wein genießen, ohne damit das Fasten zubrechen. Wer jedoch ohne Notwendigkeit etwas zu sich nimmt, derverfehlt sich zwar gegen die Mäßigkeit, nicht aber gegen das Fasten-gebot. Man muß aber wohl immer um die Erlaubnis zu dieser Stärkungbitten.

Meine lieben Töchter, angenommen, ihr fühlt euch einmal an einemFasttag nicht wohl und macht, ohne es zu wollen, ein verdrießlichesGesicht, hättet aber auch kein Bedürfnis, etwas zu essen – nun, da rateich euch, nehmt statt zwei Bissen Brot und zwei Schluck Wein zweiPrisen guten Mut und Kraft, damit die Mitschwestern an eurem schlech-ten Aussehen nicht erschrecken und selber krank werden. Um euch zuzeigen, daß die Kirche in ihren Geboten keineswegs starr ist, sage icheuch noch mehr: Eine Schwester ist z. B. an einem Feiertag krank;zwar hat sie nur einen Anfall von Fieber, aber er kommt gerade in derZeit der heiligen Messe; die Kranke kann während dieser halben Stun-de scheinbar ganz gut allein bleiben. Da dürft ihr nun die heilige Messeruhig drangeben, um bei der Kranken zu bleiben, obwohl ihr gewißnichts zustoßen wird, wenn sie allein bleibt. Bei all diesen Dingen sollman immer eher in der Liebe übertreiben, vor allem beim Fasten, unddas um so mehr, wenn man statt dessen eine Arbeit aus Nächstenliebeauf sich nimmt.

6. Ihr fragt, meine lieben Töchter, wie ihr es machen sollt, um eureEntschlüsse zu festigen und ihnen den Erfolg zu sichern. Das beste Mit-tel ist, sie in die Tat umzusetzen. Ihr klagt aber, daß ihr so schwach seidund trotz eures Vorsatzes immer wieder in den Fehler fallt, den ihrablegen wollt, und bei der nächsten Gelegenheit schon wieder auf derNase liegt. Ihr wollt wissen, warum wir so schwach bleiben? – Weil wiruns der schädlichen Speisen nicht enthalten. Wir machen es da wieeiner, der sein Magengeschwür wegbringen will, der auch den Arzt be-fragt, den Rat aber, dieses und jenes nicht zu essen, weil es Beschwerdenund Schmerzen verursacht, nicht befolgt. Ja, genau so machen wir es:Wir möchten z. B. Zurechtweisungen gern hinnehmen, zugleich aberauch bei den Vorgesetzten schön dastehen. Seht, das ist einfach Un-sinn! Das geht nicht. Solange ihr euren Geist mit Selbstliebe füttert,werdet ihr Tadel niemals tapfer und starkmütig ertragen. – „Ich möchteschon gesammelt sein,“ sagt die eine, „kann aber das zwecklose Grü-beln nicht lassen.“ Nun, das gibt es auch nicht. – „Mein Gott, so gern

Page 138: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

13710. Fragen

würde ich meine Übungen treu und gewissenhaft machen,“ sagt dieandere, „aber so mühsam sollten sie halt nicht sein: mit einem Wort,ich möchte jede Arbeit schon fertig vorfinden.“ – Nun, so etwas wird esin diesem Leben nie geben, hier werden wir immer zu arbeiten haben.Ich habe euch schon früher einmal gesagt, daß das Fest Mariä Reini-gung keine Oktav hat.

Wir müssen zwei gleich feste Vorsätze fassen: Nicht unruhig werden,wenn wir das Unkraut in unserem Garten wuchern sehen – zugleich aberden Mut haben, es ausreißen zu wollen. Die Eigenliebe stirbt nicht,solange wir leben, und sie bringt immer wieder ihr Unkraut hervor. Abund zu in eine läßliche Sünde fallen, heißt nicht auch schon schwachsein, wenn wir nur sofort wieder aufstehen, wenn sich unsere Seele nursofort wieder zu Gott hinwendet und sich ganz ruhig vor ihm verde-mütigt. Wir dürfen nicht glauben, in diesem Leben ohne läßliche Sün-de durchkommen zu können. Unsere Liebe Frau allein hatte diesesVorrecht. Die läßliche Sünde hält uns, wie gesagt, ein wenig auf, bringtuns aber nicht vom Weg ab; ein einfacher Aufblick zu Gott tilgt sie.Wenn gesagt wird, daß der bischöfliche Segen und das Weihwasser dieläßliche Sünde tilgt, so meint man damit nicht, daß dies durch die Kraftdes Segens geschieht, sondern weil man ihn mit demütiger Gesinnungempfängt und seinen Geist dabei auf Gott hinwendet.

7. Ihr möchtet wissen, ob ihr beim Nehmen des Weihwassers immergewisse Gedanken fassen sollt, die man in den Büchern findet. Nun, wasin diesen Büchern steht, brauchen solche nicht zu tun, die so weit sind,daß ihr Geist bei jeder Gelegenheit sich Gott in beschaulicher Liebezuwendet. Wollten solche Seelen all diese möglichen Übungen ma-chen, so würde die Einfachheit ihres Seelenlebens darunter Schadenleiden. Wer eine Erwägung über das Weihwasser machen wollte, wenner es nimmt, und eine Erwägung über das Kreuz, sooft er es grüßt, unddann eine andere über das allerheiligste Altarssakrament und eine überdas Kreuzzeichen und so fort – oder wer z. B. während der heiligenMesse das ganze Leiden Christi von Anfang bis zu Ende durchbetrachtenwollte, wie hätte der noch Zeit, einen Liebesakt zu erwecken oder ei-nen Vorsatz zu fassen, was doch weit nützlicher ist? Die Absicht, in dieKirche zu gehen, um Gott anzubeten, begreift alle diese einzelnen Er-wägungen in sich. Während der heiligen Messe dann diesen oder jenenAffekt, zu dem ihr euch gerade angeregt fühlt, festhalten, das ist einesehr gute Art, der heiligen Messe beizuwohnen. Die vielen Erwägungen

Page 139: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

138 10. Fragen

zersplittern nur die Geistes- und Herzenskräfte, lenken sie ab und hin-dern sie, einfach zu bleiben. Aber gerade diese liebeerfüllte Einfach-heit liebt Gott an den Seelen so sehr. Die vielen einzelnen Erwägungensind ganz gut für jene, die noch nicht zu Besserem vorgedrungen sind –sie halten dann ihren Geist in Zucht.

8. Ihr möchtet noch wissen, ob ihr selbst dann Vorsätze fassen sollt,wenn ihr schon von vornherein wißt, daß sie meist nicht zur Ausführungkommen. Gewiß! Nur nie aufhören, Vorsätze zu machen, selbst dann,wenn wir jetzt schon wissen, daß wir sie im gegebenen Moment unmög-lich durchführen können. Gerade weil wir uns zu schwach fühlen, sieerfolgreich zu verwirklichen, müssen wir sie energisch fassen und dazudem Heiland sagen: ich kann das zwar nicht aus eigener Kraft tun oderaushalten, aber ich freue mich darüber, denn Deine Kraft wird es in mirvollbringen (2 Kor 12,8 ff). So gestärkt und gestützt geht dann mutig inden Kampf und zweifelt nicht an eurem Sieg. – Der Heiland geht mituns um, wie der Vater, die Mutter mit dem Kind. In einer weichenWiese, im hohen Gras oder im Moos lassen sie es allein gehen, denn eskann sich da nicht weh tun, wenn es hinfällt. Auf schlechten und gefähr-lichen Wegen aber tragen sie es sorglich auf dem Arm. – Wir konntenschon oft beobachten, daß eine Seele feindlichen Großangriffen uner-schrocken standgehalten hat und Siegerin geblieben, bei kleinen Schar-mützeln aber unterlegen ist. Und warum? Weil der Heiland sie alleinließ, da er wußte, daß sie sich bei einem Fall nicht sehr weh tun werde.Wenn sie aber bei schweren Versuchungen in Gefahr stand, in den Ab-grund hinabzustürzen, da stand er neben ihr und zog sie mit seinerallmächtigen Hand vom Abgrund zurück. – Die hl. Paula entsagte groß-mütig der Welt, sie zog von Rom fort, verzichtete auf alle Annehmlich-keiten; selbst die zärtliche Liebe zu ihren Kindern war nicht imstande,sie von ihrem Entschluß, alles für Gott zu verlassen, abzubringen. Unddoch ließ sie sich nach so vielen Beweisen hoher Tugend noch hinrei-ßen, auf ihr eigenes Urteil zu hören, und wollte sich der Ansicht heilig-mäßiger Persönlichkeiten nicht fügen, die ihr nahelegten, ihr allzu stren-ges Fasten etwas zu mildern. Hieronymus findet, daß sie hierin zu ta-deln sei.

9. Meine lieben Töchter! Die Frage, ob ihr euch für die Liebe oder fürdie Einfachheit entscheiden sollt, wenn zwischen beiden Tugenden zuwählen ist, kann man leicht beantworten. Die Liebe ist die erste Tu-gend, der alle anderen unterstehen. In dem Fall aber, den ihr als Bei-

Page 140: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

13910. Fragen

spiel anführt, ist der Einfachheit der Vorzug zu geben. Denn es ist keinMangel an Liebe, eine Schwester zum Aufstehen zu veranlassen, damitihr den Platz, der euch angeboten wird, einnehmen könnt. Selbst dann,wenn es für die eine Schwester unbequem ist aufzustehen, oder wenn eszu eng wird, sollt ihr den angebotenen Platz nicht ausschlagen, sonderneuch freuen, daß ihr der Schwester Gelegenheit zu einem Liebesdienstgebt.

Ihr fragt, was ihr tun sollt, wenn eine Schwester bittet, ihr möchtet ihreine Arbeit abnehmen, die ihr jedoch nur auf Kosten eurer eigenenArbeit übernehmen könnt. Habt ihr z. B. das Abendessen zu bereitenund es wird nicht rechtzeitig fertig, wenn ihr tut, um was sie euch bittet,so ginge diese Hilfsbereitschaft auf Kosten des Gehorsams und derLiebe. Dazu dürft ihr euch aber unter keinen Umständen hergeben. Ineinem solchen Fall antwortet der betreffenden Schwester ruhig: „WennSie so lange warten können, bis ich meine Arbeit getan habe, helfe ichIhnen gern, jetzt aber kann ich nicht.“ Ist eure Arbeit jedoch nicht soeilig, dann sollt ihr sie sofort unterbrechen um der Liebe und Hilfsbe-reitschaft willen und tun, worum man euch gebeten hat.

Zusammenfassend möchte ich nun sagen: Alles, was ich in dieserUnterredung gesagt habe, betrifft Feinheiten im Vollkommenheits-streben. Es soll daher auch keine, die sie angehört, darüber betrübtsein, wenn sie diese Höhe der Vollkommenheit noch nicht erreicht hat,da wir doch alle mit Gottes Gnade frohen Mutes dahin streben wollen.Amen.

Page 141: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

140

11. Gespräch

Der GehorsamDer GehorsamDer GehorsamDer GehorsamDer Gehorsam11111

1. Der Gehorsam ist eine sittliche Tugend, die zur Gerechtigkeit ge-hört. Es gibt sittliche Tugenden, die mit den theologischen TugendenGlaube, Hoffnung und Liebe so viel Ähnlichkeit haben, daß sie theologi-sche Tugenden zu sein scheinen, wie z. B. Buße, Frömmigkeit, Gerech-tigkeit und Gehorsam.

Der Gehorsam betätigt sich gegen Vorgesetzte, Gleichstehende undUntergebene. Gegen die letzteren ist er jedoch weniger Gehorsam zunennen als vielmehr Demut, Sanftmut und Liebe. Wer demütig ist, hältalle anderen für besser und verhält sich deshalb zu ihnen wie zu Höher-stehenden.

Es ist notwendig, ja eine Forderung der Gerechtigkeit, daß wir jenenMenschen gehorchen, die Gott über uns gestellt hat, um uns zu leiten,und zwar müssen wir gehorchen mit völliger Unterwerfung des Wil-lens und Verstandes. Wir betätigen diesen Verstandesgehorsam dann,wenn nicht nur unser Wille den Befehl annimmt und billigt, sondernauch der Verstand ihn anerkennt, höher wertet und ihn für besser findetals alles, was uns in dieser einen Sache befohlen werden könnte. Manhat dann eine so große Freude am Gehorchen, daß man sich geradezudanach sehnt, immer nur gehorchen zu dürfen, damit ja alles im Ge-horsam geschehe. Und das ist der Gehorsam der ganz Vollkommenen,den ich euch wünsche. Er ist entweder ein freies Gnadengeschenk Got-tes oder eine erworbene Tugend, die wir uns erst nach langer Zeit mitviel Mühe, mit zahllosen und unablässig wiederholten, mit großer An-strengung vollzogenen Akten des Gehorsams aneignen, wodurch er dannzu einer Gewohnheit wird. Von Natur aus wollen wir befehlen undsträuben uns gegen den Gehorsam; trotzdem eignen wir uns aber zumGehorsam gut, zum Befehlen hingegen schlecht.

2. Zum einfachen Gehorchen gehören drei Dinge:1) Dem Befehl zustimmen, den Willen ruhig beugen und sich gern

befehlen lassen. Denn gehorchen lernen wir ebenso wenig, wenn nie-mand uns befiehlt, wie sanftmütig sein, wenn wir allein in der Wüstesind.

2) Sofort gehorchen. Das Gegenteil davon ist Faulheit oder geistlicheTraurigkeit. Nur selten wird ein trauriger Mensch rasch und gewissen-

Page 142: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

14111. Gehorsam

haft ausführen, was befohlen ist; deshalb lautet auch der theologischeAusdruck für Faulheit geistliche Traurigkeit. Sie ist der Feind allestapferen und raschen Gehorchens. Auf Flüssen kommt man am bestenin einem Schiffe vorwärts und im Leben am sichersten mit dem Gehor-chen.

3) Beharrlich gehorchen, also nicht nur zustimmen, nicht nur eineZeit lang gehorchen, sondern auch andauernd gehorchen, denn werausharrt, erlangt die Krone (Mt 10,22; 24,13).

Zu allen Zeiten gaben uns die Heiligen wunderbare Beispiele der Be-harrlichkeit. Besonders im Leben des hl. Pachomius finden wir derenschöne. Manche Mönche harrten ihr Leben lang mit unglaublicher Ge-duld bei ein und derselben Beschäftigung aus. Jonas, einer der Wüsten-väter, tat sein Leben lang nichts anderes als Matten flechten. Er hattedarin solche Übung, daß er sogar daran arbeitete, während er im Dun-keln betete und betrachtete; das eine störte das andere nicht. Er starbauch bei dieser Arbeit; man fand ihn tot in hockender Stellung, dieMatte am Knie befestigt, und so mußte man ihn auch ins Grab hinein-betten. – Das ganze Leben im Gehorsam eine geringe Arbeit tun, isteine große Demutstat; denn es kann doch immer wieder der Gedankekommen, daß man auch zu Großem fähig wäre.

Die Beharrlichkeit – die dritte Bedingung des einfachen Gehorsams– ist wegen der Flatterhaftigkeit und Unbeständigkeit des menschli-chen Geistes am schwersten zu erfüllen. Denn heute tun wir eine Ar-beit gern, morgen können wir sie schon nicht mehr ansehen. Wolltenwir allen Einfällen unseres Geistes folgen und wäre dies möglich, ohneAnstoß zu erregen und Schande auf uns zu laden, dann erlebten wirnichts als fortwährende Veränderungen. Heute wäre man Jesuit, mor-gen Kapuziner und übermorgen wieder auf der Suche nach irgend et-was anderem. Dieser oder jener Ehemann, der sein Leben lang mitseiner Frau in gutem Einvernehmen gelebt hat, hätte sicher ein dut-zendmal die Frau gewechselt, wenn er gekonnt hätte. Wir würden wahr-haftig noch Vater und Mutter wechseln, wenn es ginge, so sonderbar istdie Unbeständigkeit des menschlichen Geistes. Aber trotzdem müssenunsere erst gefaßten Entschlüsse solche Kraft haben, dieser Unbestän-digkeit Einhalt zu gebieten.

3. Bei Versuchungen denke man an die Schönheit, Vortrefflichkeitund Verdienstlichkeit des Gehorsams, sowie an den Nutzen, den er unsbringt. So werden wir wieder Mut fassen und die Schwierigkeit über-

Page 143: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

142 11. Gehorsam

winden. Das gilt für solche Seelen, die im Gehorsam überhaupt nochnicht recht gefestigt sind. Bei einfachen Gefühlen des Widerwillensoder des Ärgers über einen Befehl genügt es, wenn man einen Akt derLiebe zu Gott erweckt und sich dann einfach an die Arbeit macht. Da-mit meine ich nun nicht Gefühle der Liebe – denn diese liegen nicht inunserer Hand und sind auch nicht notwendig – ich meine vielmehrAkte der Liebe, die mit dem Verstand erweckt werden und ihren Sitz inder höchsten Seelenspitze haben. So müssen echte Dienerinnen Gottesvorgehen, sonst wandeln sie falsche Wege. Solange wir an diesen klei-nen geistlichen Süßigkeiten und Leckereien hängen und uns nicht dazuentschließen, Gott einfach mit festen Vorsätzen zu dienen, bringen wires weder zu echten Tugenden noch zu einer wirklichen Liebe.

Als ich einmal mit einem Bekannten auf der Straße ging, zeigte ermir jemand, der gerade vorüberging, und sagte: „Sehen Sie diesen Herrn?Ich fühle mich zu ihm ungewöhnlich stark hingezogen. Ich habe abernoch nie mit ihm gesprochen, werde es auch nicht tun, ich weiche sogarjeder Gelegenheit aus, so gut ich kann.“ – „Warum tun Sie das,“ fragteich ihn , „wenn Sie ihn doch so gern haben?“ – „Ja, sehen Sie, wenn ichihn anspreche, dann könnte er vielleicht anders antworten, als ich esmir einbilde, oder er könnte etwas tun, was mir nicht gefällt, und dannwäre es mit meiner Zuneigung vorbei.“ Ihr seht an diesem Vorfall, wiedie Liebe immer wieder Störungen ausgesetzt ist, wenn sie von Kleinig-keiten abhängt.

Auf Abneigungen und Schwierigkeiten sollen wir gar nichts geben. DieHauptsache ist, daß die Spitze unseres Geistes immer auf seinen höch-sten Gegenstand gerichtet ist. Selbst dem Heiland blieben sie währendseines Leidens nicht erspart. Er hatte einen entsetzlichen Widerwillengegen das Sterben, wie er selbst bekannte. Aber in der höchsten Spitzeder Seele war er ganz eins mit dem Willen seines Vaters und alle ande-ren Regungen waren nur ein Sich-Aufbäumen der Natur.

4. In körperlichen und äußeren Dingen beharrlich sein, ist eigentlichnoch leicht. Beharrlich sein im Geistlichen ist hingegen schwerer, weiles uns nicht leicht fällt, unseren Verstand in Zucht zu halten. Er ist dasLetzte an uns, was wir fügsam machen können. Und doch ist es notwen-dig, unsere Gedanken so im Zaum zu halten, daß sie auf gewisse Ge-genstände gerichtet bleiben, z. B. bei gewissen Tätigkeiten oder Tugend-übungen beharren, die man uns aufgegeben hat, und daß wir unserenGeist für die ganze Zeit, für die sie uns geboten werden, darauf festle-

Page 144: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

14311. Gehorsam

gen. Setzen wir freilich mit einer Übung nur für kurze Zeit aus, so istdies noch kein Verstoß gegen die Beharrlichkeit, vorausgesetzt, daßwir sie wieder aufnehmen und nicht ganz aufgeben. Desgleichen ist esauch noch kein Mangel an Gehorsam, wenn er die eine oder andereEigenschaft nicht aufweist, denn wir sind auf das Wesentliche der Tu-genden verpflichtet, nicht auf jede ihre Eigenschaften. Gehorchen wiralso widerwillig und sozusagen nur durch unseren Stand gezwungen, sowäre der Akt des Gehorsams auf Grund unseres am Anfang gefaßtenVorsatzes doch gut. Er würde aber an Wert und Verdienst unendlichgewinnen, wenn die drei genannten Bedingungen hinzukämen. Dennwas wir im Gehorsam tun, hat großen Wert und wäre es an sich noch sounbedeutend.

5. Der Gehorsam ist eine so vortreffliche Tugend, daß der Herr seinganzes Leben im Gehorsam leben wollte. Er hat es oft wiederholt, daßer „nicht gekommen“ sei, seinen „Willen zu tun“ (Joh 4,34; 4,30; Hebr10,9). Und der Apostel sagt vom Herrn, daß er „gehorsam war bis zumTod, ja bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8). Er wollte zu den un-erschöpflichen Verdiensten seiner vollkommenen Liebe noch die un-erschöpflichen Verdienste vollkommenen Gehorsams hinzufügen. DieLiebe ist eine Forderung der Gerechtigkeit. Darum ist auch Schulden-zahlen dem Almosengeben vorzuziehen; ein Akt des Gehorsams istmehr wert als ein Akt der Liebe aus eigenem Antrieb.

6. Das geistliche Leben in diesem Haus muß ganz hochherzig sein,ganz unabhängig von jeder Zärtelei, von Lust und Unlust und fühlbarenFreuden. Schwierigkeiten, Abneigungen und Widerwillen schaden unskeineswegs und darum sollen wir auch nicht davon befreit werden wol-len. Wird uns etwas befohlen, was ganz gegen die Natur geht, und wirgehorchen trotzdem mit der Kraft einer rein verstandesmäßigen Liebe,so ist dieser Akt zweifellos viel verdienstvoller, als wenn wir ihn ohneWiderwillen verrichteten. Diesen Mangel können wir aber einbringen,indem wir mit großer Liebe gehorchen; wohl ist bei dieser Handlungdann das Verdienst der Selbstbeherrschung weggefallen, weil uns dasGehorchen nichts kostete, dafür hatten wir es aber bei früheren Gele-genheiten, wo wir uns Gewalt antun mußten. Man kann nicht zweimalernten.

7. Unter den Begriff des Gehorsams fällt auch die Geschmeidigkeit,sich dem Willen anderer zu fügen. Es ist dies eine sehr liebenswürdige

Page 145: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

144 11. Gehorsam

Tugend; wir sind dann wie Wachs in den Händen anderer, stets bereit,den Willen Gottes zu tun. Ein Beispiel: Eine Schwester begegnet mir,die mich ersucht, irgendwohin zu gehen. Gott will also, daß ich tue, wasdie Schwester wünscht; wenn ich nun etwas dagegen einwende, ist esGottes Wille, daß sie nachgibt. Das gilt für alle belanglosen Dinge.Wollten aber dann beide nachgeben, so schaue man, was das Vernünf-tigere und Bessere ist, und führe es dann ganz einfach aus. Man muß daverständig handeln; es wäre verkehrt, eine notwendige Arbeit zu unter-brechen und dafür Belangloses, das man von uns wünscht, zu tun. Habeich etwas vor, was mir viel Selbstüberwindung kostet, und eine Schwe-ster rät mir davon ab oder schlägt mir etwas anderes vor, so verschiebeich, wenn möglich, meine erste Absicht, tue das, was sie wünscht, undführe mein Vorhaben später aus. Kann ich es aber nicht aufschiebenund ist das, was die Schwester von mir haben möchte, nichts Notwen-diges, so bleibe ich bei dem, was ich angefangen habe.

Bittet eine Schwester um eine Gefälligkeit und man zeigt ihr im ers-ten Augenblick ein Widerstreben, so darf die betreffende Schwesterdarüber nicht verstimmt sein, sie soll tun, als hätte sie nichts gemerkt,und soll auch die Bitte nicht zurücknehmen. Wir können es nicht hin-dern, daß Gesichtsfarbe, Augen und Haltung den Kampf verraten, dersich im Innern abspielt, obwohl man ja der Vernunft folgen und derSchwester die Gefälligkeit erweisen will. Diese Boten kommen, ohnedaß man sie ausgesandt hat; und schickt man sie fort, so scheren siesich meist nicht darum. Warum auch sollte die Schwester dann nichtannehmen wollen, daß man ihr die gewünschte Gefälligkeit erweist?Bloß weil sie mir den Widerwillen angemerkt hat? Es soll ihr lieb sein,daß die andere Schwester dabei etwas für ihre Seele gewinnt. – Mansage auch nicht, daß man lästig zu fallen fürchte. – Das ist nur wiederdie Eigenliebe, die das verursacht; sie verträgt es nicht, auch nur imgeringsten für lästig gehalten zu werden; ich kann es ja nicht hindern,daß solche Gedanken in mir aufsteigen, aber hören darf ich nicht aufsie. – Wenn jedoch die andere Schwester die verräterischen Zeichennoch bestätigt und sagt, daß sie den Gefallen nicht tun mag, dann solldie Schwester, wenn sie der anderen gleichgestellt ist, nur ganz ruhigsagen, daß sie dann darauf verzichtet. – Freilich, wer in Amt und Stel-lung ist, darf nicht nachgeben, sondern muß die Untergebenen dazubringen, sich zu beugen … Ich darf mich aber nicht entmutigen lassenund glauben, von einer Schwester nichts mehr verlangen zu dürfen,

Page 146: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

14511. Gehorsam

selbst wenn sie mir etwas glatt verweigert und ihren Widerwillen offengezeigt hat; ich darf mich auch an ihrer Unvollkommenheit nicht sto-ßen, denn heute muß ich sie ertragen, morgen muß sie mich ertragen;heute hat sie keine Lust, mir einen Dienst zu erweisen, ein andermalwird sie es recht gern tun. Hätte ich allerdings den Eindruck, daß dieSchwester in ihrer Geistesbildung noch nicht so weit ist, so würde ichabwarten, bis sie etwas bereitwilliger geworden ist.

Wir alle müssen die Fehler der anderen ertragen können und dürfenuns darüber nicht wundern. Sind wir auch selbst einmal eine Zeitlangin keinen Fehler gefallen, so kommt doch wieder eine Zeit, da wir ineinem fort fallen und einen groben Fehler nach dem anderen begehenwerden. Diese Fehler sollen uns auch wieder Nutzen bringen, indemsie uns offenbaren, wie wenig wir wert sind. Wir müssen es dann gedul-dig hinnehmen, wenn wir noch nicht so schnell vollkommen werden,aber immer frohen Mutes alles tun, was wir nur tun können, um uns zubessern.

In Versuchungen, die eine Gefahr zur Sünde sind, dürfen wir es ma-chen wie der hl. Paulus und Gott bitten, uns davon zu befreien. Dreimalhat er den Herrn angefleht, daß der „Stachel im Fleisch“ weichen möge,und wenn der Herr ihm nicht geantwortet hätte, so hätte er beharrlichweiter gebetet. Nachdem der Heiland ihm aber gesagt: „Es genügt dirmeine Gnade, denn die Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollen-dung“ (2 Kor 12,9), war trotz des Kampfes eine große Ruhe in ihm. Sowird Gott in unseren Versuchungen – und hätten wir deren noch soviele und vielerlei – verherrlicht, solange wir ihn nicht beleidigen. Denngewaltig stark muß seine Gnade und Macht sein, da sie uns bei allunserer Schwachheit aufrecht hält und uns die Kraft gibt, vollkommenzu werden. Solange wir aber in unseren Fehlern stecken bleiben, schmä-lern wir darin die Ehre Gottes.

Diese Biegsamkeit, die sich gerne dem Willen anderer fügt, erwirbtman, indem man während der Betrachtung häufig Akte williger Annah-me alles dessen erweckt, was kommen mag – und dann diese Gesin-nung bei den Gelegenheiten, die sich darbieten, durch die Tat bestätigt.Es genügt nicht, wenn man nur vor Gott sich von allem loslöst; dasspielt sich ja nur in unserer Phantasie ab und ist nicht schwer. Aberwenn wir es wirklich tun müssen, wenn wir uns Gott hingegeben habenund nun ein Geschöpf kommt und etwas von uns verlangt, das ist schonetwas ganz anderes – und dann heißt es sich als tapfer erweisen.

Page 147: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

146 11. Gehorsam

Diese liebenswürdige Nachgiebigkeit dem Nächsten gegenüber isteine kostbare Tugend. Sie ist das Symbol des Gebetes der Einigung.Dieses Beten ist nichts anderes als ein vollständiges Verzichten auf unsselbst, um uns ganz Gott hinzugeben. Wenn die Seele in Wahrheit sa-gen darf: Herr, ich habe nur mehr Deinen Willen, dann ist sie mit Gottganz eins geworden. Und wenn wir unseren Willen aufgeben, um denWillen des Nächsten zu tun, dann sind wir mit dem Nächsten ganz einsgeworden, was aus Liebe zu Gott geschehen muß.

8. Es kommt oft vor, daß eine schwächliche und wenig begabte Per-son, die nur kleine Taten vollbringen kann, diese mit so viel Liebe tut,daß sie an Wert weit über großen und erhabenen Taten stehen. Bei gro-ßen findet man weniger Liebe, weil sie große Aufmerksamkeit erregenund darüber viel geredet wird. Wird aber ein großes Werk mit ebensoviel Liebe getan wie ein kleines, dann sind Verdienst und Belohnungnur umso größer. Mit einem Wort, die Liebe gibt den Werken den Wert,darum müssen wir das Gute aus Liebe zu Gott tun und das Böse ausLiebe zu Gott meiden. Gute Handlungen, die uns nicht befohlen sind,die also nicht der Gehorsam verdienstlich macht, kann die Liebe dannverdienstlich machen. Im übrigen können wir trotzdem alles im Ge-horsam tun, weil Gott uns alle Tugenden geboten hat. – Mit einemWort: Guten Mut haben und nur von Gott abhängen! – Das ist dasKennzeichen der Töchter der Heimsuchung, daß sie in allem nur aufGottes Willen schauen und ihm folgen.

9. Ihr fragt, ob ihr während des Stillschweigens bei der Arbeit das AveMaris Stella oder Veni Creator oder andere Gebetlein verrichten dürft,wenn ihr euch dazu angeregt fühlt. Das könnt ihr ohne weiteres tun, esist gut so zu beten und verdienstlich wie andere kleine gute Werke, wiez. B. das Küssen eines Andachtsbildchens und dergleichen mehr. Nurdürfen diese kleinen Sachen nicht auf Kosten eines größeren Werkesgehen. Ein Beispiel: Ihr möchtet gerne vor dem Allerheiligsten dreiVaterunser zu Ehren der allerheiligsten Dreifaltigkeit beten, – da ruftman euch ab. Ihr müßt sogleich gehen und zu Ehren der AllerheiligstenDreifaltigkeit dann statt dieser drei Vaterunser das andere verrichten.Für manche Seelen sind diese Dinge nützlich, andere wieder brauchensie nicht. Es gibt im Garten vielerlei Kräuter, und wenn auch eines dasbeste von allen ist, so ist damit nicht doch gesagt, daß man nur dieseszum Kochen verwendet.

Page 148: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

14711. Gehorsam

Das gleiche wäre über die anderen Tugendakte, Stoßgebetlein undKniebeugen zu sagen. Wenn man sie auch gewissenhaft einhalten muß,so darf man sich doch nicht binden, im Tage oder während einer be-stimmten Zeit so und so viele zu machen, ohne es der Oberin zu sagen.Habt ihr den Eindruck, daß der Heilige Geist euch zu diesen Übungenoder zu sonstigen Gebetlein angeregt hat, so wird es ihm recht sein,wenn ihr um Erlaubnis dafür bittet, ja sogar wenn ihr sie unterlaßt, fallseuch die Erlaubnis dazu verweigert wird. Denn nichts ist ihm wohlge-fälliger als der klösterliche Gehorsam. So könnt ihr also niemand ver-sprechen, so und so viele Vaterunser für ihn zu beten. Bittet man euchdarum, so sagt ganz einfach, daß ihr erst die Erlaubnis einholen müßt.Empfiehlt man sich aber nur eurem Gebet, so antwortet, daß ihr die-sem Wunsch gern nachkommen werdet, und betet sogleich für den Be-treffenden. Mit den heiligen Kommunionen ist es nicht anders, dennihr dürft sie für niemand ohne Erlaubnis aufopfern. Wenn ihr abergerade zur heiligen Kommunion geht und es kommen euch vor derheiligen Kommunion die großen Anliegen des christlichen Volkes inden Sinn, so dürft ihr sie schon Gott vortragen und ihn um seine Hilfebitten; das ist keineswegs verboten; im Gegenteil, euer Gebet gefälltGott umso mehr, je allgemeiner es ist. Wollt ihr aber die heilige Kom-munion in einer ganz bestimmten Meinung empfangen, dann müßt ihrerst um Erlaubnis bitten, außer es handelt sich um eure eigensten Be-dürfnisse, z. B. um die Kraft in Versuchungen oder um eine Tugend zuerbitten.

Page 149: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

148 12. Tugend des Gehorsams

12. Gespräch

Die TDie TDie TDie TDie Tugend des Gehorsamsugend des Gehorsamsugend des Gehorsamsugend des Gehorsamsugend des Gehorsams11111

Zuerst möchte ich sagen, daß mir schon gestern Abend einige Fragenvorgelegt wurden, von denen zwei sich auf dasselbe bezogen, nämlich,was Herzensruhe, was Seelenfrieden sei und wie man dazu gelange. Aufdiese Fragen gehe ich heute nicht ein.

Eine andere lautete: ob es erlaubt ist, sich bei den Schwestern auszu-sprechen, wenn man von der Oberin oder Novizenmeisterin gedemü-tigt worden ist.

Eine Schwester möchte, daß ich ihr ein Mittel angebe, um das eigeneUrteil zu vernichten; eine andere, daß ich vom Eifer und Vertrauenspreche, mit dem die Schwestern sich gegenseitig auf Fehler aufmerk-sam machen sollen.

Zuletzt kam unsere Mutter mit dem Wunsch, etwas über den Gehor-sam zu hören. Da ihrem Alter und ihrer Würde als Mutter der Vorzuggebührt, habe ich mich dafür entschieden, in dieser Unterredung zu-erst diese Frage zu behandeln.

1. Es gibt drei Arten des religiösen Gehorsams; von einem anderenals dem religiösen Gehorsam will ich ja nicht sprechen:

1) der alle Christen gleicherweise verpflichtende Gehorsam gegen-über den Geboten Gottes und der Kirche;

2) der klösterliche Gehorsam, der sich nicht nur an die Gebote Gotteshält, sondern darüber hinaus noch die evangelischen Räte befolgt. Ersteht höher als der gewöhnliche Gehorsam aller Christen;

3) der Gehorsam aus Liebe. Das ist der vollkommene Gehorsam,und von ihm will ich reden. Es ist der Gehorsam, den der Heiland unsin seinem ganzen Leben vorgelebt hat. Die Heilige Schrift ist unend-lich reich an herrlichen Beispielen solchen Liebesgehorsams. Ihr wer-det sie besser verstehen, wenn ich die Eigenschaften und Bedingungendieses Liebesgehorsams erklärt habe.

Die Väter haben ihm verschiedene Eigenschaften zugeschrieben, vondenen ich drei herausgreife: Wer aus Liebe gehorcht, gehorcht 1. blind,2. rasch, 3. beharrlich.

2. Zum blinden Gehorchen gehören drei Bedingungen:1) er schaut nicht auf die Person des Oberen, sondern allein auf seine

Autorität;

Page 150: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

14912. Tugend des Gehorsams

2) er fragt nicht nach den Gründen und Beweggründen, die den Obe-ren veranlassen, dies oder jenes zu befehlen. Es genügt ihm zu wissen,daß der Befehl gegeben wird.

3) er fragt nicht lang, wie er den Befehl ausführen kann; er macht sichganz einfach daran in der Überzeugung, daß der Befehl von Gott kommtund folglich Gott ihm auch die Möglichkeit zur Ausführung gebenwird. Statt sich lang zu besinnen, wie er es tun soll, handelt er ganzeinfach.

Sehen wir uns nun die erste Eigenschaft dieses Gehorsams aus Liebe,der dem klösterlichen Gehorsam gleichsam aufgepfropft ist, etwas nä-her an.

3. Der Gehorsam ist erstens blind, wenn man sich in aller Einfaltdaran macht, alles mit Liebe zu tun, was uns befohlen wird, unbe-kümmert darum, ob die Anordnung richtig oder falsch gegeben ist, -vorausgesetzt natürlich, daß der Befehlende das Recht zu befehlen hatund der Befehl selbst die Vereinigung unserer Seele mit Gott fördert;2

wenn dies nicht zutrifft, gibt es keinen Gehorsam. Manche haben sichvon dieser Eigenschaft des Gehorsams ein ganz falsches Bild gemacht;sie glaubten, er bestünde darin, daß man unterschiedslos jeden Befehlausführen müsse, selbst dann, wenn er in Widerspruch mit den Gebo-ten Gottes und der Kirche stünde. – Das wäre doch Wahnsinn. Stimmtein Befehl nicht mit den Geboten Gottes überein, so haben dieVorgesetzten kein Recht, ihn zu erteilen, und die Untergebenen keineVerpflichtung, ihn auszuführen; sie würden sich sogar einer schwerenSünde schuldig machen, wenn sie gehorchten.

Ich weiß nun wohl, daß es Menschen gegeben hat, die sich durch denGehorsam zu Handlungen verleiten ließen, die den Geboten Gottesentgegen zu sein schienen. Ihre Triebfeder war dabei dieser Gehorsamaus Liebe, der nicht nur auf die ausdrücklichen Befehle, sondern auchauf die Ratschläge und Wünsche der Oberen eingeht. – Es haben sichMenschen in den Tod gestürzt, weil sie sich dazu so stark von Gottangetrieben fühlten, daß sie keinen Widerstand leisten konnten. Im 2.Buch der Makkabäer (14,37-46) wird erzählt, daß ein gewisser Rasi,vom Eifer für Gottes Ehre erfaßt, sich freiwillig der Verwundung unddem Tod ausgesetzt, und da er schwer verwundet war, seine Eingeweideaus der Wunde gezogen und vor dem Feind in die Luft geschleuderthabe. – Die hl. Apollonia stürzte sich ins Feuer, das die Feinde Gottesund des Christentums für sie vorbereitet hatten. – Der hl. Ambrosius

Page 151: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

150 12. Tugend des Gehorsams

erzählt die Geschichte dreier Mädchen, die, um ihre Keuschheit zubewahren, in einen Fluß sprangen und in den Fluten untergingen. Siehatten allerdings ihre Gründe, dies zu tun, die ich hier nicht des langenund breiten auseinandersetzen kann. – Das alles dürfen wir wohl bewun-dern, aber nicht nachmachen.

Und es bleibt dabei: Unser Gehorsam darf nicht so blind sein, daßman glaube, Gott wohlgefällig zu handeln, wenn man gegen sein Gebotgeht. Der Gehorsam aus Liebe setzt voraus, daß man den Geboten Got-tes gehorcht.

4. Man nennt diesen Gehorsam einen blinden, weil man sich da je-dem Oberen in gleicher Weise unterwirft, ohne auf das Äußere, dasheißt, ohne auf die Person zu schauen.

Alle Väter wenden sich scharf gegen die Ordensleute, die ihren Obe-ren keine Achtung entgegenbringen, weil sie weniger begabt als sieselber sind. Sie fragen: Warum habt ihr den vorigen Oberen gehorcht?Etwa Gott zuliebe? O nein! Ist denn der jetzige Obere nicht genau so gutStellvertreter Gottes wie sein Vorgänger? Gewiß ist er es; Gott befiehltdurch seinen Mund und gibt seinen Willen durch die Anordnungen desOberen kund. Ihr gehorcht, weil ihr euch zu den Vorgesetzten hinge-zogen fühlt? Ach, da tut ihr um kein Haar mehr als die Weltleute, dienicht nur jenen gehorchen, die sie lieben, sondern in ihrer Liebe keineBefriedigung fänden, wenn sie nicht auch auf deren Wünsche und Nei-gungen eingingen. So muß man es auch machen, wenn man echten Ge-horsam üben will, sowohl den Vorgesetzten wie Gott gegenüber.

Die Heiden geben uns bei all ihrer Bosheit doch staunenswerte Bei-spiele solch blinden Gehorsams: Der Teufel redete zu ihnen durch ver-schiedene Götzenbilder, Bildnisse von Ratten, Hunden, Löwen, Schlan-gen und dergleichen. Und die armen Menschen glaubten an all das undgehorchten ohne Unterschied ebenso Statuen von Hunden wie von Men-schen, die es ebenfalls gab. Und warum das? Weil sie eben in diesenverschiedenen Standbildern Götter sahen.

Der hl. Petrus schärft uns den Gehorsam gegen die Vorgesetzten ein,wenn er sagt: „Unterwerft euch; ich sage noch mehr: Unterwerft euchden Vorgesetzten auch dann, wenn sie schlecht sind“ (Petr 2,18).

Der hl. Paulus ist uns dafür ein Vorbild. Als er eines Tages vor denHohepriester geführt wurde, schlug einer der Umstehenden ihn frechauf den Mund. Paulus, der sich ungerechterweise geschlagen sah, schaltdiesen kraft seiner apostolischen Gewalt und sagte: „Dich wird Gott

Page 152: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

15112. Tugend des Gehorsams

schlagen, du übertünchte Wand.“ Als er aber hörte, daß dieser MannAuftrag und Amt vom Hohepriester hatte, bereute er seine Worte undsagte zum Beweise seines Bedauerns: „Ich wußte“ das „nicht“; wir Chri-sten sind angehalten, jeden zu achten, der über uns gesetzt ist.

Der Heiland, Unsere Liebe Frau und der hl. Josef haben uns auf ihrerReise nach Betlehem gezeigt, wie man gehorchen muß. Als der Kaiserden Befehl erlassen hatte, daß alle Untertanen sich zur Volkszählungan ihren Geburtsort begeben müßten, machten sie sich auf den Wegund gehorchten, obwohl der Kaiser ein Heide und ein Götzenanbeterwar. Der Heiland wollte uns damit zeigen, daß wir nicht auf die Persondes Befehlenden schauen sollen, sofern er nur das Recht zu befehlenhat.

Die Heilige Schrift berichtet, wie gesagt, so manch staunenswertesBeispiel des blinden Gehorsams. Von allen ist besonders eines sehrbeachtenswert, wenn auch wenig bekannt: Ich meine die Geschichtevom Gelähmten (Lk 5,17-26). Ich habe sie so gern, weil dieser Mannmit unvergleichlicher Einfachheit alles mit sich geschehen ließ.

5. Gehen wir jetzt zur zweiten Eigenschaft des blinden Gehorsamsüber. Hat der Gehorsame einmal gelernt, nicht mehr auf die Person zuschauen, sondern sich jedem Oberen, wie er auch sein mag, zu fügen,dann geht er noch einen Schritt weiter und bemüht sich, die zweiteBedingung zu erfüllen: er gehorcht, ohne nach der Absicht und nachdem Zweck des Befehles zu fragen. Der Befehl ist gegeben, das genügtihm, er untersucht nicht, ob er richtig oder falsch, berechtigt oder un-berechtigt ist.

Der Gelähmte, den ich soeben erwähnte, war schon seit langem krankund alle Mittel halfen nichts. Seine Freunde sprachen unter sich dar-über und meinten, wenn der Herr ihn sähe, könnte er ihn gewiß heilen.Und sie beschlossen, ihn bei Gelegenheit zum Heiland hinzutragen.Eines Tages nun benachrichtigte man sie, daß Jesus in ein Haus hinein-gegangen und dort zum Mahl eingeladen sei. Jesus saß also dort, um-ringt von einer Menge Volkes; sein Ruf als Wundertäter war so groß,daß alle kamen, um ihn zu sehen oder von ihm geheilt zu werden. Umden Gelähmten nun zum Heiland bringen zu können, gebrauchten sei-ne Freunde eine List: Sie trugen den Kranken auf das Dach des Hauses,deckten es ab und ließen ihn mit Stricken gerade vor Jesus hinab. Undder Herr machte ihn sogleich gesund. Er tat das, weil er den großenGlauben des Gelähmten und die Freundesliebe dieser guten Leute sah.

Page 153: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

152 12. Tugend des Gehorsams

– Aber wißt ihr, was mir an diesem Beispiel noch besser gefällt und wasso gut zu unserem Thema vom blinden Gehorsam paßt? Es ist dieüberaus große Einfalt des Gelähmten in seinem Gehorsam. Hätte ernicht mit Recht sagen können: „Was macht ihr denn da mit mir? Wennihr mich auf das Dach hinaufbringt, so kann das mein Tod sein! Washabe ich euch denn getan, daß ihr mich so quält?“ – Er hätte vollaufrecht gehabt, sich auf einen schlimmen Ausgang dieses Wagnisses ge-faßt zu machen. Aber nichts von all dem. Das Evangelium berichtetkein Wort, daß er so etwas gesagt hätte; er ließ vielmehr alles mit sichmachen, obwohl ihm dieser Gehorsam das Leben hätte kosten können.– Berühmt ist auch diese Begebenheit aus dem Leben des PatriarchenAbraham: Gott sagt zu ihm: Abraham, „ziehe hinweg aus dem Landund von deiner Sippe,“ das heißt, ziehe fort aus deiner Stadt. „undkomme in das Land, welches ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1). HätteAbraham da nicht sagen können: „Ach Herr, du heißt mich die Stadtverlassen, sag mir doch, welche Richtung ich einschlagen soll.“ Er sagtaber kein Wort, fragt nicht, ob er den richtigen Weg geht, sondern ziehtdorthin, wohin Gottes Geist ihn führt. – So führt auch der wahrhaftGehorsame keine derartigen Reden, sondern macht sich ganz einfachans Werk und will nichts weiter als gehorchen.

Sein Wohlgefallen am blinden Gehorsam zeigt uns der Herr bei derBekehrung des hl. Paulus: Er rief ihn beim Namen, schleuderte ihn zuBoden und nahm ihm das Augenlicht. Seht, er wollte ihn zu seinemApostel machen, deshalb brachte er ihn zu Fall; er sollte demütig undgefügig werden. Deshalb machte er ihn auch blind und befahl ihm dann,in die Stadt zu Hananias zu gehen und alles zu tun, was dieser ihmsagen werde. Warum aber sagt ihm das der Herr nicht selber, warumschickt er ihn dorthin, nachdem er ihm doch eben die Gnade erwiesen,ihn anzureden, um ihn zu bekehren? Paulus aber tut, was ihm befohlen.Das, was Hananias ihm sagen sollte, hätte der Heiland sehr wohl bessersagen können. Jesus aber wollte, daß wir an diesem Beispiel leichterbegreifen lernen, wie lieb ihm der blinde Gehorsam ist; es scheint ja,als habe er Paulus nur deshalb blind gemacht, um ihn zum wahrenGlauben zu bringen.

Als der Blindgeborene vor dem Heiland stand, erbat er sich nicht dieHeilung, sondern der Heiland fragte ihn, ob er sehend werden wolle:„O ja, ob ich will, ich bitte Dich innig darum.“ Da „bereitete“ derHeiland „einen Teig und bestrich damit die Augen des Blinden und

Page 154: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

15312. Tugend des Gehorsams

befahl ihm, sich im Teiche Schiloach zu waschen“. Hätte sich da derKranke nicht über ein solches Mittel wundern können und sagen: „MeinGott, was machst Du da mit mir? Wäre ich nicht schon blind, dannmüßte ich es jetzt werden. Und im Teich soll ich mich waschen? Sobringe mich hin, Du siehst doch, daß ich da nur hinkommen kann,wenn man mich führt.“ Der Mann aber gehorcht ganz einfach, er hatkeine Bedenken, er macht sich auf den Weg und kümmert sich nichtdarum, ob er dazu auch fähig ist (Joh 9,1-12). Der wahrhaft Gehorsametraut sich alles zu, was man von ihm verlangt, weil er überzeugt ist, daßalle Befehle von Gott kommen oder doch von ihm eingegeben sind,somit wegen der Allmacht dessen, der gebietet, nicht unausführbar seinkönnen.

Der aussätzige Syrer Naaman (2 Kön 5,9-11) suchte Elischa auf, da-mit dieser ihn heile; denn alles, was er bisher versucht hatte, um geheiltzu werden, hatte nichts genutzt. Er wußte, daß Elischa große Wunderwirkte, und so machte er sich auf den Weg. Als er dort angelangt war,schickte er einen seiner Leute zu dem Propheten hinein mit der Bitte,herauszukommen und ihn zu heilen. Elischa aber trat nicht heraus,sondern ließ dem Naaman durch seinen Diener oder Schüler Gehasisagen, er solle sich siebenmal im Jordan baden, dann würde er geheiltsein. Da ward Naaman zornig und sprach: „Sind denn die Flüsse mei-ner Heimat nicht ebenso gut wie die Wasser des Jordan?“ und er wolltesich nicht darin baden. Seine Leute redeten ihm aber zu, doch ja zu tun,was der Prophet so ausdrücklich befohlen habe, umso mehr, als es leichtdurchführbar sei: „Hätte er etwas sehr Schwieriges verlangt,“ sagtensie, „so wäre das schließlich eher ein Grund, nicht zu gehorchen.“Naaman ließ sich von seinen Leuten überzeugen, er badete sich sieben-mal, wie ihm befohlen, und wurde gesund.

6. Nun zur dritten Eigenschaft des blinden Gehorsams: Er bedenktsich nicht lange und fragt auch nicht lange nach Mitteln und Wegen, denBefehl auszuführen. Er weiß, daß die Ordensregeln und die An-ordnungen der Oberen der Weg zu Gott sind, und so schlägt er ihn inaller Einfalt des Herzens ein, ohne darüber nachzugrübeln, ob er esvielleicht nicht doch besser anders mache. Er gehorcht, und das genügt,um Gott zu gefallen, dem zuliebe er ja in aller Einfachheit und in allerLiebe gehorcht.

7. Der Gehorsam aus Liebe hat, wie gesagt, noch eine zweite Eigen-schaft: er handelt rasch. Schon immer hat man den Ordensleuten einge-

Page 155: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

154 12. Tugend des Gehorsams

schärft, daß der flinke Gehorsam wesentlich zum guten Gehorsam gehö-re und nur so das Gelübde vollkommen durchgeführt werden könne. Andieser Art und Weise zu gehorchen wollte Elieser die Braut erkennen,die Gott für den Sohn seines Herrn erkoren (Gen 24,14-22): „Die ichbitten werde: Gib mir zu trinken, und die mir dann sagt: Nicht nur dir,sondern auch deinen Kamelen will ich Wasser geben, die erkenne ich alsdie Braut, die des Sohnes meines Herrn würdig ist.“ Und während er dieserwog, sah er die schöne Rebekka, das Hirtenmädchen, kommen, dasdann eine Prinzessin werden sollte. Elieser sah sie in ihrer ganzen Schön-heit und Anmut am Brunnen stehen; sie schöpfte Wasser, um ihre Schafezu tränken. Da brachte er seine Bitte vor und das Mädchen antwortete inseinem Sinn: „Ja gern, und nicht nur dir, auch deinen Kamelen will ichzu trinken geben.“ Seht, wie eilfertig und liebenswürdig sie ist. Großzü-gig scheut sie keine Mühe, denn für all die vielen Kamele, die Eliesermitgeführt hatte, mußte sie viel Wasser schöpfen.

Kein Zweifel, ein mißmutiges Gehorchen stößt ab. Da gibt es man-che, die wohl gehorchen, aber so lässig und unfreundlich, daß sie dasVerdienst ihres Gehorsams damit stark vermindern. Gehorsam undLiebe gehören so eng zusammen, daß sie voneinander nicht zu trennensind. Die Liebe läßt uns rasch und mit froher Miene gehorchen. Ist dieSache, die befohlen wird, noch so schwer, so wird sie doch mit Liebe inAngriff genommen, wenn aus Liebe gehorcht wird. – Zur Demut gehörtauch der Gehorsam; wer demütig ist, liebt es über alles, sich unterzu-ordnen, und deshalb haben die Gehorsamen es überaus gern, wennman ihnen befiehlt. Bevor der Befehl noch ganz ausgesprochen ist,bevor sie noch wissen, wie er ausfällt, ob nach ihrem Geschmack odernicht, nehmen sie ihn an, begrüßen ihn, heißen ihn freudig willkom-men und er ist ihnen überaus teuer.

Ich will euch aus dem Leben des hl. Pachomius ein Beispiel solchraschen Gehorchens erzählen. Pachomius hatte unter seinen Möncheneinen, der Jonas hieß und außerordentlich tugendhaft und vollkom-men war. Er hatte den Garten zu besorgen, in dem ein Feigenbaum mitwunderschönen, verlockenden Früchten stand. Dieser Baum war nunfür die jungen Ordensleute eine Versuchung und immer, wenn sie dar-an vorüberkamen, schielten sie ein bißchen nach den Feigen hin. EinesTages ging Pachomius im Garten spazieren, und als er zu dem Baumhinüberschaute, sah er oben in den Zweigen den Teufel sitzen und sobegehrlich auf die Feigen herunterschauen, wie die Ordensbrüder hin-

Page 156: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

15512. Tugend des Gehorsams

aufzuschauen pflegten. Sogleich rief der große Heilige den Bruder Jonaszu sich her und befahl ihm, den Feigenbaum am nächsten Tag in allerFrühe umzuhauen; denn er wollte seine Mönche zur Abtötung der Sin-ne nicht weniger sorgfältig erziehen als zur Ertötung der ungeordnetenLeidenschaften und Neigungen. Da sagte Jonas: „Ach, habt ein wenigNachsicht mit den jungen Leutchen, mein Vater! Was wollen Sie, essind ja gute Kinder, die schließlich auch eine Freude haben müssen.Für mich will ich den Baum gewiß nicht stehen lassen.“ Und damitsagte er die Wahrheit, denn schon 75 Jahre war er im Kloster und hattenoch nie eine Frucht verkostet, den Mitbrüdern gegenüber war er aberdamit sehr freigebig. Darauf sagte der hl. Pachomius in aller Ruhe:„Nun gut, mein lieber Bruder, du hast weder einfach noch sofort gehor-chen wollen; ich will wetten, daß der Baum gehorsamer ist als du.“Und wirklich, am nächsten Tag war der Baum ganz dürr und trug niemehr Früchte.

Der Herr hat uns sein Leben lang viele Beispiele solch schnellenGehorchens gegeben. Wer hat sich je so willig und so geschwind demWillen eines jeden gefügt? Denn es genügt einem liebreichen Herzennicht, nur das zu tun, was befohlen ist und gewünscht wird, es will auchrasch gehorchen. Kaum ist ein Befehl ausgeführt, sehnt sich das lieben-de Herz schon wieder nach einem neuen. – David sprach bloß deneinfachen Wunsch aus, „Wasser aus der Zisterne in Betlehem“ zu trin-ken, und schon eilten drei Helden schnurstracks durch das feindlicheHeerlager und holten den Trunk (2 Sam 23,15-16). Sie waren sofortbereit, den Wunsch des Königs zu erfüllen. – Ebenso rasch handeltenviele Heilige, wenn es galt, auf die Anregungen und Wünsche des Kö-nigs aller Könige einzugehen. Hat der Heiland z. B. der hl. Katharinavon Siena befohlen, den Eiter von der Wunde jener armen Frau, die siepflegte, mit der Zunge wegzulecken? Hat der Heiland dem hl. Ludwigaufgetragen, mit Aussätzigen aus einer Schüssel zu essen, damit diesesich überhaupt zu essen getrauten? Diese Heiligen waren in keinerWeise verpflichtet, derartige Dinge zu tun. Sie wußten aber, daß derHeiland die Selbstverleugnung liebt, – er hat seine Vorliebe dafür oftgenug ausgesprochen – und so taten sie alle diese Dinge, obwohl ihreSinne sich dagegen sträubten, und taten es mit großer Liebe. Wir sindverpflichtet, dem Nächsten in äußerster Not beizuspringen, darüberhinaus besteht für uns kein Gebot; weil jedoch Almosengeben ein Ratdes Herrn ist, spenden manche, so viel sie nur können. Diesem Gehor-

Page 157: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

156 12. Tugend des Gehorsams

sam gegenüber den evangelischen Räten ist der liebevolle Gehorsamaufgepfropft, der sogar auf die Wünsche und Absichten Gottes und derVorgesetzten mit größter Gewissenhaftigkeit eingeht.

Hier möchte ich aber jene vor einer Täuschung bewahren, die immerdarauf aus sind, zu suchen, was Gott oder die Vorgesetzten gern habenmöchten oder gerne sähen, und so ganz außer Atem kommen. Das hie-ße gewiß seine Zeit vergeuden. Während ich nämlich darüber nach-sinne, was Gott jetzt von mir haben möchte, versäume ich es, mich beiihm ganz ruhig und friedlich aufzuhalten, was er doch jetzt von mirwünscht, sonst hätte er mir etwas anderes zu verstehen gegeben. Wervon Stadt zu Stadt eilen wollte, um sie alle nach Hilfsbedürftigen zudurchsuchen und ihnen nach dem Wunsch des Heilands beizustehen,könnte doch nicht allen helfen, denn während er den Armen in dereinen Stadt beisteht, muß er die Armen der anderen Stadt vernachläs-sigen. Seien wir also auch darin ganz einfach, geben wir Almosen, wosich Gelegenheit bietet, und laufen wir nicht alle Straßen und Häuserab, weil da irgendwo ein Bedürftiger sein könnte.

Wenn ich merke, daß die Oberin etwas gerne haben möchte, dannverhalte ich mich ebenso: ich gehe sofort darauf ein und untersuchenicht, ob sie es vielleicht lieber hat, wenn ich etwas anderes tue; ichbringe mich ja sonst um die köstlichsten Früchte des liebenden Gehor-sams: um die Herzensruhe und den inneren Frieden.

8. Die dritte Eigenschaft ist die Beharrlichkeit. Der Herr hat uns dieseBeharrlichkeit im Gehorchen ganz besonders eindringlich gelehrt. Dasbestätigt der hl. Paulus mit den Worten: „Er war gehorsam bis zum Tod,ja bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8). Dieses „bis zum Tod“ besagt, daßder Herr sein ganzes Leben lang gehorcht hat, ja schon im Mutterschoß,da er sich von Nazaret nach Betlehem tragen ließ. Fast möchte mir schei-nen, als wäre er in seinem Sterben noch gehorsamer als am Anfang seinesLebens. Bewegte er doch auf den Armen seiner Mutter Händlein undFüßlein und versuchte das Gehen. Bei seinem Tod aber regt er sich nichtmehr, sondern stirbt unbeweglich aus Gehorsam. So sieht man ihn seinLeben hindurch andauernd gehorchen. Er gehorcht den Eltern, er ge-horcht auch vielen anderen, ja selbst gottlosen Menschen. Mit einem Aktdes Gehorsams tritt er ins Leben, mit einem Akt des Gehorsams vollen-det er sein irdisches Leben.

Für diesen beharrlichen Gehorsam gibt uns der schon erwähnte guteBruder Jonas zwei schöne Beispiele. Wohl tat er damals nicht, was der

Page 158: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

15712. Tugend des Gehorsams

hl. Pachomius von ihm verlangte, aber trotzdem war er ein sehr voll-kommener Ordensmann. Gerade in Anbetracht seines beharrlichenGehorsams möchte es uns scheinen, als hätte ihm der hl. Pachomiusdie Erhaltung des Feigenbaumes nicht abschlagen sollen, denn vomTag seines Eintrittes ins Kloster bis zu seinem Tod war und blieb erGärtner. In den 75 Jahren seines Ordenslebens vertauschte er diesesAmt mit keinem anderen. Das zweite Beispiel beharrlichen Gehor-sams gab er, indem er sein Leben lang nur Matten aus Binsen und Palm-blättern flocht, wenn er gerade im Garten nichts zu tun hatte. Er starbmitten in dieser Beschäftigung, und man fand ihn tot zusammen-gekauert, die Matte noch auf den Knien. Diese Arbeit war ihm so zurGewohnheit geworden, daß er ganz gut zugleich dabei betrachten konn-te. Es ist ein Beweis von hoher Tugend, so beharrlich bei ein und der-selben Beschäftigung auszuhalten. – Es gehört nichts dazu, einen ein-maligen Auftrag fröhlich auszuführen, besonders wenn man ihn gerntut. Wenn es aber heißt: das mußt du jetzt dein Leben lang immer tun,das ist schwer und da kann man sich bewähren.

9. Das wäre es nun, was ich über den Gehorsam sagen wollte. Dazunoch dies: Die Tugend des Gehorsams hat einen so hohen Wert, daß sieder Liebe ebenbürtig zur Seite steht. Diese beiden Tugenden geben allenanderen Tugenden überhaupt erst Wert und Bedeutung; ohne die Liebeund ohne den Gehorsam sind sie alle so gut wie nichts. Habt ihr diesebeiden, dann habt ihr alle, fehlen sie euch, dann fehlen euch alle.

Sehen wir jetzt vom allgemein verpflichtenden Gehorsam gegen dieGebote Gottes ganz ab und reden wir nur vom klösterlichen Gehor-sam. Eine Ordensperson, die nicht gehorcht, hat überhaupt keine Tu-gend. Gerade der Gehorsam macht uns eigentlich erst zu Ordensleuten;er ist ja die dem Ordensleben eigene und eigentümliche Tugend. Selbstdas Verlangen nach dem Martyrium aus Liebe zu Gott hat ohne denGehorsam gar keinen Wert. Das hat ein Schüler des hl. Pachomius ansich erfahren. Ich erzähle so gern etwas von diesem Vater, weil er eingroßer Heiliger und Vater der Ordensleute war. Sein Biograph oder erselbst berichtet: Eines Tages bat ein junger Mann, ins Kloster auf-genommen zu werden. Es wurde ihm gewährt, er bestand das Probejahrin vorbildlicher Demut und hielt beharrlich durch. Überall sind ja dieNovizen im Noviziatsjahr so tüchtig. Man sieht es ihnen an, wie sie dieAbtötung so schön üben, die Augen so sittsam senken. Um nun aufunsere Geschichte zurückzukommen: Der junge Ordensmann begab

Page 159: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

158 12. Tugend des Gehorsams

sich nach seinem Probejahr zum hl. Pachomius und sagte: „Mein Vater,ich bitte Euch demütig, innig für mich von Gott die Erfüllung einesWunsches zu erbitten.“ – „Schon gut, mein Sohn, den Wunsch abermußt du mir sagen.“ – „Mein Vater, ich bitte Euch, Ihr müßt mir ver-sprechen, darum zu beten und auch die Mitbrüder zum Beten aufzufor-dern.“ – Der gute Vater drängte darauf zu wissen, was das für ein Wunschsei, und endlich gestand der junge Mönch, daß er sich das Martyriumwünsche und ohne diese Erfüllung nie glücklich sein könne. Der Vatertrachtete, diesen Eifer zu mäßigen; je mehr er sich aber bemühte, destohitziger verlangte der junge Ordensmann danach. Da meinte der hl.Pachomius: „Mein Sohn, besser im Gehorsam leben und Tag für Tag infortwährender Selbstverleugnung sich und seinen Leidenschaften ab-sterben, als sich das Gehirn zu zermartern. Genug erduldet, wer sichselbst verleugnet. Ein Leben lang beharrlich gehorchen, ist ein größe-res Martyrium, als durch einen einzigen Schwertstreich getötet wer-den. Lebe getrost weiter, mein Sohn, bring deinen Geist zur Ruhe undschlage dir diese Gedanken aus dem Kopf.“ Der junge Bruder aberversicherte, daß der Heilige Geist ihm diesen Wunsch eingegeben; mitunvermindertem Eifer hielt er daran fest und drängte den guten Vater,um die Erfüllung seines Herzenswunsches beten zu lassen, worauf dergute Vater von der Sache nicht mehr sprach.

Nach einiger Zeit kam für den jungen Ordensmann erfreuliche Nach-richt. Sarazenen drangen bis auf einen Berg nahe beim Kloster vor. Derhl. Pachomius rief nun den Bruder zu sich und sagte: „Mein Sohn, jetztist für dich die heißersehnte Stunde gekommen. Begib dich in allerFrühe auf diesen Berg zum Holzfällen.“ Außer sich vor Freude machtesich der Bruder auf den Weg, er jubelte und sang Lob- und Dan-keshymnen, daß Gott ihm die Ehre erweisen wolle, aus Liebe zu ihmsterben zu dürfen. Er ahnte nicht im geringsten, was sich nun gleichereignen sollte. Als die Räuber seiner gewahr wurden, gingen sie schnur-stracks auf ihn los und packten ihn. Einige Zeit hielt er sich tapfer undsagte immer nur: „Ich will nichts anderes als für meinen Gott sterben,“und dergleichen mehr. Die Sarazenen schleppten ihn nun vor ihr Göt-zenbild, damit er es anbete. Da er sich feurig und entschieden weigerte,Gott zu beleidigen, machten sie Anstalten, ihn zu töten. Aber als sieihm das Messer auf die Brust setzten, rief der arme, in seiner Einbil-dung so tapfere Mönch aus: „Ach, ich bitte euch, tötet mich nicht, ichwill tun, was ihr wollt, habt Erbarmen mit mir! Ich bin noch so jung,

Page 160: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

15912. Tugend des Gehorsams

laßt mir noch das Leben!“ Schließlich betete er den Sarazenengott an,worauf die Räuber ihn verlachten, gründlich verprügelten und ins Klo-ster zurückschickten.

Er kam dort blaß und zitternd, mehr tot als lebendig an und wurdevom hl. Pachomius, der ihm entgegenkam, mit den Worten begrüßt!„Nun, mein Sohn, wie geht es dir, warum so verstört?“ – Da warf sichder Bruder, der es in seinem Hochmut nicht ertragen konnte, sich ineine schwere Schuld verstrickt zu sehen, ganz beschämt und zerknirschtauf die Knie und bekannte seine Schuld. Der gute Vater half ihm so-gleich, hieß alle Brüder für ihn beten und mahnte ihn selbst, Gott umVerzeihung zu bitten. Er brachte dann die Seele dieses seines Sohneswieder in Ordnung und gab ihm folgenden guten Rat: „Eines bedenke,mein Sohn: Besser ist der bescheidene Wunsch, sich der Gemeindeeinzufügen, die Regeln recht getreu zu beobachten und nur das anzu-streben und zu wollen, was zu dieser Treue gehört, als große Wünschehegen und in der Einbildung Wunderdinge vollbringen, die uns nuraufgeblasen machen, uns verleiten, andere geringzuschätzen, uns selbstaber zu überschätzen. Siehe, mein Kind, im Schatten heiligen Gehor-sams lebt es sich so gut. Warum ihm entfliehen, um nach scheinbarVollkommenerem auszuschauen? Du wärest nicht so tief gefallen, wenndu, statt den Tod zu suchen, dir lieber täglich abgestorben wärest. DochMut, mein Sohn, sei darauf bedacht, von nun an immer im Gehorsamzu leben! Glaub mir, Gott hat dir verziehen.“ – Der junge Ordensmannbefolgte des Heiligen Rat und lebte fortan sein Leben lang in tieferDemut.

Der Gehorsam ist nicht weniger verdienstlich als die Liebe. Denn ein„Becher frischen Wassers“ einem Dürstenden liebend gereicht (Mt10,42; Mk 9,40), ist den Himmel wert. Der Heiland selbst sagt es. Undwas ihr im Gehorsam tut, das ist ebenso verdienstlich. Gott freut sichüber das Geringste, was ihr im Gehorsam tut; eßt ihr im Gehorsam, sohat das mehr Wert als alles Fasten der Einsiedler, wenn es nicht imGehorsam geschieht; ruht euch im Gehorsam aus und euer Ausruhenist verdienstlicher und Gott wohlgefälliger als Arbeiten außerhalb desGehorsams.

Mein Gott! Wie ist das Leben der heiligen Väter doch so reich anschönen Beispielen gewissenhaften Gehorsams in unscheinbaren Din-gen! Da trägt z. B. einmal der hl. Franziskus einem Bruder auf, Kohl-setzlinge nach oben zu pflanzen. Der Bruder gehorcht ohne weiteres

Page 161: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

160 12. Tugend des Gehorsams

und seine Pflanzen gedeihen so schön wie sonst; seht, so segnet Gottdie Gehorsamen.

Es wäre ohne Zweifel eine große Unvollkommenheit, bei so gering-fügigen Dingen zu widersprechen, wenn sie uns befohlen werden. Siesind ja besonders geeignet, uns in demütiger Gesinnung zu erhalten.Der Gehorsam als wesentlicher Bestandteil der Demut liebt es ja gera-de, zu den niedrigsten Diensten befohlen zu werden, obwohl es eigent-lich für den Gehorsam nichts Geringes und Unwichtiges gibt, weil erin allem ein wirksames Mittel sieht, sich mit Gott zu vereinigen unddem Heiland zu gleichen, der den Gehorsam so sehr liebte, daß er nachden Worten des hl. Bernhard dem Gehorsam sein Leben hinopferte.

10. Und was wird uns dafür zuteil, wenn wir diesen liebevollen Gehor-sam gewissenhaft üben? – so hör ich euch fragen. Was wird uns zuteil,wenn wir diese drei Bedingungen erfüllen: wenn wir blind gehorchen,unbekümmert darum, wer befiehlt, wozu und warum befohlen wird, –vorausgesetzt, daß der Befehlende das Recht dazu hat; wenn wir unsdabei nicht zu viel um die Mittel kümmern, das auszuführen, was be-fohlen wird, sondern einfach an die Aufgabe herantreten im Vertrauenauf Gott, der uns die Aufgabe gestellt hat und auch die Möglichkeitgeben wird, sie auszuführen; wenn wir rasch gehorchen und wenn wirbeharrlich gehorchen; nicht nur eine Zeit lang, sondern unser Lebenlang?

Was also wird dem zuteil, der so glücklich ist, es so zu machen, wieich eben sagte? Es wird ihm die Seelenruhe, der dauernde innere Friedezuteil; er ist ja aller Rechenschaft über sein Tun enthoben, weil er allesim Gehorsam gegen die Regeln und die Vorgesetzten tut. Was nämlichdie Regel angeht, so liebt, schätzt und ehrt sie der Gehorsame überalles, weil sie der rechte Weg ist, um zur Vereinigung seines Geistesmit Gott zu gelangen. Er geht also niemals von diesem Weg und auchniemals vom Gehorsam ab, weder in Dingen, die nahegelegt oder gera-ten, noch in Dingen, die befohlen werden. Der wahrhaft Gehorsamewird wohl über manche Gedanken Rechenschaft geben müssen, nichtaber über seine Handlungen, die er im Gehorsam getan. Er fühlt sichsorglos und ruhig wie ein Kind auf den Armen der lieben Mutter, daskeine Angst hat vor dem, was vielleicht kommen könnte. Alles ist ihmrecht, ob die Mutter es auf dem rechten oder auf dem linken Arm trägt.Ja, genau so macht es der Gehorsame: ob man ihm dies oder das be-fiehlt, er beunruhigt sich nicht; wenn man ihm nur überhaupt sagt, was

Page 162: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

16112. Fragen

er zu tun hat, wenn er nur gehorchen darf, dann ist er schon zufrieden.Und diesen gehorsamen Seelen kann ich im Namen Gottes das Para-dies dereinst im ewigen Leben, wie auch schon hier im zeitlichen Le-ben zusichern.

Doch genug davon. Fragt, wenn ihr noch etwas wissen wollt. Sindeuch über diesen Gegenstand Schwierigkeiten in den Sinn gekommen,so könnt ihr sie jetzt vorbringen.

V e r s c h i e d e n e F r a g e n

1. Ihr fragt, ob ihr unter Sünde verpflichtet seid, alles zu tun, was dieVorgesetzten anordnen, ob ihr also auch in dem, was die Oberin euchbei der Rechenschaft zu eurer Besserung anrät, einen Befehl sehenmüßt. – O nein, meine lieben Töchter, es ist keine oder höchstens einekleine Sünde, aus Vergeßlichkeit oder sonstwie einen Auftrag nichtauszuführen, außer es handelt sich dabei um eine Sache von größterWichtigkeit. In diesem Fall freilich müssen wir unser Gedächtnis an-strengen, damit wir ja den Auftrag nicht vergessen; desgleichen wenn esum Dinge geht, die die Ordnung im Haus betreffen. Wenn es sich daauch um einen weniger wichtigen Auftrag handelt, z. B. allabendlichdie Lichter auszulöschen, würde doch eine Schwester, die darin nichtgehorcht, Gott beleidigen. Den Auftrag zuweilen vergessen, ist an sichnoch nicht schlimm; jedoch aus Nachlässigkeit oder sonst aus irgendeinem Grund gewohnheitsmäßig den Auftrag nicht ausführen, das wäreSünde. – Ich gehe noch weiter und sage: Ich bin unter schwerer Sündeverpflichtet, täglich das Offizium zu beten. Nun kommt es vor, daß ichabgehalten werde, die Komplet zu gewohnter Stunde zu beten, undganz darauf vergesse. Erst am nächsten Tag fällt mir ein, daß ich sienicht gebetet habe. Das ist nun keine Sünde und ich brauche es nicht zubeichten; die Sache war nicht so wichtig, daß ich mir immer hätte vor-sagen müssen: Ich habe die Komplet noch nicht gebetet und muß esnoch nachholen.

Die Gebote Gottes und der Kirche sind nicht so hart, wie man meint;sie sind keine Fessel für den Geist, wie man oft glaubt. Das GesetzGottes ist ganz Liebe und überaus milde, wie der Psalmist oft beteuert(119, 98, 104). Unfreiwillige Zerstreuungen machen unser Beten unddas Offizium in Gottes Augen nicht weniger wohlgefällig; das gilt auch

Page 163: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

162 12. Fragen

für das Einschlafen beim Beten, wonach ja auch eine von euch gefragthat. Wir sind wegen unfreiwilliger Zerstreuungen keineswegs verpflich-tet, das Offizium noch einmal zu beten, auch dann nicht, wenn uns derSchlaf dabei für kurze Zeit übermannt hat; vorausgesetzt, daß wir nichteinen großen Teil verschlafen haben und daß wir uns bemühen, wach zubleiben. Freilich, Nachlässigkeit dabei wäre schon zu beichten.

Angenommen, ich bin zu Beginn des Offiziums mit ganzer Seelebeim Gebet und nehme mir vor, es pflichtgemäß recht gut zu beten.Mitten darin werde ich schläfrig und rezitiere oder singe meinen Teileinen oder zwei Psalmen hindurch so recht und schlecht. Was kannman dagegen machen? Man soll es auch nicht beichten, weil man esdoch ebensowenig vermeiden kann wie die Zerstreuungen, die überuns kommen.

Da sagt eine Schwester, daß ihr der Artikel der Regel,3 der die Schwe-stern verpflichtet, einander in Liebe auf ihre Fehler aufmerksam zu ma-chen, etwas unangenehm ist und sie sich deshalb nicht genau daranhalte, weil es sich doch nicht um Wichtiges handle. – Dazu sage ichIhnen, meine lieben Töchter: Wenn Sie vielleicht auch nicht eigentlichunter Sünde dazu verpflichtet sind, so doch auf Grund der Liebe, dieSie zu der Regel hegen sollen. Die Liebe zu den Regeln ist aber zweifel-los von allergrößter Wichtigkeit und jede Schwester soll sich oft undoft des Tages mit inniger Liebe in diese Regeln hineinversenken. Gera-de die Regeln, die uns zuwider sind und deren Beobachtung uns unan-genehm ist, müssen wir besonders gewissenhaft halten und so dem Hei-land zeigen, daß wir ihn wirklich lieben. Das gleiche gilt für die gegen-seitige Abneigung. Hat z. B. eine Schwester eine Antipathie gegen eineihrer Mitschwestern, dann muß sie gerade mit dieser ganz besonderslieb sein, um die Abneigung auf diese Weise zu überwinden; sie darfkeine Gelegenheit vorübergehen lassen, ihr Aufmerksamkeiten zu er-weisen.

Ich komme auf das oben Gesagte zurück. Ich möchte wirklich nicht,daß ihr die Seele mit leeren Skrupeln einengt. – Darum will ich eurevorige Frage noch etwas eingehender beantworten.

Nicht immer haben die Vorgesetzten und die Beichtväter die Absicht,ihre Untergebenen zu dem, was sie auferlegen, auch zu verpflichten.Wollen sie verpflichten, dann gebrauchen sie den Ausdruck: „Ich be-fehle Ihnen“ oder „Tun Sie das im Gehorsam“; und dann sind die Un-tergebenen dazu unter Sünde verpflichtet, auch wenn es sich um weni-

Page 164: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

16312. Fragen

ger schwerwiegende Dinge handelt. Die Vorgesetzten und Beichtvätergeben nämlich ihre Weisungen auf eine dreifache Art: Als Befehl, alsRat oder als Empfehlung. Das ist auch bei den Konstitutionen undRegeln so. Da heißt es z. B.: Die Schwestern können das tun – dieSchwestern tun das – die Schwestern hüten sich, das zu tun. Das einesind Ratschläge, das andere Befehle.

Eine Schwester, die sich nicht an die Ratschläge und Weisungen hal-ten wollte, würde sicher gegen den Liebesgehorsam handeln; führt sieaber doch die Befehle sehr gewissenhaft aus, so kann man ihr keinenVorhalt machen, da sie ja tut, wozu sie verpflichtet ist. Allerdings bleibtes schwerlich dabei, denn nur zu bald fällt in große Fehler, wer es mitkleinen nicht genau nimmt.

Gewiß sind Sie, liebe Tochter, nicht dazu verpflichtet, die Schwes-tern auf ihre Fehler aufmerksam zu machen, außer Sie sind damit aus-drücklich beauftragt. Die Regel sagt ja nur: „Sie können“, aber dane-ben gibt es, meine liebe Tochter, ein Gebot Gottes, das uns gebietet,einander zurechtzuweisen, und dieses göttliche Gebot steht an Autori-tät über der Regel. Es verpflichtet allerdings nur bei Sünden, denn manwürde den anderen lästig fallen, wollte man sie auf alle kleinen Un-vollkommenheiten, die uns allen auf Grund unserer Gebrechlichkeitanhaften, aufmerksam machen.

Doch zurück zu unserem vorigen Gedanken: Ich bitte euch, was fürein kläglicher Eifer, was für eine kärgliche Liebe zu Gott wäre doch das,wenn wir gerade nur das tun wollten, was uns befohlen ist, und nichtmehr? Gewiß würde der nicht verdammt, der die Gebote Gottes hältund nichts darüber hinaus tut. Damit würde er jedoch beweisen, daß ersich an die Gebote Gottes nicht aus Liebe zu Gott hält, sondern ausLiebe zu sich selbst, damit er nicht verdammt werde. Das ist gerade so,als wenn sich einer rühmen wollte, kein Räuber zu sein. Nun, bist dukein Räuber, so wirst du wohl nicht gehängt, das ist aber auch alles. –Ihr haltet euch an die Gebote Gottes, die euch auferlegt sind: gut, manwird euch also nicht aus dem Kloster entlassen, aber auch bestimmtnicht für eifrige Dienerinnen Gottes, sondern für Mietlinge halten, wennihr nicht mehr tut. Einen Diener, der seinem Herrn genau nur die Ar-beit leistet, für die er eingestellt worden ist, würde man einen unge-hobelten Burschen nennen und sein Herr würde ihm, wenn er ihn nichtüberhaupt fortjagt, sagen: Du arbeitest nur das, was abgemacht war,

Page 165: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

164 12. Fragen

und ich zahle dir auch nur, was wir abgemacht haben, du bekommstkeinen Pfennig mehr.

2. Sie sagen, Schwester, daß Sie gerne bereit sind, jedem Rat, ja selbstjedem Wink zu folgen, aber nun wissen möchten, ob Sie es beichtenmüssen, wenn Sie sich nicht so genau daran halten, wie an die Befehle.– Sie brauchen da nichts zu beichten. Wenn ein Mann zu mir zumBeichten kommt und sich anklagt, daß er spielt und für gewöhnlichdabei ins Fluchen kommt, weil er jähzornig ist, dann verbiete ich ihmim Namen Gottes, weiterhin zu spielen. Er ist verpflichtet, sich anmein Verbot zu halten. Frage ich ihn aber: Fluchen sie beim Spielenimmer? und er antwortet: Nein, für gewöhnlich nicht, – dann rede ichso mit ihm: „Mein Sohn, ich rate dir, laß das Spielen sein, es ist einsinn- und zweckloser Zeitvertreib.“ Der Mann ist aber dann nicht unterSünde verpflichtet, sich daran zu halten. Und wenn ich in der Art einesHinweises sage: „Sie sollten besser nicht spielen, mein lieber Freund,“– denn ich bin nicht verpflichtet, ihm das Spielen ganz zu verbieten,wenn es ihm nur selten zustößt, daß er zornig wird und flucht, – dannist er durchaus nicht verpflichtet, das Spielen aufzugeben.

Das gilt in gleicher Weise auch von allem, was die Vorgesetzten zwarnicht befehlen, aber raten und nahelegen. Wir wollen freilich vollkom-men werden und deshalb müssen wir alles schätzen und alles aufgrei-fen, was geeignet ist, uns mit der göttlichen Majestät zu vereinigen undzu verbinden, – was ja unserer Seele einziges Verlangen und das Ziel allunserer Handlungen sein soll.

Wir verletzen zwar das Gelübde des Gehorsams nicht, wenn wir Ratund Weisung nicht befolgen, aber wir handeln gegen den Liebes-gehorsam, den wir uns ja aneignen wollen, wir, die wir zur „Heimsu-chung“ gehören. Gott behüte uns davor, so feige zu werden, daß wirdiesem Liebesgehorsam aus dem Weg gehen!

3. Sie möchten wissen, wie eine Seele, die gar keine Liebe zum Gehor-sam hat, diese erlangen kann. – Aber, meine liebe Tochter, da gibt es nureines: sich recht bemühen, ihn zu lieben. Damit will ich sagen: WirdIhnen etwas befohlen, dann nehmen Sie den Befehl mit Freuden an,liebkosen, küssen Sie ihn förmlich; und beim nächsten Befehl machenSie es wieder so und beim übernächsten wieder und so bei allen. GehenSie damit um, wie mit etwas sehr Kostbarem und Schönem. SchauenSie auf das hohe Gut, das Ihnen durch den Gehorsam zuteil wird, näm-lich auf die Vereinigung mit Gott. Gehen Sie so mit jeder Anordnung

Page 166: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

16512. Fragen

der Oberen vor, und es wird Ihnen dann diese Liebe zum Gehorsamgleichsam in Fleisch und Blut übergehen.

4. Sie fragen, ob man beim Wechseln der Oberin nicht denken darf,daß die neue Oberin weniger fähig ist und sich weniger auf die Führungder Schwestern versteht als ihre Vorgängerin. – Nun, wir können esgewiß nicht verhindern, daß uns solche Gedanken kommen, aber wirdürfen uns nicht bei ihnen aufhalten. Wenn Bileam von einer Eselinauf den rechten Weg gewiesen wurde (Num 22,28-30), dann haben wirdoch allen Grund anzunehmen, daß Gott, der uns diese Oberin gege-ben, auch dafür sorgen wird, daß sie uns nach seinem Willen führe,wenn auch vielleicht nicht nach unserem Willen. Gott selbst hat uns jadie Verheißung gegeben, daß der wirklich Gehorsame keine Irrwegegeht (Spr 21,28). Gewiß wird das jenen nicht zustoßen, die unterschieds-los die Weisungen einer jeden von Gott über sie gesetzten Oberin be-folgen. Und selbst wenn die Vorgesetzte ganz unwissend wäre und dieUntergebenen in ihrem Unverstand abschüssige und gefährliche Wegeführte, werden die Untergebenen, die sich in alles gehorsam fügen, wasnicht offensichtlich gegen die Gebote Gottes und der Kirche verstößt,niemals in die Irre gehen, das kann ich euch zusichern. Die HeiligeSchrift sagt: „Der Gehorsame wird von schönen Siegen berichten kön-nen“ (Spr 21,28); das heißt, er wird aus allen Schwierigkeiten, in die erim Gehorsam gerät, siegreich hervorgehen und von allen noch so ge-fährlichen Wegen, die er im Gehorsam geht, in Ehren zurückkehren.

Das wäre schon eine seltsame Weise zu gehorchen, wollte man nureiner Oberin folgen, die uns gefällt. Heute habe ich eine Oberin, dieschön ist oder wegen ihrer Fähigkeiten und Tugenden sehr geschätztwird, und gehorche ihr gerne. Morgen habe ich eine häßliche und weni-ger angenehme Oberin und mag ihr nicht gehorchen. – Nun, Sie sagen,daß Sie jener Oberin genau so gut gehorchen wie der anderen, aber daßSie das nicht so schätzen, was sie sagt, und daß Sie ihr nicht so gerngehorchen. – Mein Gott, beweist das nicht, daß Sie der einen Oberindurchaus nicht rein nur aus Liebe zu Gott, sondern aus Sympathie ge-horchen, sonst würden Sie auf das, was die andere sagt, ebensoviel ge-ben und es genau so gern befolgen.

Ich meine das natürlich nur für den höheren Bereich der Seele, wieich es schon oft gesagt habe und nicht oft genug sagen kann, weil man esschon sehr beachten muß. In diesem Haus muß der höhere Seelenteildas Wort haben und nicht der niedere, also nicht die Sinne und Neigun-

Page 167: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

166 12. Fragen

gen. In meinem niederen Seelenleben fühle ich gewiß mehr Befriedi-gung, wenn ich den Auftrag einer Oberin ausführe, die mir sympa-thisch ist, als wenn ich einer Oberin folgen soll, zu der ich mich ganzund gar nicht hingezogen fühle. Wenn nur das Höhere in meiner Seelein diesem Fall gleich willig gehorcht, dann ist es schon recht; denn derGehorsam ist wertvoller, wenn er uns schwer fällt; da beweisen wir,daß wir aus Liebe zu Gott und nicht uns zuliebe gehorchen. So ge-horcht man ja gewöhnlich in der Welt; der Gehorsam Gott zuliebe aberist sehr selten und wird nur im Kloster geübt. Wären die Vorgesetztenaus Wachs oder Tonerde, sodaß wir sie nach unserem Belieben knetenund formen könnten, so würde uns das wohl passen; wir würden siedann nach unserem Geschmack ummodeln, damit sie uns das befeh-len, was wir möchten.

5. Ihr fragt, ob es denn niemals erlaubt sei, sich abfällig zu äußern,wenn eine Oberin Erlaubnisse nicht so leicht erteilt wie die andere, – undob man darüber nachdenken und sich aussprechen darf, warum wohldiese Oberin Anordnungen trifft, die ihre Vorgängerin nicht getroffenhat. – Nein, meine Töchter, derartiges ist nie erlaubt. Wir müssen allesgutheißen, was die Vorgesetzten tun, befehlen, verbieten, wenn es nichtoffensichtlich in Widerspruch mit den Geboten Gottes steht; denn indiesem Fall darf man weder zustimmen noch folgen. Im übrigen habendie Untergebenen stets zu glauben und ihr eigenes Urteil dahin abzu-ändern, daß die Oberen ihre Sache recht machen und ihre guten Grün-de haben, warum sie es so machen. Sonst macht ihr euch selber zuOberen und die Oberen zu Untergebenen, da ihr in deren Sache dieUntersuchungsrichter spielt. Wie oft kommt es vor, daß ein Papst et-was verbietet, was sein Nachfolger wieder anordnet! Wäre es da an unszu fragen: Warum macht er das? O nein! Niemals! Wir haben uns ganzeinfach unter das Joch des Gehorsams zu beugen in der Überzeugung,daß jeder Papst für seine Anordnung gute Gründe hatte, wenngleich siesich widersprechen.

6. Was meinen Sie da? Ob eine Schwester, die schon viele Jahre imKloster ist und dem Orden große Dienste geleistet, es mit dem Gehor-chen, wenigstens in minder wichtigen Dingen, nicht etwas leichter neh-men darf? – Das wäre genau so, als wollte ein Steuermann, der seinSchiff nach langem und angestrengtem Bemühen durch gefahrvolle Stür-me glücklich in den Hafen gebracht hat, im Augenblick der Landungsein Schiff zerschlagen und sich selbst ins Meer stürzen. Hielte man

Page 168: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

16712. Fragen

einen solchen Menschen nicht für verrückt? Denn wenn das seine Ab-sicht war, dann hätte er sich nicht so plagen brauchen, um sein Schiff inden Hafen zu steuern.

Eine Klosterfrau, die gut angefangen hat, hat damit noch nicht allesgetan, sie muß ausharren bis ans Ende. Sagen wir doch ja nicht: Eine sogroße Genauigkeit ist nur Sache der Novizen. Wenn auch in allen Klö-stern die Novizen sehr genau und eifrig sind, dann besagt das nicht, daßdie Profeßschwestern weniger dazu verpflichtet wären, sie sind es jagerade und nicht die Novizen. Diese sind gewissenhaft und treu imGehorsam, damit sie der Gnade der Profeß gewürdigt werden; die Pro-feßschwestern sind aber durch ihre Gelübde dazu verpflichtet. Es ge-nügt nicht, sie abgelegt zu haben, um Ordensfrau zu sein; man muß sieauch halten. Sonst wären sie ja um kein Haar anders als die Leute, dieam Ostertag ganz zerknirscht dreinschauen, weil sie gerade gebeichtethaben, aber am folgenden Tag wieder dieselben Weltkinder sind wiezuvor.

Eine Ordensperson, welche meint, sich irgendwie gehen lassen zudürfen, weil sie Profeß gemacht hat oder schon lange im Orden ist,würde sich gewaltig täuschen. Der Herr hat bei seinem Sterben, da eralles mit sich tun ließ, den Gehorsam noch gründlicher geübt als inseiner Kindheit. Denn auf dem Schoß seiner Mutter zappelte er dochnoch mit Ärmchen und Beinchen, wenn seine liebe Mutter ihn wickelnwollte; am Kreuz aber bewegte er sich nicht und ließ sich ruhig ansKreuz schlagen, wie die Schergen es wollten.

Soweit genug über den Gehorsam und über die Mittel, ihn liebzu-gewinnen.

7. Nun zur Frage, die mir gestern Abend vorgelegt wurde: ob sich dieSchwestern gegenseitig sagen dürfen, daß sie von der Oberin oder derNovizenmeisterin aus irgend einem Grund recht gedemütigt wordensind. Nun, man kann darüber auf verschiedene Weise reden:

Die 1. Weise: Die Schwester kommt und sagt: „Mein Gott, liebe Mit-schwester, wie hat mich doch unsere Mutter gerade gründlich ge-demütigt!“ Und sie freut sich, daß die Oberin sie nicht geschont, son-dern ihr die Wahrheit gesagt und daß sie damit für ihre Seele etwasgewonnen hat. Sie trägt also ihre Freude zu einer Mitschwester, damitsie ihr helfe, Gott für die Demütigung zu preisen.

Die 2. Weise: Die Schwester redet darüber, um sich zu erleichtern.Sie findet die Demütigung oder Zurechtweisung recht schwer und schüt-

Page 169: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

168 12. Fragen

tet ihr Herz bei der Mitschwester aus, damit diese sie ein wenig bemit-leide und ihr so helfe, ihr Leid zu tragen. Diese Weise, darüber zureden, ist aber schon weniger erträglich als die vorige, weil es eineUnvollkommenheit ist, sich zu beklagen.

Die 3. Weise, die ganz zu verwerfen ist: Die Schwester spricht sichverärgert und trotzig darüber aus und wirft der Oberin vor, daß sie imUnrecht sei. Ich glaube, daß so etwas in diesem Haus mit der GnadeGottes nicht vorkommt.

Was die erste Weise betrifft, so ist an sich noch nichts Schlimmesdabei, wenngleich es viel besser wäre, überhaupt nicht darüber zu re-den, sondern sich mit Gott allein darüber zu freuen.

Die zweite Weise, sich auszusprechen, kann ich nicht gutheißen, dennda wir uns beklagen, verlieren wir das Verdienst der Demütigung.

Wißt ihr, was wir tun sollten, wenn wir getadelt und gedemütigt wer-den? Wir sollten mit beiden Händen nach dieser Verdemütigung grei-fen, wie nach etwas ganz Kostbarem, sie am Herzen bergen und liebe-voll umfangen.

Aber wenn nun eine Schwester kommt und sagt einer anderen: „Jetzthabe ich mich gerade bei unserer Mutter ausgesprochen und bin genauso trocken wie vorher; man sollte sich wirklich nur an Gott halten;Menschen können halt doch nicht trösten; da komme ich jetzt von derMutter noch trauriger heraus, als ich vorher war“, – so sollte die andereSchwester ganz ruhig antworten: „Wenn Sie schon sagen, man solltesich recht an Gott halten, warum haben Sie das nicht getan, bevor Siemit unserer Mutter gesprochen? Sie wären dann sicher nicht darüberunbefriedigt, daß Sie bei ihr keinen Trost gefunden haben.“

Sagt, meine lieben Töchter, ist das die rechte Art, sich an Gott zuhalten? Nehmt euch in acht! Wenn ihr Gott sucht, weil die Menscheneuch enttäuschen, könnte er sich am Ende nicht finden lassen wollen,denn er will, daß wir ihn vor allem anderen und unter Hintanstellungalles anderen suchen. – „Ich suche den Schöpfer, weil die Geschöpfemich unbefriedigt lassen!“ – Aber der Schöpfer verdient es sehr wohl,daß ich alles um seinetwillen verlasse, und er will es, daß wir so handeln.

Kommen wir von der Aussprache bei der Oberin ganz unbefriedigtzurück, ohne auch nur ein Tröpflein Trost mitbekommen zu haben,dann sollen wir unsere Trockenheit so behutsam vor uns hertragen wieeinen kostbaren Balsam, – so, wie ich es für die Affekte beim Gebetgeraten habe. Ja, wie kostbares Öl sage ich, damit wir ja recht achtge-

Page 170: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

16912. Fragen

ben, diesen Himmelsbalsam nicht zu verschütten – denn Gott beschenktuns mit dieser so wertvollen Gabe, damit unsere Seele zum Trost fürdie Erquickung, die wir in den Worten der Oberin entbehren mußten,mit köstlichem Duft erfüllt würde.

Da ist aber noch etwas dabei zu bedenken: Es kann sein, daß wir zurAussprache ein Herz so kalt und trocken wie Stein mitbringen, dasman nicht mit dem Tau des Trostes erfrischen und erquicken kann, weiles für die Worte der Oberin einfach nicht empfänglich ist. Mögen dieseWorte noch so passend sein für das, was eure Seele gerade braucht, ihrempfindet sie doch nicht so. – Ein andermal ist dagegen euer Herzweich und aufgeschlossen und schon ein paar Worte, die für euren Fort-schritt weit weniger bedeutsam sind als die letzthin gesprochenen, spen-den euch Trost, weil euer Herz eben empfänglich war. Ihr glaubt wohl,die Vorgesetzten brauchen nur die Lippen zu öffnen und schon fließenTrostworte in die Seele einer jeden, die zu ihnen kommt. Nein, so ein-fach geht das nicht. Sie sind ebensowenig immer in der gleichen Stim-mung wie auch die anderen Menschen. Glücklich, wer sich inmittenaller Ungleichheit der Dinge den heiligen Gleichmut erhalten kann.Bald sind wir in freudiger Stimmung, bald wieder so trocken, daß esuns außerordentlich schwer fällt, Trostworte zu finden.

8. Nun möchtet ihr noch wissen, wie ihr das eigene Urteil am bestenzum Schweigen bringen könnt. – Ich antworte: Schneidet ihm jedesmaldas Wort ab, sooft es sich zum Herrn aufspielen möchte, und bedeutetihm, daß es nur Knecht ist. Nur durch unermüdlich wiederholte Tugend-übungen erwerben wir die Tugenden. Wohl hat Gott einige wenige See-len in einem Augenblick in den Besitz aller Tugenden gesetzt; die hl.Katharina von Genua z. B. wurde von ihrem Beichtvater in einem Au-genblick so gründlich bekehrt, daß eine fromme Seele, die in derselbenStadt wohnte, sich nicht genug wundern konnte, wie schnell sie alleihre Unvollkommenheiten abgelegt hatte. Und Katharina konnte sichnicht genug über diese Person wundern, die nach langjährigem Bemü-hen, sich zu bessern, noch nichts erreicht hatte.

Packt euch die Lust zu urteilen, ob eine Sache richtig oder falschangeordnet ist, so verbietet eurem eigenen Urteil jeden weiteren Ge-danken. Und sagt man euch, daß ihr es auf diese Weise machen sollt,dann überlegt nicht lange, ob man es nicht besser auf eine andere Weisemachen könnte, sondern tut einfach, was man gesagt hat. – Verlangtman von euch eine bestimmte Übung, so erlaubt eurem Urteil nicht zu

Page 171: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

170 12. Fragen

prüfen, ob sie für euch paßt oder nicht. Macht euch darauf gefaßt, daßeuer Urteil sich sehr oft nicht fügen wird, wenn ihr auch das ausführt,was man von euch verlangt hat. Es wird der Anordnung oft nicht zu-stimmen, und das ist gewöhnlich die Ursache, weshalb wir uns so schwerden Anordnungen unterwerfen. Verstand und Urteil machen dem Wil-len vor, daß diese Arbeit nicht notwendig sei oder daß man sie auf eineandere als die angegebene Art machen sollte; so kann sich der Willedann nicht mehr unterordnen. Der Wille gibt ja immer auf die Gründedes eigenen Urteils mehr als auf andere. Jeder hält sein eigenes Urteilfür unfehlbar.

Es ist mir noch niemand begegnet, der nicht viel auf sein Urteil ge-halten hätte, außer zwei Menschen, von denen der eine in dieser Stadtlebt, während ich vom anderen nicht weiß, wo er sich jetzt aufhält.Diese beiden haben mir gestanden, daß sie kein Urteil hätten. Einervon ihnen hat mich einmal aufgesucht und um Auskunft in einerAngelegenheit ersucht, weil er, so sagte er, kein Urteil habe und siedaher nicht verstehe, – was mich sehr wunderte.

In unseren Tagen hat ein berühmter Gelehrter ein herrliches Beispielder Überwindung des eigenen Urteils gegeben. In einem Werk, das erverfaßt hatte, fand der Heilige Vater Papst Klemens VIII. irrige Stellenvor und schrieb ihm, er möge sie aus seinem Buch herausnehmen.Wohlgemerkt, der Papst fand nichts Häretisches darin, sondern nureinige irrige Begründungen. Als nun der Gelehrte das päpstliche Schrei-ben erhielt, unterwarf er sein Urteil so vollkommen dem Willen desHeiligen Vaters, daß er nicht einmal eine Erklärung zu seiner Recht-fertigung abgeben wollte, sondern ohne weiteres glaubte, im Unrechtund von seinem Urteil irregeführt worden zu sein. Er verlas von derKanzel das Schreiben des Papstes, zerriß sein Buch und erklärte, daßder Papst mit seinem Urteil ganz recht habe, daß er damit ganz ein-verstanden sei und den väterlichen Verweis, dessen er gewürdigt wor-den sei, von Herzen dankbar annehme als durchaus berechtigt und nochviel zu milde, denn er verdiene, streng bestraft zu werden; er begreifenicht, wie er so verblendet sein konnte, sich in einer offensichtlich soverwerflichen Sache von seinem eigenen Urteil täuschen zu lassen. Zudieser Erklärung war er keineswegs verpflichtet. Der Papst hatte nichtsdergleichen von ihm verlangt, sondern nur die Streichung gewisser Stel-len. So gab er bei dieser Gelegenheit einen Erweis seiner hervorragen-den Tugend und der Überwindung des eigenen Urteils.

Page 172: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

17112. Fragen

Menschen mit abgetötetem Urteil sind recht selten. Zugeben, daß einBefehl gut ist, ihn als etwas sehr Gutes und Nützliches lieben und schät-zen, das widerstrebt dem eigenen Urteil und die meisten sagen: Ich willes ganz gern so machen, wie Sie es haben wollen, doch fände ich esbesser, wenn man es anders machte. Ach, was tut ihr da? Wenn ihr soeurem eigenen Urteil Nahrung gebt, dann wird es euch trunken ma-chen; denn zwischen einem Betrunkenen und einem von seinem Urteilganz eingenommenen Menschen ist kein Unterschied; man kann we-der den einen noch den anderen zur Besinnung bringen.

Als David und seine Leute einst in der Wüste ganz erschöpft waren,sandte er zu Abigajil, damit sie ihren Mann veranlasse, ihm und seinenSoldaten Lebensmittel zu schicken. Davids Leute, die mit Abigajil gegan-gen waren, fanden ihren Mann betrunken. Als er vernommen, was Da-vid begehrte, redete er wie ein Mensch im Rausch und weigerte sich,etwas herzugeben; er warf David vor, daß er nun komme, um auch ihnzugrunde zu richten, wie die anderen, nachdem er das früher Zusammen-gestohlene aufgegessen habe. Davids Leute berichteten, was sich zwi-schen ihnen und dem Betrunkenen abgespielt hatte, worauf David aus-rief: „So wahr Gott lebt, das soll er mir bezahlen, ich habe ihm seineHerden gerettet und er erkennt das Gute, das ich ihm erwiesen, nichtan.“ Abigajil erfuhr, was David im Sinn hatte. So ging sie am nächstenTag mit Geschenken zu ihm, um seinen Zorn zu besänftigen, und sprach:„Herr, was willst du mit einem Betrunkenen anfangen? Gestern imRausch sprach mein Mann böse Worte, weil er betrunken und verrücktwar. Kämst du heute zu ihm, so hieße er dich sicher herzlich und mitallen Ehren willkommen. Besänftige deinen Zorn, Herr, lege nicht Handan ihn, denn du würdest es dein Leben lang bereuen, einem Narrenetwas angetan zu haben.“

Diese Entschuldigung paßt auch auf jene Menschen, die von ihremeigenen Urteil ganz berauscht sind, denn sie haben den Gebrauch derVernunft so wenig wie Betrunkene. So sei man also ernsthaft daraufbedacht, alle Erwägungen des eigenen Urteils gleich abzuschneiden,besonders, wenn es um den Gehorsam geht.

9. Nun wollt ihr noch wissen, ob ihr darauf große Sorgfalt verwendensollt, einander liebevoll und vertrauensvoll auf die Fehler aufmerksamzu machen. – Natürlich sollt ihr das! Denn wie könnte ich einen Fehleran meiner Schwester sehen und ihr nicht mit einem Hinweis helfenwollen, ihn zu entfernen? Ist sie freilich schlecht aufgelegt oder traurig

Page 173: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

172 12. Fragen

gestimmt, so wäre dies nicht der rechte Augenblick, sie auf ihre Fehleraufmerksam zu machen und zurechtzuweisen. Sie würde es wohl dannnicht gut aufnehmen. – In einem solchen Fall muß man eben ein wenigwarten und dann wieder mit Vertrauen und Liebe darauf zurückkom-men.

Sagt mir eine Schwester verärgerte Worte, ist aber sonst sanftmütig,dann sag ich ihr mit Vertrauen, daß sie nicht so handeln sollte. Sehe ichaber, daß es besser ist, jetzt nichts zu sagen, weil die Schwester erregtist, dann trachte ich, das Gespräch geschickt auf einen anderen Gegen-stand zu bringen.

10. Ihr dürft auch gewiß auf die Fehler aufmerksam machen, die beimChorgebet vorkommen, obwohl das eigentlich Sache der Assistentinist. Laßt die Schwester nicht eine Woche lang den gleichen Fehler ma-chen! Wenn ihr merkt, daß die Assistentin das erstemal noch nichtsgesagt hat, dann macht beim zweitenmal die Assistentin darauf auf-merksam. Ich halte es für besser, mit der Assistentin zu reden als mitder betreffenden Schwester, – obgleich man das ruhig in aller Liebe tunkann, wenn man will. Hat die Assistentin sie bereits aufmerksam ge-macht, dann wird es ihr kaum schwer fallen, Ihnen das ruhig zu sagen,denn sie braucht nicht gar so wortkarg zu sein. – Ihr befürchtet, daß ihrdie Schwester einschüchtert und sie dann vor lauter Angst erst rechtFehler macht, wenn ihr diese so oft beredet. Mein Gott, so eine Mei-nung sollt ihr von unseren Schwestern hier nicht haben. Ja, Mädchen inder Welt draußen werden verwirrt, wenn man ihre Fehler erwähnt. Beiunseren Schwestern kommt das nicht vor, denn sie lassen sich gernedemütigen, sie lieben ihre eigene Niedrigkeit und beunruhigen sichdarüber gar nicht. Sie sehen vielmehr darin nur einen Ansporn, nocheifriger und sorgfältiger an ihrer Besserung zu arbeiten, nicht um einemTadel auszukommmen, – denn ich nehme an, daß sie alles liebend an-nehmen, was sie in ihren eigenen Augen verächtlich und gering macht– sondern um ihre Aufgabe umso besser zu erfüllen und für ihren Berufimmer geeigneter zu werden.

Page 174: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

173

13. Gespräch

Über die EinfachheitÜber die EinfachheitÜber die EinfachheitÜber die EinfachheitÜber die Einfachheit11111

Wir sprechen heute über die Einfachheit. Sie ist eine so wichtigeTugend, daß unsere Mutter den Wunsch äußerte, ich möchte sie zumGegenstand einer eigenen Unterredung machen, obwohl ich schon oftüber diese Tugend gesprochen habe; und wenn es auch hier in diesemHaus vielleicht nicht so notwendig ist wie anderswo, so will ich trotz-dem ihrem Wunsch willfahren. Ich werde wohl manches, was ich frü-her schon gesagt, wiederholen, aber das kann nicht schaden.

1. Bevor wir uns nun ausführlicher über die Tugend der Einfachheitunterhalten und den Schwestern Gelegenheit geben, darüber Fragen zustellen, müssen wir uns zuerst über das Wesen dieser Tugend klar wer-den.

Ihr wißt, daß man z. B. ein Kleid einfach nennt, wenn es weder ge-stickt noch gefaltet noch bunt ist. So sagen wir auch: Diese Person isteinfach gekleidet, wenn ihr Kleid keinen besonderen Aufputz, keinesichtbar gelegten Falten hat oder dafür nicht zweierlei Stoff verwendetwurde. Das verstehen wir unter einem einfachen Kleid.

So ist auch die Einfachheit im geistlichen Leben nichts anderes alsein reiner, einfacher Akt der Liebe, der nur eines bezweckt: Die Liebe zuGott zu erringen. Unsere Seele ist dann einfach, wenn wir in allem, waswir tun oder anstreben, einzig nur das wollen.

Überaus lehrreich ist in dieser Hinsicht die uns allen vertraute Ge-schichte der hl. Maria und Marta, als sie den Herrn zu Gast hatten.Seht, Marta hatte die gewiß lobenswerte Absicht, den Herrn aufmerk-sam zu bedienen; trotzdem wurde sie vom göttlichen Meister getadelt,weil sie im Herrn doch mehr den Menschen sah und meinte, er gleicheden anderen, denen eine Speise, ein Gericht nicht genügt, weshalb sie inihrer Aufregung Orangen, Zitronen, Essig und alles mögliche zusam-mensuchte. So trübte sie die erste, einfache Absicht, Gott zu lieben,durch verschiedene kleine Nebenabsichten, und deshalb tadelte sie derHerr: „Marta, Marta, du sorgst und kümmerst dich um viele Dinge,“obwohl „nur eines notwendig“ ist, eben das, was Maria „erwählt hatund ihr nicht wird genommen werden“ (Lk 10,3-42).

Diese ganz einfache Liebe, die uns bei allem, was wir tun, nur auf eineshinsehen und hinzielen läßt, nämlich auf das Verlangen, Gott zu gefal-

Page 175: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

174 13. Einfachheit

len, das ist Marias Teil, das ist das eine Notwendige, das ist die Einfach-heit, die mit der Liebe unzertrennlich verbunden ist, da sie nur auf Gottschaut und keinen egoistischen Nebengedanken duldet. Andernfallswürde sie aufhören, Einfachheit zu sein, denn sie kann irgend eineRücksicht auf Geschöpfe nicht ertragen, nur Gott findet Einlaß bei ihr.

2. Die Einfachheit ist eine rein christliche Tugend, denn die Heiden,selbst solche, die wie Platon und Aristoteles recht gut über andere Tu-genden zu reden verstanden, kannten sie ebensowenig wie die Demut.Über die Hochherzigkeit, Freigebigkeit, Klugheit und Standhaftigkeitschrieben sie schöne Abhandlungen; von der Einfachheit und Demutwußten sie aber nichts zu sagen. Wäre der Herr nicht selbst vom Him-mel herabgestiegen, die Menschen über diese beiden so notwendigenTugenden zu belehren, so hätten sie diese niemals kennen gelernt. „Seidklug wie die Schlangen“ – sagt der Herr zu seinen Aposteln, – seid aberauch „einfältig wie die Tauben“ (Mt 10,6). Damit wollte er sagen: Lerntvon den Tauben Gott in aller Einfachheit lieben, d. h. das Wachsen inder Gottesliebe in aller Einfalt des Herzens fördern und bei allem, wasihr tut, nur ein Motiv, nur ein Ziel haben. Und nicht nur diese Einfalt inder Liebe lernt von der Taube, – denn sie hat nur einen Tauber, für densie alles tut, sie will nichts, als ihm gefallen, sie fürchtet nichts, als ihmmißfallen, – lernt auch von ihr, eure Liebe ganz einfach auszudrückenund zu zeigen, – denn sie tut nicht weiß Gott was alles, ist nicht über-schwenglich in ihren Zärtlichkeiten, sie gurrt nur leise dem Tauber zu,fühlt sich in seiner Liebe geborgen und ist zufrieden, bei ihm sein zudürfen.

3. Die Einfachheit hält von der Seele alles Sorgen und Bemühen umvielerlei Mittel und Übungen, Gott zu lieben, fern. So manche Seelensind immer auf der Suche danach und suchen doch umsonst; sie mei-nen, nicht eher ruhig sein zu können, als bis sie den Heiligen allesnachgemacht haben. Wie bedauernswert sind doch solche Menschen!Sie plagen sich, die Kunst der Gottesliebe ausfindig zu machen, undwissen nicht, daß diese nur darin besteht, ihn eben zu lieben. Sie fahn-den nach geheimen Rezepten, um die Liebe zu Gott zu gewinnen, wäh-rend doch Einfachheit das ganze Geheimnis ist.

Wenn ich sagte, es gibt keine Kunst der Gottesliebe, so will ich damitnicht die Bücher verurteilen, die von der „Kunst, Gott zu lieben“ han-deln und einen solchen Titel führen. Diese Bücher lehren ja nur, daßdie ganze Kunst darin besteht, sich daran zu machen, Gott zu lieben,

Page 176: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

17513. Einfachheit

das heißt: Das zu tun, was ihm wohlgefällt; denn nur auf diese Weisekommt man zur Gottesliebe. Freilich muß auch das in aller Einfach-heit, ohne Hast und Unruhe geschehen.

4. Die Tugend der Einfachheit erfaßt tatsächlich alle Mittel, die jedementsprechend seinem Beruf vorgeschrieben sind, um zur Gottesliebe zugelangen. Sie achtet aber darauf, daß dabei das Ziel – die Gottesliebe –nie dem Auge entschwinde; sie will, daß beim Streben nach der Gottes-liebe kein anderer Beweggrund mitspiele als eben das Ziel, die Liebe zuGott. Die Einfachheit wäre ja sonst nicht vollkommen einfach. Sie dul-det keine andere Rücksicht als die der reinen Gottesliebe, und wäre sienoch so vollkommen. Gott lieben ist ihr einziges Verlangen.

Ein Beispiel: Eine Schwester geht zum Chorgebet und wird gefragt:„Wohin gehen Sie?“ – „Zum Chorgebet.“ – „Warum gehen Sie, warumjetzt und nicht später?“ – „Weil die Glocke gerufen hat und weil esbemerkt wird, wenn ich fehle.“ – Der Zweck des Chorgebetes – näm-lich Gott zu loben – ist durchaus gut, der Beweggrund aber ist nichteinfach, denn die Einfachheit verlangt, daß ich nur von dem Wunsch,Gott zu gefallen, beseelt bin und keine Nebenabsicht habe; das gilt inallen Dingen.

5. Bevor wir weitergehen, möchte ich noch auf einen Irrtum hinweisen,in dem jene befangen sind, die da meinen, die Einfachheit vertrage sichnicht mit der Klugheit und diese beiden Tugenden seien einander entge-gengesetzt. Das ist ein Irrtum. Die Tugenden stehen niemals im Gegen-satz zueinander, sie gehören vielmehr aufs innigste zusammen. Die Tu-gend der Einfachheit steht im Gegensatz zum Laster der Hinterhältigkeit,der Quelle aller Spitzfindigkeiten. Die Schlauheit, Lüge und Bosheit ver-binden sich in ihr, um alles mögliche zur Irreführung anderer zu erfin-den und sie dahin zu bringen, wo man sie haben will. Sie sollen glauben,daß man nicht mehr weiß, als man sagt, daß man nichts anderes empfin-det und denkt, als man ausspricht. Das ist eine Art, sich zu geben, die zurEinfachheit in vollstem Gegensatz steht, denn Einfachheit ist Überein-stimmung von innerer Gesinnung und äußerem Verhalten.

6. Das ist jedoch nicht so zu verstehen, daß wir unsere Gemütsbe-wegungen und Leidenschaften nicht verbergen dürfen. Es ist nicht ge-gen die Einfachheit, ein freundliches Gesicht zu machen, wenn wirerregt sind. Man muß die Vorgänge im niederen Seelenbezirk von de-nen im höheren Seelenbereich wohl unterscheiden. Ihr seid z. B. jetztwegen eines Tadels oder wegen einer Widerwärtigkeit sehr erregt. Euer

Page 177: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

176 13. Einfachheit

Wille hat aber damit nichts zu tun, die Bitterkeit bleibt nur im niede-ren Seelenbezirk haften; der höhere Seelenbereich will davon nichtswissen, sondern ist mit diesem Vorfall einverstanden, willigt ein undheißt ihn gut.

Wir sagten vorhin, daß die Gottesliebe unverwandt auf das Ziel hin-schaut, das sie erreichen will: auf die Gottesliebe. Die Gottesliebe ver-langt aber von uns, daß wir unsere bitteren Gefühle zurückhalten, be-herrschen und abtöten, und gewiß nicht, daß wir sie zur Schau tragenund offenbaren. Es ist also nicht gegen die Einfachheit, wenn wir beiWiderwärtigkeiten nach außen heiter sind.

Aber nun sagt man: „Täusche ich dann nicht die anderen, die michfür tugendhaft halten werden, wo ich doch so unbeherrscht bin?“ Nein;– aber der Gedanke, was man von euch sagen, von euch denken könnte,der ist gegen die Einfachheit. Wir stellten ja fest, daß diese nur ein Zielhat, Gott zufrieden zu stellen und die Geschöpfe nur insoweit, als esdie Gottesliebe verlangt.

7. Hat die einfache Seele einmal getan, wozu sie sich verpflichtetglaubte, dann kommt sie nicht mehr darauf zurück. Stellen sich eitleGedanken ein, was man wohl von ihr denken oder reden mag, so weistsie diese sofort ab; sie verträgt nichts, was sie ablenken könnte von demVorhaben, ihre ganze Aufmerksamkeit auf Gott gerichtet zu halten,um in seiner Liebe zu wachsen. Die Meinung der Menschen berührt sienicht, sie bezieht ja alles auf Gott.

8. Das gleiche gilt hinsichtlich eurer Frage, ob es erlaubt ist, aus Klug-heit der Oberin etwas zu verschweigen, besonders dann, wenn es sie oderuns aufregen könnte. Wenn ich einfach bin, dann überlege ich nur, obes angebracht ist, das oder jenes zu sagen oder zu tun, und verschwendekeine Zeit an den Gedanken, ob die Oberin sich aufregen könnte oderob ich mich aufregen werde, wenn ich ihr sage: Ich habe das und jenesvon Ihnen gedacht. Ist es für mich notwendig, daß ich rede, dann redeich, gehts, wie es will. Habe ich meine Pflicht getan, dann brauche ichmich um das Weitere nicht zu kümmern, Gott will es nicht.

Man braucht die Aufregung nicht so zu fürchten, weder bei sich nochbei anderen; sie ist ja an sich keine Sünde; im „Geistlichen Kampf“heißt es sogar, daß man zuweilen den Anlaß dazu aufsuchen soll, umsich zum Kampf zu stählen. Ich weiß z. B., daß ich in der und derGesellschaft Worte hören werde, die mich ärgern und aufregen; stattnun wegzubleiben, gehe ich hin, bewaffnet mit großem Vertrauen auf

Page 178: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

17713. Einfachheit

die göttliche Vorsehung, sie wird mir die Kraft geben, meine Natur, dieich bekämpfen will, zu besiegen. Die Aufregung berührt ja nur denniederen Seelenbereich; also liegt kein Grund zum Erstaunen oder zurFurcht vor, vorausgesetzt, daß wir nicht auf sie achten und nichts vonihr wissen wollen, das heißt, daß wir ihrem Einfluß nicht unterliegen;denn einwilligen dürfen wir auf keinen Fall.

Woher meint ihr wohl, daß die häufige Aufregung kommt? Woheranders als vom Mangel an Einfachheit. Statt sich mit Gott zu befassenund mit dem, was uns ihm wohlgefällig macht, beschäftigt man sich mitder Frage: „Was wird man da sagen, was wird man da denken?“

„Wenn ich das aber der Oberin sage, dann bin ich noch aufgeregterals zuvor.“ – Gut, wenn ihr nichts sagen wollt, wenn keine Notwendig-keit dazu besteht und ihr auch keine Belehrung über diese Handlungbraucht, dann entschließt euch rasch und verliert keine Zeit mit demNachdenken: Soll ich oder soll ich es nicht sagen? Es wäre sinnlos,unter dem Vorwand der Klugheit stundenlang Erwägungen über jedeKleinigkeit anzustellen.

„Wenn ich der Oberin alle Gedanken sage, die mich am meisten de-mütigen, dann bin ich nachher erst recht traurig.“ – Sie fragen also, mei-ne liebe Tochter, ob es angebracht oder notwendig ist, der Oberin geradedie Dinge zu sagen, die am meisten demütigen? Ich möchte meinen, daßihr euch gerade über diese aussprechen sollt, nicht über die belanglosen,die das Gespräch nur in die Länge ziehen. Und fühlt ihr euch daraufhinnicht erleichtert, dann kommt das nur vom Mangel an Selbstverleug-nung. Wozu das verschweigen, was mich besonders demütigt, und dasberichten, was mir keinen geistigen Gewinn bringt? Der Einfachheit istes allein um die Gottesliebe zu tun. Am sichersten aber finden wir dieGottesliebe bei der Selbstverleugnung. Im gleichen Maße, wie wir unsselbst verleugnen, nähern wir uns der Gottesliebe. – Ihr fürchtet, dieOberin zu demütigen oder aufzuregen? O, kümmert euch doch nichtdarum! Denn Oberinnen müssen vollkommen sein oder wenigstens wieVollkommene handeln. Darum haben sie ein offenes Ohr für alles, wasman ihnen sagt, und hören es an, ohne es besonders schwer zu nehmen.Die einfache Seele mischt sich nicht in die Angelegenheiten anderer ein;sie kümmert sich nur um sich selber und auch das nur insoweit, als esnotwendig ist. Unnütze Gedanken weist sie immer und sofort ab. DieEinfachheit hat eine große Ähnlichkeit mit der Demut, die von allenMenschen gut und nur von sich gering denkt.

Page 179: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

178 13. Einfachheit

9. Nun möchtet ihr gerne wissen, wie man zu dieser Einfachheit, zuUnbefangenheit und Freimut in Gesprächen und in der Erholungszeitkommt, da doch jeder Mensch wieder anders ist und es gar nicht möglichist, daß alle mit unseren Worten einverstanden sind und sie gutheißen.

Das wäre freilich schön, wenn wir unsere Worte jedem Empfinden undjedem Temperament anpassen könnten, sodaß es gar keinen Widerspruchgäbe. Das wird aber niemandem gelingen; wir brauchen uns darum auchnicht zu bemühen; es ist gar nicht nötig. „Muß ich aber nicht jedes Wort,das ich zu sagen habe, vorerst genau überlegen, damit ich ja niemandkränke?“ – Durchaus nicht, wenn Sie sich nur an das Regelbuch halten,nur das sagen, was am Platz ist und was zur Unterhaltung und Aufheite-rung beiträgt. Käme Ihnen der Wunsch, etwas zu sagen, was nicht damitübereinstimmt, dann müßten Sie sich zurückhalten, da die Einfachheitsich in allen Dingen an das Gesetz der Liebe hält. Bei aller Harmlosig-keit muß man doch wissen, was man sagt, darf nicht ins Blaue hineinreden und alles sagen, was einem in den Sinn kommt.

„Da ist aber vielleicht eine etwas melancholische Schwester nebenmir, die mir nicht gern zuhört, und ich möchte mich doch unterhal-ten.“ – Meine Tochter, beachten Sie das lieber gar nicht! Was solltenSie auch machen? Heute ist jene ernst oder melancholisch, ein ander-mal sind Sie es selbst; jetzt ist es an Ihnen, die Unterhaltung für Euchbeide zu besorgen, ein andermal ist es an ihr. Das wäre eine schöneGeschichte, wollten wir nach ein paar fröhlichen Worten alle Schwe-stern der Reihe nach anschauen, ob sie mitlachen und einverstandensind, und dann, weil eine nicht mittut, uns grämen und meinen, daßunsere Worte mißfielen oder mißverstanden wurden. Nein, so dürfenwir es nicht machen; wo solche Beobachtungen angestellt werden, dasteckt die Eigenliebe dahinter. Von Einfachheit ist dann keine Redemehr.

10. Eine Seele, die einfach ist, läuft nicht jedem Wort und jeder Hand-lung nach, sie überläßt den Ausgang der göttlichen Vorsehung, der siesich mit ganzer Seele hingegeben hat; sie wendet sich nicht nach rechtsund nicht nach links, sie geht einfach geradeaus. Und findet sie eineGelegenheit, eine Tugend zu üben, so greift sie diese sorgsam auf undsieht in ihr ein geeignetes Mittel, sich ihrem Ziel, der Gottesliebe, zunähern, doch tut sie das in aller Ruhe; sie schätzt keine Gelegenheitgering und läßt auch keine vorübergehen, aber sie schaut nicht ängst-lich danach aus und überstürzt sich nicht, sie zu suchen. Sie verhält

Page 180: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

17913. Einfachheit

sich ganz still, sie ruht im festen Vertrauen, daß Gott um ihre Sehn-sucht, ihm zu gefallen, weiß, und das genügt ihr.

Wie aber lassen sich zwei so entgegengesetzte Dinge miteinandervereinen? Auf der einen Seite sagt man uns: Ihr müßt euch sehr eifrigum eure Vollkomenheit, um den Fortschritt bemühen, – auf der ande-ren Seite verbietet man uns, darüber nachzudenken?

Seht doch die Schwäche des menschlichen Geistes. Immer muß er über-treiben. Verbietet man einem jungen Mädchen, nach Einbruch der Dun-kelheit auszugehen, so wird es sich über die Härte seiner Mutter bekla-gen, die es gar nicht ausgehen läßt. – Es wurde ihr nur untersagt, abendsfortzugehen, sie aber redet, wie wenn man ihr überhaupt jeden Ausgangverboten hätte. – Eine andere singt zu laut, man macht sie darauf auf-merksam und sie antwortet: „Jetzt singe ich aber so leise, daß man michgewiß nicht mehr hört.“ – Eine andere, der man sagt, daß sie zu schnellgehe, geht daraufhin so langsam, daß man ihre Schritte zählen kann. –Was ist da zu machen? Man muß es mit Geduld tragen, vorausgesetzt,daß man diesen Fehlern keine Nahrung gibt und sie nicht aus Eigensinnbegeht. Man kann nicht immer geradeaus gehen; hie und da wird manstolpern oder etwas zur Rechten oder zur Linken abweichen; – wennman nur so schnell als möglich wieder gerade vor sich hingeht, dann darfman schon ganz zufrieden sein. Wir haben diesen Fehler von unsererguten Mutter Eva. Sie tat dasselbe, als der Teufel ihr einflüsterte, sie solledoch von der verbotenen Frucht essen. Sie übertrieb in ihrer Erwiderungund sagte, Gott habe verboten, die Frucht anzurühren, wo er doch nurdas Essen dieser Frucht untersagt hatte (Gen 3,3).

11. Sie möchten gerne wissen, meine liebe Schwester, ob Sie in allerEinfalt antworten sollen, wenn eine Schwester fragt, ob Sie wegen etwas,was sie Ihnen gesagt oder was sie getan hat, getadelt worden seien? –Die Schwester sollte diese Frage überhaupt nicht stellen; halten Sieaber die Schwester für so gefestigt, daß ihr Vertrauen nicht leidet, dannsagen Sie ihr, wie es ist, und antworten ganz einfach mit Ja, natürlichnur, wenn es auch wahr ist. Bitten Sie aber die Schwester zugleich, sichtrotzdem stets unbekümmmert Ihrer zu bedienen; Sie wären ihr dank-bar dafür. Scheint es Ihnen aber, als würde sie daraufhin etwas mißtrau-isch, so können Sie ihr ruhig eine ausweichende Antwort geben, damitsie sich wieder getraue, Sie um einen Dienst zu bitten.

12. Manche Leute sind der irrigen Ansicht, es sei Verstellung undHinterlist, Menschen, die uns unsympathisch sind, Beweise herzlicher

Page 181: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

180 13. Einfachheit

Liebe und freundschaftlicher Gesinnung zu geben. Das stimmt aber nicht.Für die Abneigung können wir nichts, sie hat ihren Sitz im niederenBereich der Seele, der Wille weist sie hinaus, sie läßt sich aber nichthinauswerfen. Die Beweise der Liebe, die wir jenen geben, die uns zu-wider sind, setzen wir aber, weil uns die Vernunft dazu antreibt, die unsvor Augen hält, wie notwendig Abtötung und Selbstverleugnung sind.Wir handeln also nicht gegen die Einfachheit, obwohl unser Gefühlnicht mit Wort und Tat übereinstimmt, denn wir verleugnen diese Ge-fühle, als wären sie uns fremd, wie es ja auch wirklich ist. Wie unsinnighandeln dagegen die Weltleute, wenn sie sich mit ihrer angeblichenOffenheit brüsten, weil sie ihre Feinde schief ansehen, – und das geradeund ehrlich heißen!

Wir sind z. B. auch nicht unaufrichtig, wenn wir uns den Anscheingeben, eine Sache, die uns sehr liegt, nicht gern tun zu wollen, – ichmeine, wenn es gilt, einer Schwester, wie Sie sagen, eine Arbeit zuüberlassen, die ihr Freude macht, während es Ihnen zugleich eine Über-windung kostet, sie nicht machen zu dürfen. Der Wunsch, diese Arbeitzu bekommen, regt sich ja im niederen Seelenbereich, während derhöhere es vorzieht, nicht sich selbst, sondern der Schwester eine Freu-de zu machen. Wir dürfen nie vergessen, daß die Vorgänge im niederenSeelenbereich und in den Sinnen gar keinen Platz in unserer Überle-gung haben dürfen, geradeso, als sähen wir sie überhaupt nicht.

Was wäre noch über die Einfachheit zu sagen? Wir müssen ja auchein Wort über die Klugheit sagen. Das tun wir nachher, die Einfachheitbrauchen wir ja mehr als die Klugheit.

13. Wenn wir hin und her überlegen, ob die Fehler, die wir eine Mit-schwester machen sehen, schwer genug sind, um die Oberin davon inKenntnis zu setzen, so ist das gegen die Einfachheit. Sagt doch, ist denndie Oberin nicht fähig, selber zu überlegen und zu beurteilen, ob einTadel angebracht ist oder nicht? Es ist doch etwas anderes, als wenn ihrmit jemand darüber sprechen würdet, der nichts dagegen machen kann.– „Aber was weiß ich, warum die Schwester das getan hat, sie hattevielleicht eine ganz gute Absicht?“ – Das kann schon sein. Aber die Tat,war sie recht oder unrecht? – „Dem äußeren Anschein nach war sieunrecht.“ – Warum sollten wir sie dann nicht vorbringen? Wir haben janicht die Absicht, sondern die Tat zu melden. Warum also sich beunru-higen?

Page 182: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

18113. Einfachheit

Sie denken, meine liebe Tochter, es sei nicht der Mühe wert, wegeneiner Kleinigkeit die Schwester aufzuregen. Vielleicht tut sie es vonselber nicht mehr. – All das heißt nicht einfach handeln, denn die Re-gel verpflichtet euch, an der Besserung der Schwestern durch Ermah-nungen mitzuarbeiten, sie verpflichtet euch aber nicht zu peinlichemHin- und Herüberlegen, als wenn die Ehre der Schwester davon abhin-ge. Ich gehe sogar so weit zu sagen: Wüßte ich, daß diese Schwester inihrer Aufregung über meine Meldung oder über den veranlaßten Tadeleine läßliche Sünde begehen werde, dürfte ich doch nicht davon abse-hen. Und ich dürfte das schon gar nicht, bloß weil ich weiß, daß sie sichdarüber aufregen wird. Denn das ist ja an sich keine Sünde, sondernkann erst Sünde werden, wenn es schlechte Wirkungen zeitigt. – Dar-auf müßt ihr freilich achten, daß ihr den richtigen Zeitpunkt wahr-nehmt, denn es ist gefährlich, den Tadel gleich auf der Stelle auszuspre-chen. Wenn ich voraussehe, daß die Schwester nach einer kleinen Wei-le in einer besseren Verfassung sein wird, so muß ich selbstverständlichwarten. Sonst aber müssen wir in aller Einfachheit, ohne Bedenken dasausführen, wozu wir vor Gott verpflichtet sind; denn selbst wenn sichdie Schwester nach dem Tadel oder nach der Mahnung aufregt, kannich nichts dafür, ich bin auch nicht schuld daran, sondern einzig undallein die Unbeherrschtheit der Schwester. Und wenn sie daraufhineine läßliche Sünde begehen sollte, so kann diese der Anlaß sein, ver-schiedene andere Sünden zu vermeiden, die sie begangen hätte, wennsie in ihrem Fehler stecken geblieben wäre.

14. Nein, meine Tochter, die Oberin soll von einem Tadel nicht des-halb absehen, weil der Schwester die Zurechtweisung zuwider ist. Siewird uns wahrscheinlich zeitlebens zuwider bleiben; denn die Liebezur Verdemütigung geht dem Menschen gegen die Natur, aber der Wil-le darf diese Abneigung nicht begünstigen, er hat die Verpflichtung zulieben.

Die Regeln sagen ausdrücklich, daß ihr auf den Fehler unter vierAugen aufmerksam machen könnt, wenn er verborgen geblieben ist. –„Aber da sieht man uns dann miteinander reden und dann werden wirdafür getadelt.“ – Sicher, denn die Schwestern, die euch beisammensehen, wissen ja nicht, worum es sich handelt. Aber was liegt daran? Ihrwerdet getadelt: Gott sei dafür gepriesen! So erhaltet ihr eine Ver-demütigung und ihr sollt euch darüber freuen, daß ihr getadelt werdet,wenn ihr Gutes tut. Denn dann gehört ihr gewiß zur Partei des Hei-

Page 183: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

182 13. Einfachheit

lands, der niemals etwas Böses getan und doch für einen Übeltäter zumTod verurteilt werden wollte. Die einfache Seele nimmt diese Verde-mütigung in aller Liebe an als wirksames Mittel, um dem Ziel ihrerSehnsucht wieder näher zu kommen, mit dem Heiland ganz eins zuwerden durch eine völlige Übereinstimmung des Lebens und Handelnsmit dem seinen.

15. Ihr möchtet wissen, ob ihr die Oberin auch dann auf die von denSchwestern an ihr bemerkten Fehler aufmerksam machen sollt, wennsie nicht zeigt, daß sie damit einverstanden ist. Selbstverständlich! DieOberin braucht auch ihr Einverständnis nicht zu zeigen. Wozu dennaufpassen, ob sie es billigt oder nicht? Sie hört euch an, merkt auf das,was ihr sagt, das genügt doch? – „Sie sagt mir nicht, ob sie es für gutempfindet, daß ich geredet habe.“ – Das ist doch ganz gleich. Ihr habteure Pflicht getan, worum kümmert ihr euch noch? – „Sie meint abervielleicht, ich hätte es nicht aus Liebe, sondern aus einem anderen Grundgesagt.“ – Meine lieben Töchter, das sind lauter Winkelzüge, die garnicht zur Einfachheit passen, da sich diese ja nur um den Heiland küm-mert. Doch weiter!

16. Ich weiß nicht, was unsere gute Mutter jetzt gerne hätte, aber eswird schon so sein, wie ihr sagt; wir wollen über die Einfachheit spre-chen, mit der man seine Seele von Gott und von seinen Vorgesetztenleiten lassen soll.

Es gibt Seelen, die, wie ihr sagt, so selbstsicher sind, daß sie sich nurvom Geist Gottes leiten lassen wollen. Alles, was sie sich einbildenhalten sie für Eingebungen und Regungen des Heiligen Geistes, der siebei der Hand nimmt und bei allem, wie sie meinen, führt, wie manKinder führt. Da täuschen sie sich aber gewaltig. Ich bitte euch, gab esje eine auffallendere Berufung als die des hl. Paulus? Der Heiland selbstrief ihn an, um ihn zu bekehren. Trotzdem wollte er ihn nicht selberunterweisen, sondern schickte ihn zu Hananias: „Geh, du wirst einenMann finden, der dir sagt, was du tun sollst“ (Apg 9,4-7). Daraufhinhätte Paulus fragen können: „Herr, warum sagst du mir das nicht sel-ber?“ Er fragt aber nicht, sondern tut ganz einfach, was der Herr ihmaufgetragen hat. – Und da bilden wir uns ein, daß wir bei Gott in nochhöherer Gunst stehen als der hl. Paulus, und meinen, er wolle uns sel-ber führen, ohne sich dabei eines Geschöpfes zu bedienen?

Da war einmal ein junges Mädchen, das sich diese Idee in den Kopfgesetzt hatte. Ihr Seelenführer hat es mir selber erzählt. Sie bildete sich

Page 184: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

18313. Einfachheit

ein, sie dürfe nur das tun, was der göttliche Bräutigam ihrer Seele sageoder eingebe. Das brachte die Mutter des Mädchens in große Schwie-rigkeiten. Sagte sie z. B. der Tochter, sie sollte jetzt in die heilige Messegehen oder zum Essen kommen, so bekam sie die Antwort: „Das tueich dann, wenn mein göttlicher Bräutigam es haben will.“ So sollteman also bei allem immer erst auf die Stimme des göttlichen Bräuti-gams warten!

Nun, meine lieben Töchter, für uns ist die Stimme des göttlichenBräutigams der Gehorsam. Was außerhalb dieses Gehorsams liegt, istalles Täuschung.

„Mein Gott, ich fühle mich zu einer so großen inneren Einfachheithingezogen, und jetzt reißt man mich heraus, um mit den anderen allesmitzumachen, z. B. was das Direktorium für die verschiedenen Übun-gen bestimmt.“

Sicher werden wir nicht alle den gleichen Weg geführt, doch nichtjeder braucht den Weg, auf dem Gott ihn haben will, auch zu kennen,das ist Sache der Vorgesetzten, denen Gott Gnade dafür gibt. Sagen wirnur nicht: Sie kennen uns nicht genug. Wir müssen glauben, daß sie unskennen. Gehorsam und Fügsamkeit sind immer die untrüglichen Zei-chen echter Eingebung.

„Bei den Übungen, die man mich jetzt machen läßt, empfinde ich garkeine Freude, während die anderen für mich so trostreich gewesen sind.“– Das ist schon möglich. Der Wert unseres Handelns bemißt sich abernicht nach dem geistlichen Freudengefühl. Wir dürfen uns nicht anunsere eigene Befriedigung anklammern; das hieße nur nach den Blü-ten und nicht nach den Früchten greifen. Ihr habt mehr Gewinn davon,wenn ihr den Weisungen der Vorgesetzten folgt, als wenn ihr eureninneren Trieben nachlauft. Aus diesen schießt meist nur Eigenliebeempor, die unter dem Deckmantel des Guten sich nur in eitler Selbst-überhebung gefällt.

Kein Zweifel! Das Wohl unserer Seele hängt davon ab, ob wir unsvom Heiligen Geist uneingeschränkt führen und beherrschen lassen.Gerade das will die wahre Einfachheit, die uns der Heiland so sehr ansHerz legt: „Seid einfältig wie die Tauben,“ sagt er zu den Aposteln, undweiter: „Wenn ihr nicht einfach werdet wie die Kinder, werdet ihr nichtin das Reich meines Vaters eingehen“ (Mt 18,3).

17. Solange ein Kind noch ganz klein ist, ist es ganz Einfachheit, eshat nur eine einzige Erkenntnis: Die Mutter; nur ein Verlangen: die

Page 185: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

184 13. Einfachheit

Brust der Mutter. An diese Brust gelegt und gebettet, ist es wunschlos.Die vollkommen einfache Seele hat auch nur eine Liebe: Gott. Unddiese Liebe hat wiederum nur ein Verlangen: Ruhen an der Brust deshimmlischen Vaters, dort als wahrhaft liebendes Kind wohnen, demguten Vater alles Sorgen um das eigene Wohl überlassen. Sie ist nurnoch auf eines bedacht: Sich dieses heilige Vertrauen zu erhalten. Wohlsieht sie sich vieler Tugenden und vieler Gnaden bedürftig, aber keinübermäßiges Verlangen beunruhigt sie, noch hastet sie ängstlich nachVollkommenheit. Sie übersieht nichts, was sich ihr am Weg bietet, siehält sich aber nicht damit auf, sich anderer als der zur Vollkommenheitvorgeschriebenen Mittel zu bedienen. Wozu auch nach Tugenden ver-langen, die wir doch nicht anwenden können? Sanftmut, Liebe zurVerdemütigung, Demut, zarte Liebe und Herzlichkeit gegen den Näch-sten sind im Verein mit dem Gehorsam jene Tugenden, die wir alle fürgewöhnlich üben sollen. Wir haben oft Gelegenheit, sie anzuwenden;darum müssen wir sie fleißig üben. Um Tugenden wie die Standhaftig-keit und Freigebigkeit brauchen wir uns nicht zu sorgen, weil wir viel-leicht niemals in die Lage kommen, sie zu üben. Deshalb sind wir dochnicht weniger hochherzig und großmütig.

18. Zum Schluß möchte ich noch zusammenfassend sagen, daß ichunterscheide zwischen den Leuten, die in der Welt leben (ich meine diefrommen Laien) und den Schwestern der Heimsuchung. Die frommenLaien bedürfen der Klugheit, um ihren Besitz zu vermehren, ihre Fa-milie zu ernähren, sonst könnten sie ihren Verpflichtungen nicht genü-gen. Und wenn sie sich dabei auch weit mehr auf die göttliche Vorse-hung als auf den eigenen Fleiß stützen sollen, so dürfen sie doch ihreAngelegenheiten nicht vernachlässigen.

Die Schwestern der Heimsuchung hingegen müssen alle persönli-chen Sorgen in die Hand Gottes hineinlegen. Ich meine das nicht nurfür die äußeren Dinge, für die leiblichen Bedürfnisse, sondern vor al-lem für den inneren Fortschritt. Sie mögen es der göttlichen Güte über-lassen, ihnen geistliche Güter, Tugenden und Gnaden zu geben, so wiees ihr gefällt. Ganz in der Hand der göttlichen Vorsehung sein wollen,das ist ihre Klugheit.

19. Die Tiere, die am klügsten sind, – es gibt nämlich eine natürlicheund eine übernatürliche Klugheit – sind auch die weniger edlen, diefeigsten und furchtsamsten. Der Fuchs, der so durchtrieben und schlauist, ist auch furchtsam. Der Hase, der den hetzenden Hunden so ge-

Page 186: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

18513. Einfachheit

schickt auszukommen weiß, daß sie ihn nicht erwischen, ist furchtsam.Die Ameise ist ungemein klug und umsichtig. Selbst der Hirsch isttrotz seiner Größe furchtsam und deshalb durchtrieben und schlau.Der Löwe hingegen, dieses königliche Tier, geht im Gefühl seiner Tap-ferkeit in aller Unbefangenheit seinen Weg, und darum schläft er genauso ruhig mitten auf der Straße wie in einer Höhle. Und auch das Kamelgeht einfach seines Weges, obwohl es so stark und kräftig ist, daß es sichruhig ein ganzes Haus aufladen ließe und es forttrüge. – Von den klei-nen Tieren sind die Tauben und Schäflein ganz einfältige Geschöpfe,sodaß man sie liebhaben muß.

Zu guter Letzt noch ein Wort über die Klugheit der Schlangen. Sage ichetwas über die Einfalt der Tauben, dann hält man mir gewiß gleich dieSchlangen entgegen. Schon manche fragten, welche Schlange wohl ge-meint sei, von der wir die Klugheit lernen sollen. Als Mose die Israelitenin die Wüste führte, wurden viele von kleinen Schlangen gebissen undviele Menschen starben, weil die Heilmittel fehlten. Da erbarmte sichder Herr und befahl dem Mose, eine eherne Schlange aufzurichten, da-mit jeder, der gebissen worden, geheilt würde, wenn er sie anschaue (Num2,18 f). Nun, die eherne Schlange, die in der Wüste an einem Pfahl aufge-richtet wurde, ist ein Sinnbild unseres Herrn und Meisters, der auf demKalvarienberg am Kreuzespfahl erhöht werden sollte und so die Klug-heit der Schlange in wunderbarer Weise zur Schau trug.

Die Schlange legt ihre Haut ab, wenn sie alt geworden ist. Vielleichtkönnen wir auch darin einen Vergleichspunkt sehen. – Der Herr legteseine ganze Herrlichkeit ab, denn er wurde „den Juden ein Ärgernis,den Heiden eine Torheit“ (1 Kor 1,23); uns gläubigen Christen aberwurde er zur Erbauung, er wurde unser Erlöser, das Ziel all unsererLiebe; er wurde uns der gütigste Arzt für alle unsere Gebrechen. Schauenwir auf zu ihm, der da am Kreuz hängt, dann werden wir nicht sterben!Dieser Aufblick heilt unsere Wunden.

Wir können die Worte des Heilands: „Seid klug wie die Schlangen“auch in diesem Sinn verstehen: Seid klug, wie die Schlange es ist, dieden Leib preisgibt, wenn sie angegriffen wird, um den Kopf zu retten.Wir sollen es auch so machen, wir sollen, wenn nötig, alles preisgeben,damit wir den Heiland in uns retten, d. h. die Liebe zu ihm, die gleich-sam das Haupt unserer Seele ist, denn Christus ist „unser Haupt“ undwir sind „seine Glieder“ (Eph 4,15; Kol 1,18; 1 Kor 6,15).

*

Page 187: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

186 13. Einfachheit

Und nun wollen wir auch die Klugheit üben, indem wir diese Unter-redung beenden; ich fürchte, die Schwestern zu lange aufzuhalten. Nurdies noch: Ich möchte, daß ihr das eine nicht vergeßt: Es gibt zweiArten von Klugheit: die natürliche und die übernatürliche. Die natür-liche Klugheit ist zu verwerfen und auszumerzen; sie ist nicht gut, sieflößt uns eine Menge kleinlicher Erwägungen und Vorsichtsmaßregelnein, die ganz unnütz sind und den Geist von der Einfachheit abziehen.

Die echte Tugend der Klugheit müssen wir zweifellos pflegen, dennsie ist das übernatürliche Salz, das allen anderen Tugenden Geschmackund Würze gibt. Wir in der Heimsuchung haben sie in der Weise zupflegen, daß die Tugend des kindlichen Vertrauens über allem steht.

Wir wollen mit einfachem Vertrauen in den Armen unseres Vatersund unserer lieben Mutter ruhen, in der vollen Überzeugung, daß derHeiland und Unsere Liebe Frau als unsere Mutter uns stets beschützenund in mütterlicher Sorgfalt behüten; sind wir doch hier vereint, sie zuehren und ihren Sohn, der unser guter Vater und gütigster Heiland ist,zu verherrlichen.

Alles zum Ruhme und Lobpreis unseres Herrn Jesus Christus, derallerseligsten Jungfrau und des glorreichen hl. Josef!

Page 188: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

18714. Geist der Regel

14. Gespräch

Über den Geist der RegelÜber den Geist der RegelÜber den Geist der RegelÜber den Geist der RegelÜber den Geist der Regel11111

Ihr fragt mich nach dem Geist eurer Regel und wie ihr ihn euch an-eignen könnt. Bevor wir diese schwierige Frage beantworten, müssenwir zuerst wissen, was das heißt: den Geist der Regel, den Ordensgeistbesitzen. Man hört ja oft sagen: Dieser oder jener Ordensmann lebtganz nach dem Geist seiner Regel.

I .I .I .I .I .

Wir entnehmen dem Evangelium zwei Beispiele, die geeignet sind,uns dies verständlich zu machen. Vom hl. Johannes dem Täufer heißtes, er sei „im Geist und in der Kraft des Elija“ gekommen und habe dieSünder, die er „Natterngezücht“ nannte, unerschrocken und streng zu-rechtgewiesen (Lk 1,17; 3,7; Mt 3,7). Welcher Art war nun diese „Kraftdes Elija“? Das war die Kraft, die von seinem Geist ausströmte zurZüchtigung und Vernichtung der Sünder, das war die Kraft, die Feuervom Himmel fallen ließ zum Verderben und zum Schrecken aller, diesich gegen die Majestät seines Herrn auflehnten: Elija also hatte einenGeist der Strenge.

Das zweite unserem Thema entsprechende Beispiel entnehmen wirdem 9. Kapitel des Lukas-Evangeliums (51-56): Als Jesus nach Jerusa-lem gehen wollte, rieten ihm die Jünger davon ab, die einen zog es nachKafarnaum, die anderen nach Betanien, und so suchten sie den Herrndahin zu führen, wo sie hinwollten, – denn nicht erst seit heute wollendie Untergebenen ihre Vorgesetzten führen und ihnen ihren Willenaufdrängen. Der sonst so nachgiebige Heiland aber „härtete sein Ant-litz“ und zeigte so seine Entschlossenheit, nach Jerusalem zu reisen,damit die Jünger keinen weiteren Versuch mehr machten, ihn davonabzubringen. Auf dem Weg nach Jerusalem wollte er durch ein Sama-riterdorf ziehen, aber dessen Bewohner verweigerten es ihm. Darüberereiferten sich Jakobus und Johannes und gerieten in Zorn, – dennEifer wird sehr oft für Zorn und Zorn für Eifer gehalten, – was nichtWunder nimmt, denn sie waren noch nicht in der Gnade gefestigt. Siewaren also über die Ungastlichkeit der Samariter sehr aufgeregt undsagten zum Meister: „Herr, willst Du, so heißen wir Feuer vom Him-

Page 189: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

188 14. Geist der Regel

mel herabkommen,“ um sie zu vernichten und sie dafür zu strafen, daßsie Dich beleidigt haben. Der Herr aber antwortete: „Ihr wißt nicht,wes Geistes ihr seid“ (Lk 9,56). Er wollte sagen: Wir sind nicht mehr inden Zeiten des Elija mit seinem Geist der Strenge. Gewiß, Elija war eingroßer Diener Gottes und hatte das Recht zu tun, was ihr gern tätet,doch würdet ihr nicht gut daran tun, ihn nachzuahmen, denn „ich binnicht gekommen“, um die Sünder niederzuschmettern und zu strafen,sondern sie mit dem Duft der Güte zur Buße und zu meiner Nachfolgezu locken.

2. Das also verstehen wir unter „Geist“. Ich möchte aber, um das Ver-ständnis zu erleichtern, noch einige Vergleiche aus anderen Orden heran-ziehen, bevor ich vom Geist unserer Genossenschaft zu reden beginne.

Die Orden und frommen Genossenschaften sind insgesamt von ei-nem gemeinschaftlichen Geist beseelt; dazu kommt aber noch ein je-dem Orden und jeder Genossenschaft eigentümlicher Geist. Allen ge-meinsam ist das Streben nach vollkommener Liebe. So wurde es vonder Kirche bestimmt und von den Konzilien als unzweifelhafte Lehreanerkannt. Der besondere Geist eines Ordens hingegen ist gekennzeich-net durch die Mittel, die angeordnet sind, um diese vollkommene Lie-be, d. h. die vollkommene Vereinigung mit Gott und mit den Mitmen-schen, aus Liebe zu Gott zu erreichen. Die Vereinigung mit Gott ge-schieht durch das Aufgehen unseres Willens in dem seinen, die Verei-nigung mit dem Nächsten durch die Milde, die eine Tochter der Näch-stenliebe ist.

Was ist der besondere Geist der einzelnen Orden? Der Ordensgeistder Kartäuser unterscheidet sich von dem der Jesuiten sehr wesentlichund der Ordensgeist der Kapuziner wiederum von dem der Jesuiten.Der Geist der Kartäuser ist ausgedrückt in ihren Mitteln, zur Vereini-gung mit Gott und mit dem Nächsten zu gelangen. Ihr besonderes Vor-haben ist, sich mit Gott durch die Beschauung zu vereinigen. Darumleben sie in der Einsamkeit, verkehren mit Weltleuten so wenig alsmöglich, ja kommen selbst untereinander nur an bestimmten Wochen-tagen zusammen. Sie vereinigen sich mit dem Nächsten durch Gebet,indem sie für ihn bei Gott Fürbitte leisten.

Der Geist der Jesuiten wieder umfaßt gewiß auch das Streben nachVereinigung mit Gott und mit dem Nächsten; ihr Mittel dazu aber istdie Tätigkeit und zwar die geistige Arbeit. Sie vereinigen sich mit Gott,indem sie den Nächsten mit ihm vereinigen durch Studium, Predigt,

Page 190: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

18914. Geist der Regel

Beichthören, Vorträge und ähnliche fromme Werke. Um dies zu er-reichen, verkehren sie mit der Welt und haben eine Kleidung, die nichtzu sehr auffällt und auch nicht streng wirkt. Wohl pflegen sie auch dasGebet, um sich mit Gott zu vereinigen, betrachten es jedoch als ihrenHauptzweck, die Seelen zu bekehren und mit Gott zu vereinigen.

Der Ordensgeist der Kapuziner ist herb und streng. Er ist, um esgenau zu sagen, auch nach außen der Geist vollkommener Verachtungder Welt, all ihrer Eitelkeiten und Sinnlichkeiten. Ich sage: Auch nachaußen, denn im Innern sollen alle Orden diesen Geist der Weltverach-tung haben. Die Kapuziner wollen also durch ihr Beispiel die Men-schen dazu bringen, alles Irdische zu verachten, – darum auch die Ar-mut in ihrer Kleidung, – um sie so zu Gott zu bekehren. Auf dieseWeise vereinigen sie sich mit der göttlichen Majestät und auch mit demNächsten aus Liebe zu Gott. Dieser Geist der Strenge ist so bezeich-nend für sie daß man einem Kapuziner, der etwas Affektiertes an sichoder etwas Geziertes an seiner Kleidung hätte oder der besser behan-delt sein wollte als seine Mitbrüder, sofort den Geist des hl. Franziskusabsprechen würde.

Und ein Kartäuser, dem es nur im geringsten um den Verkehr miteinem Menschen zu tun wäre, selbst in der reinsten Absicht, ja sogarum ihn zu bekehren, der würde sofort etwas von seinem Ordensgeisteinbüßen. Ebenso ein Jesuit, der sich in die Einsamkeit zurückziehenund dem beschaulichen Gebet obliegen wollte, abgesehen von der Zeit,die in seiner Tagesordnung dafür vorgesehen, und vom Bedürfnis deseinzelnen, das dem klugen Ermessen der Vorgesetzten anheimgestelltist.

Es ist also sehr wichtig zu wissen, wessen Geistes ein Orden odereine fromme Genossenschaft ist. Man erkennt ihn am Zweck der Grün-dung und an den Mitteln zur Erreichung dieses Zieles. Einen allgemei-nen Zweck haben, wie gesagt, alle Orden; ich spreche aber vom beson-deren Zweck, zu dem wir von einer ganz besonderen Liebe beseelt seinsollen und deshalb alles, was ihn erreichen hilft, von ganzem Herzenumfangen müssen.

Wißt ihr, was das heißt: Den Zweck einer Ordensgemeinschaft lie-ben? Das heißt: Sich genau an die Mittel zur Erreichung dieses Zwek-kes, also an die Regeln und Konstitutionen halten, pünktlich alles tun,was damit zusammenhängt und was dazu beiträgt, sie immer noch voll-kommener zu beobachten. Aber auch darin muß man in aller Einfalt

Page 191: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

190 14. Geist der Regel

vorgehen, d. h. über diese Regeln und Konstitutionen nicht hinausge-hen wollen, nicht den Ehrgeiz haben, mehr zu tun, als die Regeln vor-schreiben. Denn nicht in der Anzahl der Übungen liegt unsere Voll-kommenheit, sie liegt in der Vollkommenheit und Reinheit der Ab-sicht, mit der wir sie verrichten.

Wir müssen uns also zunächst den Zweck unserer Genossenschaftund die Absicht unseres Stifters ansehen und dann uns ausführlichermit den vorgeschriebenen Mitteln befassen, die zur Verwirklichungdieses Zweckes und der Absicht des Stifters führen.

Den Zweck unserer Genossenschaft müßt ihr nicht in der Absichtjener drei ersten Schwestern suchen, die den Anfang machten, wie ihrden Zweck des Jesuitenordens ebensowenig in der Absicht sehen dürft,die der heilige Vater Ignatius anfangs gehabt; denn er dachte nicht imentferntesten daran, das zu tun, was er dann später unternehmen sollte.Und dem hl. Franzsikus, dem hl. Dominikus und anderen Ordens-stiftern erging es auch so. Gott, dem es allein zukommt, solche frommeVereinigungen ins Leben zu rufen, ließ sie werden, was sie jetzt sind.Glauben wir nur ja nicht, daß die Menschen von selbst auf den Ge-danken gekommen wären, eine so vollkommene Lebensweise, wie esdie klösterliche ist, anzunehmen. Nein, auf Gottes Eingebung hin sinddie Regeln aufgestellt worden und diese Regeln sind das Mittel zumZiel, das alle Ordensleute gemeinsam haben: Die Vereinigung mit Gottund die Vereinigung mit dem Nächsten aus Liebe zu Gott.

3. Jeder Orden hat seinen besonderen Zweck und besondere Mittel,um diese Vereinigung zu verwirklichen. Sie alle haben auch ein ge-meinsames Mittel, zu dieser Gottvereinigung zu gelangen, und das sinddie Gelübde.

Wir alle wissen, daß Reichtum und irdischer Besitz eine gewaltigeAnziehungskraft haben und daß die Seele sozusagen zersplittert wirddurch zu große Anhänglichkeit an diese Güter, durch die Sorge, sie zuerhalten und sie zu vermehren, da man ja nie mit dem, was man hat,zufrieden ist. Die Ordensleute brechen aber mit all diesen Dingen da-durch, daß sie Armut geloben. Desgleichen kehren sie sich von allenfleischlichen Genüssen und aller Sinnenlust, von allen erlaubten undunerlaubten sinnlichen Vergnügungen durch das Gelübde der Keusch-heit ab, das ein überaus wirksames Mittel ist, um sich besonders innigmit Gott zu vereinigen. Die sinnlichen Freuden schwächen und läh-men ja gewaltig die Geisteskräfte und verschwenden Herz und Liebe,

Page 192: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

19114. Geist der Heimsuchung

die Gott allein gebühren. Wir aber geben ihm unsere ganze Liebe, esgenügt uns nicht, nur die Welt zu verlassen, wir wollen aus uns selbstheraus durch den Verzicht auf die vergänglichen Freuden des Flei-sches. – Noch vollkommener aber wird unsere Vereinigung mit Gottdurch das Gelübde des Gehorsams, denn hier raffen wir unsere Seelemit all ihren Fähigkeiten, Neigungen und Wünschen zusammen, umuns nicht nur dem unmittelbaren Willen Gottes, sondern auch demWillen der Vorgesetzten zu unterwerfen, deren Wille ja stets als GottesWille zu betrachten ist. Das ist schon ein schwerer Verzicht, weil unse-re Eigenliebe fortwährend kleine Schößlinge der Eigenwilligkeit treibt.– Sind wir durch diese drei Gelübde von allem losgelöst, dann ziehenwir uns in das Innerste unserer Seele zurück, um uns mit der göttlichenMajestät ganz rückhaltlos und vollkommen zu vereinigen.

I I .I I .I I .I I .I I .

1. Schauen wir uns jetzt den Zweck an, der für die Gründung desOrdens der Heimsuchung bestimmend war: Er ist gleich im ersten Satzder Konstitutionen ganz klar ausgedrückt.2 Die Kenntnis des Zweckesbringt euch zur Erkenntnis des besonderen Ordensgeistes der Heimsu-chung. Ich habe immer dafür gehalten, daß der Geist der Heimsuchungein Geist tiefer Demut gegen Gott und Sanftmut gegen den Nächsten ist.Je weniger körperliche Strengheiten, desto mehr Herzensgüte. AlleVäter haben erklärt: Wo die Strenge körperlicher Kasteiungen fehle,müsse man eine umso größere geistige Vollkommenheit pflegen. Hierin diesem Haus müssen also Demut und Güte die Strengheiten in denKlöstern der Karmelitinnen, Klarissinnen und anderer ersetzen. Wenn-gleich Kasteiungen an sich gut und Mittel zur Vollkommenheit sind, sowären sie doch für dieses Haus nicht gut, weil sie gegen den Zweckunserer Genossenschaft gehen, der im Regelbuch festgelegt ist.

Der Geist der Milde ist so ausgesprochen der Geist der Heimsu-chung, daß jeder, der mehr Kasteiungen, also mehr Fasten und Geiße-lungen usw., einführen wollte, als jetzt bei uns vorgeschrieben ist, denOrden sofort zerstören würde. Derartiges einführen wollen hieße denZweck der Gründung vereiteln, also: Die Aufnahme von Kandidatin-nen, die nicht kräftig genug sind, die Vereinigung mit Gott auf demWeg der Kasteiungen – wie andere Klöster sie haben – anzustreben,oder auch dazu einfach nicht berufen sind. Wollten die Kapuziner der

Page 193: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

192 14. Geist der Heimsuchung

äußeren Armut, wie der hl. Franziskus sie geübt, einer Armut, die selbstin der Ausstattung der Kirchen Prunk und Seidenornate ablehnt, un-treu werden, so würden sie sich von ihrem ursprünglichen Geist lossa-gen. Nimmt man in einem Kapuzinerkloster solche Ornate an, dannheißt es sofort: Der Ordensgeist ist ihnen abhanden gekommen.

2. Ihr fragt, ob eine gesunde und kräftige Schwester nicht doch mehrstrenge Bußübungen verrichten dürfe als die anderen, vorausgesetzt na-türlich, daß niemand es merkt. – Dazu sage ich: Welches Geheimniswird nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit weiter erzählt? Einesagt es der anderen und dann werden lauter Orden im Orden, lauterkleine Geheimbünde gegründet und alles fällt auseinander. Die heiligeMutter Theresia beschreibt trefflich die üblen Folgen solch kleinlicherBestrebungen, mehr tun zu wollen, als die Regel vorschreibt und dieGemeinde tut. Sie sagt, das Übel werde besonders groß, wenn die Oberinselbst mehr tun will, denn sobald die Schwestern das gewahr werden,wollen sie es ihr gleichtun; sie finden Gründe genug, um sich von derRichtigkeit ihres Handelns zu überzeugen; die einen treibt der Eifer,die anderen der Wunsch, bei der Oberin gut zu stehen. Für die Schwes-tern aber, die das nicht mitmachen können oder wollen, ist es eineschwere Prüfung. Mein Gott! Solche Eigenbröteleien darf man im Klos-ter niemals dulden!

Wo eine besondere Notwendigkeit vorliegt, kann man allerdings Aus-nahmen zulassen. Wenn z. B. eine Schwester in großer seelischer Be-drängnis oder von einer Versuchung geplagt wäre und sich von derOberin die eine oder andere Bußübung erbäte, so wäre das nicht alsetwas Außergewöhnliches zu betrachten. Bei diesen Dingen muß mandie Einfachheit üben, gerade wie bei Krankheiten, wo man auch um dieArzneien bitten soll, von denen man Erleichterung erhofft. Sonst aberwürde ich einer Schwester, die so großmütig und tapfer ist, daß sie ineiner Viertelstunde vollkommen werden und mehr tun will als die ganzeGemeinde, anraten, lieber demütiger zu werden, sich damit zu begnü-gen, erst in drei Tagen vollkommen werden zu wollen und mit den ande-ren Schritt zu halten. – Sind unter euch gesunde und kräftige Schwe-stern, so freuen wir uns darüber; sie mögen aber trotzdem nicht raschergehen wollen als die Schwächeren.

Der Patriarch Jakob (Gen 32,1-14) gibt uns ein herrliches Beispieldafür, wie wir uns den Schwächeren anpassen und unsere Kraft bän-digen sollen, um mit den Schwächeren Schritt zu halten. Als Ordens-

Page 194: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

19314. Geist der Heimsuchung

leute sind wir doch verpflichtet, in allem, was zur genauen Beobach-tung der Regeln gehört, mit der Gemeinde zu gehen.

Als der Patriarch mit allen seinen Frauen, Kindern, Knechten undMägden aus dem Haus seines Schwiegervaters Laban weggezogen war,fürchtete er sich sehr vor der Begegnung mit Esau. Er glaubte, derBruder zürne ihm noch, was aber nicht mehr der Fall war. Als er sodahinzog, kam ihm Esau entgegen. Der arme Jakob erschrak sehr, dennder Bruder war von einer starken Truppe Bewaffneter begleitet. Als erihn aber begrüßt hatte, sah er zu seiner Freude, daß ihm Esau wohlge-sinnt war. Esau sprach zu Jakob: „Da wir, mein Bruder, nun hier zu-sammengetroffen sind, wollen wir miteinander gehen und die Reisegemeinsam beenden.“ Darauf erwiderte Jakob: „Mein Herr und meinBruder (er nannte ihn „Herr“, weil Esau der ältere war), das wird nichtgehen, denn ich habe meine Kinder bei mir, sie würden mit ihren klei-nen Schritten deine Geduld allzusehr in Anspruch nehmen und miß-brauchen, für mich aber ist es Pflicht, meine Schritte ihren Schrittchenanzupassen, und auch meine Knechte und Mägde tun das; dazu kommt,daß meine, Schafe erst gelammt haben, die Lämmchen sind noch rechtzart, und auch nach ihnen müssen wir uns richten, du aber wärest zulange aufgehalten.“

Seht, wie gut dieser heilige Patriarch war. Er paßte sich gerne nichtnur dem Schritt seiner Kinder, sondern sogar seiner Schafe an, ritt auchnicht, sondern ging immer zu Fuß. Auf dieser Reise war ihm auch vielGlück beschieden. Gott überhäufte ihn mit Gunsterweisen; mehrereMale sah er Engel und redete mit ihnen, zuletzt auch mit dem Herrnder Engel und der Menschen. Schließlich war er besser daran als seinBruder Esau, obwohl dieser eine so starke Begleitung hatte und allesich seinem Schritt anpassen mußten.

3. Wollen wir, daß Gott in seiner Güte unsere Wanderung segne,dann müssen wir uns gern in die genaue und pünktliche Beobachtungunserer Ordensregel fügen; dies jedoch in aller Einfachheit des Herzensund ohne die Übungen zu verdoppeln; denn mehr tun, hieße gegen dieAbsicht des Stifters und gegen den Zweck der Gründung handeln. Pas-sen wir uns gerne kränklichen Schwestern an, die ja auch aufgenommenwerden dürfen. Seid versichert, wir gelangen deshalb nicht später zurVollkommenheit, sondern es wird uns gerade dies rascher ans Ziel füh-ren, weil wir uns dann bemühen, das Wenige, was wir zu tun haben, sovollkommen wie möglich zu tun. Und das ist es ja, was unsere Werke in

Page 195: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

194 14. Geist der Heimsuchung

den Augen Gottes angenehm macht, denn er schaut nicht auf die Men-ge der Dinge, die wir ihm zuliebe tun, er schaut nur auf den Liebeseifer,den wir dabei haben. Ich meine, wenn wir uns entschließen wollten, dieRegel vollkommen zu beobachten, hätten wir gerade genug zu tun undbräuchten uns nicht noch etwas aufladen, da doch die Regel die ganzeVollkommenheit umfaßt.

Die heilige Mutter Theresia erzählt von ihren Töchtern, sie seien sogewissenhaft gewesen, daß die Oberinnen genau aufpassen mußten, janicht etwas zu sagen, dessen Ausführung nicht gut gewesen wäre, weilsich die Schwestern, ohne eine weitere Aufforderung abzuwarten, so-fort daran gemacht hätten. Um die Regeln noch vollkommener zu er-füllen, hätten sie auch pünktlichst alles gehalten, was nur irgendwiesich darauf bezogen hätte. Eine ihrer Töchter habe einmal den Auftrageiner Oberin nicht verstanden und ihr das auch gesagt, worauf der Obe-rin der sonderbare Einfall gekommen sei, – man braucht sich nichtdarüber zu wundern, daß auch Vorgesetzte zuweilen solche haben, –dieser Schwester zu sagen: „Stecken Sie den Kopf in einen Brunnen,dann werden Sie es gleich verstehen.“ Die Schwester sei sofort weg-geeilt und hätte sich wahrhaft in den Brunnen gestürzt, wenn man sienicht zurückgehalten hätte.

Es kostet sicher weniger Mühe, die ganze Regel gewissenhaft zu be-obachten, als sie nur teilweise zu halten. Ein Beispiel: Die Regel ver-langt zu gewissen Zeiten Stillschweigen. Es ist nun leichter, ständig alsnur zeitweise zu schweigen, weil man in diesem zweiten Fall sowohldarauf achten muß, das Stillschweigen zu halten, als auch zu reden,wenn der Ausnahmefall eintritt. Die Liebe gibt uns dann schon ein,wann wir reden dürfen, ohne die Regel zu verletzen.

Ich kann euch nicht oft genug sagen, wie wichtig es ist, ganz pünktlichzu sein in den kleinsten Dingen, die dazu dienen, die Regel vollkommenzu beobachten, sogar in den geringsten Zeremonien. Und genau so wich-tig ist es, nicht mehr tun zu wollen, als die Regel vorschreibt, und zwarunter gar keinem Vorwand, denn nur so ist es möglich, der Ordens-gemeinschaft den vollen und ursprünglichen Eifer zu erhalten.

Über die „Regeln“ hinausgehen wollen, hieße den Orden zersetzenund seine ursprüngliche Vollkommenheit zerstören. Die Jesuiten neh-men stets jeden Gehorsam ohne Widerrede auf sich und diese Beharr-lichkeit ist es, die dem Orden seine Vollkommenheit erhält. – Ihr fragt,ob es vollkommener wäre, sich der Gemeinde derart anzupassen, daß

Page 196: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

19514. Geist der Heimsuchung

man nicht einmal um Erlaubnis bitte, öfter zu kommunizieren?3 Si-cher wäre das vollkommener, meine lieben Töchter. Es sei denn angewissen Tagen, z. B. am Fest unseres Namenspatrons oder des Heili-gen, den wir schon immer besonders verehrt haben; oder in einem be-sonderen, dringenden Anliegen. Auf vorübergehende fromme Wün-sche nach der heiligen Kommunion, die meistens nichts Übernatürli-ches an sich haben, sollen wir nichts geben. Der Seefahrer gibt auchnichts auf das leise Morgenlüftchen, das nur von den aufsteigendenDünsten kommt und nicht lange anhält; wenn diese Nebel höher ge-stiegen sind und sich aufgelöst haben, dann legt sich auch der Morgen-wind. Der Schiffer kümmert sich nicht um ihn, hißt auch die Segelnicht, um ihn zu nützen, da es nur ein Landwind ist. Wir sollen auchnicht jeden kleinen Wunsch, der in uns aufsteigt, z. B. jetzt zu kommu-nizieren, nachher zu betrachten oder anderes zu tun, für einen gutenWind, d. h. für eine Eingebung halten. Denn die Eigenliebe, die nurihre eigene Befriedigung sucht, hätte die größte Freude an all dem undbesonders an diesen kleinen Einfällen, sie würde nicht müde, uns im-mer neue zu liefern. Heute geht die ganze Gemeinde zur heiligen Kom-munion, aber die Eigenliebe flößt einer ein, es sei das Fest eines Heili-gen, der sich so sorgfältig auf den Empfang des heiligen Altarsakra-mentes vorbereitet habe, daß es bei ihrer ungenügenden Vorbereitungnicht angebracht wäre, den Heiland zu empfangen, deshalb sollte sieaus Demut um Dispens bitten usw. Ist es dagegen Zeit, die Demut zuüben, so wird die Eigenliebe ihr wieder große Freudengefühle vorspie-geln und zureden, deshalb um die heilige Kommunion zu bitten.

4. Dinge, die nicht zur „Regel“ gehören, dürfen wir nicht für Eingebunghalten; in außergewöhnlichen Fällen erkennen wir allerdings den Wil-len Gottes, wenn der Drang dazu andauert. Dies traf für die heiligeKommunion bei zwei oder drei Heiligen zu, denen Gott seinen Willenkundgab, die heilige Kommunion täglich zu empfangen.

Die Kartäuser sehen in dem Wunsch, zum Heil der Seelen als Predi-ger verwendet zu werden, eine große Versuchung. Es darf keiner vonihnen glauben, Gott einen großen Dienst zu erweisen, wenn er unterdem Vorwand, daß außer dem Abt niemand etwas davon erfahre, meint,draußen in einem Dorf mit Erfolg predigen, Seelen für Gott gewinnenund so seine Ehre vermehren zu können. Er wäre auch dann im Un-recht, wenn er sich sehr dazu eignete und der Ansicht wäre, das von

Page 197: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

196 14. Geist der Heimsuchung

Gott verliehene Talent nicht vergraben zu dürfen. Wäre auch die Ab-sicht noch so gut und fromm, ihre Ausführung wäre doch nicht gut, dasie gegen den Brauch und die Lebensweise des Ordens verstößt.

Ich halte es für einen sehr großen Akt der Vollkommenheit, sich inallem der Gemeinde anzupassen und niemals aus eigenem Beliebeneine Ausnahme zu machen. Abgesehen davon, daß man so mit seinenMitmenschen ganz eins ist, verbirgt man sich selber damit auch seinenFortschritt in der Vollkommenheit.

Auf dem Gipfel der Vollkommenheit steht die Seele, wenn sie dieHerzenseinfalt pflegt, sodaß sie nur auf Gott schaut, innerlich gesam-melt und ganz auf das eine gerichtet ist, die Regel so treu und vollkom-men als möglich zu beobachten, ohne sich in Wünschen oder in Versu-chungen, mehr zu tun, zu erschöpfen. Eine solche Seele will wederAusgezeichnetes noch Außergewöhnliches leisten und nichts tun, wasihr die Hochschätzung von Seiten der Geschöpfe einbringen könnte.Sie bleibt klein für sich und weiß nichts von Selbstzufriedenheit, glaubtsie doch, nichts Besonderes zu tun, da sie nicht aus eigenem Wollenheraus handelt und nicht mehr tut als die anderen und die ganze Ge-meinde. Sie selbst sieht nichts von ihrer Heiligkeit, aber Gott sieht sieund freut sich ihrer Herzenseinfalt, mit der sie sein Herz entzückt, dasie sich ihm hingibt. Eine solche Seele weist kurzerhand alle Einfälleder Eigenliebe ab, die ja eine außerordentliche Freude an großen undglänzenden Unternehmungen hat, um höher geschätzt zu werden alsandere. Deshalb fühlt sie auch nicht viel Befriedigung über ihre Hand-lungen, erfreut sich aber trotzdem einer großen Herzensruhe und einesgroßen inneren Friedens.

5. Wir dürfen ja nicht meinen, wir wären ärmer an Verdienst, weil wirnicht mehr als die anderen tun und nur mit der Gemeinde gehen. Onein! Denn nicht die Menge der Werke, Bußübungen und Kasteiungenmacht uns vollkommen und Gott wohlgefällig, sondern die reine Lie-be, die uns dabei erfüllt.

Die Vollkommenheit besteht nicht in den Kasteiungen, wenngleichdiese ein gutes Mittel zur Vollkommenheit und auch an sich gut sind.Für uns aber sind sie nicht gut, weil sie nicht in unseren Regeln enthal-ten sind und nicht dem Ordensgeist entsprechen. Vollkommener ist es,sich ganz einfach an die Regeln und an die Gemeinde zu halten. Ichversichere euch, eine Schwester, die sich in den Grenzen der Regeln

Page 198: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

19714. Geist der Heimsuchung

hält, wird in kurzer Zeit einen weiten Weg zurücklegen und allen Mit-schwestern durch ihr gutes Beispiel sehr viel nützen.

Das habe ich an zwei Ordensgenerälen der Kartäuser bestätigt gefun-den. Der eine ist schon gestorben; ich hatte ihn in Paris kennen gelernt.Er führte ein sehr strenges Leben, aß meist nur Brot und trank nurWasser. Der andere, der noch lebt, tut nichts Besonderes, er hält sich andas, was die Gemeinde tut. Beide sind heiligmäßige Priester, aber manhat mich dessen versichert, daß der zweite bei seinen Mitbrüdern vielgeschätzter und beliebter ist und daß sein gutes Wesen und sein denanderen gleichförmiges Leben mehr erbaut als die Strenge des ande-ren. – Wenn wir rudern, dann muß es im Gleichtakt geschehen. Nichtder wird getadelt, der träge, sondern der nicht im Takt rudert. So mußman auch die Novizen alle gleichmäßig erziehen und belehren und alledas Gleiche machen lassen, damit sie richtig rudern; alle werden esfreilich nicht gleich vollkommen machen; daran läßt sich aber nichtsändern.

6. Sie sagen, daß Sie an Festtagen aus Abtötung noch ein bißchenlänger im Chor bleiben, weil Ihnen die zwei oder drei Stunden, die Siemit den anderen dort sind, schon zu lange dauern. – Dazu sage ich: Mankann es nicht als allgemeine Regel der Vollkommenheit ausgeben, daßman gerade das, was einem zuwider ist, tun, und was man gern tut,unterlassen müßte. Hat z. B. eine Schwester Freude am Chorgebet, sowäre es falsch, wenn sie davon wegbliebe unter dem Vorwand, sichabtöten zu wollen. Übrigens darf man ja an den Festtagen zu bestimm-ten Zeiten tun, was man will, man kann also dann auch seiner Andachtfolgen. Freilich, wenn man schon drei oder mehr Stunden mit der Ge-meinde im Chor war, dann ist wohl zu befürchten, daß diese Viertel-stunde, die man aus Abtötung zugibt, ein Bröcklein für die Eigenliebeist. Nun, wenn man sie schon nicht umbringen kann, muß man ihr dochwohl ein bißchen was geben.

7. Nun möchtet ihr wissen, ob ihr euch nicht besser nach der Ge-meinde richtet und während der heiligen Messe den Rosenkranz betet,statt anderes zu tun. Sicher handelt ihr gut, wenn ihr euch der Gemein-de anpaßt und der heiligen Messe in derselben Weise beiwohnt wie dieanderen, – denn in der Heimsuchung soll doch alles einheitlich ge-macht werden, – außerdem befolgt ihr so den Rat des hl. Bernhard, dersagt, daß wir bei den gemeinschaftlichen Gebeten unsere Aufmerk-samkeit auf die Absicht richten sollen, die ihrer Einsetzung zu Grunde

Page 199: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

198 14. Geist der Heimsuchung

lag. Und auf die Frage, was besser sei für solche, die verstehen, was sieim Offizium beten: die Aufmerksamkeit auf Gott zu richten oder demSinn der Worte zu folgen, die sie aussprechen, sagt er: Er wäre dafür,auf den Sinn zu achten, denn damit passe man sich der Absicht dessenan, der die Worte auf göttliche Eingebung geschrieben habe. Ich schlie-ße mich dieser Meinung sehr gerne an. Ich bin schon immer der An-sicht gewesen, daß wir im heiligen Meßopfer die darin enthaltenenGeheimnisse betrachten sollen, wie es im Artikel des Direktoriumsvom heiligen Meßopfer gesagt ist. Wohl habe ich der Philothea dieFreiheit gelassen, das nach Gutdünken zu tun oder nicht zu tun undwährend der heiligen Messe innerliche oder mündliche Gebete zu ver-richten; das tat ich aber, weil ich ja diese Philothea nicht immer kenne.Es scheint mir aber besser, so wie es angegeben ist, dem heiligen Meß-opfer zu folgen, weil es auch mit der Absicht der Kirche besser über-einstimmt.

8. Endlich, meine lieben Töchter, müssen wir auch eine ganz großeLiebe zu unserer Ordensregel haben, weil sie das Mittel ist, durch das wirzu unserem Ziel gelangen; sie führt uns mit Leichtigkeit zur voll-kommenen Liebe, d. h. zur Vereinigung mit Gott und mit dem Nächsten.Und nicht nur das, sie ist auch das Mittel, die Mitmenschen mit Gott zuvereinigen. Das tun wir, indem wir ihnen den Weg dorthin weisen, derso milde und leicht ist. Es wird doch keine Kandidatin wegen ungenü-gender Körperkräfte zurückgewiesen, wenn sie nur guten Willen mit-bringt, nach dem Geist der Heimsuchung zu leben, also nach dem Geistder Demut gegen Gott und dem Geist der Sanftmut gegen den Näch-sten. Und dieser Geist ist es, der uns mit Gott und mit dem Nächstenvereint.

Durch die Demut werden wir eins mit Gott, indem wir genauestens aufseinen Willen achten, der in den Regeln ausgesprochen ist. Wir müs-sen die heilige Überzeugung haben, daß sie durch seine Eingebungaufgestellt wurden, da sie von der heiligen Kirche angenommen undvom Heiligen Vater, dem Papst, bestätigt worden sind; das sind untrüg-liche Zeichen dafür; und deshalb müssen wir die Regel nur um so inni-ger lieben, müssen sie dreimal täglich ans Herz drücken in einem Aktdes Dankes an Gott, der sie uns gegeben.

Die Tugend der Milde verbindet uns mit dem Nächsten; sie drängt uns,in unserem Leben und Treiben und allen Übungen uns pünktlich genauan die Regel zu halten, ohne mehr oder weniger tun zu wollen, als die

Page 200: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

19914. Geist der Heimsuchung

Gemeinde tut und uns den Weg vorschreibt, den Gott uns gehen heißt,– dabei alle unsere Seelenkräfte zu gebrauchen und daraufhin zu richten,daß wir alle Übungen so vollkommen als möglich tun. – Wenn ich gesagthabe, daß man nicht nur die Regeln pünktlich beobachten soll, sondernauch alles, was irgendwie nur im geringsten damit zusammenhängt, somöchte ich gewiß nicht für skrupelhaftes Herumtüfteln eintreten. O nein!So habe ich das nicht gemeint. Ich meine die Gewissenhaftigkeit derkeuschen Braut, die sich nicht damit begnügt, alles zu vermeiden, wasdem göttlichen Freunde mißfällt, sondern nach besten Kräften alles tut,was ihm auch nur im geringsten wohlgefällig sein könnte.

9. Es dürfte vielleicht ganz gut sein, wenn ich euch da einige bedeut-same Beispiele bringe, damit ihr verstehen lernt, wie angenehm Gottdieses vollständige Sich-Einfügen in die Gemeinde ist.

Was meint ihr wohl, meine lieben Töchter, warum hat der Herr undseine heiligste Mutter sich dem Gesetz der Darstellung im Tempel undder Reinigung unterworfen? Nun, aus welch anderem Grund, wennnicht aus Liebe zur Allgemeinheit? Dieses Beispiel allein schon dürftegenügen, um die Ordensleute anzueifern, sich in allem gewissenhaft andie Gemeinde zu halten und niemals davon abzugehen. Weder das Kindnoch die Mutter waren dazu verpflichtet; das Kind nicht, weil es Gottwar, die Mutter nicht, weil sie ganz rein, ja die Reinheit selbst war. Siehätten sich ruhig ausnehmen können, niemand hätte es gemerkt. Dieallerseligste Jungfrau hätte doch nach Nazaret, statt nach Jerusalemgehen und das Geld, mit dem sie die Turteltauben kaufte, einem Armengeben können. Meint ihr nicht, daß dies besser gewesen wäre? Aber sietat es nicht. Sie schloß sich ganz einfach der Allgemeinheit an, wiewenn sie gesagt hätte: Das Gesetz kommt zwar weder für meinen Sohnnoch für mich in Betracht, wir unterstehen ihm nicht; da jedoch alleMenschen daran gebunden sind, so wollen auch wir uns gerne fügen,um uns allen anzupassen und nichts Besonderes zu haben. Sagt nichtder heilige Apostel Paulus: Der Herr „mußte in allem den Brüderngleich werden, die Sünde ausgenommen“ (Hebr 2,17; 4,15). Waren sievielleicht aus Angst vor einer Übertretung des Gesetzes so genau? Nein,es gab ja keine Gesetzesverletzung für sie; es war vielmehr die Liebezum himmlischen Vater, die sie antrieb.

10. Man kann nicht das Gebot lieben, wenn man nicht den liebt, deres erlassen. Je mehr wir den Gesetzgeber lieben und achten, desto genau-er beobachten wir seine Gebote. Die einen sind mit eisernen Ketten

Page 201: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

200 14. Geist der Heimsuchung

daran gefesselt, die anderen mit goldenen. Damit will ich sagen: VieleWeltleute halten die Gebote Gottes aus Furcht vor der Verdammnis,sie gehorchen aus Zwang und nicht aus Liebe. Die Ordensleute hinge-gen und jene, die sich um die Heiligung ihrer Seele kümmern, sind mitgoldenen Banden, d. h. mit den Banden der Liebe daran gebunden. Sielieben die Gebote, halten sie aus Liebe und befolgen auch die evangeli-schen Räte, um die Gebote noch gewissenhafter zu erfüllen. In denPsalmen Davids heißt es: Gott hat „anbefohlen“, daß seine „Gebotestreng zu halten“ seien von allen, die ihn lieben (Ps 119,4). Da seht ihr,wie viel ihm an der gewissenhaften Beobachtung liegt! Und gewissen-haft sind auch alle wahrhaft gottliebenden Seelen, denn sie hüten sichnicht nur vor einer Verletzung des Gesetzes, sie vermeiden sogar denSchein einer Untreue gegen das Gesetz. Darum sagt der Bräutigam imHohelied (5,12) von der Braut, sie gleiche der Taube, die sich gerne ansanft dahinfließenden, kristallklaren Wassern aufhält. – Ihr habt viel-leicht schon bemerkt, daß sich Tauben an solchen Wassern am sicher-sten fühlen, weil sie darin den Schatten der Vögel sehen, die sie fürch-ten, und sobald sie diesen Schatten sehen, davonfliegen und nicht über-rascht werden können. Der göttliche Bräutigam will damit sagen: Soflieht auch meine Braut schon den Schatten einer Untreue gegen meineGebote und braucht nicht zu fürchten, ein Opfer des Ungehorsams zuwerden. Wer im Gelübde des Gehorsams darauf verzichtet, seinenWillen in an sich gleichgültigen Dingen zu tun, beweist damit zur Ge-nüge, daß er sich gern in wichtigen und gebotenen Dingen fügt. Wererlaubtem Reichtum entsagt, zeigt damit, daß er sich nicht mit uner-laubtem besudeln will. Die Apostel verzichteten bereitwillig nicht nurauf erlaubten, sondern sogar auf notwendigen Besitz, damit sie das Ge-bot des Herrn, allen Erdengütern zu entsagen, noch gewissenhafter er-füllen könnten.

Wir sollten es mit der Beobachtung der von Gott gegebenen Geboteund Regeln schon sehr genau nehmen und uns besonders in allem ge-nau an die Gemeinde halten.

11. Sagen wir doch nicht, wir seien nicht verpflichtet, uns an dieRegel oder an die besonderen Befehle der Vorgesetzten zu halten; sieseien nur für die Schwächlichen erlassen, wir aber seien kräftig und kern-gesund. Oder umgekehrt: Der Befehl gelte nur für die Kräftigen, wiraber seien nicht dazu verpflichtet, weil wir schwächlich und kränklichsind. Mein Gott, nur das nicht in einer Gemeinde! Seid ihr kräftig,

Page 202: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

20114. Geist der Heimsuchung

dann werdet, ich bitte euch darum, schwach, um euch nach den Kränk-lichen zu richten; seid ihr schwächlich, dann seid bemüht, euch denKräftigen anzupassen. Der große Apostel Paulus sagt: „Allen bin ichalles geworden, um alle zu gewinnen. Wo ist einer schwach und ichwäre es nicht auch?“ (1 Kor 9,22). Mit den Starken bin ich stark. „Wervon meinen Brüdern erleidet Ärgernis, ohne daß ich brennendenSchmerz empfinde?“ (2 Kor 11,29). Bin ich mit Schwächlichen zu-sammen, dann passe ich mich gern den für sie notwendigen Erleichte-rungen an, damit sie sich getrauen, das zu tun, was ich auch tue. Bin ichbei Kranken, dann gehe ich mit ihnen um, wie eine liebevolle Ammemit ihrem kranken Kind; sie streichelt ihm das Köpfchen, damit eseinschlafe. Und mit den Starken bin ich ein Riese, um sie zu Großemmitzureißen. Merke ich, daß mein Bruder an etwas, was ich tue, Anstoßnimmt, dann unterlasse ich es lieber und von Herzen gern, obwohl esmir erlaubt ist und ich in keiner Weise sündige; ist es mir doch so sehrum seinen Frieden, um seine Herzensruhe zu tun. Die Liebe zu Gottwar es, die den hl. Paulus antrieb, sich einem jeden anzupassen, um„alle“ für Christus „zu gewinnen“ (1 Kor 8,13).

Da höre ich euch sagen: „Ja, aber gerade jetzt in der Erholungszeithätte ich eine so große Lust zu beten, um mich aufs innigste mit derunendlichen Güte zu vereinigen“; oder: „Mein Gott, so gerne möchteich jetzt zu Ehren Unserer Lieben Frau den Rosenkranz beten! – Darfich nicht denken, daß die Regel über die Erholung nicht für mich gilt,da ich doch schon fröhlich genug bin?“ Nein, so etwas darf man wederdenken, noch viel weniger sagen; wenn die eine oder andere Schwesterauch vielleicht eine Erholung nicht so nötig hat, so soll sie diese dochfür jene mitmachen, die sie brauchen.

„Gibt es denn im Kloster gar keine Ausnahmen?“ „Verpflichten dieRegeln unterschiedslos?“ Selbstverständlich! Gewiß, es gibt Gesetze,die sozusagen rechtmäßig ungerecht sind. In der Fastenzeit z. B. istjeder verpflichtet zu fasten; scheint euch das nicht ungerecht, daß mandieses allgemeine Gebot durch besondere Erlaubnisse und Dispensenfür jene mildert, die es nicht halten können? Genau so ist es im Klos-ter: Das Gebot gilt für alle gleich, niemand darf sich eigenmächtigdavon befreien; die Vorgesetzten mildern aber die Strenge des Geset-zes je nach den Bedürfnissen des einzelnen.

Der Gedanke, daß die Schwächlichen dem Orden weniger nützen alsdie Starken und Gesunden, daß sie weniger tun und sich weniger Ver-

Page 203: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

202 14. Geist der Heimsuchung

dienste erwerben und deshalb auch vom Heiland geringeren Lohn emp-fangen, – dieser Gedanke darf gar nicht aufkommen; denn alle ohneUnterschied tun den Willen Gottes. – Die Bienen sind ein Beispiel fürdas Gesagte: Den einen obliegt die Bewachung und Reinigung des Stok-kes; den anderen die fortwährende Arbeit des Einheimsens. Die Bie-nen, die zuhause bleiben, fressen nicht weniger Honig als die anderen,die ihn mühsam in den Blüten sammeln. Das ist auch ganz in Ordnung,denn die Tierchen, die im Bienenkorb bleiben und nur wenig zu tunhaben, sorgen dafür, daß sich die Spinnen nicht in den Waben der Samm-lerinnen breit machen.

Scheint euch nicht, als hätte David (1 Sam 30,23-25) ein ungerechtesGesetz erlassen, als er festsetzte, daß die Männer, die beim Gepäckbleiben mußten, den gleichen Anteil an der Beute haben sollten wiejene, die in den Kampf zogen und verwundet heimkehrten? Nein, dasGebot war gerecht, denn die Leute hüteten das Gepäck derer, die inden Kampf zogen, und die Kämpfenden fochten für die, die auf dasGepäck aufpaßten: Sie verdienten also alle den gleichen Lohn, weil siealle unterschiedslos dem Willen des Königs gehorchten. Nicht das Werkan sich ist verdienstlich, sondern die Liebe und die Hingabe, mit derwir es ausführen.

12. Noch ein Wort zur Darstellung des Herrn im Tempel. Seht doch,wie einfach und bereitwillig sich das heilige, herrliche Kind in die Armedes überglücklichen hl. Simeon legen läßt! Es weint nicht und äußertkeinerlei Widerstreben, vom Herzen seiner lieben Mutter weggenom-men zu werden, wo es ihm so unbeschreiblich wohl war. Was für eineWonne, ich bitte euch, wenn die heiligste Jungfrau ihm die Brust reich-te und die süßen Tropfen in den Mund des Kindes träufelten, wenn siedabei liebeglühende Seufzer über das kleine Heilandsherz hinhauchteund der Erlöser zum Dank dafür die Augen aufschlug und sie anschau-te! Und unter diesen Blicken, diesen Flammen seiner Liebe, zerschmolzihr fast das Herz.

O, es entschuldige sich doch keiner mehr, er sei nicht würdig, zumTisch des Herrn zu gehen: „Mein Gott, wie sollte ich Nichtswürdigemich getrauen, den Heiland so oft zu empfangen, wie die anderen?Mein Gott, ich wage es nicht einmal, im Gebet zu ihm heranzutreten!“

Page 204: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

20314. Geist der Heimsuchung

– Was für ein Irrtum! Ihr seht doch, daß der Herr sich von seiner lieb-sten Mutter, der ganz Reinen, der Makellosen, wegnehmen und inSimeons Arme legen läßt!

Page 205: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

204

15. Gespräch

Über SelbstverÜber SelbstverÜber SelbstverÜber SelbstverÜber Selbstverzärzärzärzärzärtelung und Eigensinntelung und Eigensinntelung und Eigensinntelung und Eigensinntelung und Eigensinn11111

Wir wollen zuerst das Kreuzzeichen machen und dann auf die zweiFragen eingehen, die mir vorgelegt wurden, dies jedoch in aller Kürze,damit wir alle Fragen besprechen können, die die Schwestern nochstellen wollen.

I .I .I .I .I .

Die erste der beiden Fragen lautet: Ist es sehr gegen die Vollkommen-heit, an der eigenen Ansicht zu hängen?

Antwort: 1. Eigene Ansichten haben oder nicht haben ist an sich we-der etwas Gutes noch etwas Schlechtes, es ist einfach etwas ganz Natür-liches. Jeder hat seine Ansichten. Solange wir an diesen nicht hängenund sie nicht lieben, solange sind sie auch kein Hindernis für die Voll-kommenheit; erst die Liebe zur eigenen Ansicht ist ihr ganz und garentgegen. Wenn es so wenig vollkommene Menschen gibt, so hat das,wie ich schon oft gesagt habe, seinen Grund darin, daß die meistenMenschen so sehr an ihrem Urteil hängen und es so hoch einschätzen.

Viele verzichten auf den eigenen Willen, die einen aus diesem, dieanderen aus jenem Grund, und das nicht nur im Kloster, sondern sogarbei Hof. Ein Hofbediensteter wird den Befehl seines Fürsten immerausführen, – den Befehl gutheißen, das wird er aber nur höchst selten.Er wird sich im Stillen sagen: „Ich tue schon, was Sie mir sagen, auchso, wie Sie es haben wollen, aber ...“ Man hat immer ein Aber, unddieses Aber heißt so viel wie: ich weiß es besser.

Es ist ganz klar, meine lieben Töchter, daß man so die Vollkommen-heit nicht erwerben kann; denn das zeitigt für gewöhnlich nur Unruhe,Gereiztheit und Unzufriedenheit und steigert nur die hohe Meinung, diewir schon von uns haben. Wir dürfen also die eigenen Ansichten wederlieben, noch ihnen großen Wert zumessen.

2. Gewisse Menschen jedoch sind verpflichtet, sich ein Urteil zu bilden,so z. B. die Vorgesetzten, die für andere verantwortlich sind, die Bi-schöfe und alle jene, die andere zu leiten haben. Die anderen sollten esaber nur tun, wenn es der Gehorsam von ihnen verlangt, sonst ver-schwenden sie die Zeit, die sie gewissenhaft bei Gott verbringen sollten.

Page 206: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

20515. Eigensinn

Wenn Leute über alles mögliche ihr Urteil abgeben und darüber langeBetrachtungen anstellen, so muß man denken, daß sie auf ihre Ver-vollkommnung kein großes Gewicht legen und ihre Zeit sinnlos ver-geuden. Bei Vorgesetzten dagegen, die bei Dingen, die ihnen vorgelegtwerden, keine Entscheidung treffen und die Gründe für und wider nichtprüfen und überdenken wollen, muß man annehmen, daß ihnen dienotwendigen Fähigkeiten für ihr Amt fehlen. Vorgesetzte, die sich zunichts entschließen können, machen einen peinlichen Eindruck.

Aber auch Vorgesetzte dürfen sich nicht selbstgefällig auf ihre Ansichtversteifen und daran hängen, wenn sie nach Vollkommenheit strebenwollen. Wenn der große hl. Thomas, dieser tiefste aller Denker, einenLehrsatz aufstellte, dann bewies und erhärtete er ihn mit ganz stichhal-tigen und unanfechtbaren Beweisgründen. Teilte trotzdem jemand die-se seine Ansicht nicht oder widersprach er ihm, so war der Heiligeweder gekränkt, noch ließ er sich in einen Streit ein, sondern nahm esganz ruhig hin und zeigte so, daß ihm an seiner Ansicht nicht viel gele-gen war. Er ging zwar davon nicht ab, überließ es aber dem einzelnen,sie anzunehmen oder nicht, erfüllte seine Pflicht und kümmerte sichdann um nichts mehr. – Die Apostel pochten auch nicht auf ihre Mei-nung, nicht einmal in den so wichtigen Angelegenheiten der Kirche.Hatten sie in einer Sache Bestimmungen getroffen, so fühlten sie sichdurchaus nicht verletzt, wenn andere darüber ihre Ansicht sagten undeinige sich sogar weigerten, ihr Urteil anzunehmen, obwohl es richtigund gut begründet war. Sie gingen zwar von ihren Urteilen nicht ab,wollten sie aber niemand mit Streit und Zank aufdrängen.

Wer als Vorgesetzter alle Augenblicke anderer Meinung wäre, demwürde man den für sein Amt notwendigen Ernst und die erforderlicheKlugheit absprechen. Wer aber, ohne durch ein Amt dazu verpflichtetzu sein, von seinen Ansichten nie ablassen, sich über alles möglicheUrteile bilden, sie hartnäckig verteidigen und als allein richtig um je-den Preis durchsetzen wollte, müßte für eigensinnig gehalten werden.Denn es ist ganz sicher, daß die Liebe zu den eigenen Ansichten inEigensinn ausartet, wenn man sie nicht gewissenhaft überwindet undrücksichtslos ausmerzt.

Das können wir sogar bei den Aposteln beobachten. Es ist bemer-kenswert, daß durch Gottes Fügung viele Großtaten der Apostel unbe-kannt geblieben sind, dagegen die Meinungsverschiedenheit zwischendem großen hl. Paulus und dem hl. Barnabas, also eine Unvollkom-

Page 207: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

206 15. Eigensinn

menheit der beiden Apostel, aufgezeichnet wurde. Gewiß hat der Herrin weiser Voraussicht es so gewollt „zu unserer Belehrung“ (Röm 15,4).– Paulus und Barnabas waren zusammen ausgezogen, das Evangeliumzu verkünden, und hatten einen Verwandten des Barnabas, den jungenJohannes Markus, bei sich. Da stritten nun die beiden Apostel mitein-ander, ob sie den Johannes Markus weiter mitnehmen sollten oder nicht,und da sie sich darüber nicht einigen konnten, trennten sie sich (Apg15,37-40). Sagt doch, dürfen wir uns dann noch über die Fehler, dieunter uns vorkommen, aufregen, wenn die Apostel auch Fehler began-gen haben, wie hier, da sie an ihrer Meinung starrköpfig festhielten undjeder recht behalten wollte?

3. Es gibt Menschen, die sonst recht tüchtig und gut sind, aber an ihrenAnsichten derart hängen und sie für so sicher halten, daß sie niemalsdavon abgehen wollen. Man muß sich sehr in acht nehmen, solche Men-schen um ihre Meinung zu fragen, wenn sie nicht darauf gefaßt sind;antworten sie rasch und ohne genügende Überlegung, so ist es dann fastunmöglich, sie zur Erkenntnis und zum Eingeständnis ihres Irrtums zubringen. Sie werden alle möglichen Beweise zusammensuchen, um ihreMeinung als die allein richtige zu verteidigen, und sich so immer mehrin ihre Ansicht verbohren. Man wird sie nur dann davon abbringenkönnen, wenn sie wirklich allen Ernstes nach Vollkommenheit stre-ben.

Es gibt aber auch erleuchtete Geister und große Menschen, die vondieser Schwäche frei sind und gerne von ihren Ansichten abgehen. Sindsie auch noch so sicher, setzen sie sich doch nicht zur Wehr, wenn manihnen widerspricht und ihre Ansicht nicht annimmt. So verhielt sichauch, wie ich vorher angeführt habe, der große hl. Thomas. – EigeneAnsichten zu haben, ist also, wie ihr seht, etwas ganz Natürliches.

Menschen mit schwermütigem Temperament beharren steifer auf ih-rer Meinung als heitere Menschen mit fröhlichem Temperament, diesehr leicht beeinflußbar und leichtgläubig sind. Die große hl. Paulahielt hartnäckig an den Kasteiungen fest, die sie sich in den Kopf ge-setzt hatte, statt gehorsam darauf zu verzichten; andere große Heiligewaren der Ansicht, man müsse Gott zuliebe den Leib mißhandeln, undweigerten sich, dem Arzt zu folgen und für die Erhaltung des vergäng-lichen und sterblichen Leibes etwas zu tun. Trotz ihrer Unvollkom-menheit waren diese Menschen doch große Heilige und Gott beson-ders wohlgefällig. Daraus ersehen wir, daß wir uns über Unvollkom-

Page 208: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

20715. Eigensinn

menheiten und über Neigungen, die nicht zur Vollkommenheit passen,nicht aufzuregen brauchen. Freilich dürfen wir auch nicht eigensinnigdarauf bestehen. Das war ja an der hl. Paula und an anderen Heiligentadelnswert, daß sie so hartnäckig auf ihrer Ansicht bestanden, obwohles sich dabei nur um Geringfügiges handelte.

Wir anderen aber dürfen uns eine Meinung nie so fest in den Kopfsetzen, daß wir nicht, wenn nötig, gerne davon abgingen, gleichviel obwir uns ein Urteil bilden müssen oder nicht. Wer von seinem Urteileingenommen ist, sucht unablässig nach stichhaltigen Gründen, seineAuffassung zu stärken, was ja ganz natürlich ist; es ist aber trotzdemeine große Unvollkommenheit, sich so gehen zu lassen. Sagt doch sel-ber: Ist das nicht unnütze Zeitvergeudung, besonders wenn man nichtverpflichtet ist, sich ein Urteil zu bilden?

4. Sie möchten wissen, womit Sie diese Neigung überwinden können.– Damit, daß Sie ihr jede Nahrung entziehen. – Kommt euch der Gedan-ke: Das oder jenes werde falsch gemacht, man täte besser, es so zumachen, wie ihr es euch gedacht, – so weist diese Gedanken ab und sagteuch: „Was habe ich mich darum zu kümmern, diese Angelegenheitgeht mich doch nichts an!“ – Es ist immer besser, sich auf diese Weiseganz einfach abzuwenden, als nach Gründen zur Widerlegung unsererAnsichten zu suchen. Unser Verstand, der ja von seiner eigenen An-sicht eingenommen ist, würde uns sicher auf eine falsche Fährte füh-ren, und statt die vorher gefaßte Ansicht zu widerlegen und zu vernich-ten, im Gegenteil Gründe vorführen, um sie zu stützen und als richtigzu erweisen. Es ist, wie gesagt, immer besser, seine Meinung gering zuachten, sie gar nicht ansehen zu wollen, und sobald man ihr Auftau-chen bemerkt, sie fortzujagen, so daß man nicht einmal recht weiß, wassie eigentlich wollte.

Nein, meine Töchter, so streng brauchen Sie nicht mit sich sein, daßSie gleich die erste Regung der Freude verhindern wollen, wenn man IhreMeinung annimmt und befolgt. Das geht wohl nicht anders. Halten Siesich aber nicht dabei auf, danken Sie Gott dafür und gehen Sie danndarüber hinweg. Sie brauchen sich darüber ebensowenig zu ängstigenwie über das schmerzliche Gefühl, das Sie überkommt, wenn man IhreAnsicht nicht annimmt und nicht befolgt.

Fordert die Nächstenliebe oder der Gehorsam, daß wir über irgendetwas unsere Ansicht äußern, so müssen wir es tun, aber es soll unsgleichgültig bleiben, ob man sie annimmt oder nicht.

Page 209: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

208 15. Eigensinn

Zuweilen müssen wir uns auch zu den Meinungen der anderen äußernund auch die Gründe für unsere Ansicht auseinandersetzen; das hat aberimmer in aller Bescheidenheit und Demut zu geschehen, ohne daß manirgendwie Mißachtung der Ansicht anderer zeigt oder seine Meinungmit Streit und Zank durchzusetzen sucht.

Sie fragen, ob man dieser Unvollkommenheit nicht neue Nahrunggibt, wenn man mit jenen, die unserer Meinung beistimmten, darüber zureden sucht, obwohl die Angelegenheit schon erledigt und keine Ent-scheidung mehr zu treffen ist. – Wer kann daran zweifeln, meine liebeTochter, daß dies unsere schlechte Neigung nährt und folglich eineUnvollkommenheit ist? Man beweist damit offenkundig, daß man sichder Meinung der anderen nicht gefügt hat, sondern immer noch dieeigene vorzieht. Ist die aufgeworfene Frage einmal entschieden, dannsoll man nicht mehr darüber nachdenken, noch darüber reden, außer eshandelte sich um etwas sehr Schlimmes. In diesem Fall muß man schonnach einer Möglichkeit suchen, die Ausführung hintanzuhalten oder,wenn die Sache schon geschehen ist, sie in etwa wieder gutzumachen.Man müßte aber mit aller Liebe vorgehen, damit jede Aufregung ver-mieden und das, was zuerst für gut und recht befunden wurde, nichtverächtlich gemacht werde.

5. Das beste Mittel gegen den Eigensinn ist, wie ich schon vorher mitanderen Worten gesagt habe: alles ausschlagen, was uns in dieser Hin-sicht in den Sinn kommt, und etwas Gescheiteres tun. Was gäbe dochdas, wenn wir achthaben wollten auf all die Meinungen und Ansichten,die uns das eigene Urteil bei jeder Gelegenheit und bei jedem Anlaßeinredet? Wir würden von Nützlicherem und für unser Vollkom-menheitsstreben Geeigneterem abgelenkt werden und uns unfähig ma-chen, das innerliche Gebet zu pflegen. Haben wir einmal unserem Geisterlaubt, sich mit solchen Nichtigkeiten abzugeben, so verliert er sichimmer mehr darin und bringt Meinung über Meinung, Gründe überGründe hervor, die uns dann beim Beten unerhört belästigen. Das Ge-bet ist ja nichts anderes als die völlige Hinwendung unseres Geistesund aller seiner Fähigkeiten zu Gott. Lassen wir den Geist unnützenDingen nachjagen, dann wird er immer ungeschickter und unfähigerfür die Betrachtung der Geheimnisse, in die wir uns versenken sollen.

6. So viel also zu eurer ersten Frage, die uns darüber aufgeklärt hat,daß es nicht gegen die Vollkommenheit ist, eigene Ansichten zu haben,wohl aber, diese zu lieben und folglich großes Gewicht darauf zu legen.

Page 210: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

20915. Selbstverzärtelung

Würden wir nicht viel auf unsere Ansichten geben, dann wären wirauch nicht so verliebt in sie und nicht so eingenommen von ihnen;dann würden wir uns auch nicht viel darum kümmern, ob sie sich durch-setzen oder nicht, und das Sätzlein: „Mögen die anderen meinen, wassie wollen, ich aber ...“ wäre uns nicht so geläufig. Wißt ihr, was dieses„ich aber“ bedeutet? Ich gebe nicht nach, ich bleibe bei meinem Be-schluß und bei meiner Ansicht.

Das eigene Urteil ist, wie ich schon oft gesagt habe, das letzte, was wiraufgeben. Und doch ist gerade dieses Aufgeben, dieses Verzichten aufdie eigene Meinung eine der wichtigsten Voraussetzungen, um zur wah-ren Vollkommenheit gelangen zu können. Wir werden sonst nie demütig;Demut bewahrt uns ja davor und verbietet uns, auf uns und auf das, wasuns betrifft, Wert zu legen. Wenn wir diese Tugend nicht eifrig undgerne üben, dann werden wir uns stets für besser halten, als wir sind,und auch von anderen so angesehen werden wollen.

I I .I I .I I .I I .I I .

Nun aber genug über diesen Punkt. Wenn ihr nichts mehr zu fragenhabt, dann gehen wir zur zweiten Frage über: Ist es ein großes Hindernisauf dem Weg zur Vollkommenheit, wenn man sich selber verzärtelt?

1. Damit ihr dies versteht, erinnere ich euch an etwas, was ihr schonlängst wißt: Es gibt zwei Arten von Liebe; die affektive und die effektiveLiebe, also die Liebe des Gefühls und die Liebe der Tat.

Das gilt in gleicher Weise für die Gottesliebe wie für die Nächsten-und Selbstliebe. Von der Gottesliebe reden wir aber jetzt nicht, son-dern nur von der Nächstenliebe und Selbstliebe.

Die Theologen gebrauchen gern einen Vergleich, um den Unterschiedzwischen der Gefühls- und Tatliebe recht deutlich zu veranschauli-chen: Ein Vater hat zwei Söhne. Der eine davon ist noch ein Kind, einherziges, zartes Büblein, der andere ist erwachsen, ein strammer undtapferer Soldat. Der Vater liebt die beiden Söhne mit einer sehr großen,aber nicht mit der gleichen Liebe. Das Büblein liebt er mit einer über-aus zärtlichen und gefühlsmäßigen Liebe. Seht doch, was dasHerzenssöhnchen alles mit ihm machen darf: Vaters Bart um den Fin-ger wickeln, drehen und kämmen. Und der Vater verhätschelt es, drücktes zärtlich an sich, hält es im Arm, nimmt es auf den Schoß und küßt

Page 211: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

210 15. Selbstverzärtelung

und küßt es immer wieder. Hat eine Biene das Kind gestochen, dannbläst der Vater auf das Weh solange, bis der Schmerz vorbei ist. Würdeder große Sohn von einigen Dutzend Bienen gestochen, so würde derVater keinen Finger rühren, obwohl seine Liebe zu ihm überaus starkund echt ist. Schaut, wie verschiedenartig diese Vaterliebe ist! Wie zärt-lich ist die Liebe des Vaters zu seinem kleinen Buben, und doch hat erjetzt schon die Absicht, ihn einmal fort zu den Malteser-Rittern zugeben, während er den älteren zu seinem Erben bestimmt. Er liebt denerwachsenen Sohn mit größerer Tatliebe, den kleinen mit größererGefühlsliebe. Er liebt beide Söhne, liebt sie aber auf verschiedene Art.

2. Wir lieben uns selber auch auf verschiedene Weise, denn unsereSelbstliebe ist sowohl eine Tat- als auch eine Gefühlsliebe. Die Tatliebebeherrscht die Großen, die Machthungrigen, die Geldgierigen, die Be-sitz um Besitz zusammenraffen und nie genug haben. Andere liebensich wieder eher mit einer mehr sentimentalen Liebe, sie gehen sehrzärtlich mit sich um und tun nichts, als sich verhätscheln, verpäppelnund pflegen. Immer sind sie voller Angst, daß ihnen etwas schadenkönnte. Es ist geradezu ein Jammer! Sind sie krank, dann ist kein Menschso krank wie sie, und hätten sie auch nur einen wehen Finger; sie fühlensich gleich ganz elend. Keine andere noch so schwere Krankheit ist soschlimm wie die ihrige, es können gar nicht genug Ärzte herbeigerufenwerden, um sie wieder gesund zu machen. Solche Menschen dokternfortwährend an sich herum. Im Glauben, sich ihre Gesundheit zu er-halten, verlieren sie diese und ruinieren sich. Sind aber andere krank,dann ist das gar nichts. Nur sie sind bemitleidenswert. Wie können siedoch rührselig über sich selber weinen und wie beglückt wären sie,wenn sie auch ihre Besucher zu Mitleidstränen rühren könnten! Esliegt ihnen nichts daran, ob man sie für geduldig hält, wenn man sie nurfür recht krank und leidend ansieht. – Das ist doch eine echte Kinder-unart und – darf ich es sagen? – auch Frauenschwäche! Weibische undwillensschwache Männer handeln freilich auch so, aber nicht Männermit Herz und Mut! Ein gesunder Kopf gibt sich mit derlei Albernhei-ten, mit solch abgeschmackter Selbstverzärtelung nicht ab, da dies aufdem Weg zur Vollkommenheit nur aufhält. – Verträgt dann ein solcherMensch überdies nicht, daß man ihn für weibisch und verzärtelt an-sieht, dann ist er es erst recht.

3. Auf der Rückfahrt von Paris hatte ich in einem Kloster ein Erleb-nis, das gut hierher paßt. Obwohl ich auf der ganzen Reise mit vielen

Page 212: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

21115. Selbstverzärtelung

sehr tugendhaften Seelen zusammengekommen bin, hat mir doch kei-ne Begegnung so viel Freude gemacht wie diese; sie war mir ein großerTrost.

Ein außerordentlich gutes, williges und gehorsames Mädchen2 mach-te in diesem Kloster gerade sein Probejahr. Alle notwendigen Voraus-setzungen für eine Heimsuchungsschwester waren gegeben. Unglück-licherweise bemerkten die Schwestern an ihr eine kleine Schwäche,einen körperlichen Fehler und es stiegen Zweifel auf, ob man sie behal-ten solle. Die Oberin war diesem Mädchen sehr zugetan, es tat ihr leid,es fortschicken zu sollen. Die Schwestern stießen sich jedoch sehr andiesem körperlichen Gebrechen. – Diese Meinungsverschiedenheit wur-de mir nun auf meiner Durchreise unterbreitet und man wollte sich fürdas entscheiden, was ich für gut finden würde. So wurde das brave Mäd-chen, das aus gutem Hause ist, zu mir geführt. Sie kniete sich hin undsagte: „Hochwürdigster Herr, es ist schon so, ich habe dieses Gebre-chen, das recht beschämend für mich ist“; – sie nannte es dabei in allerEinfalt mit lauter Stimme. – „Die Schwestern haben ganz recht, wennsie mich nicht aufnehmen wollen, ich gebe zu, daß ich mit diesem Feh-ler unerträglich bin. Trotzdem bitte ich Sie inständig, seien Sie mirgewogen! Ich versichere Ihnen, wenn die Schwestern mich aufnehmenund mir gegenüber Barmherzigkeit walten lassen, dann werde ich allestun, um ihnen nicht lästig zu fallen. Ich bin gerne bereit, den Garten zubesorgen oder irgend eine andere Arbeit zu machen, die mich von denSchwestern fernhält, sodaß ich ihnen nicht unangenehm werde ...“ –Wahrlich, dieses Mädchen war nicht verzärtelt! Ich konnte nicht an-ders, ich mußte ihr sagen, daß ich gerne den gleichen Fehler hätte unddazu den Freimut, ihn vor aller Welt mit der gleichen Einfachheit ein-zugestehen, wie sie es eben getan.

Sie hatte keine solche Angst, geringgeschätzt zu werden, wie manchandere sie haben, sie war für ihre Person nicht so empfindlich, sie ließsich nicht in selbstgefällige und zwecklose Grübeleien ein, wie: „Waswird die Oberin sagen, wenn ich das oder jenes mit ihr bespreche? Wennich mir eine kleine Erleichterung erbitte, dann wird sie mich gewiß fürzimperlich halten.“ – Und warum dürfte sie das nicht von Ihnen den-ken, wenn es wahr ist? – „Aber wenn ich es ihr sage, dann macht sie eineso zugeknöpfte Miene, als wenn es ihr unangenehm wäre.“ – Nun, wenndie Oberin den Kopf voll hat, dann kann es schon sein, daß sie daraufvergißt, Ihnen freundlich zuzulächeln oder zärtlich zuzureden, wenn

Page 213: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

212 15. Selbstverzärtelung

Sie ihr Ihr Leid klagen. Und das – sagen Sie – ärgert Sie und nimmtIhnen das Vertrauen, mit Ihren Schwierigkeiten zu ihr zu kommen. –Mein Gott, liebe Töchter, sind das doch Kindereien! Ihr müßt da ganzeinfach handeln. Selbst wenn ihr von der Oberin oder der Novizen-meisterin einmal oder sogar öfter nicht so empfangen worden seid, wieihr es gerne gehabt hättet, so dürft ihr das nicht schwer nehmen unddaraus schließen, daß es immer so sein wird. Wer weiß, vielleicht flößtihr der Herr etwas von seinem Geist der Milde ein, damit sie das nächste-mal, wenn ihr zu ihr kommt, liebenswürdiger ist.

4. So empfindlich sollen wir nicht sein, daß wir immer alle unsere klei-nen Beschwerden vortragen: Das bißchen Kopfweh oder Zahnweh, daswohl bald vorüber ist. Wolltet ihr das Gott zuliebe aushalten, dannbräuchtet ihr es nicht zu sagen, denn das tut man bloß, um ein wenigbemitleidet zu werden. – Sie meinen, daß Sie zwar der Oberin oder derSchwester, die Ihnen ein Linderungsmittel geben kann, nichts sagen,weil Sie es Gott aufopfern wollen, mit anderen Schwestern aber leichterdarüber reden. Ja, meine liebe Tochter, wenn Sie wirklich, wie Sie sa-gen, die Schmerzen Gott zuliebe ertragen wollen, dann werden Sie über-haupt mit keiner Schwester darüber reden. Sie wissen ja, daß die Schwe-ster sich verpflichtet fühlen wird, die Oberin auf Ihre Unpäßlichkeitaufmerksam zu machen. Damit kommen Sie dann doch – und zwar aufeinem Umweg – zu einer Erleichterung, die Sie besser auf gerademWeg und ganz einfach von der Schwester erbeten hätten, die sie Ihnengeben darf. Sie wissen doch, daß nicht jede Schwester, der Sie Ihr Kopf-weh klagen, Ihnen die Erlaubnis zum Schlafengehen geben kann. War-um sagen Sie es ihr dann? Doch bloß deshalb, weil Sie – wenn auchvielleicht unbewußt, – von dieser Schwester ein bißchen bemitleidetwerden wollen, – was der Eigenliebe so wohl tut! – Sprechen Sie aller-dings nur gelegentlich davon, wenn die Schwestern sich nach IhremBefinden erkundigen, dann ist weiter nichts dabei, vorausgesetzt, daßSie nicht übertreiben und nicht jammern, sondern schlicht die Wahr-heit sagen. Sonst aber hat man es nur der Oberin oder der Novizen-meisterin zu sagen.

Sie fürchten, weich zu werden, wenn Sie mit Ihren Schwierigkeiten zurOberin gehen? – Nun, dann sagen Sie eben nichts, solange es nicht not-wendig ist, das heißt, solange es nicht schlimmer wird. Ich kann denBrauch der Karmelitinnen nur gutheißen, daß die Schwestern ihre klei-

Page 214: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

21315. Selbstverzärtelung

nen Beschwerden nur der Oberin, die Novizen nur der Novi-zenmeisterin sagen.

Ihr dürft keine Angst haben, zu den Vorgesetzten zu gehen, auchwenn diese die Fehler etwas scharf rügen. Sie werden dann auch inZukunft zu euch Vertrauen haben und euch auch weiterhin diesen Diensterweisen. Geht also immer zu ihnen, wenn euch etwas fehlt, und sagt esihnen in aller Einfalt.

Daß Sie darüber lieber mit Schwestern sprechen, denen es nicht zu-steht, Ihrem Übel abzuhelfen, das glaube ich Ihnen gerne. So beklagtjede die arme Schwester, eine jede bemüht sich, ihr ein Heilmittel zuverschaffen. Reden Sie aber nur mit der Schwester, die sich um Sieanzunehmen hat, so müßten Sie sich in Abhängigkeit begeben und tun,was sie Ihnen anordnet. Und gerade dieser so segensreichen Abhängig-keit gehen wir gern aus dem Weg, denn die Eigenliebe ist immer hinteruns her, um uns zu schulmeistern und unseren Willen zu beherrschen.– „Ja, wenn ich aber der Oberin sage, daß ich Kopfweh habe, dann wirdsie mich ins Bett schicken.“ – Nun, was machts? Ist das Kopfweh nichtso heftig, dann könnten Sie doch der Oberin ganz einfach sagen: „Wür-dige Mutter, so schlimm scheint es mir nicht zu sein.“ – Und wenn Sietrotzdem zu Bett geschickt werden, dann gehen Sie in aller Einfalt, diewir ja jederzeit und bei allem üben müssen. In aller Einfalt wandeln, istein Gott wohlgefälliger und ganz sicherer Weg.

5. Was meinen Sie da, meine liebe Tochter, ob Sie einer Schwesterentgegenkommen sollen, die den Mut oder das Vertrauen nicht aufbringt,sich über ihren Kummer oder ihre Unpäßlichkeit auszusprechen, aberschwermütig wird, wenn sie sich nicht ausspricht, wie Sie aus Erfah-rung wissen; – oder ob Sie zuwarten sollen, bis sie von selber kommt?– Man wird da jeden Fall für sich prüfen müssen. In gewissen Fällenwird man gut tun, dieser Schwäche Rechnung zu tragen; man wird danndie Schwester rufen und sie fragen, was ihr fehlt. Ein andermal wiederwird man besser tun, diesen Launen nicht nachzugeben und die Schwe-ster einfach stehen zu lassen. Das heißt dann so viel wie: „Wenn Sie esnicht über sich bringen, um ein Mittel gegen Ihr Leid zu bitten, dannmüssen Sie es eben tragen; Sie verdienen es nicht anders.“

6. Seelische Verweichlichung ist noch unausstehlicher als körperliche.Leider wird sie gerade von geistlichen Personen am meisten gepflegtund großgezogen; sie möchten ohne Anstrengung mit einem Schlag hei-lig sein; ja, sie möchten sogar verschont bleiben von allen Kämpfen,

Page 215: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

214 15. Selbstverzärtelung

welche das Niedere in unserer Seele mit seinem Widerstreben gegenalles, was der Natur entgegen ist, heraufbeschwört. Und doch müssenwir, ob wir wollen oder nicht, unser Leben lang den Mut für diese klei-nen Scharmützel aufbringen, wollen wir nicht im Vollkommen-heitsstreben Schiffbruch erleiden.

Es liegt mir viel daran, daß ihr sehr genau unterscheidet zwischendem, was im höheren und dem, was im niederen Seelenbereich vor sichgeht, und daß ihr euch auch über die Erzeugnisse des niederen Seelen-lebens, selbst über die schlimmsten, nicht wundert. All das kann uns janicht aufhalten, solange wir in den Höhen unserer Seele fest entschlos-sen sind, auf dem Weg zur Vollkommenheit wacker auszuschreiten.Nur dürfen wir unsere Zeit nicht damit verlieren, über die eigenenFehler zu klagen oder beklagt werden zu wollen, – als ob unsere Mit-menschen nichts anderes zu tun hätten, als in den Jammer über unsereArmseligkeit und über unseren langsamen Fortschritt einzustimmen.

Das gute Kind, von dem ich euch vorhin erzählte, hat mir von ihremGebrechen ohne Weichlichkeit, mutig und gerade gesprochen, was mirausnehmend gefallen hat. Uns aber tut es so wohl, über unsere Fehlerzu weinen, und die Eigenliebe kommt dabei so gut auf ihre Rechnung!-Wir müssen viel hochherziger sein, meine lieben Töchter, dürfen unsdurchaus nicht wundern, daß wir alle möglichen Unvollkommenheitenan uns haben, und trotzdem den herzhaften Mut aufbringen, alle unsereschlechten Neigungen, Stimmungen, Launen und Sentimentalitäten zuverachten und bei jeder Gelegenheit dagegen anzukämpfen. Begehenwir aber trotzdem hie und da einen Fehler, dann meine lieben Töchter,nur nicht stehen bleiben, sondern seinen ganzen Mut zusammenneh-men, um tapfer weiterzugehen, bei der nächsten Gelegenheit treuer zusein und so wieder ein Stück auf dem Weg zu Gott und in der Selbstver-leugnung vorwärts zu kommen.

7. Was meinen Sie da, liebe Tochter? Wie Sie sich verhalten sollen,wenn die Oberin fragt: was Sie haben, daß Sie so schlecht ausschauen,Sie aber nicht recht wissen, was Sie antworten sollen, weil Ihnen ver-schiedene unangenehme Dinge im Kopf herumgehen? – Sagen Sie dannganz einfach: „Es geht mir so Verschiedenes durch den Kopf, ich weißaber nicht, was ich eigentlich habe.“- Sie fürchten, die Oberin könntedann meinen, Sie hätten kein Vertrauen zu ihr. – Kümmern Sie sichnicht um das, was sie meint oder nicht meint. Wenn Sie Ihre Pflicht tun,wozu sich dann ängstigen? Solche Gedanken: „Was wird man sagen,

Page 216: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

21515. Selbstverzärtelung

wenn ich dies oder jenes tue; was wird die Oberin denken?“ usw. sindganz gegen die Vollkommenheit, wenn man ihnen nachgeht. Vergeßtnicht, daß ich niemals die Vorgänge im niederen Seelenbereich meine,um den ich mich nicht kümmere. Ich rede das Höhere in der Seele an,wenn ich sage, man müsse dieses „Was wird man sagen; was wird mandenken?“ verachten.

Solche Fragen steigen in euch auf, wenn ihr bei eurer Rechenschaft3

zu wenig von euren besonderen Fehlern gesprochen habt. Da denkt ihrdann: Die Oberin wird sagen oder meinen, ich wollte ihr etwas ver-schweigen. Nun, man muß bei der Rechenschaft ebenso einfach seinwie bei der Beichte. Oder fragt ihr euch bei der Beichte: Was wird meinBeichtvater sagen oder denken, wenn ich das oder jenes beichte? Si-cherlich nicht! Mag er denken oder sagen, was er will, mir genügt, daßer mir die Lossprechung gegeben hat und daß ich meine Pflicht getanhabe. Und auch nach der Beichte ist keine Zeit zum Nachgrübeln, obman auch alles gut gesagt habe; diese Zeit ist vielmehr dazu gegeben,daß man ruhig und aufmerksam bei Gott weile, mit dem man wiederausgesöhnt ist, und daß man ihm für alle Wohltaten Dank sage; wirbrauchen durchaus nicht darüber nachzustudieren, ob wir etwas ver-gessen haben. Ebensowenig brauchen wir dies nach der Rechenschaftvor der Oberin zu tun; wir sagen in aller Einfachheit, was wir glaubensagen zu müssen, und nachher denken wir nicht mehr darüber nach.Ginge man allerdings zur Beichte ohne Gewissenserforschung, weilman fürchtet, das oder jenes zu finden, das man dann beichten müßte,so wäre das gewiß eine ungenügende Vorbereitung. Ebenso wäre esunrecht, wollte man vor der Rechenschaft sich nicht erforschen oderwollte man sich gar zerstreuen, um sich dann nicht mehr zu erinnern,was man getan hat.

8. Man darf nicht so weich sein und der Oberin alles sagen, mit allemzu ihr laufen wollen und schon beim geringsten Leid, das vielleicht ineiner Viertelstunde vorüber ist, um Hilfe rufen. Man soll vielmehrlernen, diese Kleinigkeiten, gegen die man nichts machen kann, hoch-herzig zu ertragen. Diese wechselnden Stimmungen, Launen und Wün-sche sind ja meist nur Auswüchse unserer unvollkommenen Natur, dieeinmal schwermütig ist, dann wieder geschwätzig, dann wieder so ver-schlossen, daß man kaum ein Wort hervorbringt, – alles Armseligkei-ten, denen wir eben in diesem vergänglichen und flüchtigen Leben un-terworfen sind.

Page 217: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

216 15. Selbstverzärtelung

Sie sagen, meine Tochter, daß Sie sich bei der Oberin über dieses IhrLeid aussprechen müssen, weil Sie sonst Ihre Aufmerksamkeit nicht aufGott lenken können. – Nein, dieses Leid beraubt Sie nicht der Auf-merksamkeit auf Gottes Gegenwart, sondern nur der süßen Gefühle,die Sie sonst dabei empfunden haben. Wenn es nichts anderes als dasist, wenn Sie – wie Sie sagen – den Mut und den guten Willen haben, IhrLeid zu tragen, ohne eine Erleichterung zu suchen, dann tun Sie sehrgut daran, es so zu machen, auch wenn Sie dabei nicht ganz frei vonUnruhe sind, solange diese nur nicht zu groß wird. – Beraubt Sie aberdas Leid wirklich der Möglichkeit, nahe bei Gott zu sein, dann müssenSie zur Oberin gehen, nicht um sich Erleichterung zu verschaffen, wasan sich auch nicht schlimm wäre, sondern um wieder näher zu Gott zukommen.

9. Bittet ihr die Oberin um eine Unterredung, und sie antwortet:„Tun Sie, was Sie wollen“, so ist das allerdings sehr bedauerlich. Ihrmüßt dann, da man es euch überläßt, nach Gutdünken zu handeln,überlegen, ob es besser ist, das Betreffende zu tun oder nicht, und euchdann für etwas entschließen, um keine Zeit zu verlieren.

Sie fragen, liebe Tochter, was man tun soll, wenn die Oberin ein sounfreundliches Wesen hat, daß die Schwestern, die etwas mit ihr be-sprechen oder um eine Erlaubnis bitten wollen, von ihr mürrisch emp-fangen werden und sich nicht mehr getrauen, mit ihren Nöten zu kom-men. Dürfen sich dann die Schwestern an die Stellvertreterin wenden,mit der Begründung, die Oberin nicht immer plagen zu wollen, nichtzuletzt aber auch, um von der Stellvertreterin eine Erlaubnis zu erhal-ten, die die Oberin vermutlich nicht geben würde? – O nein, meineliebe Tochter, so etwas darf man nicht tun, es müßte denn sein, daß dieOberin sehr stark in Anspruch genommen ist und man recht ungelegenkäme. Ebenso braucht man die Oberin, wenn sie bei der Gemeinde-stunde abwesend ist, nicht um die Erlaubnis bitten, aus derselbenherauszugehen. – Sich an die Oberin nicht wenden wollen, weil sieunfreundlich ist, ist das nicht eine große Weichlichkeit? Gewiß han-delt die Oberin schlecht und zeigt sich sehr unvollkommen, wenn siedie Schwestern, die zu ihr gehen, immer unfreundlich empfängt. Dassoll aber die Schwestern nicht abhalten, ihre Pflicht ganz einfach zutun und zu dieser Oberin als zu ihrer Mutter mit kindlichem Vertrauenzu gehen. – „Sie schlägt mir aber meist alles ab.“- Das macht nichts,man muß sie trotzdem weiter fragen, was man tun soll. Der Gedanke,

Page 218: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

21715. Selbstverzärtelung

Sie wären ihr lästig, ist jedenfalls unnütz. Sie müssen sich ihn aus demKopf schlagen. – „Sie ist aber nur mit mir so.“ – Das ist schon möglich!– „Sie mag mich halt nicht!“ – Seht, auf das habe ich schon gewartet! –Daß wir doch immer und überall ein Stelldichein mit unserem liebenIch haben müssen! Nie hat uns die Oberin lieb genug, nie schätzt sieuns genug, und davon hängt doch soviel für unsere Freudigkeit ab! –Aber was liegt denn daran, ob sie uns mag oder nicht mag, wenn wir nurihr gegenüber unsere Pflicht tun? – Ich will nicht sagen, meine liebeTochter, daß wir von der Oberin in verächtlichem Ton sagen sollen,daß uns nichts daran liege, ob sie uns mag oder nicht; wenn wir dassagen, so soll es mit Verachtung unser selbst sein, mit der Absicht,dieses lächerliche Bedürfnis nach Liebe zu überwinden. Wann solltenwir uns denn abtöten, wenn nicht immer da, wo uns etwas gegen dieNatur geht? Meine lieben Töchter, wir müssen dem Opfer die Hautabziehen, wenn wir wollen, daß es Gott wohlgefällig sei. So mußte esim Alten Bunde (Lev 1,1-6) mit jedem Opfertier geschehen, bevor esGott dargebracht wurde. Auch unser Herz ist erst dann so recht geeig-net, der göttlichen Majestät als Dankopfer dargebracht und geschenktzu werden, wenn es die alte Haut, d. h. die schlechten Gewohnheiten,Neigungen und Abneigungen, die überflüssigen Anhänglichkeiten anunser eigenes Ich und unseren Eigenwillen abgelegt hat.

„Aber ich habe einen so großen Widerwillen, jetzt zur Oberin zu gehen,weil ich vermute, daß sie mich demütigen wird!“ – Nun, das ist ja geradedas, was wir brauchen, denn wenn wir einen Akt der Selbstverleugnungtrotz großen Widerstrebens setzen, kommen wir einen großen Schrittin der Vollkommenheit voran. Ja, das wäre schon recht schön, wennman es so einrichten könnte, daß die Oberin immer Honig auf denLippen hätte und ihn nur so in die Herzen aller, die mit ihr redenwollen, träufeln könnte, und wenn das immer so wäre! – „Was sie mirsagt, das kann mich dann, wenn es mir so schwer ums Herz ist, keinbißchen trösten; vielleicht kommt es daher, daß sie mit mir nicht soliebenswürdig umgeht, wie ich es wünsche.“ – Sicherlich kommt esdaher; was kann man da machen? Man muß sich über so etwas wie überKindereien lustig machen. Sind wir getröstet, dann danken wir Gottdafür. Sind wir es nicht, danken wir ihm ebenfalls und wundern unsnicht über diese kleine Verschrobenheit.

Gleichwie die Schwestern sich vertrauensvoll an die Oberin wendensollen, auch wenn sie Widerwillen empfinden, so soll auch die Oberin

Page 219: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

218 15. Selbstverzärtelung

ihrerseits nicht aufhören, den Schwestern Befehle und Aufträge zu ge-ben, auch wenn diese ihren Widerwillen zeigen; – außer sie bemerkt aneiner Schwester eine so große und heftige Abneigung, daß sie es für gutfindet, mit dem Tadel noch zu warten; denn man muß ja nicht immer sostreng sein. Mein Gott, die Schwestern dürften sich glücklich schätzen,wenn sie eine Oberin hätten, die sie nicht liebt. Freilich wird das nievorkommen, denn die Oberin liebt ja immer ihre Schwestern mit derTatliebe, von der wir gesprochen. Sie wird also in Ausübung ihres Am-tes den Schwestern soviel Gutes tun, als sie nur kann, wie es ja ihrePflicht ist. Ich spreche aber jetzt von der gefühlsmäßigen, zärtlichen,liebkosenden Liebe. Je weniger uns die Oberin auf diese Art liebt undje weniger wir uns mit dieser Art von Liebe befassen, desto mehr Zeithaben wir, uns in Gott zu versenken, was doch unsere Hauptsorge seinmuß.

10. Meine liebe Tochter, Sie ärgern sich darüber, daß jene Schwestersich immer an die Oberin anschmiegt und der Liebe zu ihr gar so zärt-lichen Ausdruck gibt? – Sehen Sie denn nicht, daß Sie sich nur deshalbärgern, weil Sie eifersüchtig sind? – Das sei nicht der Grund, sagen Sie.Sie können nur die abgeschmackten Zärtlichkeiten nicht leiden? – Nun,deshalb brauchen Sie noch keine Abneigung gegen die Schwester zuhaben; vor allem dürfen Sie einer Abneigung nicht nachgeben; schüt-teln und rütteln Sie Ihre Seele, um sie davon abzulenken. Die Schwe-ster folgt jetzt vielleicht ein bißchen zu viel ihrer Neigung, morgenwerden Sie es bei Gelegenheit vielleicht genau so machen; haben Siealso Nachsicht mit ihr. Wir müssen gegen all diese Verkehrtheiten, wieLaune, Ärger, Abneigung, genau dasselbe Mittel anwenden, das ich euchfür den Verzicht auf die eigene Meinung – unserer zuerst besprochenenFrage – geraten habe: Den Geist von diesen Dingen ablenken und mitGott von etwas ganz anderem reden.

Die Liebe zur eigenen Meinung kann uns in Sachen des Glaubens zurHäresie führen und tief unglücklich machen. So erging es jenen En-geln, die zu sehr an ihrer Anschauung hingen, sie wären mehr, als sie inder Tat waren, und diese ihre Ansicht mit solcher Zärtlichkeit liebtenund mit solcher Hartnäckigkeit aufrecht hielten, daß aus herrlichenEngeln ewig verdammte Teufel wurden, die nun ewig am Bösen hängenund sich nie mehr davon losmachen können, während die Engel, diesich Gott unterwarfen, sich ihm sosehr angeschlossen haben, daß sienie mehr von ihm getrennt werden können, und nachdem sie mit der

Page 220: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

21915. Fragen

Schärfe ihres Verstandes die Tiefe der Wahrheit erfaßt haben, nie mehrdavon abgehen werden. – Wie wir also lernen müssen, den eigenenAnsichten zu entsagen, so müssen wir auch lernen, uns über die Launenhinwegzusetzen und uns über sie lustig zu machen. Wir dürfen uns nichtdarüber grämen, noch soweit vom Gleichmut entfernt zu sein, dessenBesitz wir anstreben. In diesem Leben werden wir ihn nie vollkommenerreichen, da diese Gnade den Seligen im Himmel vorbehalten ist.Wenn er aber auch hienieden in vollendeter Vollkommenheit nichterreichbar ist, so wollen wir uns doch bemühen, den höchstmöglichenGrad dieser Tugend zu erlangen.

11. Was wäre nun noch zu sagen über diese Verweichlichung desGeistes und des Leibes? Selbst ganz geistliche Menschen lieben sich mitder oben erwähnten Tatliebe. – Wir sagten von den Weltleuten, daß sieein hohes Maß dieser Liebe für sich aufbringen, denn sie verlangen mitleidenschaftlichem Ehrgeiz nach so viel irdischem Besitz und nach soviel Ehren, daß sie nie zufrieden sind. Aber auch Menschen, die willenssind, Gott so treu als möglich zu dienen, sind nicht frei von Ehrgeiz, dersich allerdings im Verlangen nach inneren Gütern, nach hoher Tugendäußert. Es kommt aber nun vor, daß die Gefühlsliebe, die ja über diegeistlichen Menschen mehr vermag als über die Weltleute, sie veranlaßt,mit diesen Wünschen herumzutändeln, statt sich der sorgfältigen undmühevollen Arbeit hinzugeben, die das Streben nach ihrem Ziel er-fordert, weil es ihnen schwer fällt, sich so oft zu überwinden. UnserenWidersprüchen widersprechen, unseren Neigungen abgeneigt sein, un-sere Gefühle unterdrücken, auf unsere eigene Meinung verzichten –das alles kann die gefühlvolle, sentimentale Liebe, die wir für uns he-gen, nicht zulassen, ohne Ach und Weh zu schreien. Und das ist dieUrsache, daß wir untätig bleiben.

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

V e r s c h i e d e n e F r a g e n

1. Sie fragen, meine liebe Tochter, ob man, um die heilige Armut zuüben, darauf bedacht sein müsse, die kleinen Entbehrungen wie sie ebenkommen, gerne anzunehmen. – Ich habe dies schon in der „Anleitung“den Laien empfohlen. Umsomehr müssen es die tun, die das Gelübdeder Armut abgelegt haben. Das wäre eine angenehme Armut oder viel-

Page 221: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

220 15. Fragen

mehr keine Armut, wenn uns nichts abginge. Man darf sich über dieseGelegenheiten, etwas zu entbehren, selbstverständlich nicht beklagen.Damit würden wir ja beweisen, daß wir darüber ungehalten sind undunsere Pflicht gegenüber der Armut nicht erfüllen. Kein Geld haben,wenn man keines braucht und einem nichts abgeht, das nenne ich nichtarm sein. Der glorreiche hl. Augustinus sagt in unseren Regeln: „An-spruchslos sein ist besser als viel besitzen“ (9.Kap.). Es gibt sichergenug Leute, denen immer etwas mangelt, weil sie eben so viele Be-dürfnisse haben, daß es ein wahrer Jammer ist. Diese Leute sind wirk-lich arm, wenn sie sich nicht alles leisten können, – denn sie leidenMangel an dem, was sie nicht haben, aber, wie sie meinen, notwendigbrauchen.

Was ich in der „Anleitung“ gesagt habe, ist auch für die Ordensleute,ausgenommen einige Kapitel, wie die über die Ehe, die Tänze, Spieleund ähnliche. Ich lade auch die Philothea ein, alle Gelegenheiten zurÜbung der tatsächlichen Armut liebend aufzugreifen. Wenn wir im-mer alles zu haben trachten, was uns nur irgendwie notwendig erscheint,werden wir von der heiligen Armut nichts verspüren. Ich für meinenTeil möchte nicht um etwas bitten, was ich entbehren kann, es sei denn,daß meine Gesundheit dabei ernstlich Schaden litte. Wenn mich z. B.friert, oder wenn mein Habit zu kurz ist oder nicht gut sitzt, so würdeich mir gar nichts daraus machen. Gäbe man mir aber Schuhe, die soeng sind, daß ich zehn Minuten brauche, sie anzuziehen, so würde ichlieber um andere bitten, als jeden Morgen damit Zeit zu verlieren. Wennaber ein Kleidungsstück schlecht sitzt und mich ein wenig wund reibtoder weh tut, dann würde ich nichts sagen. Was das Frieren betrifft, sosoll man zu große Kälte nicht aushalten wollen; das schadet der Ge-sundheit und ist also zu unterlassen.

2. Ich möchte auch hier wiederholen, was ich schon zweimal oderdreimal in unseren französischen Klöstern gesagt habe: Wer vollkom-men werden will, soll wenig haben wollen und nichts verlangen. Sichnach diesem Grundsatz richten, heißt freilich recht arm sein. Ich versi-chere euch aber, daß darin eines der großen Geheimnisse der Vollkom-menheit liegt; freilich ist es so verborgen, daß nur wenige Menschendarum wissen, oder wenn sie darum wissen, keinen Nutzen daraus zie-hen. Ich für meinen Teil würde nichts verlangen, wenn ich eine Ordens-person wäre und die gleiche Gesinnung hätte wie jetzt, denn ich verlan-ge nichts vom Herrn und will auch nichts verlangen. Manche bitten um

Page 222: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

22115. Fragen

Kreuze; der Herr könnte ihnen – wie sie meinen – gar nie genug geben,um ihrem Eifer zu genügen. Ich bitte nicht um Kreuze, halte mich aberbereit, die Kreuze, die Gott mir schicken will, so geduldig und demütig,als ich nur kann, zu tragen. Und wäre ich im Kloster, würde ich es nichtanders machen: Ich würde um nichts bitten, außer ich wäre krank;denn Kranke sollen ruhig um alles bitten, was sie brauchen. Ich würdeauch nicht bitten, kommunizieren zu dürfen, ausgenommen an jenenTagen, wo es Brauch ist, darum zu bitten, wie bei der Einkleidung, beider Profeß und am Fest des heiligen Namenspatrons.4 Um Nadel undFaden würde ich bitten, wenn man mir eine Näharbeit auftrüge; dennder Auftrag zum Nähen verpflichtet mich, um das zu bitten, was ichdazu brauche. Nein, meine liebe Tochter, um Demütigungen würde ichnicht bitten, hielte mich aber bereit, die Demütigungen, die mir erteiltwürden, gut anzunehmen. Ich würde so ruhig meine Wege vorangehen,ohne meine Zeit mit Wünschen zu vertändeln.

Sie handeln nicht schlecht, wenn Sie bitten, den Teig kneten zu dür-fen, da Sie sich stark genug fühlen; ich aber würde es zwar gerne tun,wenn man es von mir verlangte, sonst aber möchte ich nicht darandenken.

Auch trüge ich lieber ein kleines Strohkreuz, das mir auf die Schul-tern gelegt würde, ohne daß ich es wählte, als ein großes Kreuz, das ichmir mit großer Mühe selber aus dem Wald geholt und an dem ich rechtschwer schleppen müßte. Ich glaube, daß ich dem lieben Gott wahr-scheinlich mit dem Strohkreuz lieber bin als mit dem anderen großen,das ich mir mit vieler Plage und vielen Schweißtropfen selber gezim-mert habe. Denn dieses selbstgewählte Kreuz tragen, ist eine größereBefriedigung für die Eigenliebe, die ein großes Gefallen an dem hat,was sie sich selber zurechtlegt, während es ihr nicht gefällt, sich einfachführen und leiten zu lassen. Und gerade das wünsche ich euch vor al-lem, ebenso daß ihr ganz einfach tut, was die Regel und die Satzungenvorschreiben und die Vorgesetzten anordnen, dann aber euch um allesandere nicht kümmert, sondern euch nur so nahe als möglich bei Gotthaltet.

3. Sie fragen, meine liebe Tochter, ob Sie eine Speise, die Sie gerneessen, für gewöhnlich an sich vorübergehen lassen sollen, da ich dochvorher gesagt habe, man müsse sich beharrlich abtöten. – Ich würde esan Ihrer Stelle nicht tun, denn wir sind verpflichtet, uns an das Wort desHerrn zu halten: „Esset, was man euch vorsetzt“ (Lk 10,8), – also nicht

Page 223: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

222 15. Fragen

zu wählen. Setzt man mir etwas vor, was mir schmeckt, dann esse ich esund danke Gott dafür; bekomme ich nichts davon, dann mache ich mirnichts daraus. – Werden aber zwei Gerichte verabreicht, dann esse ichdas, was auf meiner Seite liegt, nach Appetit und Bedürfnis, vom ande-ren aber nehme ich nichts, auch dann nicht, wenn es mir besser schmek-ken sollte. Habe ich Ekel vor einer Speise, dann wähle ich das, was ichessen kann; im übrigen aber suche ich nichts heraus, sondern esse ohneWahl, was aufgetragen, und in der Reihenfolge, wie es aufgetragen wird.

4. Von der Armut sagte ich vorhin, es sei gut, in kleinen Dingen Not-wendiges gerne entbehren zu wollen, ohne sich zu beklagen und ohnedas Fehlende zu wünschen oder zu verlangen. Wer das aber nicht somachen will, kann ruhig um das bitten, was er braucht; die Regelnerlauben es ja und es ist auch nicht gegen das Gelübde der Armut, wieihr meint, paßt aber freilich nicht gut zur Armut und auch nicht zurVollkommenheit.

Es ist also an sich nicht schlimm, so für sich zu sorgen, wenn man nurnicht zu sehr auf seine Bequemlichkeit schaut und sich in den Grenzender Regel hält. Wir kommen dann allerdings um viele Gelegenheiten,Tugenden zu üben, die gerade für unseren Stand wichtig wären.

5. Nein, meine liebe Schwester, die Liebe verlangt nicht, daß ihr auf-paßt, ob nicht am Ende dieser und jener Schwester etwas abgeht, außereuer Amt verlangt es. Bemerkt ihr aber, daß eine Schwester etwas not-wendig braucht, dann sagt es ganz einfach der Oberin, ohne die Sachezu vergrößern oder zu verkleinern, sondern genau so, wie wenn sieeuch selber anginge.

6. Sie fragen, ob Sie gegen die Regel verstoßen, wenn Sie der Oberineine feinere Serviette und nicht die nächstbeste geben, wie man es beiden anderen Schwestern macht. Nun, wenn Sie es bisher so gemachthaben, so ist das nicht schlimm, aber tun Sie es in Zukunft nicht mehr.Die Oberin hat schon bestimmte Ehrungen; man nennt sie Mutter, siehat die Befugnis zu befehlen und anzuordnen, die Schwestern gehor-chen ihr. Darüber hinaus aber soll es nichts besonders für sie geben,wie es in den Satzungen heißt, außer sie braucht es notwendig; in die-sem Fall erhalten es die anderen Schwestern ja auch.

7. Wir müssen jetzt schließen und so empfehle ich euch zu guterLetzt noch die Einfachheit und Hochherzigkeit. Nur immer voran aufdem Weg der Vollkommenheit! Laßt euch von keinem Hindernis auf-halten, komme es von innen, also von unseren eigenen Unvollkom-

Page 224: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

22315. Fragen

menheiten und unbeherrschten Leidenschaften, oder komme es vonaußen!

Woher die Schwierigkeiten und Prüfungen auch kommen mögen, –wir wollen nicht müde werden, alles zu tragen und zu ertragen ausLiebe zu Unserem Herrn und Heiland.

Ihm sei Dank, Ehre und Preis durch alle Ewigkeit. Amen!

Page 225: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

224

16. Gespräch

Über die Nachgiebigkeit und den göttl ichen WillenÜber die Nachgiebigkeit und den göttl ichen WillenÜber die Nachgiebigkeit und den göttl ichen WillenÜber die Nachgiebigkeit und den göttl ichen WillenÜber die Nachgiebigkeit und den göttl ichen Willen11111

I .I .I .I .I .

Ich beginne mit der Antwort auf folgende Frage, die mir auf diesemZettelchen gestellt wurde: Worin besteht der feste Entschluß, in allemden Willen Gottes zu sehen und zu tun? Können wir den Willen Gottes imWillen der Vorgesetzten und der Untergebenen auch dann sehen, wenndiese sich offensichtlich von ihren angeborenen oder durch Ge-wohnheiten gewordenen Neigungen beeinflußen lassen?

1. Beginnen wir also mit den ersten Worten der Frage: Ihr müßt wis-sen, daß der feste Wille, den Willen Gottes ausnahmslos in allen Dingenzu tun, im Gebet des Herrn, im Vater unser ausgesprochen ist, in denWorten, die wir täglich beten: „Dein Wille geschehe, wie im Himmelso auf Erden“ (Mt 6,10). Der göttliche Wille stößt im Himmel aufkeinerlei Widerstand, alles ist ihm untertan, alles gehorcht ihm. Wirbeten nun, daß es auch mit uns so werde, und wir versprechen demHerrn, so handeln zu wollen, seinem Willen keinen Widerstand zuleisten und ihm in allem ganz gefügig sein zu wollen. Ich meine, dasschon im Buch von der „Gottesliebe“ sehr eingehend erklärt zu haben.Um aber eure Bitte zu erfüllen, will ich auch hier noch einiges darübersagen.

Unter dem Willen Gottes verstehen wir seinen ausgesprochenen Wil-len und den Willen seines Wohlgefallens.

Der Wille Gottes tut sich uns in vierfacher Weise kund: 1) in denGeboten Gottes, 2) in den Geboten der Kirche, 3) in den Räten, 4) inden Einsprechungen.

Unter die Gebote Gottes und der Kirche muß jeder Christ seinenNacken beugen; jeder muß sich ihnen gehorsam fügen. In diesen Gebo-ten spricht sich der Wille Gottes ohne Einschränkung aus und fordert,daß wir gehorchen, wenn wir gerettet werden wollen.

Die Beobachtung der Räte empfiehlt er uns nur; er fordert sie nichtbedingungslos von uns, legt uns aber seinen Willen in Form eines Wun-sches nahe. Wir verscherzen uns also seine Liebe nicht, trennen unsauch nicht von ihm, wenn wir nicht den Mut aufbringen, die Räte zuerfüllen. Wir dürfen auch gar nicht einmal alle Räte befolgen wollen,

Page 226: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

22516. Nachgiebigkeit

sondern nur jene, die unserem Stand entsprechen; denn manche sindeinander so entgegengesetzt, daß es ganz unmöglich ist, den einen zubefolgen, ohne sich zugleich der Möglichkeit zu berauben, den ande-ren zu erfüllen.

Es ist z. B. ein evangelischer Rat, alles zu verlassen und ganz armdem Herrn nachzufolgen; es ist auch ein evangelischer Rat, den Be-dürftigen zu borgen und Almosen zu geben. Wie aber könnte, wer allseinen Besitz auf einmal hergeschenkt hat, noch etwas ausleihen undAlmosen geben, wo er doch nichts mehr hat? Wir sollen also die Rätebefolgen, die Gott von uns geübt haben will, und nicht meinen, wirmüßten alle befolgen, die er gegeben. Für uns sind die Regeln jene Räte,denen wir zu folgen haben; das heißt, unsere Regeln enthalten alle füruns in Frage kommenden Räte.

Wir haben gesagt, daß Gott uns seinen Willen auch noch in denEinsprechungen kundgibt. Das ist wohl richtig, aber er will nicht, daß wirselber beurteilen, ob das, was wir im Innern vernehmen, sein Wille istoder nicht ist; ebenso will er nicht, daß wir aufs Geratewohl denEinsprechungen folgen. Er will auch nicht, daß wir darauf warten, bis erselbst uns seine Wünsche zu verstehen gibt oder einen Engel zu unsererUnterweisung schickt. Es ist vielmehr sein Wille, daß wir uns in zweifel-haften und zugleich wichtigen Dingen an jene wenden, die er aufgestellthat, uns zu führen, und daß wir uns in allem, was den seelischen Fort-schritt angeht, ihrem Rat und ihrer Ansicht gänzlich unterordnen.

Außer diesem ausgesprochenen Willen Gottes gibt es noch den Wil-len seines Wohlgefallens. Auf diesen müssen wir schauen in allen Vor-kommnissen, also bei allem, was uns begegnet: In Krankheit und Tod,in Trübsal und Freude, in guten wie in schlimmen Tagen, kurz in allem,was unvorhergesehen an uns herankommt. Und wir müssen allzeit be-reit sein, uns diesem Willen Gottes zu fügen, in angenehmen wie inunangenehmen Lagen, in Freud wie in Leid, im Leben wie im Sterben,in allem, was nicht offensichtlich gegen den ausgesprochenen WillenGottes ist; denn dieser geht immer vor.

2. Damit kommen wir zum zweiten Teil der Frage. – Kürzlich habe ichim Leben des großen hl. Anselm etwas gelesen, was ich euch erzählenmuß; ihr versteht dann gleich besser, was mit diesem Willen des Wohl-gefallens gemeint ist. Dieser Heilige war als Prior und als Abt bei allenungemein beliebt, weil er gegen alle, selbst gegen Fremde, so gefälligund nachgiebig war. Bat man ihn: „Nehmen Sie doch etwas heiße Sup-

Page 227: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

226 16. Nachgiebigkeit

pe, das ist gut für Ihren Magen“ – so aß er sie. Kam ein anderer und sagte:„Die Suppe tut Ihnen nicht gut, Sie dürfen sie nicht essen,“ so ließ er siesofort stehen. Er fügte sich in allem, was nicht offensichtlich gegen GottesWillen war, dem Willen seiner Mitbrüder, die sicherlich oft genug ihrennatürlichen und gewohnheitsmäßigen Neigungen folgten, und sogar demWillen der Weltleute, die mit ihm machten, was sie wollten.

Wenngleich nun alle den Heiligen überaus liebten, so waren dochnicht alle mit dieser großen Willfährigkeit und Nachgiebigkeit einver-standen. Schließlich wollten einige seiner Mitbrüder ihm Vorstellun-gen machen und ihm sagen, daß sie das nicht für recht hielten. Siebegannen also: „Vater, wir alle, die Ihrer Leitung unterstehen, liebenund schätzen Sie. Erlauben Sie uns jedoch, die wir Sie noch mehr alsalle anderen lieben, Ihnen sagen zu dürfen, daß Sie viel zu gefällig undgefügig sind und aller Welt zu Willen. Wir möchten meinen, daß Siemehr Würde wahren und vielmehr Ihre Untergebenen dazu bringensollten, sich Ihrem Willen zu beugen, statt immer allen nachzugeben,wie Sie es tun.“ Darauf antwortete der Heilige: „Wißt Ihr wohl, meinelieben Kinder, warum ich das tue? Ich denke an die Worte des Hei-lands, der uns befohlen hat, den Nächsten so zu behandeln, wie wirbehandelt zu werden wünschen (Mt 7,12; Lk 6,31), und deshalb kannich nichts anderes tun. Ich möchte, daß der Herr meinen Willen tue,und so erfülle ich gerne den Willen meiner Mitbrüder und aller Mit-menschen, damit es Gott gefallen möge, zuweilen das zu tun, was ichgerne hätte. – Noch ein zweiter Gedanke leitet mich dabei: Ich kann,abgesehen vom ausgesprochenen Willen Gottes, seinen Willen, d. h.den Willen des Wohlgefallens nur durch die Vermittlung des Nächstenerfahren. Gott spricht nicht direkt mit mir, noch weniger läßt er mirseinen Willen durch einen Engel mitteilen; die Tiere, die Bäume, diePflanzen, sie alle reden nicht. Es kann mir also nur der Mensch denWillen Gottes kund tun, und so halte ich mich so weit als möglichdaran. Gott hat mir befohlen, den Nächsten zu lieben; es ist aber eingroßes Werk der Nächstenliebe, die Einigkeit untereinander zu erhal-ten, und dazu weiß ich mir kein besseres Mittel als große Güte undNachgiebigkeit. Über alles, was wir tun, soll daher diese liebenswürdi-ge und demütige Nachgiebigkeit gebreitet sein. Der Hauptgrund fürmein Verhalten ist jedoch die Überzeugung, daß Gott mir seinen Wil-len durch den Willen meiner Mitbrüder zu verstehen gibt. Ich gehor-che also Gott, sooft ich in irgend einer Sache nachgebe. – Übrigens, hat

Page 228: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

22716. Nachgiebigkeit

nicht der Herr gesagt: ‚Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdetihr nicht in das Himmelreich eingehen.‘ (Mt 18,3)? Wundert euch alsonicht, wenn ich lenksam und nachgiebig bin wie ein Kind; tue ich dochdamit nur, was mir der Herr befohlen hat. Ob ich mich schlafen legeoder aufbleibe, ob ich Suppe esse oder nicht, ob ich dableibe oderdorthin gehe – das alles ist mehr oder minder nebensächlich; in sol-chen Dingen aber unnachgiebig sein, das wäre keine kleine Unvoll-kommenheit.“

Seht, meine lieben Schwestern, wie sich der hl. Anselm in allem fügt,was nicht gegen die Gebote Gottes und der Kirche oder gegen seineRegeln ist. – Der Gehorsam geht ja immer vor; ich denke nicht, daßman ihn auf Grund seiner Nachgiebigkeit hätte dazu bringen können,etwas gegen Gottes Gebot oder gegen die Regeln zu tun. Das gewißnicht. Aber sonst war Nachgiebigkeit in allem und gegen alle sein ober-ster Grundsatz.

Nachdem der große hl. Paulus ausgerufen, daß ihn nichts „von derLiebe Christi scheiden könne“, weder Tod noch Leben, weder Engelnoch Hölle (Röm 8,35-38), sagt er, daß er nichts Klügeres wisse, als„allen alles“ zu sein (1 Kor 9,22; 2 Kor 12,15 f), „mit den Fröhlichensich zu freuen, mit den Weinenden zu weinen“ (Röm 12,15), mit denDürstenden zu trinken und mit jedem eins zu werden.

Dieses Weinen „mit den Weinenden“ heißt nun freilich nicht, daß ichmit verweichlichten Menschen, die sich immer bejammern, auch mit-weinen müsse, noch, daß ich mich betrinken müßte mit denen, die estun. Denn wenn ich auch mit solchen, die es gerne hätten, trinken sollund darin auch den Willen Gottes sehe, so darf ich doch dabei dieGrenzen des Anstandes und der Mäßigkeit nicht überschreiten.

Muß ich mir also denken, daß Gott diesem Menschen eingegeben hat,mich zum Trinken aufzufordern? Gewiß nicht, aber er gibt mir ein, aufseinen Willen einzugehen und folglich zu trinken. Es ist der WilleGottes, daß ich trinke, wenn es auch nicht sein Wille war, daß man mirzu trinken anbot.

Eines Tages schaute ein Kind dem hl. Pachomius zu, wie er Mattenflocht, – der Heilige hatte damals Kinder um sich gesammelt, um sieim Glauben zu unterrichten – und sagte plötzlich: „Vater, das ist jafalsch, das macht man anders.“ Obwohl nun der Heilige die Arbeitganz recht gemacht hatte, stand er doch sogleich auf, setzte sich zu demKind hin, das ihm nun seine Art zu flechten zeigte. Da sagten einige

Page 229: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

228 16. Nachgiebigkeit

seiner Mitbrüder: „Jetzt haben Sie einen doppelten Fehler gemacht,Vater: Sie taten diesem Kind den Willen und setzten es damit der Ge-fahr der Eitelkeit aus; und dann verderben Sie Ihre Arbeit, denn aufIhre Art wird sie schöner.“ Der Heilige antwortete: „Meine Brüder,wenn Gott auch zulassen sollte, daß dieses Kind ein wenig eitel wird,dann gibt er mir vielleicht dafür ein wenig Demut und dann kann ichauch diesem Kind davon geben. Die Matten einmal anders zu flechten,ist nicht schlimm, aber schlimm wäre es, auf das Wort des Heilands zuvergessen: ‚Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder,‘ so einfach, demütigund fügsam wie sie, ‚werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen.‘Wie wertvoll ist es doch, wenn man so fügsam und gegen jedermannnachgiebig ist!“

Aber nicht nur die Heiligen, auch der Heiland selber hat uns dieseNachgiebigkeit gelehrt in seinen Worten wie in seinen Taten. Was be-deutet der Rat, sich selbst zu verleugnen, anderes, als bei jeder Gele-genheit auf den eigenen Willen, auf das eigene Urteil verzichten, umdem Willen Gottes zu folgen, – was anderes, als sich allen in allem zufügen, ausgenommen dort, wo man Gott beleidigen würde?

3. Aber da sagt man mir: „Ich sehe doch ganz deutlich, daß man dasvon mir aus rein menschlichen Gründen verlangt und daß dieser Wunscheiner natürlichen Neigung entspringt, also nicht von Gott der Oberinoder meiner Mitschwester eingegeben wurde, da sein Ursprung docheine natürliche oder durch Gewohnheiten gewordene Neigung odersogar eine Leidenschaft ist.“ – Nein, Gott hat es ihr selbstverständlichnicht eingegeben, aber von Ihnen will er, daß Sie tun, was man vonIhnen verlangt. Tun Sie es nicht, dann werden Sie Ihrem Entschluß,Gott in allen Dingen zu gehorchen, untreu und vernachlässigen folg-lich die pflichtgemäße Sorge um Ihre Vervollkommnung. Man sei alsostets bereit, das zu tun, was man von uns haben will, damit der WilleGottes geschehe, solange es nicht gegen Gottes ausgesprochenen Wil-len ist, den er uns auf die oben erwähnte vierfache Weise kund gibt.

Der Wille der Geschöpfe tritt an uns heran auf dreifache Art: als Leid,als Freude, unbegründet und grundlos.

Wenn Mitmenschen von uns etwas wollen, was wir als unangenehmempfinden, so braucht es viel Starkmut, um dann ihren Willen zu erfül-len; ist er doch unserem Willen entgegen, der so ungern einen Wider-spruch erträgt. Trotz allen Starkmutes bleibt es für gewöhnlich docheine harte Buße, den Willen der Vorgesetzten zu tun, und was noch

Page 230: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

22916. Nachgiebigkeit

härter ist, sich dem Willen der Gleichgestellten und Untergebenen zufügen, denn zumeist ist uns, was sie wollen, zuwider. Wir müssen esalso als Opfer und als Prüfung hinnehmen, wenn wir ihren Willen zuerfüllen haben.

Den Willen unserer Mitmenschen zu erfüllen, wenn er uns Freudemacht, dazu braucht es keine Aufmunterung. Mein Gott, in angeneh-men Dingen gehorchen wir gewiß gern, ja wir kommen diesem Willenzuvor, wir bieten uns an. So werdet ihr mich auch gewiß nicht fragen,ob ihr euch diesem Willen fügen sollt, darüber zweifelt ja niemand. Ihrmöchtet aber wissen, wie ihr euch verhalten sollt, wenn man von euchetwas verlangt, was ungelegen kommt und wo ihr die Gründe nicht wißt,warum das von euch verlangt wird.

Seht, meine Schwestern, hier gilt es zu zeigen, ob man Gottes Willenerfüllen will. Man wird sich fragen: Warum soll ich eher den Willender Mitschwester als meinen tun? Stimmt denn in dieser Kleinigkeitmein Wille weniger mit dem Willen Gottes überein als der ihrige? Wasfür einen Grund habe ich, das, was sie mich tun heißt, mehr für eineEinsprechung zu halten als das, was ich eben zu tun beabsichtige?

Meine teuren Schwestern, hier gibt uns die göttliche Güte Gelegen-heit, den Preis der Nachgiebigkeit zu gewinnen. Wenn wir immer wüß-ten, warum man uns etwas anschafft, warum man uns bittet, dies unddas zu tun, dann hätten wir wenig Verdienst dabei; auch fiele es unsnicht besonders schwer, wir wären vielmehr von Herzen gern bereitdazu. Kennen wir aber die Gründe nicht, so widerstrebt unser Willeund unser Urteil bäumt sich dagegen auf. Das alles aber müssen wirdann in kindlicher Einfalt überwinden, müssen uns an die Arbeit ma-chen, ohne viel zu grübeln und ohne die Gründe für und wider zu erwä-gen. – Ich weiß, es ist der Wille Gottes, daß ich den Willen des Nächs-ten meinem Willen vorziehe; also mache ich mich daran, ohne viel zuüberlegen, ob ich auch wirklich den Willen Gottes erfülle, wenn ichmich diesen Befehlen oder Wünschen unterwerfe, die vielleicht Lei-denschaften oder natürlichen Neigungen entspringen oder vielleichtdoch der Vernunft und göttlichen Einsprechung.

Geht es um Kleinigkeiten, so handle man in aller Einfalt. Was hätte esfür einen Sinn, wenn man eine Stunde lang herumsinnieren wollte, obes Gottes Wille ist, daß man die Suppe esse oder nicht, oder daß mantrinke, wenn man dazu aufgefordert wird, oder es besser bleiben lasse,

Page 231: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

230 16. Beichte

um Buße zu tun usw.? Derlei Kleinigkeiten sind das Überlegen nichtwert, vor allem dann nicht, wenn ich sehe, daß ich dem Nächsten damiteinen Gefallen tun kann.

Auch in wichtigen Dingen verliere man keine Zeit mit Überlegungen,sondern unterbreite sie den Vorgesetzten, um von ihnen zu hören, wasman zu tun habe; man verschwende dann keinen Gedanken mehr dar-an, sondern bleibe bei der Meinung der Vorgesetzten, die Gott unsgegeben, damit sie uns zur vollkommenen Liebe führen.

Wenn wir so dem Willen des Nächsten nachgeben und jedem unsererMitmenschen gefügig sein sollen, dann doch vor allem dem Willen un-serer Vorgesetzten, in denen wir Gott sehen müssen, dessen Stellvertre-ter sie ja auch sind. Selbst wenn es vorkäme, daß natürliche oder durchGewohnheiten gewordene Neigungen, ja sogar Leidenschaften die Ur-sache ihrer Befehle oder Tadel wären, so dürften wir uns nicht darüberwundern, denn sie sind Menschen wie alle anderen und daher auchNeigungen und Leidenschaften unterworfen. Und wäre ein Befehl oderTadel tatsächlich in der Leidenschaft gegeben worden, so dürften wirtrotzdem darüber nicht urteilen, selbst wenn der Beweis auf der Handliegt, sondern müßten ruhig und willig gehorchen und den Tadel demü-tig annehmen.*

I I .I I .I I .I I .I I .

Nun wollen wir diesen Gegenstand verlassen und etwas über das Beich-ten sagen.

1. Vor allem möchte ich, daß man den Beichtvätern mit großer Ehr-furcht begegne. Wir haben die Pflicht, das Priestertum hoch in Ehren

* Die Ausgabe 1933 bringt auf S. 525 noch folgenden Einschub zu dieser Stelle:Die Eigenliebe empfindet es sehr bitter, immer wieder Schwierigkeiten zu begeg-

nen.Mein Oberer oder meine Oberin ist schwermütig veranlagt, und sobald ich herz-

haft lache, heißt es: „Sagen Sie einmal, worüber lachen Sie eigentlich?“ – Sonderba-re Frage, warum ich lache? Nun, weil ich vergnügt bin! – Hat die Oberin einsanguinisches Temperament und ich lache nicht, dann fragt sie gleich: „Warumlassen Sie den Kopf hängen?“ – Ist das nicht unausstehlich? Nichts ärgert nämlichden Melancholiker mehr, als wenn man ihn fragt, warum er den Kopf hängen lasse,weil er ja gewöhnlich dafür keinen vernünftigen Grund angeben kann.

Page 232: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

23116. Beichte

zu halten. Demnach müssen wir auch den Beichtvätern im heiligenSakrament der Buße voll Ehrerbietung nahen, wir müssen Engel inihnen sehen, die von Gott gesandt sind, damit sie uns mit der göttlichenGüte versöhnen. Und nicht nur Engel, sondern auch die StellvertreterGottes auf Erden müssen wir in ihnen sehen; auch dann, wenn sich inder heiligen Beichte manchmal Menschliches an ihnen zeigt, wenn sieetwa neugierige Fragen stellen, die nichts mit der Beichte zu tun haben;wenn sie z. B. eure Namen, eure Lebensweise wissen möchten, wenn siesich erkundigen, ob ihr Bußwerke und besondere Tugendübungen machtund welcher Art sie sind, ob ihr Versuchungen habt, wie es euch imBetrachten geht – alles Fragen, die ich an eurer Stelle ganz einfachbeantworten würde, obwohl ich dazu nicht verpflichtet bin. – Nichtangebracht wäre die Antwort: „Darüber darf ich nicht sprechen.“ –Solche Ausreden darf man nie gebrauchen.2 Von euren persönlichenAngelegenheiten könnt ihr in der Beichte sagen, was ihr wollt; fragtman euch über die Schwestern im allgemeinen, so antwortet ganz ein-fach: daß ihr nicht wißt, welche Bußübungen und Tugendakte sie ver-richten. Fragt der Beichtvater, ob äußere Bußübungen gemacht wer-den, dann antwortet mit Ja.

Doch zurück zu dem, was ich vorhin sagte. Fragt er euch etwas, waseuch in Verlegenheit bringen könnte, z. B. ob ihr Versuchungen habt,und ihr fürchtet, daß er sich nach Einzelheiten erkundigen werde, dannkönnt ihr antworten: „Ja, mein Vater, ich glaube aber, durch GottesGnade keine Sünde begangen zu haben.“

Würdet ihr, nachdem ihr eure Sünden gebeichtet, auf die Frage: „Ha-ben Sie sonst noch etwas?“ – antworten: „Ich hätte schon noch etwasauf dem Herzen, mein Vater, aber die Oberin, die Novizenmeisterin,hat mir untersagt, in der Beichte darüber zu reden,“ so wäre das gewißganz zu verurteilen. Wer so antwortet, begeht einen Fehler, denn ererweckt beim Beichtvater den Eindruck, als wollte man hier in diesemHaus das Vertrauen der Schwestern ihm gegenüber nachteilig beein-flussen und den Schwestern die Möglichkeit nehmen zu beichten, wie

* Zu dieser Stelle bringt die Ausgabe 1933 folgende Lesart auf Seite 525:Wenn ihr mit der Oberin oder der Novizenmeisterin wegen des Beichtens sprecht

und sie sagt: das brauchen Sie nicht erwähnen, so will sie euch ja keinen Befehl,sondern nur einen Rat geben. Die Schwester tut dann gut daran, wenn sie sichberuhigt, ihre Meinung dem Urteil der Oberin unterwirft, ihr glaubt, wenn sie sagt,das brauche sie in der Beichte nicht zu erwähnen, und es folglich auch nicht beich-

Page 233: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

232 16. Beichte

es sich gehört, was ja gar nicht zutrifft.* Der Beichtvater weiß nicht,was die Oberin mit dieser Äußerung bezweckt hat, er kennt weder dieVeranlagung noch die Seelenverfassung der Schwestern, und so kann erdarin etwas Sündhaftes sehen. In Unkenntnis des Seelenzustandes derSchwester wird er die Oberin für unwissend halten und diese Art, dieSchwestern zu leiten, herabsetzen. Es ist außerordentlich wichtig, daßsich die Schwestern vertrauensvoll bei der Oberin oder Novizen-meisterin aussprechen, damit sie lernen, richtig zu beichten. Ich willauch nicht, daß den Schwestern das Vertrauen dazu genommen werde;aber es sollen auch die Schwestern nicht den Fehler machen und sagen,man hätte ihnen verboten, dies und jenes zu beichten, denn eine solcheAussage könnte Ärgernis erregen. Sagt nur dem Beichtvater, wenn ihres wollt, ganz offen, was euch bedrückt, hütet euch aber, über andere zusprechen. Das ist ungemein wichtig.

Wenn die Beichtväter irgend eine Kleinigkeit wissen wollen, soll manihnen willfahren und ihre Fragen beantworten, aber dann über dieseihre kleine Schwäche schweigen. Wir haben ihnen gegenüber auch diePflicht, über alles, was sie uns in der Beichte sagen, zu schweigen, auchihre Unvollkommenheiten für uns zu behalten und darüber zu schwei-gen, falls wir solche an ihnen bemerkt haben. Man darf daher auchnicht weitererzählen, was sie uns gesagt haben, außer es handelt sichum etwas sehr Erbauliches; aber sonst sagt man nichts von der Beichteaus.

2. Gibt euch der Beichtvater einen Rat, der sich mit den Regeln odereurer Lebensweise nicht vereinbaren läßt, so hört ihn ehrerbietig unddemütig an; mehr braucht ihr nicht zu tun. Die Beichtväter haben nichtimmer die Absicht, uns zu dem, was sie uns sagen, unter Sünde zuverpflichten, ebensowenig wie die Oberen. Nehmt also Ratschläge, diemit den Regeln unvereinbar sind, als bloße Empfehlung hin; ihr brauchtsie nicht auszuführen. Im übrigen aber sollt ihr alles, was euch in derBeichte gesagt wird, hochschätzen. Ihr glaubt gar nicht, wie viel jene

tet. – Und fragt dann der Beichtvater: „Haben Sie sonst nichts mehr?“, so darf sieruhig antworten „Nein“ und braucht sich über diese Antwort nicht zu ängstigen.

Die anderen aber, die nicht befriedigt sind, wenn sie nicht auch das, was sie nichtzu beichten brauchen, in der Beichte gesagt haben, sollen es ruhig beichten, wennsie es wirklich vorziehen, lieber ihrer Eigenliebe als dem Rat der Oberin zu folgen,sollen dann aber nicht vorher sagen, daß die Oberin ihnen verboten habe, es zubeichten.

Page 234: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

23316. Beichte

Seelen gewinnen, die mit der entsprechenden Vorbereitung und Demutzu diesem Sakrament kommen. Könnt ihr den Rat des Beichtvatersleicht ausführen, z. B. eine kleine Buße, für die ihr Erlaubnis braucht,dann sagt demütig: „Mein Vater, ich werde bitten, diese Buße verrich-ten zu dürfen.“ Bekommt ihr jedoch eine Buße, die gegen die Regelnist, dann müßt ihr ganz ruhig sagen: „Mein Vater, ich bitte Sie demütig,mir eine andere Buße zu geben, denn diese ist gegen die Regeln; ichfürchte, den Schwestern damit Ärgernis zu geben.“ Oder wenn er euchauftragen würde, täglich so und so viele Horen oder so und so oft dasBrevier zu beten, dann müßtet ihr sagen: „Das kann ich nicht gut ma-chen, weil alle unsere Stunden schon eingeteilt sind.“

3. Man soll sich über den Beichtvater nie beklagen. Ist euch durchsein Verschulden bei der Beichte etwas Unangenehmes widerfahren,dann könnt ihr mit der Oberin ganz einfach darüber sprechen und sa-gen: „Meine Mutter, ich möchte, wenn Sie es gestatten, lieber bei ei-nem anderen Priester beichten.“ Das genügt; mehr braucht ihr nicht zusagen. So stellt ihr den Beichtvater nicht bloß und könnt dann beichten,bei wem ihr wollt. Das soll aber nicht leichtfertig geschehen, wegengeringfügiger und unwichtiger Gründe. Man darf nicht übertreiben! Eswäre gewiß nicht recht, größere Fehler bei der Beichte hinzunehmen,aber ebensowenig würde es sich ziemen, so empfindlich zu sein, daßman Kleinigkeiten nicht ertragen kann.

4. Ihr seid zwar nicht verpflichtet, der Oberin alles zu sagen,3 aber esist gewiß ein sehr geeignetes Mittel für die Ruhe und den Frieden der

* Die Ausgabe 1933 bringt auf Seite 526 folgenden Einschub zu dieser Stelle:Ein Beispiel: Der Beichtvater behält mich ziemlich lang im Beichtstuhl, und ich

bräuchte so notwendig die Zeit für andere Verpflichtungen; dazu wird mich dannvielleicht noch die Oberin demütigen, indem sie mir einen Vorwurf macht, weil ichso lang im Beichtstuhl gewesen bin; sie wird mich vielleicht fragen – ohne eineAntwort zu erwarten –, was ich dort alles zu sagen hatte; und das alles geht mirdurch den Kopf, während ich vor dem Beichtvater knie. –

Mein Gott, wie kann man nur so empfindlich sein und die Demütigung so weniglieben, daß man ihr auszukommen trachtet, wo man nur kann! Sie sagen, Sie hättenAngst, die Oberin zu verstimmen. Entschuldigen Sie, meine liebe Tochter, IhreEigenliebe übertölpelt Sie da. Sie dürfen nicht meinen, daß die Oberinnen soempfindlich sind. Nein, sie sind es wirklich nicht und sie werden Sie weder drängennoch Ihnen nahelegen zu sagen, was Sie lieber für sich behalten, wenn Sie es ihnen

Page 235: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

234 16. Beichte

Seele.* Wer den Oberen gegenüber Zurückhaltung übt, täuscht sichselbst, denn er hält sich vom Stellvertreter Gottes fern und sucht an-derswo etwas, was er doch nicht finden wird. Denn das, was er sucht, hatGott jenen vorbehalten, die sich willig und freiwillig der Autorität ih-rer Vorgesetzten unterwerfen. Warum das Gute in der Ferne suchen,wenn es doch so nahe liegt? Vergeßt aber nicht, was ich euch gesagt: Ihrseid weder gebunden und gezwungen, der Oberin alles zu sagen, nochseid ihr gebunden und gezwungen, dem Beichtvater etwas zu verschwei-gen, was ihr gerne sagen möchtet, vorausgesetzt, daß ihr nur von eurerPerson redet.

5. Dann wollte ich euch noch etwas sagen: Ich hätte gerne, daß dieSchwestern der Heimsuchung in der Beichte recht genau auf die ein-zelnen Sünden eingehen. Das gilt einmal für jene Schwestern, die soerfaßt sind von Gottes Gegenwart, daß sie sich an keine läßliche Sündeerinnern. Das gilt auch für jene kindlichen Naturen, die schon einigeshätten, was sie beichten sollten, sich dessen aber nicht bewußt sind,sondern ganz einfältig und im guten Glauben ihres Weges gehen. Gott!Wie glücklich sind diese Seelen! Eine solche Seele habe ich gekannt;sie war in meinem Alter. Ich glaube, sie hat niemals eine Todsündebegangen. Obwohl sie eine ganz vorzügliche Person war, beging siedoch vor meinen Augen ein paar grobe läßliche Sünden. Als sie dannnachher beichten ging, wußte sie nichts zu sagen. Sie hatte das in allerNaivität getan, ohne dabei etwas Böses zu finden.

Ich möchte nun, daß Ihr es so macht: Wer bei der Gewissens-erforschung an sich nichts findet, was Gegenstand der Lossprechungwäre, der soll sich über eine bestimmte Sünde aus der früheren Zeitanklagen, aber nicht etwas Allgemeines sagen, z. B. „Ich habe gelogen.“Es muß hinzugefügt werden, ob aus Eitelkeit, oder um dem Nächstenzu schaden. Ebenso würde es nicht genügen zu sagen: „Ich habe einpaarmal eine Regung des Zornes gehabt“; das ist dann gerade so, alswenn ihr sagtet: „Ich habe ein paarmal eine Regung der Freude ge-habt.“ Der Zorn ist eine Leidenschaft genau wie die Freude oder Trau-rigkeit. Man darf nicht meinen, daß jede Regung des Zornes schonSünde ist. Für die Aufwallung können wir nichts. Wir bleiben Leiden-schaften unterworfen, ob wir wollen oder nicht. Die Kirche, die Kir-

nicht ganz einfach anvertrauen wollen. Die Oberin wird auch nicht meinen, daß Sieetwas verschweigen, wie Sie befürchten. Und selbst wenn Sie ihr etwas nicht anver-trauen wollten, so dürfte sie deshalb nicht verstimmt sein.

Page 236: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

23516. Beichte

chenlehrer und die Konzilien haben jene Mönche verurteilt, die dasleugneten. Der Zorn ist erst dann Sünde, wenn er ungeordnet ist, wenner uns zu unbeherrschten Handlungen hinreißt. Die Regungen desZornes braucht ihr also nicht zu beichten. Wenn der Beichtvater klugist, wird er euch auf solche Anklagen antworten: „Gehen Sie in Frie-den, wenn Sie weiter nichts haben.“

Man muß also etwas angeben, was wirklich Sünde ist. Zum Beispiel:„Ich bekenne, daß ich dies und jenes getan habe, als ich noch in derWelt war.“ Nicht etwa: „Ich habe mich gegen den Gehorsam versün-digt,“ sondern angeben, worin der Ungehorsam bestand, ob es in einerwichtigen oder geringfügigen Sache war. Ich möchte, daß ihr euch dasgut merkt, denn es ist notwendig, daß ihr es von nun an so macht.

6. Dann auch wünsche ich, daß ihr in euren Beichten ja recht aufrich-tig und einfach seid und nie die Liebe verletzt, – ich sage das nicht soleichthin, sondern weil ich es sagen muß. Aufrichtig und einfach isthier dasselbe: Also die Tatsachen deutlich, ohne Beschönigung und Ver-stellung darlegen, dessen eingedenk, daß wir mit Gott reden, dem nichtsverborgen ist; dabei vor allem auf die Liebe achten, und niemand ande-ren in die Beichte hineinziehen. Habt ihr euch anzuklagen, daß ihr in-nerlich oder auch in Gegenwart von Schwestern gemurrt habt, weil dieOberin heftig geworden ist, dann sagt nicht so: „Ich habe gemurrt, weildie Oberin aufgebraust ist,“ sondern: „Ich habe über eine ältere Schwe-ster gemurrt,“ oder einfach: „Ich habe geschimpft.“ Sagt dann noch, obes für euch allein war oder mit anderen; – ihr könnt euch nicht vorstel-len, wie gefährlich und schlimm das ist! Beichtet also eure Sünde, sagtaber nicht, was euch dazu veranlaßt hat. Sagt auch nicht, daß ihr übereinen Tadel gemurrt habt, wenn ihr meint, es könnte am Ende auf demsitzen bleiben, der den Tadel ausgesprochen hat.

Wenn auch die Verfehlung, die wir uns Vorgesetzten gegenüber zu-schulden kommen lassen, ernster zu nehmen ist, so brauchen wir, be-sonders bei geringfügigen Angelegenheiten, nicht zu erwähnen, daß essich um die Person des Oberen gehandelt hat.

Kurz, wir dürfen niemals, weder offen noch versteckt, die Fehler an-derer in unser Bekenntnis hineinziehen, noch dem Beichtvater andeu-ten oder zu einer Vermutung Anlaß geben, wer an unserem Fehler be-teiligt war. „Ich habe mich geärgert, weil die Oberin mich im Zorngetadelt hat.“ Ähnlich beichten wohl Stubenmädchen, wenn sie sagen:„Ich habe mich geärgert, sooft die gnädige Frau mich zornig angefah-

Page 237: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

236 16. Beichte

ren hat, ohne daß ich ihr Anlaß gegeben habe.“ – Wer recht demütigbeichtet: „Ich klage mich des Gedankens an, daß die Oberin mich imZorn getadelt habe,“ und nicht hinzufügt: „obwohl ich keinen Grundhatte, dies anzunehmen,“ tut Unrecht, denn sie beichtet die Fehler derOberin und sagt von der eigenen Schuld nichts. Unfreiwillige Gedan-ken sind ja ebensowenig sündhaft wie die Regungen der Leidenschaf-ten, solange sie sich nicht in sündhaften Worten oder Taten auswirken.Was ich von der Oberin sagte, gilt von allen anderen auch.

Alle überflüssigen Anklagen über bittere, eitle, ja sogar schlechte Ge-danken lasse man in der Beichte bleiben. Habt ihr euch freiwillig beisolchen Gedanken aufgehalten, dann sagt es gerade heraus; ebenso,wenn ihr freiwillig zerstreut oder beim Offizium unaufmerksam gewe-sen seid, weil ihr euch anfangs nicht entsprechend gesammelt habt.Wenn das nicht der Fall war, dann braucht ihr nicht zu sagen, daß ihrwährend des Betens sehr nachlässig gewesen seid, euch gesammelt zuhalten. Mit dieser Anklage kann der Beichtvater gar nichts anfangenund es ist sehr wohl möglich, daß ihr euch selber täuscht, denn dieZerstreutheit ist nicht immer selbst verschuldet. Wir müssen uns ein-fach bemühen, so gut als möglich gesammelt zu bleiben; mißlingt esuns, dann verdemütigen wir uns ganz ruhig, ohne ängstlich nach einerSünde zu suchen, wo keine da ist. Seid ihr in der Abwehr der Zerstreu-ungen nachlässig gewesen, dann beichtet es ganz einfach, ohne weit-schweifige Vorreden von „Vernachlässigung der Gegenwart Gottes“usw., was für die Beichte ganz wertlos ist.

7. Noch etwas wünsche ich mir von euch, meine lieben Töchter. Ichmöchte, daß man hier im Haus jenen, die das Wort Gottes verkünden –also den Predigern – große Ehrfurcht und Verehrung entgegenbringe.Wir haben auch allen Grund dazu; sind sie doch Himmelsboten, vonGott gesandt, uns den Weg des Heiles zu zeigen. Boten Gottes müssenwir in ihnen sehen, nicht Menschen. Verstehen sie auch nicht wie Engelzu reden, so dürfen wir das Wort Gottes doch nicht weniger demütigund ehrerbietig von ihnen annehmen; denn immer ist es das gleicheWort Gottes, das reine, das heilige Wort Gottes, ob von Menschen odervon Engeln verkündet.

Schon oft konnte ich bemerken, daß man sich für einen Brief, den ichauf schlechtes Papier mit schlechter Schrift schreibe, genau so herzlichbedankt wie für einen, den ich auf gutes Papier recht fein säuberlichschreibe. Warum wohl? Weil der Empfänger nicht auf das Papier schaut,

Page 238: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

23716. Abtötung der Eigenliebe

das nicht gut, und auf die Schrift, die schlecht ist, sondern auf mich, derihm schreibt. Mit dem Wort Gottes darf es nicht anders sein. Wir dür-fen nicht auf den schauen, der uns das Gotteswort verkündet und er-klärt; es soll uns genügen, daß Gott sich dieses Predigers zu unsererBelehrung bedient. Wie dürften wir es nur an Hochschätzung und Ehr-furcht gegen ihn fehlen lassen, wenn Gott ihm die hohe Ehre erweist,durch seinen Mund zu uns zu reden!

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

1. Was wäre noch zu besprechen? – O nein, meine Mutter, ich halte esfür ausgeschlossen, daß es Schwestern gibt, die so sehr nach Liebkosun-gen der Oberin verlangen, daß sie, sobald die Oberin etwas kühler ist,gleich daraus schließen, sie hätte sie nicht mehr lieb. EntschuldigenSie, meine Mutter, unsere Schwestern lieben die Demut und Abtötungviel zu sehr, als daß sie gleich unglücklich wären wegen einer leisen,vielleicht ganz unbegründeten Vermutung, nicht in dem Maße geliebtzu sein, wie es sich die Eigenliebe einbildet. – „Ja, ich habe mir aberder Oberin gegenüber etwas zuschulden kommen lassen. Ich fürchte,sie ist mir deshalb böse und mag mich nicht mehr; kurz, sie wird nichtmehr so viel auf mich halten. Und es ist mir doch viel daran gelegen,daß unsere Mutter etwas auf mich hält.“ O meine lieben Schwestern,all diese Ängste sind diktiert von einer gewissen Oberin, die „Eigenlie-be“ heißt und euch zuflüstert: „Nein, wie konntest du nur einen sol-chen Fehler begehen? Was wird unsere Mutter von dir denken, waswird sie sagen? Ach, es wird doch nichts mehr aus mir elendem Ge-schöpf! Ich werde ihr nie mehr etwas recht machen können!“ – und wiesie alle heißen, diese schönen und billigen Klagen. – Man sagt nicht:„Ach, ich habe Gott beleidigt, ich will mich in seine Barmherzigkeitflüchten und hoffen, daß er mich stärkt,“ – sondern man sagt: „Ich weißschon, daß Gott gut ist, daß er über meine Untreue gnädig hinweg-schaut, er kennt ja unsere Schwachheit so genau; unsere Oberin aber...“ und dann geht das alte Gejammer wieder von neuem an.

Gewiß soll man sich bemühen, den Vorgesetzten zu gefallen. Der hl.Paulus spricht das ganz deutlich aus, wenn er die Knechte ermahnt (esgilt auch den Kindern) und sagt: „Schaut eurem Herrn alles von denAugen ab.“ Er meint damit, man solle trachten, ihm recht zu Gefallenzu sein. Aber „nicht in Augendienerei“ setzt er hinzu: Sie sollen in

Page 239: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

238 16. Abtötung der Eigenliebe

Abwesenheit ihres Herrn genau so gewissenhaft arbeiten, wie unterseinen Augen, denn Gott, dem zu mißfallen wir uns hüten sollen, siehtsie allzeit. Halten wir uns an diese Mahnung; im übrigen aber seien wirnicht ängstlich besorgt, die Menschen immer zufrieden zu stellen, denndas ist uns nicht möglich. Tun wir unser Bestes, damit wir niemandärgern. Kommt dies aber trotzdem aus menschlicher Schwäche vor,dann tun wir das, was ich euch schon so oft eingeschärft habe und euchso gern in die Seele schreiben möchte: Verdemütigen wir uns vor Gott,bekennen wir unsere Schwachheit und Gebrechlichkeit und machenwir dann bei der Person, die wir geärgert haben, unseren Fehler durcheinen Akt der Demut wieder gut, außer es handelt sich um etwas ganzGeringfügiges. Haben wir das getan, dann können wir ruhig sein. Dennunsere andere Oberin, die Gottesliebe, verbietet uns jegliche Unruhe,sie heißt uns vielmehr nach dem oben erwähnten Akt derVerdemütigung in unser Inneres einkehren, die gesegneteVerdemütigung, die uns der Fehler eingetragen hat, liebevoll umfan-gen und diese uns sosehr willkommene kalte Miene der Oberin freudighinnehmen.

2. Wir haben in uns eine zweifache Liebe, eine zweifache Meinungund einen doppelten Willen, – und so darf man sich um alles, was dieEigenliebe, die eigene Meinung und der Eigenwille uns aufschwätzen,nicht kümmern, wenn wir nur die Gottesliebe über die Eigenliebe unddie Meinung der Vorgesetzten, ja sogar die der Gleichgestellten undUntergebenen über unsere Meinung herrschen lassen und diese aufsäußerste zurückdrängen. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, unse-ren Willen nur soweit zu unterjochen, daß wir tun, was man von unsverlangt. Wir müssen auch die eigene Meinung dazu bringen, das, wasman von uns verlangt, für berechtigt und vernünftig zu halten. Strafenwir nur alle Gründe, die unser Urteil uns vorlegt, Lügen, wenn es unsweismachen will, daß wir unsere Aufgabe besser auf eine andere Arterfüllen sollten. Wir tun schon gut, unsere Gründe, wenn sie uns gutscheinen, einmal in aller Einfachheit darzulegen, dann müssen wir aberohne Widerrede nachgeben und damit unser Urteil, das wir ja immerfür höchst weise und für unfehlbar halten, zum Schweigen bringen.

3. Mein Gott! Meine Mutter, unsere Schwestern sind so fest entschlos-sen, die Abtötung zu lieben, daß man seine Freude an ihnen haben wird.Der Trost wird ihnen im Vergleich zu Trübsal, Trockenheit und Ekel

Page 240: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

23916. Abtötung der Eigenliebe

wie nichts erscheinen, so sehnlich verlangen sie, ihrem göttlichen Bräu-tigam ähnlich zu werden.

Helfen Sie ihnen dabei, demütigen Sie die Schwestern gründlich undmutig, ohne sie zu schonen, sie wollen es nicht anders. Sie werden vonnun an nicht mehr an Zärtlichkeiten hängen, weil das nicht mit derErhabenheit ihres Berufes in Einklang steht, sie werden sich in Zu-kunft dem Wunsch, Gott zu gefallen, so bedingungslos hingeben, daßsie auf nichts hinschauen werden, was sie nicht der Erfüllung ihrerSehnsucht näher bringt.

Nur ein verzärteltes Herz und eine weichliche Frömmigkeit läßt sichvon jedem kleinen Hindernis aufhalten. Haben Sie keine Angst, meineMutter, daß solch weltschmerzliches, unfreundliches, fades Getue sichbei uns einnisten könnte. Dazu haben wir gottlob einen zu fröhlichenMut; wir werden in Zukunft so eifrig sein, daß Sie Ihre helle Freude anuns haben werden.

Inzwischen, meine lieben Töchter, wollen wir uns recht um eine rei-ne Gesinnung bemühen, damit wir alles nur zur Ehre Gottes, zu seinerVerherrlichung tun und allein nur von ihm belohnt werden wollen.

Hier in diesem Leben wird seine Liebe unser Lohn, drüben in derEwigkeit Er selbst unsere Belohnung sein!

Es lebe Jesus,seine glorreiche Mutter, Unsere Liebe Frau,

und der hl. Josef!

Page 241: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

240

17. Gespräch

VVVVVerschiedene Ferschiedene Ferschiedene Ferschiedene Ferschiedene Fragenragenragenragenragen11111

Ich bin immer gerne bereit, euch etwas zu sagen, auch wenn ich michnicht eigens vorbereitet habe. Aber zuerst wollen wir das heilige Kreuz-zeichen machen.

Dann möchte ich der Beantwortung eurer Fragen noch etwas vor-ausschicken: Es kommt nicht selten vor, daß sich jemand getroffenfühlt, wenn ich in meinen Predigten gewisse Laster geißeln muß. Ichbeabsichtige das jedoch nicht. – Es könnte auch hier vorkommen, daßSchwestern meinen, ich habe die eine oder andere von ihnen im Auge,wenn ich auf einen Fehler, den sie vielleicht begangen haben, zu spre-chen komme. Dieser Meinung möchte ich vorbeugen. Aber wenn ichauch nicht die Absicht habe, jemand persönlich zu treffen, so hätte ichdoch eine große Freude, wenn sich jemand getroffen fühlte. So klageich mich also dessen schon im voraus an.

Die Philosophen, vor allem der große Epiktet, machen einen sehrfeinen Unterschied zwischen einem Barbier und einem Wundarzt, wenndas auch heutzutage so ziemlich ein und dasselbe ist. Sie betonen die-sen Unterschied schon hinsichtlich ihres Arbeitsraumes und sagen: Esist immer ein Vergnügen, an einem Barbierladen vorbeizukommen,denn ein Knabe spielt da auf der Flöte und der Barbier hat so vieleWohlgerüche in seinem Geschäft, daß es bei ihm immer fein duftet.Aus dem Laboratorium eines Wundarztes hingegen strömen üble Ge-rüche, man sieht dort nichts als Salben und Pflaster und hört statt desFlötenspieles die Schmerzensschreie der armen Menschen: „Was ma-chen Sie denn da mit mir! Das tut aber weh!“

Freilich, da wird einer geschnitten, dort einer genäht, ein dritter ge-brannt und das alles geht nicht ohne arge Schmerzen ab. Und daßausgekegelte Knochen nicht eingerichtet werden können, ohne daß derVerunglückte aufschreit, das weiß jedes Kind. Ein Barbier jedoch tutkeinem weh; am Bart spürt man ja nichts.

Meine Töchter, bald bin ich Barbier, bald Wundarzt. Spreche ichvom Altar aus zu euch, dann tu ich euch nicht weh; das habt ihr gewißschon gemerkt. Da rede ich wegen der Weltleute, die anwesend sind,für gewöhnlich nicht so ungeschminkt von den einzelnen Fehlern wiein unseren Konferenzen, wo wir unter uns sind. Ich schütte dort nur

Page 242: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

24117. Abneigungen

Wohlgerüche aus, rede nur von Tugenden und angenehmen, trostrei-chen Wahrheiten und spiele auf der Flöte, wenn ich euch zum LobeGottes auffordere.

In unseren traulichen Unterredungen aber bin ich Wundarzt; da kom-me ich mit Umschlägen und Pflastern, die ich auf die Wunden meinerTöchter lege. Schreien sie dabei auch manchmal „Au“, so höre ichtrotzdem nicht auf, das Pflaster auf die Wunde zu drücken, damit esbesser halte und sie so geheilt und wieder gesund werden. Muß icheinen Schnitt machen, dann geht das nicht ohne Schmerzen ab; ichlasse mich jedoch nicht erweichen, dafür bin ich ja da. Seht, meineTöchter, so möchte ich mich bei jenen von euch entschuldigen, die sichvielleicht getroffen fühlen werden; ich möchte sie aber nur noch versi-chern, daß es dann von Herzen gern geschehen ist.

I .I .I .I .I .

Jetzt schauen wir uns einmal die erste Frage näher an: Es kommt oftvor, daß die Schwestern sich in der Beichte über etwas anklagen, was derBeichtvater nicht versteht, über eine Abneigung zum Beispiel. Was ist dazu tun?

1. Es ist schon richtig, manche Beichtväter wissen nicht im gering-sten, was das Wort Abneigung bedeutet. Sie meinen, Abneigung sei Übel-wollen; das ist aber nicht wahr, wie wir gleich sehen werden.

Es gibt sehr gelehrte Priester, die schon 30 Jahre von WeltleutenBeichte hören, aber weder Töchter der Heimsuchung noch Laienschwe-stern richtig verstehen, die nach einem innerlichen Leben streben. Eshandelt sich eben da um so feine und zarte Dinge, daß sie nur wirklichinnerliche Menschen begreifen können. Was soll man da tun? Ich haltees für das Beste, daß die Oberin jene Beichtväter, bei welchen dieserMangel an Verständnis zu befürchten ist, aufkläre; ist das nicht mög-lich, so müssen die Schwestern, wenn sie merken, daß der Beichtvatersie mißversteht und die Abneigung für Haß oder Übelwollen hält, wasdie Schwestern aus dem Zuspruch ersehen können, sich deutlicher aus-drücken und freimütiger sagen: „So ist es nicht, mein Vater, ich glaube,Sie verstehen mich falsch; es ist so und so.“ Nachher können sie dannder Oberin sagen, daß der Beichtvater sie nicht versteht. Damit klagensie ihn weder einer Unvollkommenheit noch einer Unwissenheit an,denn es ist sehr leicht möglich, daß Beichtväter trotz aller Gelehrsam-

Page 243: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

242 17. Abneigungen

keit nicht imstande sind, die Schwestern in so feinen Dingen, wo es sichmehr um Unvollkommenheiten als um Sünde handelt, zu verstehen. –Etwas Ähnliches kam mir einmal bei einer Person unter, die bei mirbeichtete: Sie klagte sich über etwas an, was ich nicht verstehen konnte,auch schien es mir wenig glaubhaft, daß in einem so vorzüglichen Hausderartiges vorkommen könne. So sagte ich ihr ganz offen, daß ich sienicht verstehe, und bat sie, sich genauer auszudrücken. Das tat sie undich erkannte, daß nichts dahinter war.

Es liegt mir sehr viel daran, daß die Schwestern recht darauf bedachtsind, sich ganz klar und einfach auszudrücken, um den Beichtväternsolche Verlegenheiten zu ersparen. Die Oberin soll in aller Demut dieBeichtväter aufklären, welcher Art die Fehler sind, die die Schwesternaus Abneigung zu begehen pflegen.

2. Diese Abneigungen sind Regungen, die zuweilen von der Naturkommen und ein Gefühl der Unlust gegen jene Menschen auslösen, dieuns unsympathisch sind. Sie bewirken, daß wir nicht gern mit ihnenzusammen sind, d. h. nicht so gern wie mit den Menschen, zu welchenwir uns hingezogen fühlen und für die wir Gefühle der Liebe empfin-den, weil zwischen ihnen und uns eine gewisse Geistes- und Seelenver-wandtschaft besteht.

Ein Beispiel mag uns zeigen, wie wir uns ganz natürlich zu dem einenhingezogen, von dem anderen abgestoßen fühlen: Zwei Menschen ge-hen in ein Gasthaus, wo zwei andere ein Spiel angefangen haben. Un-willkürlich nimmt der eine Stellung für diesen, der andere für jenenund jeder wünscht, daß sein Mann das Spiel gewinne. Warum das? Manhat die Leute nie gesehen, nie von ihnen gehört, man weiß nicht, werder Bessere ist, – und doch geschieht dies immer wieder.

Man muß also annehmen, daß Zuneigung und Abneigung etwas reinNatürliches sind. – Das kann man sogar an den unvernünftigen Tierenbeobachten. Macht einmal den Versuch mit einem neugeborenen Lämm-chen: Haltet ihr ihm ein Wolfsfell hin, so wird es gleich vor dem Wolfdavonlaufen, der doch tot ist, wird zu seiner Mutter flüchten, ängstlichblöken und alles mögliche aufführen, um dem Wolf auszukommen.Führt ihr das Lämmlein aber zu einem Pferd hin, das doch ein vielgrößeres Tier ist, dann erschrickt es nicht im geringsten, sondern spieltmit ihm. Der natürliche Instinkt führt es eben zum Pferd hin und läßtes den Wolf fürchten.

Page 244: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

24317. Abneigungen

Sollen wir uns aus den Abneigungen viel machen? Nein! Nicht mehrund nicht weniger als aus den Zuneigungen; wichtig ist nur, daß dieVernunft die Oberhand behält.

3. Darf ich einer Person, gegen die ich Abneigung empfinde, von derich aber weiß, daß sie sehr tugendhaft ist und ich viel von ihr lernenkönnte, ausweichen und so meiner Abneigung folgen? Auf keinen Fall!Die Abneigung muß der Vernunft weichen, die mich die Gesellschaftdieser Person suchen oder wenigstens friedlich und ruhig bei ihr blei-ben heißt, wenn ich mit ihr zusammentreffe.

Es gibt Leute, die die Gesellschaft gerade jener Menschen meiden,die ihnen sehr zusagen, aus lauter Angst, sie könnten Fehler an ihnenentdecken, sodaß ihnen dann ihre so schöne Liebe und Freundschaftvergällt würde. – Ich hatte einen Schulkameraden, der von dieser Artwar. Er hatte mich sehr gern, ging mir aber, obwohl ich ihm doch nichtszuleide getan hatte, immer aus dem Weg, worüber ich sehr erstauntwar. Eines Tages trafen wir uns dennoch und da gestand er mir, warumer es vermeide, mit mir zusammenzukommen; er fürchte, mich einmalnicht mehr so gern haben zu können wie bisher. Sobald er nämlich anMenschen, die er liebe, einen Fehler oder eine Unvollkommenheitgewahre, und sei es auch nur ein ungutes Wort oder eine unfeine Bewe-gung, wäre es aus mit dem süßen Zauber der Liebe.

4. Was gibt es aber nun für ein Mittel gegen die Abneigungen, da dochkein Mensch, auch nicht der vollkommenste, davon frei ist? HerbeMenschen empfinden Abneigungen gegen jene, die freundlich sind, undhalten sie für weichlich. Und doch ist gerade die Freundlichkeit undGüte eine allgemein beliebte Eigenschaft. Aber gibt es nicht auch Frau-en, die gegen Zucker einen solchen Widerwillen haben, daß sie Früch-te stehen lassen, nur weil sie gezuckert sind? Hier in diesem Leben istkeiner frei von Abneigungen. Wie bei allen Versuchungen, so ist auchhier Ablenkung das einzige Gegenmittel; man darf nicht daran denken.– Habe ich mit einem Menschen zu tun, der mir zuwider ist, so muß ichmeinen Geist davon losreißen, an diese Abneigung zu denken, und tun,als wenn nichts wäre. Leider Gottes möchten wir aber nur zu gern wis-sen, ob dieser Widerwillen berechtigt ist oder nicht. O, auf derlei Un-tersuchungen dürfen wir uns nie einlassen. Denn die Eigenliebe – dieniemals stirbt – wird uns die Pille so geschickt vergolden, daß wir siewirklich für gut halten, d. h. sie wird uns vorspiegeln, daß wir unsereguten Gründe haben, der betreffenden Person abgeneigt zu sein. Haben

Page 245: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

244 17. Beklagen

aber einmal das eigene Urteil und die Eigenliebe diese Gründe gutge-heißen, so wird uns nichts mehr davon abbringen, sie für berechtigt undvernünftig zu halten.

Wir müssen in diesen Dingen sehr auf der Hut sein! Es ist dies sowichtig, daß ich etwas ausführlicher darüber reden muß. Wir habenniemals einen Grund zur Abneigung und noch weniger, sie zu nähren.Handelt es sich nur um Abneigungen, so ist es am besten, wenn manihnen keine Bedeutung beilegt, sondern sich einfach von ihnen abwendetund nichts dergleichen tut. Sieht man aber, daß diese natürliche Re-gung sich weiter vorwagt und uns davon abbringen will, der Vernunftzu folgen, so müssen wir gerade zur Vernunft unsere Zuflucht nehmen,denn sie ist es, die uns verbietet, unseren Abneigungen, wie jeder an-deren schlechten Neigung, Zugeständnisse zu machen, aus Furcht, Gottzu beleidigen. Lassen wir uns von der Abneigung nur so weit beeinflus-sen, daß wir ein bißchen weniger freundlich sind als mit Personen, diewir sehr gern haben, dann ist das weiter nicht schlimm. Es ist fast un-möglich, sich anders zu verhalten, wenn das Gefühl des Widerwillensgerade sehr stark ist; es wäre auch verkehrt, das zu verlangen. Dochgenug über diesen Punkt.

I I .I I .I I .I I .I I .

Nun zur zweiten Frage: Darf sich eine Schwester bei einer Mitschwe-ster beklagen, wenn sie von der Oberin oder der Novizenmeisterin odervon irgend einer anderen Schwester eine Kränkung erfahren hat oderbei irgend einem Anlaß enttäuscht wurde? Sollte sie nicht vielleichtbesser mit dem Beichtvater oder dem geistlichen Vater darüber reden,wenn es sich um die Oberin handelt, oder mit der Oberin, wenn dieNovizenmeisterin oder eine Schwester den Ärger verursacht hat?

Mein Gott, es ist recht gefährlich, sich zu beklagen; ich habe schon inder „Anleitung“ (3,3) gesagt: „Gewöhnlich sündigt, wer sich beklagt.“

Sich bei einer Mitschwester über eine andere beklagen und über denFehler dieser Schwester reden, mit der wir unzufrieden waren, ist be-stimmt ganz schlecht. Sich bei der Oberin beklagen – kann schließlichnoch den Unvollkommenen zugestanden werden. Wir anderen aber,wir wollen doch nicht so wehleidig sein und jeden kleinen Verdruß, deruns vielleicht ganz unabsichtlich bereitet wurde, der Oberin klagen.

Page 246: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

24517. Bücher

Mit dieser Frage wollen wir uns nicht weiter beschäftigen; es genügtuns zu wissen, daß wir uns ohne langes Feilschen einfach bessern müs-sen, handelt es sich doch hier um etwas sehr Wichtiges.

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

Wie müssen wir es mit den Büchern halten, die man uns zu lesen gibt?Die Oberin wählt z. B. für eine Schwester die „Nachfolge Unserer

Lieben Frau“aus, ein Buch, das ihr nicht gefällt, oder die „Abtötungen“von Arias oder ein anderes Buch, das zwar schöne Gedanken über dieTugenden bringt, von der Schwester aber sehr ungern gelesen wird unddeshalb ihr auch, wie sie meint, keinen Nutzen bringt. Sie liest es dannnur flüchtig und unwillig und kann daher weder Geschmack noch Freu-de daran haben.

Antwort: Diese Unlust kommt daher, weil sie meint, alles was indiesem Buch steht, schon haarscharf zu wissen, und überhaupt lieberdie „Abhandlung über die Gottesliebe“ haben möchte oder ein anderesBuch, das von der Gottesliebe handelt. – Ich finde, daß sie ganz rechthat, die Gottesliebe allen Büchern vorzuziehen, denn die Gottesliebemuß uns über alles gehen. Um aber nun auf das zu kommen, was dieSchwester mit ihrer Frage wissen wollte, so muß sie sagen: Es ist eineUnvollkommenheit, das Buch, das man uns gibt, nicht lesen oder einanderes dafür haben zu wollen. Wir beweisen damit, daß es uns mehrum die Befriedigung unserer Neugier als um den seelischen Gewinn zutun ist. Nicht nur Gesicht und Gehör sind neugierig, auch der Verstandist es. Lesen wir ein Buch nicht zu unserer Befriedigung, sondern zurBefriedigung unseres Wissens, dann wird uns jedes Buch recht sein;zum mindesten würden wir gerne annehmen, was uns die Vorgesetztenzu lesen geben. Ja, ich gehe noch einen Schritt weiter und versichereeuch, daß wir sogar mit einem einzigen Buch zufrieden wären, wenn esnur ein gutes Buch ist und etwas von Gott darin steht. Und enthielte esauch nur das eine Wort: Gott – so wären wir vollauf zufrieden, denn mitdiesem Wort hätten wir immer genug zu tun, auch wenn wir es noch sooft lesen. Liest man aus Neugier, so ist dies ein Zeichen, daß man ober-flächlich ist und mit dem, was in diesen verschiedenen Büchern überdie Tugenden zu lesen war, nicht Ernst machen will.

Page 247: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

246 17. Ohrenbläserei

Sie schreiben von der Demut und Abtötung, die man doch nicht übt,wenn man die Bücher, die man erhält, nicht gern annimmt.

Es ist ein falscher Schluß zu sagen: „Dieses Buch wird mir nicht vielnützen, weil ich es nicht gerne lese.“ „Wie soll mich das Buch interes-sieren und wie soll ich es lesen, wenn ich es schon ganz auswendigweiß?“ – Das sind doch alles Kindereien! Wir müssen viel großzügigerdenken. Wenn man Ihnen ein Buch gibt, dessen Inhalt Sie schon ken-nen, vielleicht sogar auswendig wissen, so danken Sie Gott! Sie erfas-sen dann besser, was es vorbringt. – Gibt man Ihnen ein Buch, das Sieschon mehrmals gelesen, dann nehmen Sie es demütig an und seien Sieüberzeugt, daß Gott es so haben will, damit Sie Ihre Zeit dazu verwen-den, mehr zu tun, als zu lernen, und daß er es Ihnen deswegen einzweites und drittes Mal gibt, weil Sie beim ersten Mal noch keinenNutzen daraus gezogen haben.

Ein Ordensmann fragte einmal den hl. Thomas von Aquin, – ichhabe euch das schon öfter erzählt – wie er ein großer Gelehrter werdenkönne. Der Heilige antwortete: „Lesen Sie nur ein Buch.“ Uns aber istes weit mehr um die eigene Befriedigung als um das Wachsen in derVollkommenheit zu tun, und darin liegt das Übel.

Läßt uns die Oberin mit Rücksicht auf unsere Schwachheit einmaldie Wahl, dann dürfen wir uns ein Buch heraussuchen, – ganz einfach,wie wir es wünschen. Im übrigen aber sollen wir uns demütig der An-ordnung der Vorgesetzten fügen, ob das Buch nach unserem Geschmackist oder nicht. Regt sich in uns ein Gefühl des Widerwillens, danndürfen wir es uns nicht anmerken lassen.

Halten wir uns an diese Grundsätze, dann werden wir bald nichtmehr sagen: Ich habe keine Lust, das Buch zu lesen, das die Oberin mirgegeben hat.

I VI VI VI VI V.....

Man fragt jetzt: Darf man die Namen der Schwestern nennen, die unseine nachteilige Äußerung der Oberin oder einer Mitschwester hin-terbracht haben? Da man alles der Oberin sagen muß, wäre es leichtmöglich, daß sie den Namen der betreffenden Schwester wissen möch-te. Sollen wir dann sagen, wer es gewesen ist?

Nein! Ihr sollt weder den Namen nennen, noch soll die Oberin euchdanach fragen. Dieses Hinterbringen ist eine Sünde, unter Umständen

Page 248: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

24717. Ohrenbläserei

sogar eine bedeutende Sünde. Es ist verboten, die verborgene Sündedes Nächsten zu offenbaren; eine Unvollkommenheit dürfte man auf-decken, eine Sünde nicht. Nur wer das Amt hat, auf andere aufzupassenund ihre Verfehlungen zu melden, ist von diesem Verbot ausgenom-men und darf auf Dinge, die an sich Sünde sind, hinweisen. Wer aberdas Amt nicht hat, der darf es nicht tun. – Ihr sagt, es sei für die Oberineine große Erleichterung, die Namen zu wissen, sie könne dann vielmilder zurechtweisen. – Wenn eine Sünde vorliegt, dann ist es besser,die Namen nicht zu nennen und die Mahnung dann an alle zu richten;sind auch nicht alle schuldig, so ist es doch gut, alle zu warnen. DieSchuldigen werden bei dieser allgemeinen Zurechtweisung schon denTeil herausnehmen, der ihnen gebührt.

Was ich euch jetzt sage, ist sehr wichtig, – viel wichtiger, als man ge-wöhnlich glaubt. Hinterbringt ihr, was die Oberin über eine abwesendeSchwester gesagt hat, so macht ihr euch damit jener Sünde schuldig, dieman Ohrenbläserei, auf lateinisch „susurratio“ nennt, d. h. ihr flüsterteurer Mitschwester die Äußerung der Oberin ins Ohr. Ich muß euch einbißchen Latein lehren. Susurratio heißt Geflüster, Gemurmel und wirdz. B. vom Geräusch gebraucht, das kleine Bäche verursachen, wenn dasWasser über die Steine stürzt, die ihm ein Hindernis bereiten, undWellchen macht, sodaß es nicht lautlos dahineilen kann wie in großenFlüssen, die so ruhig fließen, daß man die Strömung fast nicht sieht. –Die Weltmenschen kommen nicht mit dem leisen Gemurmel der Bäch-lein, sondern mit dem Tosen reißender Gebirgsflüsse, die alles mit-schwemmen, was ihnen in den Weg kommt. Weltmenschen posaunen oftdie Fehler und Sünden ihrer Mitmenschen nur so hinaus; sie säen Zwie-tracht und sind voll Bosheit und tödlichen Hasses. Sie lassen den Abnei-gungen, die bei ihnen zu Haß ausarten, freien Lauf und betrüben undquälen ohne Unterlaß, wen sie nicht ausstehen können.

Bei geistlichen Personen hingegen wirkt sich eine Abneigung nur inharmlosen Dingen aus; ihnen sind Abneigungen weit mehr Last alsSünde und so ist ihr Lohn größer als ihre Schuld.

Meine lieben Töchter, was für ein Recht habt ihr, dieser armen Schwe-ster mit eurem Geflüster das Herz schwer zu machen, da ihr die krän-kende Äußerung der Oberin oder einer Schwester hinterbringt? MeinGott! Wir müssen auf die Herzensruhe und den Frieden einer Mit-schwester mehr Rücksicht nehmen und die Fehler unserer Mitmen-schen viel sorgsamer zudecken. – Ihr begeht sonst zugleich zwei Feh-

Page 249: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

248 17. Fehler an Ordensleuten

ler: Ihr redet über die Unvollkommenheit einer Mitschwester und raubteiner anderen die Herzensruhe; und obendrein verfehlt ihr euch gegendie Regel, indem ihr mit einer Schwester allein redet.

Wir meiden mit der Gnade Gottes zwar die oben erwähnten schwe-ren Sünden, die in der Welt begangen werden; wir müssen uns aberauch recht gewissenhaft vor diesen kleinen Fehlern hüten, wo es dochganz an uns liegt, sie zu unterlassen.

Begeht Ihre Mitschwester eine Sünde, von der niemand Kenntnis hat,dann helfen Sie ihr, soviel Sie können, sich zu bessern, und weisen Siesie in schwesterlicher Liebe im Sinn der Regel zurecht. Im übrigenaber dürfen Sie in keiner Weise etwas verlauten lassen, außer dem, wasSie zu tun haben, um den Artikel der Satzungen „Von der Zurechtwei-sung“ zu befolgen; sonst begehen Sie eine Sünde.

Wir dürfen unsere läßlichen Sünden laut und deutlich vor aller Weltbekennen, vor allem dann, wenn wir uns verdemütigen wollen. Schwe-re Sünden aber dürften wir nicht laut bekennen, weil unser guter Rufnicht unser alleiniges Eigentum ist. Aus demselben Grund haben wirauch die Pflicht, über die verborgenen Sünden unserer Mitmenschenzu schweigen.

Handelt es sich um etwas, was mehrere gesehen haben, dann darfman es den Vorgesetzten schon sagen. Ein Beispiel: Eine Schwester hatsich Ihnen gegenüber in ihren Worten zu leidenschaftlicher Erregungund heftiger Ungeduld hinreißen lassen. War das in Gegenwart andererSchwestern, so ist es keine geheime Sünde mehr; sie dürfen also mit derOberin darüber sprechen, damit sie der Schwester helfe, sich darin zubessern. Das gleiche gilt für all die kleinen Fehler, wie sie so manches-mal vorkommen, z. B. ein leichtes Nörgeln, ein abweisendes Wort, einekalte Miene, ein Verstoß gegen die Regel und dergleichen kleiner Din-ge. Für die groben Fehler muß man sich an den Artikel „Von der Zu-rechtweisung“ halten.

VVVVV.....

Die fünfte Frage lautet: Dürfen wir uns wundern, daß unsere Mit-schwestern Unvollkommenheiten an sich haben und daß wir solche auchan Vorgesetzten sehen?

1. Was den ersten Teil der Frage betrifft, so ist es ganz klar, daß es unsdurchaus nicht wundern darf, wenn wir hier unter uns wie auch in ande-

Page 250: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

24917. Fehler an Ordensleuten

ren noch so vorbildlichen Ordensgemeinschaften Unvollkommenhei-ten wahrnehmen. Kein Orden, auch nicht die „Heimsuchung“, ist sovollkommen, daß nicht ab und zu Fehler vorkämen, und zwar mehroder minder oft, je nachdem wir eben auf die Probe gestellt werden. Esgehört nicht viel dazu, recht sanftmütig zu sein, wenn einem nichts indie Quere kommt und die Geduld nicht auf die Probe gestellt wird. –Sagt man mir von einer Schwester: „Man hat sie noch nie einen Fehlerbegehen sehen,“ dann ist meine erste Frage: „Hat sie ein Amt?“ Undhat sie keines, dann gebe ich auf ihre Vollkommenheit nicht viel. Dennes ist ein sehr großer Unterschied zwischen der Tugendhaftigkeit einersolchen Schwester und der einer anderen, deren Tugend sich in äuße-ren Schwierigkeiten, wie Unannehmlichkeiten und Geschäften, oderin inneren Kämpfen und Versuchungen bewährt hat. Nicht im Friedenerstarkt die Tugend, sondern im Kampf mit den ihr entgegengesetztenUntugenden.

Eine Schwester, die in der Welt recht eitel war und jetzt im Klostervon Versuchungen der Eitelkeit geplagt wird, soll sich glücklich schät-zen, denn diese Versuchungen sind weit davon entfernt, ihr zu schaden,sie verhelfen ihr nur zu einer echten, gefestigten Demut. Gewiß, sichdiese Tugend der Sanftmut mit dem Schwert in der Hand erstritten zuhaben, mag ja vorbildlich und sehr erbaulich sein; kommt es aber zurErprobung, dann könnt ihr es erleben, wie der Sanftmütige aufbraustund so beweist, daß seine Sanftmut nur eine eingebildete, nicht einekraftvolle und echte Tugend war.

Frei von einem Laster sein, heißt noch lange nicht, die entgegen-gesetzte Tugend besitzen. Manche Menschen scheinen überaus tugend-haft zu sein; in Wirklichkeit besitzen sie keine Tugend, weil sie sichkeine durch ihr Bemühen erworben haben. Oft schlafen unsere Leiden-schaften nur oder sie sind wie betäubt. Wenn wir nun während dieserZeit nicht Kraft für die Abwehr und den Kampf aufspeichern, dannwerden uns die Leidenschaften besiegen, sobald sie wieder erwacht sind.Wir müssen immer ganz demütig bleiben und dürfen nicht meinen, wirwären auch schon im Besitz jener Tugenden, gegen die wir uns nicht,wenigstens nicht bewußt, verfehlen.

Ich wünsche mir, daß die Novizinnen sich nicht um die Fehler derProfeßschwestern kümmern, daß sie vielmehr recht gewissenhaft aufihre eigenen aufpassen und so gar keine Zeit haben, auf die der anderenzu achten, wenigstens nicht, solange sie im Noviziat sind. Nach dem

Page 251: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

250 17. Fehler an Ordensleuten

Noviziatsjahr, eigentlich schon gegen Ende desselben werden sie vomBlick auf ihre Fehler abgelenkt, sie werden nicht mehr getadelt und dieLeidenschaften schlafen ein. Sie begehen keine groben Fehler mehr undlenken daher ihre Aufmerksamkeit so stark auf Gott, daß sie nicht dazukommen, die Fehler der Profeßschwestern zu sehen, die sie ja für sehrbewährt halten. Und sehen sie ältere Schwestern in Fehler fallen, so wirdbei ihnen Mitleid das Staunen überwiegen. Sie werden die Profeß-schwestern für recht gut halten, da sie sehen, wie diese ihnen trotz ihrerUnvollkommenheiten zum großen Glück der Gelübdeablegung verhel-fen und mit ihnen ihr Leben lang zusammensein wollen.

Viele Leute glauben, daß Menschen, die ihre Lebensaufgabe im Strebennach Vollkommenheit sehen, frei von Fehlern sein müßten. Vor allemOrdensleute müßten es, denn um vollkommen zu werden, bräuchte mandoch nur ins Kloster zu gehen. Das ist aber ein Irrtum. Die Ordens-gemeinschaften sind nicht eine Vereinigung von Vollkommenen, son-dern von Menschen, die den Mut haben, vollkommen werden zu wollen.Vollkommen sein heißt nichts anderes, als den Eifer der Liebe haben, –nicht nur die Liebe, denn die hat jeder, der im Stande der heiligmachen-den Gnade ist – den Eifer der Liebe, der uns nicht nur antreibt, unsereLaster auszurotten, sondern auch anfeuert, beharrlich zu arbeiten, umdie den Lastern entgegengesetzten Tugenden zu erwerben.

Ich will euch etwas erzählen, was ich schon manchmal erlebt habe:Ich sagte zu den Frauen, die aus der Stadt hierher kommen, daß ichgerne etwas von ihnen wissen möchte, sie müßten es mir aber wahr-heitsgetreu beantworten. Sie versprachen es. So fragte ich sie, was sievon den Töchtern der Heimsuchung hielten. Die einen sagten ohneBesinnen, sie fänden an ihnen so viel Gutes, wie sie es nie für möglichgehalten hätten. Die anderen antworteten auf die gleiche Frage: DieRegel lesen und die Regel geübt sehen, sei zweierlei. Die Regeln ansich seien Honig und Zucker, seien ganz Milde und Vollkommenheit,an den Schwestern sehe man jedoch so manches Unvollkommene.

Ich habe über die Idee, daß die Vollkommenheit der Regeln alleUnvollkommenheiten bei den Schwestern ausschließen sollte, herz-lich gelacht.

2. Was ist aber zu tun, wenn wir an den Oberen ebenso Fehler sehenwie an den anderen? Muß uns das nicht wundern? Menschen, die un-vollkommen sind, macht man doch nicht zu Vorgesetzten?

Page 252: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

25117. Fehler an Ordensleuten

Meine lieben Töchter, wollten wir nur vollkommene Menschen zuOberen oder Oberinnen wählen, dann müßten wir schon Gott bitten, unsHeilige oder Engel dafür zu schicken, denn unter den Menschen suchenwir sie vergebens. Was man von den Oberen erwartet, ist, daß sie keinschlechtes Beispiel geben, aber man schaut nicht darauf, ob sie frei vonUnvollkommenheiten sind, wenn sie nur die notwendigen geistigenVoraussetzungen erfüllen. Es gibt wohl Ordensleute, die sehr vollkom-men, aber trotzdem nicht fähig sind, Obere zu sein.

Hat der Heiland mit der Wahl des hl. Petrus zum Oberhaupt derApostel uns nicht selber gezeigt, wie wir über Unvollkommenheitenhinwegschauen sollen? Wir alle wissen, daß der hl. Petrus der am we-nigsten vollkommene von allen Aposteln war und es auch nach derÜbertragung dieses hohen Amtes geblieben ist. Welch eine Sünde be-ging er doch beim Leiden und Sterben seines Herrn! Im Gespräch miteiner Magd verleugnete der Unselige seinen geliebten Meister, der ihmso viel Gutes getan. Er redet recht groß und läuft dann davon.

Selbst nachdem er den Heiligen Geist empfangen hatte und in derGnade gefestigt war, ließ er sich einen groben Fehler zuschulden kom-men, sodaß der hl. Paulus den Galatern schreibt: „Ich widerstand demPetrus ins Angesicht, weil er Tadel verdiente“ (Gal 21,11). Wenn nunsogar Petrus, nachdem er den Heiligen Geist empfangen hatte, noch zutadeln war, wie dürfte es uns wundern, wenn Vorgesetzte noch Fehlermachen? Und nicht nur der hl. Petrus war tadelnswert, auch der hl.Paulus und Barnabas waren es, da sie einen kleinen Streit miteinanderhatten. Der hl. Barnabas wollte seinen Vetter Johannes Markus zusam-men mit den anderen, die das Evangelium predigen sollten, mitneh-men. Paulus, der anderer Ansicht war, wollte das nicht. Barnabas je-doch bestand darauf und nahm Markus mit sich. So trennten sie sichund verkündeten die Frohbotschaft in verschiedenen Ländern (Apg15,37-41). Gott aber wendete diesen Streit zum Guten, denn so predig-te jeder an einem anderen Ort und sie streuten den Samen des WortesGottes in verschiedenen Gegenden aus.

Glauben wir doch nicht, daß wir uns in diesem Leben frei von Un-vollkommenheiten oder gar von läßlichen Sünden halten können! Dasist unmöglich, gleich unmöglich für Vorgesetzte wie für Untergebene,weil wir alle Menschen sind. Es ist notwendig, daß wir uns dessen be-wußt bleiben, damit wir uns nicht wundern, noch immer Unvoll-kommenheiten und läßliche Sünden an uns zu finden.

Page 253: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

252 17. Fehler an Ordensleuten

Der Herr hat uns gelehrt, täglich zu bitten: „Vergib uns unsereSchuld“ (Mt 6,12), wie es im „Vater unser“ heißt. Keiner darf sichausnehmen, denn wir alle haben Grund darum zu bitten. Es wäre einfalscher Schluß zu sagen: „Er ist Ordensoberer, also wird er nicht zor-nig und hat auch sonst keine Unvollkommenheiten an sich.“ – „Er istBischof, also lügt er nicht und ist auch nicht eitel.“ – Ihr seid zur Obe-rin gegangen,* um mit ihr zu reden; diesmal ist sie aber mit euch nichtso herzlich wie sonst. Wahrscheinlich weiß sie vor lauter Sorgen undArbeit nicht, wo ihr der Kopf steht. Da wundert ihr euch, eure Eigenlie-be ist verletzt und ihr geht verstört weg, statt zu bedenken, daß Gottdiese kleine Frostigkeit der Oberin zugelassen hat, um eurer Eigenlie-be einen Schlag zu versetzen, die erhofft hatte, daß die Oberin rechtherzlich mit euch sein und recht liebevoll auf eure Anliegen eingehenwürde. Aber freilich, einer Abtötung zu begegnen, wo wir ihr nichtbegegnen wollen, das paßt uns nicht. Nun, da geht man halt dann zumlieben Gott und betet für die Oberin oder dankt ihm für diese liebe,bittere Pille.

Kurz, meine lieben Töchter, laßt uns doch das Wort des hl. Paulusnicht vergessen: „Die Liebe fahndet nicht nach Bösem“ (1 Kor 13,5).Der Apostel sagt nicht: Die Liebe sieht nicht Böses, sondern er sagt:Fahndet nicht nach Bösem. Mit anderen Worten also: Solange es nochnicht erwiesen, daß das Böse, das die Liebe sieht, auch wirklich böseist, forscht sie nicht weiter nach und nimmt einfach das Gute an. Dasheißt also: Wenn die Liebe Böses sieht, wendet sie sich ab, beschäftigtsich nicht damit und will es nicht beobachten.

* Zu dieser Stelle bringt die Ausgabe 1933 auf Seite 527 noch folgende Lesart:Wenn Sie zur Oberin gehen, werden Sie vielleicht nicht ganz freundlich empfan-

gen, weil sie den Kopf bei Hämmern, Ziegelsteinen und Mörtel hat und sich darumkümmern muß, daß es am Bau vorwärts geht. Was heißt denn dieses „Ach“? Dochnur dies: „Warum lassen Sie mich denn keinen Augenblick in Ruhe, ich habe schongenug anderes zu denken! “ Sie sagt das nicht, Ihre Eigenliebe aber hört es herausund meint, daß sie es doch denkt. – Und Sie gehen dann ganz gekränkt davon undsagen sich: Was ist doch das für eine Oberin! Nicht einmal reden darf man mit ihr,nein, wie man nur so wenig tugendhaft sein kann!

Statt so daherzureden, täten Sie besser, sich zu fragen, was denn Ihre Eigenliebesich erwartet hat. Wohl das: die Oberin hätte Sie „meine liebe Tochter“ anreden,recht zärtlich mit Ihnen umgehen, und liebenswürdig anhören sollen, was Sie ihrsagen wollten.

Page 254: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

25317. Fehler an Ordensleuten

Darf die Oberin merken lassen, wie unangenehm es ihr ist, daß dieSchwestern ihre Unvollkommenheiten wahrnehmen? Was soll sie sa-gen, wenn eine Schwester sich in aller Einfalt eines Gedankens oderUrteils anklagt, das die Oberin einer Unvollkommenheit zeiht, wennsie z. B. sich anklagt, gedacht zu haben, daß die Oberin im Zorn geta-delt hat? – Die Oberin soll sich verdemütigen und sich bemühen, ihreNiedrigkeit zu lieben. Wäre die Schwester dabei etwas aufgeregt, sodürfte die Oberin nichts dergleichen tun, müßte von etwas anderemreden, die Verdemütigung aber sorgsam in ihrem Herzen bergen. Wirwollen uns aber vor den Schlichen der Eigenliebe in acht nehmen, dieuns gerne um die Gelegenheit bringen möchte, unsere Unvollkom-menheiten zu erkennen und uns zu verdemütigen. Wenn also die Obe-rin auch den äußeren Akt der Demut unterläßt, um die arme Schwester,die schon aufgeregt genug ist, diesen Gedanken über sie gehabt zu ha-ben, nicht noch mehr aufzuregen, so muß sie sich darüber doch wenigs-tens innerlich demütigen. – Ist aber die Schwester bei ihrem Geständ-nis nicht aufgeregt, dann hielte ich es für gut, daß die Oberin, wenn siegefehlt hat, dies offen zugibt. Hat die Schwester falsch geurteilt, dannmöge die Oberin dies in aller Demut sagen, zugleich aber sorgsam dieVerdemütigung, daß man sie für fehlerhaft angesehen hat, für sich be-halten.

Seht, meine lieben Töchter, die Liebe zur eigenen Niedrigkeit, dieseunscheinbare Tugend, darf auch nicht für einen Augenblick aus unse-rem Herzen hinaus, da wir sie jederzeit brauchen, und wären wir derVollkommenheit noch so nahe. Wir sagten ja vorhin schon, daß dieLeidenschaften wieder aufwachen, zuweilen sogar nach einem langjäh-rigen Ordensleben und nach großen Fortschritten in der Vollkommen-heit. Das hat man an einem Mönch aus dem Kloster des hl. Pachomiusgesehen, der Silvanus hieß und in der Welt Gaukler und Schauspielervon Beruf gewesen war. Nachdem er sich bekehrt hatte und ins Klostergegangen war, lebte er während seines Probejahres, ja sogar währendvieler Jahre ein Leben vorbildlicher Selbstverleugnung und nichts ge-mahnte mehr an seinen ehemaligen Beruf. Nach 20 Jahren glaubte er,zur Erheiterung seiner Mitbrüder einige Späße vormachen zu dürfen.Er war der festen Überzeugung, die früheren Leidenschaften wärenschon so erkaltet, daß sie ihn wohl kaum dazu bringen könnten, dieGrenzen einer harmlosen Unterhaltung zu überschreiten. Wie täusch-te sich aber der arme Mann! Die Leidenschaft flammte so heftig in ihm

Page 255: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

254 17. Fehler an Ordensleuten

auf, daß die Spaßmacherei in Ausgelassenheit ausartete, sodaß manbeschloß, ihn deshalb aus dem Kloster zu entlassen. Das wäre auchgeschehen, wenn sich nicht einer seiner Mitbrüder für ihn eingesetztund versprochen hätte, daß Silvanus sich gewiß bessern werde. Er bes-serte sich in der Tat und wurde ein großer Heiliger.

Da seht ihr es, meine lieben Töchter, wir dürfen nie vergessen, waswir gewesen, sonst werden wir schlimmer, als wir waren; dürfen nie-mals meinen, wir wären schon vollkommen, bloß deshalb, weil wir unskeine groben Verfehlungen zuschulden kommen lassen. Auch dürfenwir uns ja nicht wundern, wenn wir Leidenschaften haben; wir werdensie haben, solange wir leben. Jene Mönche, die das Gegenteil behaup-teten, wurden vom heiligen Konzil verurteilt und ihre Ansicht als Irr-lehre erklärt. Wir werden also stets Fehler machen; wir müssen nurschauen, möglichst wenige zu machen, zwei in fünfzig Jahren, wie esbei den Aposteln in den fünfzig Jahren nach der Herabkunft des Heili-gen Geistes war! Und wenn wir auch drei oder vier, ja selbst siebenoder acht Fehler in fünf Jahrzehnten begingen, so wäre das kein Grund,traurig und verzagt zu werden, sondern erst recht Mut und Kraft zuschöpfen, um es wieder besser zu machen.

Noch ein Wort an die Oberin: Wie die Schwestern nicht erstaunt seindürfen, daß die Oberin oder die Novizenmeisterin nochUnvollkommenheiten an sich haben (hat doch auch der hl. Petrus so-gar als Hirte der heiligen Kirche und Oberhaupt der ganzen Christen-heit einen so groben Fehler begangen, daß er, wie der hl. Paulus sagt,Tadel verdiente), wie also die Schwestern sich nicht über die Fehler derVorgesetzten wundern dürfen, so dürfen auch die Vorgesetzten ihrerseitsnicht erstaunt sein, daß ihre Fehler bemerkt werden, daß die Novizinnendie Unvollkommenheiten der Novizenmeisterin und die Schwesterndie Unvollkommenheiten der Oberin sehen. Beide müssen es da ma-chen wie der hl. Petrus, der vom hl. Paulus, seinem Untergebenen, denTadel ruhig und demütig angenommen hat. Wer ist da wohl mehr zubewundern? Der hl. Paulus, der den Mut hat, den hl. Petrus zu tadeln –oder der hl. Petrus, der sich demütig zurechtweisen läßt, noch dazu ineiner Sache, die er in bester Absicht zu machen glaubte?

Page 256: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

25517. Die Oberin

V I .V I .V I .V I .V I .

Gehen wir nun weiter.Sie fragen: Eine Oberin hat die Neigung, sich mit weltlichen Personen

abzugeben, in der Absicht, ihnen zu nützen. Sie vernachlässigt dabeiaber ein wenig die besondere Betreuung der ihr anvertrauten Töchteroder die häuslichen Angelegenheiten, weil sie zuviel Zeit im Sprech-zimmer verbringt. Soll die Oberin da nicht trotz ihrer guten Absichtdieser Neigung Einhalt tun?

Antwort: Aufgabe der Oberinnen ist nicht nur, ihren Untergebenen,sondern auch den Menschen außerhalb des Klosters zu nützen. Geradegegen Weltleute sollen sie ganz besonders zuvorkommend sein und ih-nen gern einen Teil ihrer Zeit schenken. – Wie viel aber? Nun, den zwölf-ten Teil, die übrige Zeit gehört dem Haus und der Ordensfamilie.

Die Bienen fliegen wohl aus dem Bienenstock heraus, sie tun dasaber nur, wenn es notwendig und nützlich ist, auch bleiben sie nie langefort. Die Bienenkönigin zeigt sich ganz selten und nur dann, wenn einneuer Schwarm ausfliegt, und da ist sie inmitten ihres Völkleins. UnserOrden, das heißt unsere Kongregation ist ein mystischer Bienenkorb.Himmelsbienen wohnen darin; sie speichern den Honig heiliger Tu-genden auf. Die Oberin als die Bienenkönigin muß eifrig dafür sorgen,die Bienen recht eng um sich zu scharen, damit sie lernen, Tugendengleich Honig einzuheimsen und aufzuspeichern. Trotzdem darf sie esnicht versäumen, mit Weltleuten zu verkehren, wann immer die Not-wendigkeit es fordert und die Liebe es verlangt. Wenn z. B. eine Welt-dame, die sich bekehren will, der Eitelkeit den Rücken kehrt, um denWeg der Wahrheit und der Frömmigkeit einzuschlagen, so wird siedazu vielleicht der Hilfe der Oberin bedürfen und von ihr so manchenWink und Rat brauchen. Wo es aber nicht notwendig ist und die Liebees nicht verlangt, da fasse sich die Oberin kurz, wenn Weltleute zu ihrkommen. Ich sage: Wo es nicht notwendig ist, denn gewisse angesehenePersönlichkeiten dürfte man nicht verstimmen.

Ihr meint, das eifrige Bestreben, der Kongregation Freunde zu gewinnen,wäre ein Grund für die Oberin, lange im Sprechzimmer zu sein. O, dieserGrund ist durchaus nicht so wichtig, wie man wohl annehmen möchte.Läßt sich die Oberin draußen wenig sehen, weil sie im Haus nach demRechten sieht, dann darf sie überzeugt sein, daß Gott der Kongregationdie notwendigen Freunde zuführen wird. – Es tut ihr aber leid, die

Page 257: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

256 17. Die Oberin

Unterhaltung abzubrechen, wenn die Glocke ruft, sie fürchtet, die Be-sucher könnten das übelnehmen. – So ängstlich darf man nicht sein.Wenn es sich nicht um angesehene Persönlichkeiten handelt oder umLeute, die von weit her oder sehr selten kommen, dürfte man vomOffizium oder von der Betrachtung nicht wegbleiben, – außer die Näch-stenliebe erfordert es unbedingt. Kommen gewohnte Besuche, Leute,bei denen man sich leicht entschuldigen kann, dann soll man sagen,daß die Oberin beim Chorgebet oder bei der Betrachtung ist, und solldie Leute ersuchen, zu warten oder wiederzukommen. Ich denke, daßeine Oberin so viel als möglich trachten wird, die Zeit der gemeinsa-men Betrachtung und des Chorgebetes nicht wegen unwichtiger Be-sprechungen zu versäumen, weiß sie doch, daß sie Offizium und Be-trachtung nachholen muß, soweit es ihr möglich ist. – Nicht nur dieOberin, auch die Schwestern sollen vom Chorgebet wie von der Be-trachtung so wenig als möglich wegbleiben; darauf ist sehr zu schauen.Kommt es aus einem wichtigen Grund dennoch vor, so muß man sichbemühen, die Betrachtung nachzuholen, so gut es eben geht. Das Offi-zium muß auf jeden Fall nachgeholt werden, darüber gibt es keinenZweifel.

Man fragt: Soll man der Oberin nicht einige kleine Besonderheitenzugestehen. z. B. in der Kleidung, im Essen? Diese Frage ist schnellbeantwortet: Nein. In keiner Weise, außer sie braucht notwendig etwasBesonderes, dann erhält sie es wie jede andere.

Gebührt der Oberin nicht überall ein besonderer Sitz? – Nein, nur imChor und im Kapitel. Diesen Sitz darf die Assistentin niemals einneh-men, wenn man ihr auch sonst in Abwesenheit der Oberin die gleicheEhrerbietung entgegenbringt wie jener. Auch im Refektorium ist einbesonderer Sitz nicht nötig, es genügt der gewöhnliche Sitz, wie ihnauch die anderen haben. Wenn auch der Oberin in allem besondereEhrerbietung gebührt, so soll sie trotzdem möglichst wenig Besonde-res haben. Notwendigen Bedürfnissen trage man jedoch Rechnung. Wäredie Oberin zum Beispiel sehr alt, so dürfte man ihr einen Stuhl geben,um es ihr ein wenig zu erleichtern. – Wir müssen sorgfältig alles ver-meiden, was den Anschein erwecken könnte, als wären wir mehr als dieanderen, ich meine, als wären wir etwas Hervorragendes, etwas Besse-res.

Page 258: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

25717. Beobachtung der Regel

Die Oberin soll man an ihren Tugenden erkennen und nicht an Son-derheiten, die ganz überflüssig sind, besonders bei den Töchtern derHeimsuchung, die sich die Einfachheit zur besonderen Aufgabe ge-macht haben. Solche Ehrungen passen für Klöster, wo die Oberin mit„Madame“ angeredet wird, bei uns braucht es das alles nicht.

VII .VI I .V I I .V I I .V I I .

Was wäre noch zu sagen? Wie man den Geist der Heimsuchung be-wahren und es verhüten könne, daß er sich verflüchtigt?

Das einzige Mittel ist, ihn in der genauen Beobachtung der Regel unddarin gut verschlossen aufzubewahren.

Ihr sagt, einige hüteten diesen Geist so eifersüchtig, daß sie Außen-stehenden nichts davon mitteilen wollen. Da ist die eifersüchtige Liebezu hoch aufgeschossen und muß gestutzt werden. Ich bitte euch, warumdem Mitmenschen nicht gewähren, was ihm nützen kann? Ich denkeanders: Ich möchte, daß alle das Gute an der Heimsuchung kennenlernen. Aus diesem Grund war ich schon von jeher der Ansicht, daß esgut wäre, die Regeln und Satzungen zu veröffentlichen, damit sie vielein die Hand bekommen und daraus Nutzen ziehen.

Gebe Gott, meine lieben Schwestern, daß sich viele Menschen fän-den, auch Männer, die nach diesen Regeln leben wollen! Dann würdesich bald in diesen Menschen eine innere Wandlung so recht zur EhreGottes und zum Heile ihrer Seele vollziehen.

Hüten wir den Geist der Heimsuchung ganz gewissenhaft, doch nichtso, daß diese Gewissenhaftigkeit uns hindert, ihn liebevoll und einfachjedem nach seinem Fassungsvermögen mitzuteilen. Habt keine Angst,daß ihr durch eure Freigebigkeit diesen Geist verlieren könntet – dieLiebe zerstört nicht, sie vollendet alles.

Page 259: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

258 18. Über den Beruf

18. Gespräch

WWWWWas beim Abstimmen über die Einkleidung und Profeßas beim Abstimmen über die Einkleidung und Profeßas beim Abstimmen über die Einkleidung und Profeßas beim Abstimmen über die Einkleidung und Profeßas beim Abstimmen über die Einkleidung und Profeßder Schwestern zu beachten istder Schwestern zu beachten istder Schwestern zu beachten istder Schwestern zu beachten istder Schwestern zu beachten ist11111

Es ist schon lange her, daß einige Schwestern mich gefragt haben,wann man seine Stimme den Kandidatinnen für die Einkleidung undden Novizinnen für die Profeß geben könne. Ich habe bisher nicht dar-an gedacht, diese Frage zu beantworten, und bin so bis jetzt euer Schuld-ner geblieben.

Heute nun will ich sie beantworten: Man kann für die Einkleidungund Profeß der Schwestern seine Stimme abgeben:

1) wenn sie von Gott wirklich berufen sind,2) wenn sie die für unsere Lebensweise erforderlichen Bedingungen

erfüllen.Wir wollen diese Frage hier unter uns besprechen. Es schien mir an-

gezeigter, sie in einer vertraulichen Unterredung zu behandeln, als ineiner Predigt. So können wir darüber freier und ungezwungener reden.

Die Novizinnen dürfen beim ersten Teil dabei sein; für den zweitenTeil müssen sie sich bis zum nächsten Jahr gedulden. Wir werden ihndann wiederholen, wenn es notwendig ist.

I .I .I .I .I .

Also zum ersten Teil: Es muß die Kandidatin von Gott wirklich be-rufen sein, wenn man sie in den Orden aufnehmen soll.

1. Wenn ich von Ruf und Berufung spreche, so meine ich damit nichtdie allgemeine Berufung, wie es die Berufung zum Christentum ist, dieder Heiland an alle ergehen läßt. Ich meine damit auch nicht diesefurchtbaren Worte im Evangelium: „Viele sind berufen, wenige aberauserwählt“ (Mt 20,16). Gott beruft alle Menschen zum Christentum,weil er „will, daß alle Menschen selig werden“ (1 Tim 2,4). Es kom-men aber nicht alle, die eingeladen sind, und darum sind nur wenige„auserwählt“. Das heißt also: Einige antworten auf Gottes Einladungund folgen ihr. Im Vergleich zu den vielen, an die der Ruf ergeht, kom-men aber nur wenige. Es handelt sich hier also um die allgemeine Be-rufung, eine ganz ernste Angelegenheit.

Page 260: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

25918. Über den Beruf

Wir wollen aber von der besonderen Berufung sprechen.„Viele sind“ von Gott in den Ordensstand „berufen“ und doch sind

nur „wenige auserwählt“, das heißt, wenige von den Berufenen bleibendabei und halten aus. Die anderen sind wohl berufen, haben auch einenguten Anfang gemacht, sind aber nicht treu, ihr Leben entspricht nichtdem Wirken der Gnade; sie sind auch nicht beharrlich bemüht, das zutun, was ihnen den Beruf erhalten, stärken und sichern könnte.

Andere wieder waren nicht eigentlich berufen, da sie aber gekommensind, wurden sie „auserwählt“ und Gott hat ihren Beruf gut und gültiggemacht.

Andere wieder gehen ins Kloster aus Trotz und Überdruß, – und ob-wohl ihr Beruf nicht gut schien, gehörten einige von denen, die mitdieser Gesinnung eingetreten waren, dann doch zu den „Berufenen“und „Auserwählten“. – Wir werden die einzelnen Fälle nebeneinanderstellen und trachten, sie alle zu erkennen, um herauszufinden, was einechter Beruf ist.

Manche auch fühlen sich angetrieben, ins Kloster zu gehen, weil siedraußen in der Welt von einem Mißgeschick oder Unglück getroffen wur-den, manche, weil ihnen Gesundheit oder Schönheit fehlt. Oft bewäh-ren sich solche Berufe; zwar ist der Beweggrund an sich nicht rein, Gottbenützt ihn aber, um sie in den Ordensstand zu führen. „Gottes Wegesind unerforschlich“ (Röm 11,23). Was ist es doch Wunderbares, Schö-nes und Liebenswertes um diese Verschiedenartigkeit der Rufe Gottes,der Mittel, deren er sich bedient, um seine Geschöpfe zu berufen; wirmüssen sie alle ehren und hochschätzen.

Ihr seht jetzt schon, wie schwer und wie wichtig es ist zu erkennen, obein Beruf echt ist, – und wir müssen doch vor allem wissen, ob dieKandidatin, die für die Aufnahme vorgeschlagen wird, wirklich beru-fen ist und ob diese Berufung echt ist. Wie aber können wir unter allden verschiedenen Berufungen und Beweggründen die echten von denfalschen unterscheiden und wie sollen wir es anstellen, um nicht ge-täuscht zu werden?

2. Wirklich eine überaus schwierige und wichtige Sache! Immerhinist sie aber nicht so schwierig, daß es nicht doch noch Mittel und Wegegäbe, die Echtheit des Berufes zu erkennen. Von den verschiedenenMitteln, die ich angeben könnte, nenne ich nur das sicherste. Der echteBeruf ist nichts anderes als der entschiedene und beharrliche Wille derberufenen Person, Gott in der Weise, zu der er sie beruft, und an dem

Page 261: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

260 18. Über den Beruf

Platz, an den er sie ruft, zu dienen. Das ist das sicherste Kennzeichen fürdie Echtheit eines Berufes.

Wenn ich sage: Der entschiedene und beharrliche Wille, Gott zu die-nen, so besagt das nicht, daß schon von Anfang an bei allem, was derBeruf von uns verlangt, die Entschiedenheit und Beharrlichkeit so großsein müsse, daß man ganz frei von Widerwillen, Unlust und Hemmungenzu sein hätte. Ich meine auch nicht, daß diese Entschiedenheit, dieseBeharrlichkeit schon derart gefestigt sein müsse, daß sie vor Fehlernbewahrt, so unbeirrbar, daß man in seinem Vorhaben, alle Mittel zugebrauchen, die zur Vollkommenheit verhelfen, nicht mehr wankelmü-tig werden könnte. Nein, das will ich durchaus nicht damit sagen, dennjeder Mensch hat unter der Wandelbarkeit und Unbeständigkeit seinesWesens zu leiden. Was er heute liebt, gefällt ihm morgen nicht mehr;kein Tag gleicht dem anderen. Heute gehört seine Liebe der Demut, ernennt sie eine liebenswerte Tugend, ja die schönste und wichtigste vonallen und verlegt sich mit aller Kraft darauf. Morgen hält er schonwieder weniger auf sie oder sie ist ihm gleich ganz zuwider. Daß sieeine wichtige Tugend sei, gibt er gerne zu, doch die liebenswerteste seies nicht, weil man sich zu arg plagen müsse, um sie zu gewinnen, undwenn man sich sehr darum bemüht hat, erst noch keine oder so gut wiekeine besäße. Seht, so veränderlich und unzuverlässig sind wir Men-schen!

Ob unser Wille entschieden und beharrlich ist, dürfen wir also nichtnach diesen verschiedenen Regungen und Vorgängen unseres Seelenle-bens beurteilen. Maßgebend ist allein, daß der Wille unerschütterlichfest bleibt, trotz all dieser wechselnden Stimmungen und Vorgänge inunserer Seele am einmal gesteckten Ziel festzuhalten; daß man alsoauch dann, wenn die Liebe zur Demut erkaltet ist oder man sogar vorihr Ekel empfindet, nicht aufhört, die Mittel, demütig zu werden, dieeinem bekannt sind oder empfohlen wurden, anzuwenden. Darin zeigtsich die Beharrlichkeit unseres Willens; wir bedürfen also als Kenn-zeichen des echten Berufes nicht der fühlbaren, sondern der tatsächli-chen Beharrlichkeit, die ihren Sitz in der höheren Schicht unseres See-lenlebens hat.

Um zu wissen, ob es Gottes Wille ist, daß wir Ordensleute werden,ist es nicht nötig, daß die göttliche Majestät hörbar zu uns spricht odereinen Engel schickt, uns ausdrücklich den göttlichen Willen zu kün-den; noch weniger notwendig ist es, darüber irgendwelche Offenbarun-

Page 262: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

26118. Über den Beruf

gen zu haben. Es bedarf dazu auch nicht der Forschungen eines ganzenDutzend Professoren der Sorbonne, ob die Eingebung echt oder falschist, ob auf sie zu hören ist oder nicht. Wir brauchen nur den erstenAntrieb der Gnade aufzunehmen, darauf einzugehen und uns nichtdarüber aufzuregen, wenn später Gefühle der Unlust kommen und dieerste Begeisterung erkaltet. Sind wir bemüht, auf das Gute, das unsgezeigt worden ist, entschieden zuzustreben, dann läßt Gott zu seinerEhre alles wohl gelingen.

3. Was ich da sagte, gilt nicht nur für uns, sondern auch für die Seelen,die noch in der Welt draußen sind und den Wunsch haben, ins Kloster zugehen. Es soll uns ein Herzensanliegen sein, sie in ihrem heiligenWunsch zu unterstützen. In ihrer ersten stürmischen Begeisterung er-scheint ihnen alles leicht, sie glauben, alle Schwierigkeiten überwin-den zu können; stellen sich aber solche ein und fühlen sie außerdemnicht mehr die frühere Begeisterung, dann halten sie schon alles fürverloren und meinen, sie müßten alles aufgeben. In dieser Verfassungwill man und will doch wieder nicht; was man da an Antrieb fühlt,reicht nicht hin, so glaubt man, um die Welt zu verlassen. – „Ich möch-te schon ins Kloster gehen,“ sagt man, – „aber ich weiß nicht recht, obes der Wille Gottes ist; auch scheint mir der Drang dazu, so wie ich ihnjetzt spüre, nicht stark genug. Er war schon stärker als jetzt; da er abernicht anhält, möchte ich bezweifeln, daß er echt war. Ich habe ebenZuhause oder irgendwo einmal vom Kloster reden hören und da habeich dazu Lust bekommen, aber sie ist mir bald wieder vergangen; dar-um glaube ich, daß es keine Eingebung Gottes war.“ Und so meintman, sich tausendmal prüfen zu müssen, um zu sehen, ob man dieserEingebung folgen soll oder nicht.

Habe ich mit solchen Seelen zu tun, dann wundere ich mich natür-lich nicht über ihre Unlust und Ernüchterung, noch weniger aber un-terschätze ich deshalb die Echtheit des Berufes. Man muß sich dieserSeelen recht liebevoll annehmen, sie lehren, sich über diese Schwan-kungen und Rückschläge nicht zu wundern, und ihnen Mut machen,trotz allem fest zu bleiben.

Man soll ungefähr so mit ihnen reden:„Das hat nichts zu bedeuten, wenn Sie durch die Worte Ihrer Eltern

oder durch sonst irgend jemand zu dem Entschluß gekommen sind, insKloster gehen zu wollen. Haben Sie dabei in Ihrem Innern keine Ein-gebung gehabt, keinen Antrieb verspürt, diesem so großen Gut nachzu-

Page 263: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

262 18. Über den Beruf

gehen?“ – „Ja, schon, aber das hielt nicht lange an.“ – „Vielleicht hieltdie Stärke des Gefühls nicht an; aber ist Ihnen nicht doch eine Neigungfür den Klosterberuf geblieben? Sie sagen doch selber, daß Sie nochimmer ein gewisses Etwas dazu dränge.“ -„Ja, aber dieser Drang scheintmir für einen solchen Entschluß nicht kräftig genug.“ – Zu solchenSeelen sage ich dann: „Kümmern Sie sich nicht um dieses Gefühl unduntersuchen Sie das nicht so genau. Bemühen Sie sich mit der Beharr-lichkeit Ihres Willens, der ja trotzdem sein Vorhaben und auch dieLiebe dafür nicht aufgibt. Seien Sie nur sorgfältig bedacht, Ihr Vorha-ben zu pflegen und diesem ersten Antrieb zu entsprechen. Die Frage,woher er gekommen ist, soll Sie nicht kümmern.“

4. Gott hat viele Mittel und Wege, die Menschen zu seinem Dienst zuberufen.

Die Verkündigung des Wortes Gottes, das gleich einem Samen durchden Mund des Priesters in das Erdreich unseres Herzens hineingesenktwird, ist nicht das einzige Mittel, das Gott anwendet. Hier bei uns istfreilich die Predigt das erste und größte Mittel zur Bekehrung der Irr-und Ungläubigen. Durch die Predigt wurden nicht nur viele zum christ-lichen Leben bekehrt, sondern die Predigt war oft auch der Ruf Gotteszu besonderen Berufungen. – So erging es zum Beispiel dem hl. Niko-laus von Tolentino. Er wohnte der Predigt eines frommen Ordensman-nes bei, der über den Martertod des hl. Stephanus sprach. Als er ver-nahm, daß der Heilige „den Himmel offen“ sah und den Sohn Gottes„zur Rechten seines Vaters stehen“ (Apg 7,55), war er davon so ergrif-fen, daß er sich sofort entschloß, die Welt zu verlassen. Und von demAugenblick an hatte er keine Ruhe mehr, bis er sein Vorhaben ausge-führt hatte. Er bat in einem Kloster um Aufnahme, die ihm auch ge-währt wurde; er wurde dort ein vorbildlicher Ordensmann, ja lebte undstarb wie ein Heiliger. Und gleich ihm sind Unzählige von Gott durcheine Predigt berufen worden.

Anderen wieder war das Lesen guter Bücher der Anlaß zum Ruf Got-tes; anderen das Hören heiliger Texte aus dem Evangelium. So hörtendie Heiligen Franziskus und Antonius diese Worte des Heilands vor-lesen: „Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, gib den Erlös den Armenund folge mir nach“ (Mt 19,21); und: „Wenn jemand mir nachfolgenwill, so verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folgemir“ (Mt 19,24). Sie verließen daraufhin alles und führten mit bewun-

Page 264: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

26318. Über den Beruf

derungswürdigem Mut aus, was der Herr ihnen durch das heilige Buchbefohlen hatte.

Wie viele sind durch das Lesen guter Bücher von Gott berufen wor-den! Gewiß Unzählige! Ihr habt sicher schon von jenen beiden Edel-leuten gehört, die das Leben des hl. Antonius lasen und dabei von Gottso tief ergriffen wurden, daß sie sogleich den Dienst am Hof des irdi-schen Kaisers aufgaben, um dafür dem himmlischen König zu dienen.Unter all den vielen Büchern hat Ludwig von Granadas „Führer für dieSünder“ schon manchem zum energischen Entschluß verholfen, dieWelt zu verlassen und ins Kloster zu gehen; das wurde mir schon desöfteren von Ordensleuten versichert und ich habe selbst schon mit sol-chen gesprochen, die beim Lesen dieses Buches ihren Beruf gefundenhaben. Es ist auch wirklich ein ausgezeichnetes Werk, das viele herrli-che und tief zu Herzen gehende Gedanken enthält.

Ihr habt doch sicher die Lebensbeschreibung des hl. Ignatius vonLoyola, des Stifters und ersten Vaters des Jesuitenordens, gelesen. Aucher wurde beim Lesen eines guten Buches von Gottes Gnade berührt. Erstammte aus sehr vornehmem Hause, war ein tüchtiger Mann im Sinneder Welt und ein tapferer Soldat. Ihm war ein Unglück der Anlaß zurBekehrung. Eine Kugel zerschmetterte ihm das Bein; er mußte in seinQuartier gebracht und gepflegt werden. In diesem Zustand langweilteer sich und verlangte Kriegsgeschichten zum Zeitvertreib. Man brach-te ihm statt dessen eine Heiligenlegende (nicht die von P. Ribadeneira,der damals noch nicht auf der Welt war), die ihn so packte, daß er allesverließ und beschloß, ein Soldat Jesu Christi zu werden. Es war ihmmit diesem Entschluß so ernst, daß er nicht ruhte, bis er ihn ausgeführthatte. So wurde Ignatius der große Mann Gottes.

Andere wieder wurden von Leid und Unglück heimgesucht, das siegegen die Welt verbitterte, die sie so zum Narren gehalten oder belogenhatte. Empört über diese Schmach und voll Überdruß kehrten sie derWelt trotzig den Rücken. Der Heiland aber bedient sich sehr oft sol-cher Mittel, um so manchen Menschen, den er auf andere Weise nichthätte gewinnen können, zu seinem Dienst zu berufen. Wohl ist Gottallmächtig und kann alles, was er will. Da er uns aber einmal den freienWillen gegeben hat, will er ihn uns nicht wieder nehmen. Wenn er unsalso dazu beruft, ihm zu dienen, dann will er auch haben, daß wir gernkommen, nicht aber gezwungen und widerwillig. Gehen nun solcheMenschen auch zu Gott, weil sie über die Welt, die sie gekränkt, erbost

Page 265: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

264 18. Über den Beruf

sind oder weil sie von Leid und Bitternissen heimgesucht wurden, soschenken sie sich ihm doch in aller Freiheit. Und in der Tat, solcheMenschen haben es oft weit gebracht und sind große Gottesdiener ge-worden, manchmal sogar größere als jene, die aus scheinbar edlerenBeweggründen ins Kloster gegangen sind.

Ihr kennt gewiß die Geschichte, die Platus2 von einem im Sinne derWelt vollendeten Edelmann erzählt, der eines Tages geschniegelt und„geschneckelt“ auf schön aufgezäumtem Pferd ausritt und nichts ande-res im Kopf hatte, als den Damen zu gefallen, denen er den Hof machte.Wie er nun so auf seinem Pferd dahertänzelte, ging dieses durch undwarf den Reiter mitten auf der Straße in den Kot, so daß er ganz schmut-zig und über und über bespritzt war, als er aufstand. Der arme jungeMann war furchtbar verlegen und schämte sich derart, daß er vor lauterWut beschloß, ins Kloster zu gehen. „Du trügerische Welt, du hast michzum Narren gehalten; jetzt halte ich dich zum Narren; du hast mireinen Streich gespielt, nun spiel ich dir einen anderen; ich will nichtsmehr von dir wissen.“ – So sagte er und ging wirklich ins Kloster, wo erein heiligmäßiges Leben führte, obwohl der Ursprung seines Berufeseigentlich ein Ärger war.

Andere hatten noch weniger gute Beweggründe. So hörte ich von ei-nem Kapuziner folgenden Fall, der sich in unseren Tagen zugetragen hat,weshalb ich ihn auch gern erzähle. Wir sprachen miteinander über denBeruf, und da erzählte mir der gute Pater folgendes: Ein Herr aus vor-nehmem Haus, ein gescheiter und gewandter Mann, ging eines Tages aufder Straße an einigen unserer Patres vorüber und sagte zu den ihn beglei-tenden Herren: „Ich möchte doch gerne wissen, wie diese Barfüßer ei-gentlich leben. Ich werde mich dort aufnehmen lassen, selbstverständ-lich nicht, um bei ihnen zu bleiben, sondern nur so für drei, vier Wochen.Ich werde sehen, was sie treiben, und wir können sie dann miteinanderrichtig auslachen und verspotten.“ Nachdem er diesen Plan ausgeheckt,machte er sich so energisch und zielbewußt an die Ausführung, daß ernicht lange darauf aufgenommen wurde. Die göttliche Vorsehung aber,die sich dieses Mittels bediente, um ihn der Welt zu entreißen, gab ihmeinen guten und echten Beruf, indem sie den üblen Zweck in einen edlenund die böse Absicht in eine lautere umwandelte.

Er hatte wirklich eine recht schlechte Absicht: Ich bitte euch, wassoll denn das heißen, sich in ein Kloster aufnehmen lassen, nur in derAbsicht, zu sehen, wie es da drinnen zugeht, um dann wieder auszutre-

Page 266: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

26518. Über den Beruf

ten und sich mit Freunden darüber lustig zu machen und alles ins Lä-cherliche zu ziehen? Wahrlich, das wäre ein ganz übler Zweck geblie-ben, wenn Gott ihn nicht umgewandelt hätte, denn der Junker meintedie anderen dranzukriegen, statt dessen hat Gott ihn drangekriegt; schonwenige Tage nach seinem Eintritt ins Kloster ging eine plötzliche undvöllige Wandlung in ihm vor, er blieb dann seinem Beruf treu undwurde ein echter Ordensmann.

Ein zweites Beispiel aus unseren Tagen: Der hochwürdige Pater Ge-neral der Feuillanten, der zweifellos ein hervorragender Priester undheiligmäßiger Mann war, – ich habe ihn persönlich gekannt und auchpredigen hören – trat in den Dienst Gottes nicht in ganz uneigennützi-ger Absicht; er achtete wohl mehr auf die eigene Ehre und den eigenenVorteil als auf den Dienst Gottes. Er kaufte sich eine Abtei, oder viel-mehr sein Vater tat das für ihn. Und doch gab Gott ihm dann alles dazu,was seinem Beruf mangelte; er änderte sein Leben von Grund auf undwurde ein Vorbild an Tugend. Er war es, der seinen Orden reformierteund zu seiner ursprünglichen Vollkommenheit zurückführte.

Es gibt auch noch andere, deren Beruf an sich nicht viel besser ist alsim oben erwähnten Fall. Dazu gehören jene, die ins Kloster gehen wegeneines körperlichen Gebrechens, etwa weil sie gebrechlich, einäugig oderhäßlich sind oder sonst irgend einen körperlichen Fehler haben. Undwas noch schlimmer ist, solche Kinder werden zumeist von ihren El-tern ins Kloster gesteckt, weil diese sich ihrer wegen der körperlichenMängel schämen3 und sich sagen: Für die Welt taugen sie doch nicht,also steckt man sie am besten in ein Kloster, das bedeutet für uns zu-hause eine Entlastung. Und daraufhin bemühen sie sich um Pfründenfür diese Kinder. Und weil ja der Vater es ist, der sich um sie annimmt,so lassen sich die Kinder bringen, wohin man will, und hoffen, von denKirchengütern gut leben zu können.

In anderen Familien wieder sind recht viele Kinder und die Elternsagen sich: Wir müssen die Familie verkleinern, wir tun also die jüngerenin ein Kloster, damit die älteren alles haben und sich in der Welt sehenlassen können. Die jüngeren sind gut genug für die Kirche; sie wirdschon dafür sorgen, daß es ihnen nicht schlecht geht.

Gottes unendliche Güte und Barmherzigkeit aber zeigt sich oft geradedarin, daß er diese an sich keineswegs guten Ziele und Absichten be-nützt, damit aus diesen Menschen eifrige Diener seiner göttlichen Maje-stät werden, deren Wunderkraft sich darin kundgibt.

Page 267: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

266 18. Über den Beruf

Der göttliche Bildhauer liebt es also, aus verkrüppeltem, scheinbarganz unbrauchbarem Holz schöne Bilder zu schnitzen. Wer von derBildhauerei nichts versteht, wundert sich, wenn man ihm sagt, daß ausdem verkrüppelten Stück, das er in der Werkstatt liegen sieht, ein Mei-sterwerk entstehen soll; er sagt sich, wenn das wahr ist, wie viel muß daweggehobelt werden, bis ein solches Werk daraus wird. Auch die gött-liche Vorsehung macht schöne Kunstwerke zumeist aus verkrüppel-tem Holz; heißt doch Gott „die Lahmen und die Blinden“ (Lk 14,21)zum Gastmahl kommen, damit wir einsehen lernen, daß uns zwei Bei-ne und zwei Augen auch nicht in den Himmel helfen; daß es besser,unvergleichlich besser ist, mit einem Bein, mit einem Auge, mit einemArm in den Himmel einzugehen, als zwei zu haben und verloren zugehen (Mt 18,8; Mk 9,42). – Menschen, die aus diesen Gründen insKloster gingen, haben nicht selten reiche Früchte der Frömmigkeithervorgebracht und in ihrem Beruf treu ausgeharrt.

Andere wieder waren wohl berufen, sie haben jedoch nicht ausgeharrt;eine Zeit lang sind sie dabei geblieben, dann haben sie alles wiederaufgegeben. Wir sehen das an Judas, dem Verräter, von dessen Beru-fung wir überzeugt sein können. Der Herr selbst erwählte ihn und be-rief ihn zum Apostelamt, als er sagte: „Ich habe euch erwählt, nicht ihrhabt mich erwählt“ (Joh 15,16); denn „niemand kann zu Gott gehen,außer er hat ihn gerufen“ (Joh 6,44). „Ziehe mich, und ich werde demGeruche deiner Salben nacheilen,“ sagt die Braut im Hohelied (1,3).Mit diesen Worten gibt sie zu verstehen, daß sie nur kommen kann,wenn sie gezogen wird. Wenn der Herr zu seinen Aposteln sagt, daß ersie „auserwählt“ hat, dann nimmt er keinen aus, dann sagt er das vonJudas so gut wie von den anderen. Dieser Apostel war also wohl beru-fen; der Herr konnte sich auch nicht täuschen, als er ihn auserwählte,da er doch die Gabe der Unterscheidung der Geister in höchstem Maßebesaß. Wie kommt es nun, daß Judas, nachdem er tatsächlich berufenwar, seiner Berufung nicht treu blieb? Seht, er hat eben seine Willens-freiheit mißbraucht, er wollte sich nicht der Mittel bedienen, die Gottihm seinem Beruf entsprechend gegeben hatte; im Gegenteil, er miß-brauchte sie und wies sie zurück, und so ging er verloren.

Das ist ganz sicher: Wenn Gott einen Menschen zu einem Stand be-ruft, dann verpflichtet er sich auch auf Grund seiner Klugheit und göttli-chen Fürsorge, ihm alles Notwendige zu geben, damit er seinen Beruf

Page 268: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

26718. Über den Beruf

vollkommen erfüllen kann. Beruft er einen Menschen zum Christen-tum, dann verpflichtet er sich, ihm alles zu geben, damit er ein guterChrist sein könne. Ebenso verpflichtet er sich auch, dem Priester oderBischof, den er zu diesem Amt beruft, alles dazu Notwendige zu geben.Und beruft er Seelen zum Ordensstand, so verspricht er damit zugleich,sie mit allen erforderlichen Mitteln zu versehen, damit sie in diesemBeruf vollkommen werden können.

Wenn ich nun sage: Der Herr verpflichtet sich, so dürfen wir nichtmeinen, daß wir ihn dazu verpflichten, wenn wir ins Kloster gehen.Gott können wir keine Verpflichtung auflegen, wie wir es untereinan-der tun; vielmehr verpflichtet sich Gott selber. Seine unendliche Güte,sein herzliches Erbarmen (Lk 1,7) drängt und treibt ihn dazu. Da ermich zum Ordensmann gemacht, hat sich der Herr verpflichtet, mir alleszu geben, was ich brauche, damit ich auch ein guter Ordensmann werde,nicht weil er müßte, sondern aus Barmherzigkeit, aus liebevollster Für-sorge.

Es ist da nicht anders als bei einem König, der seine Soldaten zu denWaffen ruft. Klugheit und Vorsorge fordern, daß er für seine Soldatenauch Waffen bereit halte. Wie könnte er sie auch ohne Waffen in denKampf schicken? Man würde ihm große Unbesonnenheit vorwerfen, –haben doch alle, als sie auf seinen Ruf kamen, damit gerechnet, daß ersie mit den für den Kriegsdienst nötigen Waffen ausrüsten werde. Hataber der Landesherr weder für Waffen noch für Munition gesorgt, dannwird gewiß jedermann über ihn lachen.

Die göttliche Vorsehung läßt es nie an Klugheit und Vorsorge fehlen,und damit wir dies leichter glauben, hat sie sich selber dazu verpflich-tet; wir dürfen also niemals ihr die Schuld geben, wenn wir nicht zu-rechtkommen. Ich sage: Gott verpflichtet sich, jenen die nötige Hilfenzu gewähren, die er in einen Stand beruft. Damit will ich aber nichtsagen, daß er sie nur da gewährt, wo er sie versprochen hat. Das wärebestimmt ein Irrtum, denn oft gab und gibt er sie auch, wo er sie wederversprochen noch zu geben sich verpflichtet hat.

Ein Beispiel: Da hat einer erfahren, daß eine Pfründe frei gewordenoder ein Bischofssitz unbesetzt ist. Er bewirbt sich nun sehr eifrig umdiesen Posten und steckt sich hinter alle einflußreichen Persönlichkei-ten, damit er ihn vom König bekomme. Schließlich wird er auf Befür-wortung verschiedener Leute zum Bischof ernannt. Gott hat ihn also

Page 269: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

268 18. Über den Beruf

nicht an diesen Platz berufen, folglich hat er sich auch nicht verpflich-tet, für das zu sorgen, was ein Bischof braucht, um ein guter Oberhirtezu sein, und so gibt er es dann auch nicht jedesmal. Die Freigebigkeitdes Herrn ist aber so groß und hochherzig, daß er es zuweilen trotzdemgibt, wie wenn er sich verpflichtet hätte. Jenen, die er berufen, fehlendiese Hilfen niemals. Und was ich da vom Bischof sagte, das gilt füralle Berufe insgesamt.

Ferner ist zu bedenken, daß Gott sich nicht verpflichtet hat, den Men-schen alles Erforderliche auf einmal zu geben, noch sie in ihrem Berufmit einem Schlag vollkommen zu machen. Dies anzunehmen, wäre einIrrtum, denn die Klöster werden nicht umsonst geistliche Heilstättengenannt, was sie in der Tat auch sind. Schon an anderer Stelle habe ichdarauf hingewiesen, daß man den Klöstern zu allen Zeiten diesen Na-men gegeben und die Ordensleute nach einem griechischen Wort „Ärz-te“ nannte, also Leute, die sich in diesen Heilstätten befinden, um nichtnur selber geheilt zu werden, sondern auch andere zu heilen, gleich denAussätzigen der hl. Brigitta.

Wir dürfen also nicht meinen, daß wir schon sofort vollkommen sind,wenn wir ins Kloster gehen. Ich habe schon des öfteren gesagt, daß wirnicht ins Kloster gehen, weil wir vollkommen sind, sondern weil wir eswerden wollen. Unsere Kongregation ist ebensowenig wie andere eineVereinigung von vollkommenen Mädchen und Frauen, sondern vonsolchen, die nach Vollkommenheit streben, sie ist eine Schule, in dieman geht, um die Mittel zum Vollkommenwerden gebrauchen zu ler-nen. Dazu gehört der starke und beharrliche Wille, uns entsprechendunserem Beruf und der Ordensgenossenschaft, in die wir berufen wur-den, zu vervollkommnen.

Keineswegs sind also die Traurigen, Weinerlichen und Seufzenden dieam sichersten Berufenen, ebensowenig wie es jene sind, die Kruzifixeförmlich verschlingen, die aus der Kirche nicht mehr herauszubringensind und von einem Kloster ins andere laufen. Auch die nicht immer,die mit großem Eifer anfangen. Um zu erkennen, wer berufen ist, dür-fen wir nicht auf die Tränen der Weinerlichen schauen, nicht auf dieSeufzer der sehnsüchtig Schmachtenden hören, nicht auf ihre Mieneund ihre äußeren Zeremonien gehen; wir müssen vielmehr darauf schau-en, ob man den festen und beharrlichen Willen hat, geheilt zu werden,und sich deshalb eifrig um seine geistige Gesundung bemüht. Auch jenerÜbereifer, dem der Beruf nicht genügt, der sich in zwecklosen und phan-

Page 270: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

26918. Über den Beruf

tastischen Wünschen verbraucht, ist nicht das Merkmal echter Berufe.Während man sich nämlich damit aufhält, das zu suchen, was oft garnicht vollkommen ist, unterläßt man das, was uns in unserem Berufvollkommen machen kann.

Ein Beweis dafür ist das Geschick eines jungen Oratorianerpriesterszur Zeit des hl. Philipp Neri. In seinem Feuereifer schien ihm die Le-bensweise der Oratorianer nicht vollkommen genug, um diesen Heiß-hunger nach Heiligkeit zu stillen. Deshalb wollte er in einen wirkli-chen Orden eintreten. Der hl. Philipp Neri, sein Vorgesetzter, dem diesbekannt war, führte ihn also selbst in ein solches Kloster.

Er wußte durch göttliche Einsprechung, daß er dort nicht bleibenwürde, und weinte deshalb bitterlich, als er ihn in das Kloster hinein-gehen sah. Die Mönche meinten, er weine aus übergroßer Freude, undsagten ihm: „Ehrwürdiger Vater, Eure Freude muß aber schon rechtgroß sein, Ihr tätet gut daran, sie zu mäßigen und die Tränen zu-rückzuhalten.“ Aber von übernatürlichem Licht erleuchtet, antworteteder Heilige: „Ach, ich weine nicht vor Freude, sondern aus Mitleid mitdiesem jungen Priester, weil er seine bisherige Lebensweise mit eineranderen vertauschen will und trotz seiner jetzigen Begeisterung nichtbleiben wird.“ Und es kam, wie der hl. Philipp Neri vorausgesagt.

Seht, Gottes Ratschlüsse sind verborgen und geheimnisvoll. Die ei-nen gehen ins Kloster aus Überdruß oder aus Übermut und bleiben,die anderen, die berufen waren und anfänglich einen großen Eifer hat-ten, enden traurig und lassen alles im Stich. Es ist also gar nicht soeinfach zu wissen, ob eine Kandidatin auch wirklich berufen ist und obman ihr seine Stimme geben kann. Wohl sehe ich an ihr einen großenEifer. Wird sie aber aushalten? – Das ist ihre Sache. Stellt ihr fest, daßsie den beharrlichen Willen hat, sich behandeln zu lassen, dann gebt ihreure Stimme. Will sie die Hilfen, die ihr zu geben sich der Herr ver-pflichten wollte, annehmen, dann wird sie ausharren. Und selbst wenner ihr diese Mittel nicht versprochen, da er sie ja nicht berufen und sichso auch ihr gegenüber nicht verpflichtet hat, so kann sie doch dieserHilfen fähig werden. Ist sie aber nur eine Zeit lang treu und tritt dannaus, so ist es zu ihrem eigenen Schaden, ihr könnt nichts dafür, sie istganz allein selber schuld.

Das wäre nun alles, was ich zum ersten Teil der Frage zu sagen habe.Ich bitte nun die Novizinnen, sich zurückzuziehen und inzwischen füruns zu beten.

Page 271: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

270 18. Notwendige Eigenschaften

I I .I I .I I .I I .I I .

Im zweiten Teil komme ich auf das zu sprechen, was euch Professenangeht, nämlich auf die Eigenschaften, die eine Kandidatin haben muß,um

1) ins Kloster aufgenommen,2) ins Noviziat aufgenommen und3) zur Profeß zugelassen zu werden.1. Was den ersten Punkt, die erste Aufnahme ins Kloster betrifft, so ist

darüber nicht viel zu sagen. Denn wie sollte man schon diese Kandida-tinnen, die mit ihrem freundlichsten Gesicht eintreten, genügend ken-nen, wenn sie ins Kloster kommen und die Probezeit machen wollen?

Sprecht einmal mit ihnen. Nach ihren Reden werden sie alles tun,was man von ihnen haben will. Sie gleichen den Heiligen Johannes undJakobus, die auf die Frage des Heilands, ob sie den Kelch des Leidenswohl trinken könnten (Mt 20,22), kühn und frischweg „Ja“ sagten undden Herrn dann in der Leidensnacht doch verließen. Diese Mädchensind um kein Haar anders: Sie verrichten so viele Gebete undEhrfurchtsbezeigungen und zeigen so viel guten Willen, daß man siedoch nicht fortschicken kann; und tatsächlich meine ich, daß man fürdiese erste Aufnahme nicht soviel Umstände zu machen braucht. Ichsage nicht, „man muß“ oder „man darf nicht“, sondern: „ich meine“;ich stehe ja hier nicht auf der Kanzel, sondern wir haben eine ganzeinfache Besprechung, bei der jeder seine Ansicht äußern kann. Ichmeine dies von der inneren Verfassung; anfangs ist es sehr schwer, siebei Kandidatinnen, besonders bei jenen, die von weither kommen, zukennen. Alles, was man tun kann, ist, sich über ihre Herkunft und äuße-ren Verhältnisse zu erkundigen und sie zur Probe aufzunehmen. Kom-men sie aus der Stadt, wo das Kloster ist, dann kann man ihr Verhaltenbeobachten und durch Gespräche mit ihnen einen gewissen Einblickin ihr Inneres bekommen; aber ich halte dies immer noch für schwie-rig, denn sie zeigen sich doch immer von der besten Seite.

Auf Gesundheit und körperliche Mängel soll man nicht oder jedenfallsnicht viel schauen. Unsere Kongregation darf Kranke und Schwächlicheebenso aufnehmen wie Gesunde und Kräftige, denn sie ist ja zum Teil fürsolche gegründet worden. Ausgenommen sind nur jene Kranken, die ihrSiechtum unfähig macht, die Regel zu beobachten und zu tun, was derBeruf sonst verlangt. Sonst würde ich keiner, selbst wenn sie nur ein

Page 272: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

27118. Notwendige Eigenschaften

Bein, einen Arm hätte oder wenn sie blind wäre, meine Stimme verwei-gern. Hat sie alle anderen Eigenschaften, die der Ordensberuf erfordert,dann würde ich ihr meine Stimme geben. – Menschliche Klugheit kom-me mir da nicht mit dem Einwand: wenn aber immer wieder solchePersonen anfragen, sollte man sie dann auch noch aufnehmen?“ Ich ant-worte mit Ja. Wenn sie, wie schon erwähnt, die seelischen Voraussetzun-gen mitbringen, die für diesen Beruf unerläßlich sind, dann würde ichkeine Bedenken tragen. – „Wenn wir aber nur Blinde und Kranke haben,wer soll sie denn dann pflegen?“ – Macht euch darüber keine Sorgen, daswird nie der Fall sein; überlaßt das nur der göttlichen Vorsehung, dieschon dafür sorgen und den Beruf auch Kräftigen geben wird, die zurPflege der anderen notwendig sind. Kommen Kranke, dann sei Gott ge-priesen! Kommen Kräftige, dann wollen wir uns freuen.

Seht, wenn weltlich Gesinnte, die andere den Klosterberuf ergreifensehen, zeigen wollen, daß sie diesen Schritt mißbilligen, dann reden sieauch so ähnlich: „Wenn alle Männer und Frauen ins Kloster gehenwollten, wie sollten dann die Menschen weiterbestehen können? Siewären dann bald ausgestorben. Und wer sollte ihnen Nahrung verschaf-fen?“ O, die menschliche Klugheit! Sorgt euch doch nicht darum! Daswird es nie geben, denn es werden immer Menschen mehr als genug inder Welt zurückbleiben.

Ein junges blindes Mädchen bemühte sich sehr um die Aufnahme ineuer Pariser Kloster. Als ich dort war, verwendeten sich verschiedeneLeute für sie; sie selbst wäre so gerne eingetreten. Ich hätte auch ge-wünscht, ihr diese Freude zu machen, denn sie war ein recht gutesKind, und wenn ihr nicht gewisse notwendige Vorbedingungen gefehlthätten, hätte ich ihr meine Stimme gegeben, obwohl sie blind war. Imallgemeinen ist über Gebrechen, die an der Beobachtung der Regelnnicht hindern, hinwegzusehen. So viel über die erste Aufnahme.

2. Nun zur zweiten, der Aufnahme ins Noviziat. Ich sehe da keine be-sonderen Schwierigkeiten. Freilich muß man hier schon genauer prüfenals bei der Aufnahme ins Kloster, weil man auch viel mehr Möglichkeithatte, Gemütsart, Handlungsweise und Gewohnheiten zu beobachten.Man sieht dann schon, ob eine Kandidatin ein weichliches oder jäh-zorniges Temperament hat oder zu anderen Leidenschaften hinneigt; dassoll aber nicht hindern, sie ins Noviziat aufzunehmen und für ihre Auf-nahme seine Stimme abzugeben. Vorausgesetzt ist natürlich immer, daßsie den guten Willen hat, sich zu bessern und unterzuordnen, sowie sich

Page 273: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

272 18. Notwendige Eigenschaften

der Arzneien und Heilmittel zu bedienen, die sie ganz gesund machenkönnen. Und wenn sie auch gegen diese Medikamente Widerwillen emp-fände und sie nur unter großen Schwierigkeiten nähme, hat das nichts zusagen, wenn sie sie nur überhaupt nimmt. Arzneien sind immer bitter, esist unmöglich, sie mit der Freude zu nehmen, als wenn sie gut schmeck-ten. Trotzdem wirken sie, und dies umso mehr, je mehr wir uns überwin-den müssen und sie uns unangenehm sind.

Genau so verhält es sich mit der Postulantin, die ein sehr leiden-schaftliches Wesen hat und in ihrem Jähzorn im Tag wohl ein dutzend-mal heftig wird. Läßt sie sich trotz dieses Fehlers willig zurechtweisenund demütigen, verabreicht man ihr die geeigneten Heilmittel und sienimmt sie, wenn auch mit Überwindung und etwas ärgerlich, – so sollman ihr die Stimme nicht versagen, da sie nicht nur den Willen hat,gesund zu werden, sondern auch trotz Widerwillen und Schwierigkei-ten die Heilmittel anzuwenden, die man ihr zu diesem Zweck gibt.

Andere wieder sind schlecht erzogen, haben unfeine Manieren, einungehobeltes und derbes Wesen. Diese haben zweifellos mehr Mühe undSchwierigkeiten als andere, die von Natur aus ein liebenswürdiges undlenksames Wesen haben; sie machen auch mehr Verstöße als die guter-zogenen. Ungeachtet dieser Mängel würde ich ihnen aber meine Stimmegeben, wenn sie geheilt werden wollen und den festen Willen bekunden,alle Heilmittel anzuwenden, so schwer es sie auch ankommt. Denn sol-che Naturen machen, nachdem sie sich zuerst viel geplagt, große Fort-schritte im Ordensleben, leisten Hervorragendes im Dienst Gottes, ihreTugend ist mannhaft und echt; die Gnade ersetzt ja, was der Natur man-gelt, und zweifellos ist oft da mehr Gnade, wo weniger Natur ist.

Man kann also Postulantinnen, die wirklich geheilt werden wollen,seine Stimme für die Aufnahme ins Noviziat geben, obwohl sie schlech-te Gewohnheiten und ein unzugängliches, derbes Wesen mitbringen,obwohl ihr Antlitz die vielen leidenschaftlichen Gefühle verrät, die siebewegen. – Es ist schon so, daß man blaß wird, wenn man erschrickt,rot, wenn man sich über etwas ärgert, und daß der Ärger auch die Trä-nen in die Augen treibt. – Für die Aufnahme ins Noviziat müssen wireigentlich nur wissen, ob die Postulantin einen ehrlichen guten Willenhat zu gehorchen und sich zu ihrer Vervollkommnung der Mittel zubedienen sucht, die man ihr geben wird. Trifft das zu, dann würde ichihr meine Stimme geben. – Ich meine, damit alles gesagt zu haben, wasdiese zweite Aufnahme ins Noviziat betrifft.

Page 274: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

27318. Notwendige Eigenschaften

3. Nun zur dritten und wichtigsten: Der Zulassung zur Profeß. Hier istschon viel mehr zu überlegen. Es sind da drei Dinge zu beachten:

1) Die Novizinnen, die zur Gelübdeablegung vorgeschlagen werden,müssen gesund sein; – ich meine damit nicht die körperliche Gesund-heit, um die ich mich, außer in besonders beachtenswerten Fällen, nichtkümmern würde; – ich meine vielmehr, daß Herz und Geist gesund seinmüssen; daß das Herz bereit sein muß, ein Leben voll Unterwürfigkeitund Fügsamkeit zu führen.

2) Die Novizinnen müssen einen guten Verstand haben. Ich sage gu-ten Verstand, damit meine ich aber nicht die Siebengescheiten, diemeist ganz Hochmut und Selbstgefälligkeit sind, die in der Welt drau-ßen richtige Hochmutsbuden waren und jetzt ins Kloster gehen, nichtum demütig zu werden, sondern sozusagen Philosophie und Theologiezu lehren, alles zu dirigieren und zu beherrschen. Vor diesen „großen“Geistern muß man sich sehr in acht nehmen. Damit will ich nicht sa-gen, daß man sie abweisen müsse; denn zeigt es sich, daß sie umgewan-delt werden können und auch wollen, daß sie sich verdemütigen lassen,dann kann die Umwandlung mit der Zeit und mit der Gnade Gottesschon gelingen, sodaß sie aus Hochmutsbuden, die sie in der Welt wa-ren, nun im Kloster Demutsgefäße werden. Das wird sich auch geben,wenn sie sich gewissenhaft der Mittel bedienen, die man ihnen zu ihrerHeilung gibt. Es ist ja sicher, wer „über weniges getreu“ ist, den setztGott „über vieles“ (Mt 25,21 f).

Wenn ich also von einem guten Verstand rede, dann meine ich einenguten Hausverstand, nicht zu großartig und nicht zu schwach. Hat eineNovizin solch guten Hausverstand, dann ist das eine wertvolle Mitgift.Solche Menschen leisten viel, ohne sich dessen bewußt zu sein; siebemühen sich um echte Tugend und gehen in diesem Bemühen ganzauf, sind lenksam und leicht zu führen und haben rasch erfaßt, wie gutes ist, sich führen zu lassen.

3) Drittens ist zu erwägen, ob die Novizin während des Noviziats-jahres sich ernstlich Mühe gegeben, ob sie die Heilmittel, auf die mansie gewiesen und die sie gesund machen konnten, willig angenommenund fleißig angewendet, ob sie opferwillig war, ob sie die Entschlüsse,die sie vor ihrem Eintritt ins Noviziat gefaßt hatte, auch verwertet undihre verkehrten Anlagen und Neigungen umgewandelt und zu gutengemacht hat, wozu ihr das Noviziatsjahr gegeben wurde. Zeigt es sich,daß sie ihrem guten Vorhaben treu bleibt, daß sie immer den gleich

Page 275: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

274 18. Notwendige Eigenschaften

festen Willen hat, an ihrer Vervollkommnung weiter zu arbeiten, hatman gemerkt, daß sie daran gearbeitet hat, sich nach den Regeln undKonstitutionen formen und umformen zu lassen, und daß dieser Willenoch anhält, ja daß sie es noch besser machen will, – dann sind alleVoraussetzungen da, daß ihr dieser Novizin eure Stimme geben könnt.

Ihr sagt: Man sehe schon, daß die Novizin an ihrer Besserung arbeitetund auch guten Willen hat, aber sie begehe noch häufig grobe Fehler,und ihr möchtet nun wissen, woran ihr erkennt, ob der Wille, sich zubessern, auch wirklich aufrichtig ist, nachdem sie während des ganzenNoviziatsjahres so oft in Fehler gefallen.

Ja, seht, wenn sie auch in diesem Jahr daran arbeiten muß, ihr sitt-liches Leben und ihre Gewohnheiten umzuformen, so ist damit nochnicht gesagt, daß sie schon gegen jeden Fall gefeit und am Ende diesesJahres bereits vollkommen sein müsse. Schaut euch doch die religiöseGemeinde des Herrn, die Apostel, an. Sie waren gewiß alle berufen, siearbeiteten an der Besserung ihres Lebens, und doch, wie viele Fehlerbegingen sie nicht nur im ersten, nein auch im zweiten und dritten Jahrnoch! Was sagten und versprachen sie nicht alles? Sie wollten mit demHerrn sogar „in den Kerker und in den Tod gehen“ (Lk 22,23), – und alsman ihren guten Meister ergriff, „verließen sie ihn alle“ (Mt 26,56).Auch die drei verließen ihn, denen der Herr, wie mir scheint, am meistenLiebe gezeigt, denen er seine Geheimnisse geoffenbart, die er immermitgenommen hatte, sowohl auf den Tabor, wie auf den Ölberg. Diesedrei Apostel, die für den Kampf mit den eigenen Leidenschaften amwiderstandsfähigsten zu sein schienen, haben auch große Fehler began-gen. Wie viele allein der so eifrige hl. Petrus! Wie oft riß ihn sein Tempe-rament fort, und doch stieß ihn der Herr deshalb nicht von sich, weil erseinen energischen und beharrlichen Willen, sich zu bessern, kannte.Schon im ersten Jahr seines Noviziates beging der Apostel große Fehler,im zweiten Jahr noch größere und im dritten den schlimmsten von allen:Er verleugnete seinen guten Herrn und Meister! Zum Teil war an diesenhäufigen und schweren Verfehlungen sein Wesen schuld.

Dem hl. Johannes, der sanfteren Gemütes war, machten Ausbrüchedes Temperamentes weniger zu schaffen und doch hat er seinen Meisterim Stich gelassen und ist geflohen wie die anderen, wenngleich er auchbald wieder zu seinem Herrn zurückgekehrt ist und ihn von da an niemehr verlassen hat.

Page 276: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

27518. Fragen zur Abstimmung

Der hl. Jakobus hat seinen Meister nicht nur im Stich gelassen, als eszum Sterben ging, er handelte noch schlimmer als die anderen zwei, daer überhaupt nicht mehr zu seinem gefangenen Meister zurückkehrte.

Seht, die Fehler, die eine Novizin begeht, sollten also kein Grundsein, sie abzuweisen, solange sie den festen Willen hat, auch wiederaufzustehen, wenn sie gefallen ist, und sich dafür der Mittel zu bedie-nen, die man ihr jeweils gibt.

Damit wäre nun alles über die Voraussetzungen gesagt, die eine No-vizin erfüllen muß, wenn sie zur Profeß zugelassen werden soll, undauch, was die Schwestern bei der Stimmabgabe zu berücksichtigen ha-ben. Ich habe nun über diesen Gegenstand nichts mehr zu sagen, außerman stellt mir darüber Fragen.

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

1. Sie fragen, was zu tun sei, wenn eine Novizin sich wegen Kleinig-keiten aufregt, wenn sie ganz verdrossen und unruhig ist und in dieserVerfassung keine Freude an ihrem Beruf hat, dann aber, wenn dieseStimmung wieder verflogen und das Gemüt zur Ruhe gekommen ist,das Blaue vom Himmel verspricht.

Eine Person, die so wetterwendisch ist, taugt bestimmt nicht fürsKloster. – Ist es ihr denn gar kein bißchen darum zu tun, geheilt zuwerden? Will sie nicht, daß man ihr die Mittel verabreicht, die siegesund machen können? Wenn nicht, dann muß man ihr die Tür öffnenund sie fortschicken.

Sie sagen, man wisse nicht, ob es bei ihr vom Mangel an gutem Wil-len, gesund zu werden, oder vom Mangel an Verständnis für echte Tu-gend kommt. – Seht, wenn man sie eingehend darüber belehrt, und sietut es nicht, bleibt vielmehr unverbesserlich, dann müßt ihr sie fort-schicken, weil es ihr sicher nicht an Urteil und Verständnis für dieTugend und für das, was sie zu tun hat, fehlt, sondern am Willen, derweder beharrlich noch entschlossen ist, das für ihre Besserung Not-wendige zu tun. Ich würde ihr also meine Stimme nicht geben, weil sieimmer den gleich schwankenden Willen zeigt, obwohl sie dazwischenimmer wieder goldene Berge verspricht.

2. Sie sagen, meine liebe Tochter, daß einige Novizinnen so empfind-lich sind, daß sie sich über den Tadel aufregen und nicht selten davonkrank werden.

Page 277: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

276 18. Fragen zur Abstimmung

Wenn das der Fall ist, dann schickt sie fort, weil sie krank sind undnicht wollen, daß man bei ihnen die entsprechenden Heilmittel anwen-de. Aus ihrem Verhalten sieht man deutlich, daß sie unverbesserlichsind und eine Heilung nicht mehr zu erhoffen ist. Diese Empfindlich-keit ist ein so schlimmes Übel, daß man alles aufbieten muß, um davonbefreit zu werden. Die Weichlichkeit, die körperliche wie die geistige,ist eines der größten Hindernisse im Ordensleben; darum soll mansorgfältig jene ausscheiden, die in hohem Grad mit diesem Übel behaf-tet sind. Die geistige Weichlichkeit ist noch gefährlicher als die körper-liche; der Geist ist ja edler als der Leib, darum wird er auch schwerergesund, wenn er einmal von dieser Krankheit befallen ist. Und wenndann die Novizin, die an dieser Krankheit leidet, sich noch dazu dasPflaster nicht auf die Wunde legen ließe, dann würde ich ihr meineStimme nicht geben. Warum? Weil sie von ihrem Übel nicht befreitund nicht gesund werden kann, da sie sich der Anwendung der entspre-chenden Heilmittel widersetzt.

3. Sie möchten wissen, was von einer Novizin zu halten ist, die esimmer wieder offen ausspricht, daß sie es bereue, ins Kloster gegangenzu sein. – Verharrt sie in diesem Widerwillen gegen ihren Beruf und inder Reue, ihn gewählt zu haben, und wird sie dadurch auch faul undnachlässig in ihrer Aufgabe, sich im Geist ihres Berufes umzubilden,dann setzt sie nur vor die Tür.

Woran ist zu erkennen, ob es sich hier nicht um eine Prüfung oderVersuchung handelt? – Die Frage ist berechtigt, aber nicht so einfachzu beantworten: Man erkennt es am Gewinn, den die Novizin von die-sem Widerwillen und Bedauern erzielt, wenn sie sich in aller Einfach-heit über diese Vorgänge ausspricht und gewissenhaft die Mittel an-wendet, die man ihr dagegen gibt. – Wenn uns Gott Prüfungen schickt,so will er, daß wir dabei etwas für uns gewinnen, und dies trifft immerzu, wenn wir uns gewissenhaft aussprechen und dann einfach glaubenund tun, was man uns sagt. Das sind die untrüglichen Kennzeichen, daßdie Novizin nur auf ihr eigenes Urteil hört, daß ihr Wille dadurchverführt und verdorben wurde und sich im Widerwillen versteift; dannsteht es schlimm und es ist so gut wie gar nicht zu helfen.

4. Sie sprechen von einer Novizin, die über alles lacht, was man ihrsagt. – Nun, Sie müssen sie über den Grund ihres Lachens fragen. –„Sie sagt, sie wisse ihn nicht.“ – Nun, dann weiß ich ihn auch nicht. –Sie sagen, daß sie sich über nichts, was man ihr sagt, wundere, sondern

Page 278: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

27718. Fragen zur Abstimmung

immer ihren gewöhnlichen Weg weitergehe. – Dann frage ich: Zieht siekeinen Nutzen aus dem, was man ihr sagt, bessert sie sich nicht, wennman sie zurechtweist? Hält sie mehr auf ihre eigene Meinung als aufdie Hinweise, die man ihr gibt? Bleibt sie darin unverbesserlich? Wennja, dann gäbe ich ihr meine Stimme nicht; will sie sich jedoch bessern,will sie geheilt werden, dann würde ich ihr meine Stimme ohne weite-res geben.

Sie sagen aber, meine liebe Tochter, diese Novizin schätze alles, wassie tut, so hoch ein, daß alles, was man ihr sagt, sie anscheinend nichtberührt. – Will sie also eine besondere Heiligkeit pflegen und so heiligwerden? Nun, vor solchen Heiligkeiten muß man eine heilige Scheuhaben! Echte Heiligkeit ist die gewöhnliche, wie die Unseres Herrnund Unserer Lieben Frau. Der wahre Heilige weiß nichts von seinerHeiligkeit, und je heiliger einer ist, desto weniger glaubt er, es zu sein.

5. Sie möchten wissen, meine liebe Tochter, wie Sie die Charaktereunterscheiden können, um dann Ihre Stimme nach bestem Wissen undGewissen abgeben zu können, denn Sie lernen die Novizinnen ja nurdurch die Oberin kennen.

Man muß sie fleißig beobachten und schließlich sind Sie doch auchunterrichtet durch das, was im Kapitel besprochen wird. Warum hältman denn Kapitel? Doch deshalb, damit man die Ansichten aller Schwe-stern höre und dadurch sich selber zu dem entschließen könne, wasman zu tun hat. – Sie sagen, daß die Novizin eigensinnig auf ihremUrteil bestehe und deshalb auch bald eigensinnig auf ihrem Willenbestehen werde. – Will sie sich nicht bessern? Wenn die Novizin, wieSie sagen, über das Tun und Lassen der anderen ihr Urteil abgibt, dannmuß man sie eben lehren, das nicht mehr zu tun, sich lieber selber zuverurteilen und nicht die anderen. Wenn sie nur an anderen genau sieht,was sich gehört und was nicht, an sich selber das aber nicht sieht, waswollen Sie da machen? Das sind eben menschliche Armseligkeiten!Die Oberin und die Novizenmeisterin werden dieser Novizin ja sicherDank wissen, daß sie über das, was die beiden zu tun haben, so genauBescheid weiß.4 Man muß ihr aber gründlich klar machen, daß sie sichzu bessern habe, und ihr beibringen, beim Lesen der Ordensregel undSatzungen sich das recht gut zu merken, was sie selbst angeht; sie mußsich auf jeden Fall bessern.

Page 279: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

278 18. Fragen zur Abstimmung

Sie fragen: Wenn die Oberin und die Novizenmeisterin im Kapitelnichts von den Novizinnen sagen und Sie haben selbst beobachtet, daßdie eine nicht sofort gehorcht oder sich sonst gegen die Observanzverfehlt, – ob Sie darüber reden oder ihr die Stimme verweigern sollen.– Seien Sie in dieser Sache recht einfach, meine liebe Tochter, und tunSie, was Ihr Gewissen Ihnen sagt. Gewiß, auch wenn es sich um Dingehandelt, die an sich nur Kleinigkeiten sind, so muß man sie doch mitgroßer Sorgfalt und Liebe tun, denn im Kloster ist nichts klein. Wer inden „kleinen“ Dingen der Regel nicht „treu“ ist, wird bald in den „gro-ßen“ untreu sein (Lk 16,10). – Man muß eben schauen, ob die Novizinsich nicht bessern will (weil es sich in ihren Augen nur um Kleinigkei-ten handelt), ob sie nicht am Ende unverbesserlich ist, denn das wäresehr schlimm.

6. Meine liebe Tochter, Sie fragen da, ob man eine Novizin auf dieProbe stellen darf, indem man ihr etwas recht Demütigendes sagt, et-was, was selbst für die Profeß-Schwestern reichlich schwer zu ertragenwäre. – Sollte vielleicht gar eine Profeß-Schwester einer Novizin mit-ten in der Erholung einen Faustschlag ins Gesicht geben, nur um sie inder Geduld zu prüfen? – Man kann allerdings die Oberin um Erlaubnisbitten, die Novizin prüfen zu dürfen; es ist immer besser, das nicht auseigenem Willen sondern im Gehorsam zu tun; es könnte sonst die Ge-fahr bestehen, daß man wohl andere abtöten möchte, es aber vergißt,sich selbst abzutöten.

7. Sie fragen, ob man eine Novizin auf die Probe stellen darf, wennman Anhaltspunkte dafür hat, daß sie von den Eltern gedrängt wordenist, ins Kloster zu gehen.

Man könnte es tun. Aber selbst wenn sie von den Eltern dazu über-redet worden ist, kann der Beruf doch ein guter sein, denn Gott bedientsich, wie wir anfangs schon gesagt, oft solcher Mittel, um seine Ge-schöpfe an sich zu ziehen. Und hat sie auch beim Eintritt ins Klostervielleicht keinen rechten Beruf gehabt, so kann ihn Gott doch rechtmachen. Das eine aber muß man von einer solchen Novizin wissen, obsie den guten Willen hat, ein Leben vollkommenen Gehorsams undvollkommener Unterwerfung zu führen.

8. Sie möchten wissen, meine liebe Tochter, ob Sie Bedenken tragensollen, Ihre Stimme einer Novizin zu geben, die nicht liebenswürdigoder nicht mit allen gleich herzlich ist und zeigt, daß sie die eine undandere Schwester lieber hat.

Page 280: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

27918. Fragen zur Abstimmung

Man soll bei solchen Kleinigkeiten nicht so streng sein, denn dieseNeigungen sind das Letzte, dessen wir uns entäußern. Bis man so weitist, daß man sich zu einer Schwester nicht mehr hingezogen fühlt alszur anderen und seine Gefühle derart zurückgedrängt hat, daß man vonihnen nichts mehr sieht, dazu braucht es Zeit. Die hl. Paula, die docheine große Heilige war, liebte ihren Gatten und ihre Kinder überauszärtlich. Sooft eines ihrer Lieben starb, weinte sie so heftig, daß sie vorWeh zu sterben glaubte. So groß war ihre Liebe und sie vermochte esnicht zu ändern. Trotzdem war sie eine große Heilige und ganz in denWillen Gottes ergeben.

9. Sie möchten wissen, ob Sie mit der Oberin über die Novizinnensprechen dürfen, über deren Charakter Sie sich nicht klar sind.

Das geschieht ja schon im Kapitel, kann aber auch unter vier Augengeschehen.

Sie fragen, meine Tochter, was Sie tun sollen, wenn die Meinung deranderen Schwestern dem widerspricht, was Sie wissen, und Sie sich nungedrängt fühlen zu sagen, was Sie als richtig erkannt haben und was derbetreffenden Schwester zum Vorteil gereicht. Sie fragen nun, ob Sienicht besser schweigen sollten. – O nein, gewiß nicht, auch dann nicht,wenn Ihre Ansicht ganz und gar nicht mit der der Schwestern überein-stimmte und Sie als einzige diese Ansicht hätten; denn das könnte gera-de allen helfen, sich für das Richtige zu entscheiden. Der Heilige Geistist inmitten der Gemeinde und aus der Verschiedenheit der Meinun-gen heraus entschließt man sich für das, was mehr zur VerherrlichungGottes zu gereichen scheint.

Der Wunsch, die Schwestern möchten doch alle abstimmen wie Sie,muß verachtet und verworfen werden genau wie irgend eine andereVersuchung. Desgleichen darf man nicht sagen oder denken: „Ich möch-te jener Schwester meine Stimme schon geben; es wäre mir aber recht,wenn die anderen sie ihr nicht gäben.“

Sie fürchten, daß Ihr Urteil Sie täuscht, wenn Sie eine Ansicht äu-ßern, die der allgemeinen widerspricht? O, verzeihen Sie, meine liebeTochter, es handelt sich hier nicht um Ihr Urteil. Sie müssen in allerEinfalt und Wahrhaftigkeit sagen, was Gott Ihnen eingibt.

10. Was haben Sie gesagt, meine liebe Tochter? Ich habe nicht gutgehört, die Kinder auf der Straße machen einen solchen Lärm, daß ichnichts verstehe. – Sie sagen also: Eine Novizin erwidere, wenn man ihr

Page 281: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

280 18. Fragen zur Abstimmung

etwas aufträgt, das sei schwer zu machen; dieselbe Novizin behaupteauch, dieser und jener Punkt der Satzungen sei schwer zu beobachten.

Aber sehen Sie, daß sie unterläßt, es auszuführen? – Es macht janichts aus, wenn es einem schwer fällt; wichtig ist nur, daß man nichtunterläßt, seine Pflicht zu erfüllen. Manchmal hält man auch die Schwie-rigkeiten für größer, als sie sind, und es kommt das oft vor. Darum sollman nicht so sehr achten auf das, was die Novizin sagt, als vielmehr aufdas, was sie tut.

11. Und Sie, meine Tochter, sagen, daß Sie Klosterfrauen kennen, dieden Novizinnen, die austreten wollen, weil sie sich zu diesem Berufnicht verpflichten können, die weltlichen Kleider nicht geben, obwohlsie des öfteren darum baten. Man lasse sie bis zum 10. Monat ihresNoviziatsjahres warten und entlasse sie erst, wenn sie dann noch aufihrem Wunsch bestehen; man gestatte ihnen aber zu bleiben, wenn siesich anders besonnen haben. – Das zweite ist schon recht, nur würdeich die Novizin nicht zwingen zu bleiben, wenn sie vor dieser Zeitgehen will; noch würde ich eine Zeit bestimmen, um sie zu entlassen.Ich würde schon etwas Geduld mit ihr haben und schauen, ob dieserWiderwille gegen das Ordensleben nicht doch noch vergeht.

Gewiß, bei manchen ist es nicht so einfach, den Charakter kennen zulernen, und Sie haben ganz recht, meine liebe Tochter, wenn Sie fragen,ob die Gelübdeablegung in solch einem Fall nicht hinausgeschobenwerden dürfte. Ja, das kann man tun, um sich über den Charakter derbetreffenden Novizin klar zu werden.

12. Sie fragen, ob man Bedenken haben muß, wenn Novizinnen derOberin oder der Novizenmeisterin zuliebe ihre Pflicht tun. – Diese Novi-zinnen haben eine gute Absicht, nur muß man ihnen beibringen, dieseAbsicht zu reinigen. Es ist manchmal recht gut, wenn man etwas denVorgesetzten zuliebe tut; später wird man es dann aus reiner Liebe zuGott tun. In diesem Zusammenhang möchte ich euch erzählen, daßmich neulich eine brave Frau besuchte, die fest entschlossen war, je-mand, der sie beleidigt hatte, nicht zu verzeihen. Als ich sie endlichüberredet hatte, sich doch auszusöhnen, sagte sie mir, daß sie es nichtGott zuliebe, sondern mir zuliebe tun werde. Ich hatte große Mühe, sieumzustimmen. – Nun, die Novizinnen, die der Oberin zuliebe ihrePflicht tun, und zwar eher der einen als der anderen zuliebe, beweisendamit, daß sie es für das Geschöpf, nicht aber für den Schöpfer tun.Würden sie es für ihn tun, dann wären ihnen alle Vorgesetzten gleich

Page 282: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

28118. Fragen zur Abstimmung

lieb. Was soll man da machen? Die Absicht wird schon noch ganz reinwerden.

13. Sie möchten noch wissen, ob ein Mädchen, das taub ist oder einanderes derartiges Leiden hat, aufgenommen werden kann. – Ich habeschon gesagt, daß ich wegen körperlicher Mängel, wenn sie nicht sehrhinderlich sind, keine Bedenken habe. Die Taubheit macht freilich einePerson unbelehrbar; es ist schwer, sie zu bessern, man kann ihr ja nichtverständlich machen, was sie zu tun hat. Auf andere körperliche Ge-brechen würde ich nicht achten.

O, meine liebe Tochter, habe ich’s nicht schon gesagt? Wenn alleWelt ins Kloster ginge, wie sollte da die Menschheit weiterbestehen?Und Sie sagen: Nähme man nur Kranke auf, wer würde sie pflegen?Seien wir nicht gar so klug! Gott wird wohl Starke als Stütze für dieSchwachen zu schicken wissen.

14. Nun, meine liebe Tochter, wenn eine Schwester die schlechte Ge-wohnheit hätte, schön zu tun und zu schmeicheln, so müßte man ihr dasverzeihen und sie lehren, es womöglich nicht mehr zu tun. Schauen Sie,Neigungen und Leidenschaften sind nicht so geschwind gebändigt. Al-len diesen kleinen Verfehlungen gegenüber müssen wir uns verhalten,wie die Priester im Beichtstuhl. Da kommt ein Mann, der bei mir beich-tet und sich anklagt, zweihundertmal geflucht zu haben. Ich rede ihmzu, daß er sich bessern möge; ich sehe, daß er dazu guten Willen hat,und erteile ihm daraufhin die Lossprechung. Wenn er nun ein zweites-mal kommt und sich anklagt, hundertmal geflucht zu haben, dann spre-che ich ihn gewiß von seiner Sünde los, denn ich sehe klar, daß er sichgebessert hat, und demnach halte ich ihn nicht für unverbesserlich. –Mit den Novizinnen müssen wir es ebenso machen. Sehen wir, daß siesich bessern, dann dürfen wir sie nicht abweisen, auch dann nicht, wennsie immer wieder Fehler machen. Denn sie beweisen durch ihre Besse-rung, daß sie nicht unverbesserlich sein wollen.

15. Ihr meint, man müßte es sich doch sehr überlegen, einem Mäd-chen, das kaum gute Eigenschaften mitbringt und zudem viel imKrankenzimmer ist, seine Stimme zu geben, weil man sie weder prüfennoch ihren Charakter kennen lernen kann, wenn sie immer krank ist.

Dazu sage ich: Hat sie für diesen Beruf nicht die notwendigen Eigen-schaften, dann muß man es sich selbstverständlich sehr überlegen. Aberich möchte nicht, daß ihr über die körperlichen Mängel lange Erwä-gungen anstellt, außer sie sind derart, daß sie ein Hindernis für die

Page 283: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

282 18. Fragen zur Abstimmung

Befolgung der Regel ist. Und was das Kennenlernen des Charaktersangeht, so lernt man Temperament und Geist nie besser kennen als inder Krankheit, die ja eine andauernde Prüfung ist.

Habt ihr sonst noch etwas zu fragen? Wie spät ist es denn? Habt ihrdie Komplet schon gebetet? Wann wollt ihr sie beten? Geht nur, ichfürchte, eine Störung zu verursachen.

Und nun, meine lieben Töchter, bitte ich den Heiland innig, euch zusegnen. Gott gewähre euch die Erfüllung all eurer Wünsche und seinenheiligen Frieden. Amen.

Page 284: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

283

19. Gespräch

Über die heil igen SakramenteÜber die heil igen SakramenteÜber die heil igen SakramenteÜber die heil igen SakramenteÜber die heil igen Sakramente11111

1. Bevor wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir uns auf denEmpfang der heiligen Sakramente vorzubereiten haben und welcheFrüchte wir von ihnen gewinnen, müssen wir zuerst wissen, was dieSakramente sind und welche Wirkungen sie hervorbringen.

Die Sakramente sind Vermittler der Gnaden, durch welche Gott gleich-sam zu uns herabsteigt; wie wir umgekehrt uns in ihn versenken, wennwir beten; das Gebet ist ja nichts anderes als das Aufsteigen der Seelezu Gott.

Jedes Sakrament hat seine eigenen Wirkungen, doch haben sie alle einund denselben Zweck, ein und dasselbe Ziel: Die Vereinigung der Seelemit Gott.

Im Sakrament der heiligen Taufe vereinigen wir uns mit Gott wie dasKind mit dem Vater. In der heiligen Firmung wie der Soldat mit demFeldherrn; wir werden mit Kraft ausgerüstet für den Kampf mit demFeind und für den Sieg in allen Versuchungen. Im Sakrament der Bußevereinigen wir uns mit Gott wie Freunde, die sich wieder miteinanderversöhnt haben. In der heiligen Eucharistie werden wir eins mit Gottwie die Speise mit dem Körper. Im Sakrament der letzten Ölung verei-nigen wir uns mit ihm, wie der aus fernen Landen zurückkehrendeSohn, der bereits einen Fuß auf die Schwelle des väterlichen Hausessetzt und heimkommt zu Vater, Mutter und Geschwistern. Das sindalso ganz verschiedene Wirkungen, aber mit dem gleichen Ziel: DerVereinigung der Seele mit ihrem Gott.

Wir befassen uns jetzt nur mit dem heiligen Sakrament der Buße undder Eucharistie. Oft und oft empfangen wir sie, ohne der Gnaden teilhaf-tig zu werden, die zu jedem dieser beiden Sakramente gehören und diealle erhalten, die sich gut vorbereiten. – Und warum erhalten wir sienicht? Darüber wollen wir uns jetzt klar werden. Die sakramentalen Gna-den sind tatsächlich an die Sakramente gebunden. Sind wir also beimEmpfang der heiligen Kommunion im Stande der heiligmachenden Gna-de und im Sakrament der Buße frei von jeder Anhänglichkeit an dieTodsünde, dann erhalten wir jedesmal die zu diesen Sakramenten gehö-rende Gnade, die Sünde zu hassen und sie seltener zu begehen.

Page 285: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

284 19. Die heiligen Sakramente

Ist unsere Seele aber nicht entsprechend vorbereitet, dann empfan-gen wir nicht die von der Vorbereitung abhängenden Gnaden, also we-der die Kraft, unsere schlechten Neigungen gerade zu biegen, noch denMut, die Tugenden zu pflegen und vollkommen zu werden. – Wir müs-sen also wissen, wie wir unsere Seele für den Empfang dieser beiden,wie überhaupt aller Sakramente vorzubereiten haben.

2. Zu dieser Vorbereitung gehört: 1) die reine Absicht, 2) die Auf-merksamkeit, 3) die Demut.

Die reine Absicht ist ganz unerläßlich, nicht nur für den Empfang derheiligen Sakramente, sondern für alles, was wir tun. Haben wir beimEmpfang der heiligen Sakramente nur im Auge, uns mit Gott zu ver-einigen und ihm wohlgefällig zu sein, ohne daß irgend ein selbstsüch-tiger Beweggrund mit hinein spielt, dann ist unsere Absicht rein. DieseReinheit der Absicht kann man daran erkennen, daß ihr ruhig undgelassen bleibt und in die Gefühle der Unruhe und des Ärgers nichteinwilligt, wenn man keine Erlaubnis zur heiligen Kommunion erhält,nach der man sich gerade sehr sehnt, oder wenn man nach der heiligenKommunion keine freudigen Gefühle empfindet. Ich sage „einwilligt“,weil es leicht ist, daß die Unruhe von selber über euch kommt. Willigtihr aber in die Unruhe, in den Ärger ein, die in euch wegen der verwei-gerten Erlaubnis zu kommunizieren oder wegen der geistlichen Dürreaufsteigen, dann ist das ein Zeichen, daß eure Absicht nicht rein warund daß es euch nicht um die Vereinigung mit Gott, sondern um diesüßen Gefühle zu tun war; denn die Vereinigung mit Gott vollziehtsich vor allem in der Tugend des Gehorsams. Mit dem ungestümenVerlangen nach Vollkommenheit ist es nicht anders; auch da zeigt sichganz deutlich die Eigenliebe, die es nicht vertragen kann, daß mannoch Unvollkommenheiten an uns bemerkt. Wäre es denkbar, daß wirgenau so innig mit Gott vereint und ihm geradeso angenehm wären,wenn wir unvollkommen sind, so müßten wir sogar wünschen, jederVollkommenheit bar zu sein.

Zur Vorbereitung gehört zweitens die Aufmerksamkeit. Mein Gott!Wie aufmerksam sollten wir doch sein, nicht nur auf die Erhabenheitdessen, was da vor unseren Augen sich vollzieht, sondern auch auf dieinnere Verfassung, die jedes Sakrament von uns verlangt; so sollten wirzum heiligen Bußsakrament ein Herz voll Liebesreue mitbringen, zurheiligen Kommunion ein Herz voll Liebesglut.

Page 286: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

28519. Die heiligen Sakramente

Wenn ich sage: große Aufmerksamkeit, so soll das nicht heißen, daßwir ganz frei von Zerstreuungen sein müßten, denn das liegt nicht inunserer Macht; freiwillige Zerstreuungen müssen wir allerdings mitgrößter Sorgfalt meiden.

Zur Vorbereitung gehört drittens die Demut. Wir brauchen diese Tu-gend sehr notwendig, damit uns die Gnaden aus den Sakramenten invollem Maße zufließen: Je stärker das Gefälle, desto stärker und ra-scher fließen ja die Wasser.

Neben dieser dreifachen Vorbereitung nenne ich noch mit einemWort die allerwichtigste: Die totale Hingabe unser selbst an das Beliebendes göttlichen Willens, sodaß wir unseren Willen und unser Herz restlosseiner Herrschaft unterstellen. Restlos sage ich, denn bei unserer großenSchwachheit behalten wir uns immer etwas vor. Selbst die geistlichstenMenschen „reservieren“ sich etwas, für gewöhnlich das Verlangen nachTugenden. Bei der heiligen Kommunion sagen sie dem Heiland, daßsie sich ihm ganz und gar übergeben, aber doch um die Klugheit bittenmöchten, um ein ehrenvolles Leben führen zu können; – um die Ein-fachheit aber bitten sie nicht. – Andere beten: „Ich füge mich vollstän-dig Deinem Willen, nur bitte ich Dich um recht viel Mut, damit ichGroßes für Dich vollbringen kann“; – aber um Sanftmut, damit sie mitihren Mitmenschen friedlich zusammenleben können, bitten sie nicht.– Wieder andere beten: „Gib mir doch jene Demut, die geeignet ist, eingutes Beispiel zu geben“; – die innere Demut aber, jene Demut, die unsdie eigene Erniedrigung lieben läßt, die scheinen sie nicht nötig zuhaben. – „Mein Gott, ich bin ganz Dein, gewähre mir doch beim Betenimmer tröstliche Gefühle“; – ja freilich, süße Gefühle brauchen sie,um zur Vereinigung mit Gott zu gelangen, die sie anstreben! Um Bitter-nisse und Prüfungen aber bitten sie niemals. – Sich dies und das aus-bedingen, so gut es auch scheinen mag, das ist nicht der Weg zur Gott-vereinigung. Der Herr, der sich ganz für uns hingegeben hat, will dafürauch unsere ganze Hingabe, damit die Vereinigung unserer Seele mitihm, mit der göttlichen Majestät noch vollkommener werde und wirdann in Wahrheit mit jenem großen Mann, der einer der vollkommen-sten Christen war, sagen können: „Ich lebe, doch nicht mehr ich, son-dern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20).

Dazu gehört aber noch ein zweites: Wir müssen unser Herz ganz leermachen, damit es ganz von unserem Herrn und Heiland erfüllt werde.Wenn uns die Gnade der Heiligung vorenthalten wird, – da doch eine

Page 287: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

286 19. Die heiligen Sakramente

einzige gut empfangene Kommunion genügt, uns heilig zu machen, –so hat das sicher seinen Grund darin, daß wir den Heiland nicht in unsherrschen lassen, wie er es in seiner Güte wünscht. Er kommt in unserHerz, der Heilige, Vielgeliebte unserer Seelen, und findet es übervollvon Wünschen, Anhänglichkeiten und kleinen Eigenwilligkeiten. Ermöchte so gern unseres Herzens Herr und Herrscher sein: So sehnlichwünscht er es; darum auch sagt er zu seiner heiligen Braut: „Lege michwie ein Siegel auf dein Herz,“ damit darin nichts gegen meinen Wunschund Willen Einlaß finde (Hld 8,6). – Ich weiß schon, daß die Mitteunseres Herzens leer ist, das wäre ja sonst auch eine zu große Treulosig-keit. Ich meine damit: Wir haben nicht nur die Todsünde aus demHerzen hinausgewiesen und hassen sie, wir haben auch alle schlechtenAnhänglichkeiten hinausgeworfen. Aber ach! Noch sind alle Eckenund Winkel voll von tausenderlei Dingen, die unwürdig sind, vor die-sem höchsten Herrscher zu erscheinen, und die ihm, wie es scheint, dieHände binden und damit die Möglichkeit nehmen, uns die Güter undGnaden zu schenken, die er uns in seiner Liebe zugedacht, wenn er unswohl vorbereitet gefunden hätte.

So wollen wir unsererseits alles tun, diesem „überirdischen Brot“(Mt 6,11) einen würdigen Empfang zu bereiten, uns vollständig dergöttlichen Vorsehung überlassen, nicht nur für die zeitlichen, sondernbesonders für die geistlichen Güter, und alles, woran unser Herz hängt,alle Wünsche und Neigungen dem göttlichen Willen zu Füßen legen,damit ihm alles ganz untertan sei. Seien wir versichert, der Heilandwird seinerseits halten, was er versprochen hat: Er wird uns in sichumgestalten, wird unsere Niedrigkeit erhöhen, bis sie mit seiner Erha-benheit vereint ist.

3. Wir dürfen die heilige Kommunion für bestimmte Meinungen auf-opfern; so dürfen wir damit die Bitte verbinden, daß wir selbst oderandere von bestimmten Versuchungen oder Leiden befreit werden oderbestimmte Tugenden erlangen. Freilich müssen wir immer hinzufü-gen: „Wenn dies die Vereinigung mit Gott fördert,“ – was ja oft nichtzutreffen wird. In leidvollen Zeiten bin ich schließlich doch innigervereint mit ihm, weil ich öfter an ihn denke. Und was die Tugendenangeht, so ist es zuweilen für mich besser, sie nicht zu haben, als sie zuhaben. Wozu auch sollte ich Gott um Tugenden bitten, die ich nichtüben kann, weil mir die Gelegenheit dazu fehlt? Ergibt sich aber ein-mal die Gelegenheit, so wird der Widerwille, der sich dann einstellt,

Page 288: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

28719. Die heiligen Sakramente

mir eine Demütigung einbringen, – und die Demut ist doch wertvollerals alles andere.

Dann auch sollt ihr bei allen euren Bitten und Anliegen, die ihr Gottvortragt, nicht nur an euch selber denken, ihr sollt vielmehr stets in derMehrzahl reden, wie es der Herr uns im „Vater unser“ gelehrt hat, wokein „ich“ und kein „mir“ vorkommt. Das heißt also: Wenn ihr füreuch um eine Tugend oder Gnade bittet, sollt ihr zugleich die Absichthaben, Gott zu bitten, er möge sie allen geben, die auch diese Tugendoder Gnade brauchen. Dabei sei das Ziel immer eine noch innigereVereinigung mit Gott. Anders sollen wir überhaupt nichts wünschenund erbitten, weder für den Nächsten noch für uns, denn das ist ja gera-de der Zweck, weshalb die Sakramente eingesetzt wurden, und wir müs-sen damit übereinstimmen, indem wir diesen Zweck beim Empfangder heiligen Sakramente vor Augen haben.

Wir dürfen auch nicht meinen, daß wir dabei verlieren, wenn wir fürandere beten oder die heilige Kommunion für sie aufopfern. Bieten wirGott zwar unser Beten oder die heilige Kommunion zur Sühne für dieSünden anderer an, so leisten wir wohl nicht Sühne für unsere eigenenSünden; aber das Verdienst für das Gebet, für die heilige Kommunionbleibt uns. Wir haben für sie gebetet; dieser Akt der Liebe vermehrtunser Verdienst, hier in diesem Leben sind Gnaden unsere Belohnung,im anderen die Glorie.

Ein Mensch, der in keiner Weise daran dächte, für seine Sünden Ge-nugtuung zu leisten, jedoch eifrig darauf bedacht wäre, alles was er tut,aus reiner Liebe zu Gott zu tun, hätte hinreichend genug für sie getan.Denn das steht fest: Wer einen Akt vollkommener Liebe oder einenAkt vollkommener Reue setzt, leistet für alle seine Sünden vollaufGenugtuung.

4. Vielleicht möchtet ihr gerne wissen, woran ihr erkennt, ob ihr vomEmpfang der heiligen Sakramente einen Gewinn habt. Ihr merkt es dar-an, daß ihr in den Tugenden wachset, die den Sakramenten eignen; daßeuch z. B. das heilige Sakrament der Buße in der Liebe zur eigenenNiedrigkeit und in der Demut stärkt, in den Tugenden, die Früchtedieses Sakramentes sind. Am Grad unserer Demut erkennt man denGrad unseres seelischen Fortschrittes. Es heißt ja: „Wer sich ernied-rigt, wird erhöht werden“ (Mt 23,12; Lk 14,11; 18,14). „Erhöht“ seinheißt höher hinaufgekommen sein. – Werdet ihr durch die heilige Kom-munion recht gütig – weil ja die Güte und Liebe dem Altarssakrament

Page 289: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

288 19. Die heiligen Sakramente

eigen ist, das ganz Güte, ganz Liebe, ganz Süßigkeit ist, – dann erntetihr die der heiligen Eucharistie eigentümliche Frucht, und so kommtihr voran. Werdet ihr aber weder demütiger noch liebevoller, dannverdient ihr, daß man euch dieses Brot entzieht, da ihr nicht arbeitenwollt (2 Thess 3,10).

5. Habt ihr Sehnsucht nach der heiligen Kommunion, dann möchteich, daß ihr ganz einfach zu den Vorgesetzten geht und darum bittet,2

bereit, in Demut euch zu fügen, wenn euch die Bitte abgeschlagen wird,und aus Liebe zu kommunizieren, wenn sie euch gewährt wird. Selbstdann, wenn es euch eine Überwindung kostet, darum zu bitten, sollt ihres nicht unterlassen. Wer bei uns eintritt, kommt ja auch nur, um sichabzutöten. Das Kreuz, das man auf der Brust trägt, erinnert uns ständigdaran.

Käme einer Schwester in der Erkenntnis ihrer Unwürdigkeit der Ge-danke, nicht so häufig zu kommunizieren wie die anderen, so darf siedarum die Oberin bitten; sie muß aber deren Urteil in großer Ruheund Demut abwarten.

6. Hören wir, daß man über uns spricht, etwa von einem Fehler, denwir haben, von einer Tugend, die wir nicht haben, so möchte ich, daßwir uns kein bißchen darüber aufregen, vielmehr Gott danken, daß eruns zeigt, wie wir zu dieser Tugend kommen, wie wir uns den Fehlerabgewöhnen können, und sollen dann mutig zu den entsprechendenMitteln greifen.

Wir müssen hochherzig sein, nur Gott anhangen und dürfen uns nichtum das kümmern, was die untere Schicht unserer Seele begehrt. Wirmüssen das Höhere in uns zur Herrschaft bringen, denn es liegt inunserer Macht, zu entscheiden, ob wir dem Niedrigen oder dem Höhe-ren in uns zustimmen wollen.

Geistliche Freuden und Zärtlichkeiten sollen wir nicht wünschen, dasie uns nicht notwendig sind, um den Heiland inniger zu lieben. Unter-suchen wir also nicht lange, ob wir gute Gefühle haben, sondern tun wirdas, wozu sie uns antreiben würden, wenn wir sie hätten.

7. Wir sollen auch nicht überempfindlich sein und glauben, wir müß-ten in der Beichte alles vorbringen, was wir falsch gemacht haben, denndie läßliche Sünde brauchen wir nicht zu beichten, wenn wir nichtwollen; wollen wir uns jedoch darüber anklagen, dann müssen wir auchden entschiedenen Willen haben, uns zu bessern, sonst wäre es einMißbrauch der Beichte. Wir brauchen uns also nicht zu ängstigen, wenn

Page 290: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

28919. Die heiligen Sakramente

wir Fehler nicht beichten, weil sie uns nicht einfallen; es ist nicht an-zunehmen, daß eine Seele, die ihr Gewissen oft erforscht, größere Feh-ler nicht merkte und sich nicht daran erinnerte. Über die kleinen Din-ge könnt ihr euch mit dem Heiland aussprechen, wenn sie euch einfal-len.

Ihr fragt, wie ihr euren Akt der Reue machen könnt, ohne viel Zeitdarauf zu verwenden. Zu einem guten Akt der Reue gehört so gut wiekeine Zeit: Wir werfen uns demütig vor Gott nieder, weil es unsschmerzt, ihn beleidigt zu haben – das ist alles, was wir zu tun haben.

8. Ihr möchtet, daß ich euch noch etwas über das Offizium sage. Schonbeim ersten Glockenzeichen müßt ihr euch freudig aufmachen undnach dem Beispiel des hl. Bernhard euer Herz fragen: „Was will ichjetzt tun?“ Aber nicht nur vor dem Chorgebet, sondern vor allen Übun-gen wollen wir unserem Herzen diese Frage vorlegen, damit wir zujeder den entsprechenden Geist mitbringen. Denn es geht nicht an,zum Chorgebet in der gleichen Verfassung zu kommen wie zurRekreation. In die Rekreation bringen wir eine frohe Stimmung mit,ins Chorgebet eine ernste und liebende Gesinnung. Bei den Worten:„Deus in adjutorium meum intende,“ sollen wir uns vorstellen, daß derHerr uns antwortet: „Seid auch ihr bedacht, mich zu lieben!“

Während des Chorgebetes denken wir daran, daß wir dasselbe heiligeAmt versehen, dem die Engel im Himmel obliegen. Denn wenn auch inanderer Sprache, so singen wir doch das gleiche Lob und sind in derGegenwart desselben Herrn, vor dessen Majestät die Engel erzittern.

Wer mit einem König spricht, nimmt sich sehr zusammen, damit erja keine Unschicklichkeit begehe. Wenn er es aber trotz größter Acht-samkeit nicht recht machen sollte, so würde er vor Scham erröten. Wirmüssen uns beim Chorgebet ebenso zusammennehmen, müssen vorallem darauf achten, jedes Wort deutlich auszusprechen, und sehr aufder Hut sein, daß wir nichts falsch machen. Ist uns aber trotzdem einFehler unterlaufen, dann wollen wir uns nicht wundern, sondernverdemütigen. Wir machen doch so viel verkehrt. So ist es auch nichterstaunlich, wenn beim Chorgebet zuweilen Fehler vorkommen. Ma-chen wir jedoch mehr Fehler und das immer wieder, dann hat es denAnschein, als wäre uns der erste Fehler nicht sehr leid gewesen. Unddoch sollten wir darüber tief beschämt sein, aber nicht wegen der Obe-rin, die anwesend ist und den Fehler merkt, sondern weil Gott gegen-wärtig ist mit all seinen Engeln. Macht man immer wieder den gleichen

Page 291: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

290 19. Die heiligen Sakramente

Fehler, so ist das gewöhnlich ein Zeichen, daß man keinen Eifer hat,ihn abzulegen. Und bessert man sich nicht, obwohl man des öfteren aufden Fehler aufmerksam gemacht wurde, dann hat es den Anschein, alsverachte man den Verweis.

Man braucht sich nicht darüber zu ängstigen, wenn man im ganzenOffizium aus Unaufmerksamkeit zwei bis drei Verse ausgelassen hat, –vorausgesetzt, daß es nicht absichtlich war. Wenn ihr aber einen gutenTeil vom Offizium verschlaft, so müßt ihr ihn auch dann nachholen,wenn ihr die Verse, die eure Chorseite trafen, mitgebetet habt. Wennihr aber husten und dergleichen notwendige Dinge tun müßt, dannbraucht ihr nichts nachholen. Ebenso auch nicht die Zeremonien-meisterin, wenn sie etwas sagt, was sich auf das Chorgebet bezieht, unddie Sakristanin, wenn sie ihr Amt ausübt, vorausgesetzt, daß sie dabeiden Chor nicht verläßt.

Wenn eine Schwester nach Beginn des Offiziums kommt, geht sie anihren Platz und betet das mit, was die anderen beten; nach Beendigungdes Chorgebetes holt sie nach, was vor ihrem Kommen schon rezitiertworden ist, und hört dann auf, wenn sie den versäumten Teil nachgeholthat.

Wart ihr beim Offizium unfreiwillig zerstreut, so braucht ihr es nichtnoch einmal zu beten; und wißt ihr am Schluß eines Psalms nicht recht,ob ihr mitrezitiert habt, weil ihr zerstreut gewesen und es nicht ge-merkt habt, so braucht ihr ihn nicht zu wiederholen; demütigt euch nurvor Gott und betet dann ruhig weiter. Selbst dann, wenn die Zerstreu-ung lange gedauert hat, braucht ihr nicht gleich an Nachlässigkeit den-ken; sie kann uns manchmal das ganze Offizium hindurch verfolgen,ohne daß wir selbst daran schuld sind. Machen wir dann ab und zu vorGott einen ganz einfachen Akt der Abwehr und ängstigen wir uns nicht,auch wenn die Zerstreuung noch so schlimm wäre.

Es liegt mir viel daran, daß ihr euch niemals wegen schlechter Emp-findungen ängstigt. Ich möchte, daß ihr euch nur tapfer und beharrlichbemüht, nicht nachzugeben; denn: Eine Regung haben und einer Re-gung nachgeben ist durchaus nicht dasselbe.

Page 292: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

291

20. Gespräch

Predigt am Fest des hl. JosefPredigt am Fest des hl. JosefPredigt am Fest des hl. JosefPredigt am Fest des hl. JosefPredigt am Fest des hl. Josef11111

Am Fest eines heiligen Bekenners beten wir mit der Kirche: „Einerblühenden Palme gleicht der Gerechte“ (Ps 92,13).

Der Palmbaum, wegen der Schönheit und Köstlichkeit seiner Früch-te der König der Bäume genannt, hat viele besonders vorzügliche Ei-genschaften. Es liegt also sehr nahe, den Gerechten mit der Palme zuvergleichen, denn die Gerechtigkeit eines Menschen zeigt sich in vie-lerlei Weise.

Wenngleich alle Gerechten gerecht sind, so sind doch die einzelnenAkte ihrer Gerechtigkeit recht verschiedenartig. Sie sind versinnbildetdurch das Kleid des jungen Josef, das buntgestreift, mit verschieden-artigen Blumen durchwirkt war und ihm bis an die Fersen ging (Gen37,3; 41,42) Jeder Gerechte ist mit dem Kleid der Gerechtigkeit an-getan, das ihm bis an die Fersen geht; d. h. alle Fähigkeiten und Kräfteder Seele des Gerechten sind in Gerechtigkeit gehüllt, sein Äußereswie sein Inneres ist ganz Gerechtigkeit und alle seine inneren und äu-ßeren Tätigkeiten sind gerecht. Gewiß, jedes dieser Gewänder ist wie-der mit anderen Blumen durchwirkt, diese Verschiedenartigkeit beein-trächtigt aber Wert und Schönheit der Gewänder nicht.

Die Gerechtigkeit des heiligen Einsiedlers Paulus war sehr vollkom-men, obgleich er die Liebe zu den Armen nicht in dem Maße betätigteund nicht die Gelegenheit hatte, ebenso freigebig zu sein, wie der hl.Johannes, der deshalb der Almosengeber genannt wurde; folglich be-saß er diese Tugend auch nicht im gleichen Grad wie jener und andereHeilige. Wohl hatte er alle Tugenden, aber nicht alle in gleicher Voll-kommenheit. Ein Heiliger zeichnet sich in dieser Tugend aus, ein an-derer wieder in jener, – alle sind sie Heilige, aber die Art ihrer Heilig-keit ist verschieden, denn es gibt im Himmel ebenso viele Arten vonHeiligkeit wie Heilige.

Ich komme nun wieder auf den Palmbaum zurück, auf die vielenEigenschaften, die er anderen voraus hat, und wähle drei seiner Eigen-schaften, die besonders gut auf den Heiligen passen, dessen Fest wirheute feiern und den die Kirche mit der Palme vergleicht. Der hl. Josefist nicht bloß Patriarch, er ist der Brautführer aller Patriarchen zumhimmlischen Hochzeitsmahl; er ist nicht einfach nur Bekenner, er ist

Page 293: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

292 20. Reinheit des hl. Josef

mehr als das, er ist Bekenner mit allen Würden eines Bischofs, mit demHeldentum der Märtyrer und aller Heiligen insgesamt. Die Kirche hatalso ganz recht, ihn mit dem Palmbaum zu vergleichen, mit dem Königder Bäume, dem 1) die Jungfräulichkeit, 2) die Demut, 3) die Standhaf-tigkeit und Tapferkeit zu eigen sind, drei Tugenden, die der hl. Josef inhervorragender Weise übte. Wollte man Vergleiche wagen, so würdenwohl manche die Behauptung verteidigen, daß er in diesen Tugendenalle anderen Heiligen übertroffen habe.

I .I .I .I .I .

Die Palmpflanze hat zwei Geschlechter, sie ist männlich und weib-lich. Der Palmbaum, die männliche Pflanze, trägt keine Früchte. Trotz-dem ist sie nicht unfruchtbar, denn die Palme, die weibliche Pflanze,hätte ohne den Palmbaum keine Früchte. Steht nämlich die Palme nichtganz nahe beim Palmbaum, wächst sie nicht gleichsam unter seinenAugen, dann bleibt sie unfruchtbar und bringt keine Datteln hervor.Steht sie aber bei ihm, sozusagen unter seinen Augen, dann trägt sieviele Früchte. Sie bringt also Früchte hervor, aber auf jungfräulicheArt, denn sie wird vom Palmbaum nicht berührt. Wohl schaut der Palm-baum die Palme an, sie vereinigen sich aber nicht, sie zeitigt ihre Früchteim Anblick, im Schatten ihres Palmbaumes ganz rein und jungfräulich.Er selber gibt von seiner Substanz nichts dazu; trotzdem muß mansagen, daß die Fruchtbarkeit der Palme auch zum großen Teil sein Werkist, denn ohne ihn trüge sie keine Früchte, sie bliebe unfruchtbar.

Die göttliche Vorsehung, die von Ewigkeit her bestimmt hatte, daß„die Jungfrau einen Sohn empfangen“ werde (Jes 7,14), der Gott undMensch zugleich ist, wollte auch, daß diese Jungfrau vermählt sei. War-um wohl ordnete Gott zwei sich so widersprechende Dinge an, fragensich die Gottesgelehrten. Die Mehrzahl der Väter erklärt das so: DieJuden hätten mit Unserer Lieben Frau sicher keine Ausnahme gemacht,hätten sie mit Verleumdungen und Schmähungen nicht verschont, siehätten sich zum Richter über ihre Unschuld aufgeworfen. Das abersollte ihr erspart bleiben. Dann auch sollte ihre Jungfräulichkeit undReinheit unversehrt bleiben: dazu mußte die göttliche Vorsehung sieaber dem Schutz und der Obhut eines jungfräulichen Mannes überge-ben. „Im Schatten“ einer heiligen Ehe sollte diese Jungfrau ihr Kindlein,diese „süße Frucht“ des Lebens, zur Welt bringen“ (Hld 2,3).

Page 294: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

29320. Reinheit des hl. Josef

So war der hl. Josef gleichsam der Palmbaum, der, ohne selber Früchtezu tragen, doch fruchtbar wurde, da er an der Frucht der Palme sogroßen Anteil hatte. Nicht daß er etwas beigetragen hätte! Er spendetein dieser heiligen Ehe nur den Schatten, der die heilige Jungfrau in derZeit ihrer Erwartung den Verleumdungen verbarg.

Obgleich nun der hl. Josef zu dieser Erwartung persönlich nichtsbeigetragen hatte, so war er an der heiligen Frucht seiner jungfräulichenGemahlin doch sehr beteiligt, denn sie war ja sein Eigen, war ganz nahezu ihm hingepflanzt als wunderliebliche Palme, die nach dem Plan dergöttlichen Vorsehung nur unter seinem Schatten und unter seinen Au-gen Frucht bringen konnte und sollte. Damit will ich sagen: Im Schat-ten einer heiligen Ehe, die weder in der äußeren noch in der innerenGütergemeinschaft und Verbindung eine Ehe im gewöhnlichen Sinndes Wortes war. Unsere Liebe Frau hatte am hl. Josef eine große Stützeund Hilfe und er hatte Teil an allen geistigen Gütern seiner vielgelieb-ten Gemahlin, sodaß er in der Vollkommenheit wunderbare Fortschrit-te machte. Das kam vom ständigen Beisammensein mit ihr, die alleTugenden in höchster Vollkommenheit besaß, in einer Vollendung, diekein anderes Geschöpf je erreichen könnte: der hl. Josef kam ihr darinnoch am nächsten.

Ein Spiegel, der direkt von der Sonne beschienen ist, fängt ihre Strah-len vollkommen deutlich auf. Stellt man diesem sonnenbeschienenenSpiegel einen zweiten gegenüber, so wirft dieser die Sonnenstrahlenebenso scharf zurück, obwohl er sie nur durch Widerstrahlung emp-fängt, und man kann nur schwer unterscheiden, welcher Spiegel nundie Sonnenstrahlen direkt und welcher sie durch Widerstrahlung auf-nimmt.

Unsere Liebe Frau stand als fleckenloser Spiegel der Sonne der Ge-rechtigkeit gegenüber (Mal 4,2), deren Strahlen unendlich viele Tugen-den in herrlicher Vollendung in ihre Seele hineinsenkten – Tugenden,die sich dann im hl. Josef so rein widerspiegelten, daß es fast schien, alswäre er ebenso vollkommen wie die glorreiche Jungfrau, als hättenseine Tugenden die gleiche Größe wie die ihrigen.

Doch zurück zur Tugend, von der wir sprachen. Welchen Grad derReinheit, jener Tugend, die uns den Engeln gleich macht (Mt 22,30; Lk20,36), haben wir uns beim hl. Josef vorzustellen? Wenn die allerseligsteJungfrau ganz rein und makellos und weiß wie der Schnee (wie es imdritten Responsorium der ersten Nokturn vom Fest der Unbefleckten

Page 295: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

294 20. Reinheit des hl. Josef

Empfängnis heißt), ja die Jungfräulichkeit selbst war, wie muß dannder gewesen sein, den der ewige Vater zum Herrn ihrer Jungfräulichkeitbestellt hatte, besser gesagt zum Gefährten, denn behüten brauchte sieniemand, sie behütete sich selber; wie groß also muß der hl. Josef indieser Tugend gewesen sein! Beide hatten sie das Gelübde gemacht, ihrLeben lang jungfräulich zu bleiben. Und nun will Gott, daß sie sichdurch das heilige Band der Ehe verbinden, freilich nicht, um das Ge-lübde zu brechen, oder zurückzunehmen, sondern um es durch dieseVerbindung neuerdings zu bekräftigen und einander zu bestärken undzu helfen, diesem heiligen Entschluß treu zu bleiben. In diesem Sinnmachten sie auch noch das Gelübde, zeitlebens in ihrer Ehe jungfräu-lich zu bleiben. In herrlichen Worten schildert der Bräutigam im Ho-helied die Lilienreinheit, die schneeweiße und goldene Lauterkeit sei-ner zärtlichen Beziehungen zur viellieben Braut: „Unsere Schwesterist noch klein und hat noch keine Brüste, was sollen wir mit ihr tun amTag, da sie umworben wird? Ist sie eine Mauer, so wollen wir auf ihr einBollwerk aus Silber errichten, ist sie eine Tür, so verwahren wir sie mitZederngetäfel oder mit einem anderen unverweslichen Holz“ (Hld 8,8f). – Hört, was der göttliche Bräutigam von der Reinheit derallerseligsten Jungfrau sagt: „Unsere Schwester ist klein, sie hat nochkeine Brüste,“ das heißt, sie denkt noch nicht ans Heiraten. – Man sagtfür gewöhnlich: Dieses Mädchen wird groß, es ist Zeit für sie zu hei-raten. Von Unserer Lieben Frau aber sagt der göttliche Bräutigam, daßsie nicht daran denke, sich zu verheiraten, Herz und Sinn stünden ihrnicht danach. „Was wollen wir mit unserer Schwester tun am Tag, daman mit ihr sprechen muß?“ Warum dieses: „sprechen muß?“ Redetdenn der göttliche Bräutigam nicht immer mit ihr, wann es ihm sogefällt? Das bedeutet also: „am Tag, da man ihr das wichtige Wort, dasschwerwiegende Wort sagen muß,“ das Wort vom Heiraten, wo es umdie Wahl eines Berufes oder Standes geht, bei dem man dann bleibenmuß. „Ist sie ein Turm, so wollen wir auf ihr ein Bollwerk von Silbererrichten, ist sie eine Pforte, dann wollen wir dieses Tor nicht erbre-chen, wir wollen sie vielmehr mit ,Zedernholz‘, das unverderblich ist,verdoppeln und verstärken.“

Die glorreiche Jungfrau war ein Turm (Hld 4,4; 7,4), dessen Tor sichkeinem Feind auftat und keinem Verlangen als dem nach einem Lebenvollkommener Reinheit und unversehrter Jungfräulichkeit. – Was wer-den wir mit ihr tun, denn sie muß verheiratet werden? Er, der ihr den

Page 296: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

29520. Demut des hl. Josef

Entschluß eingab, Jungfrau bleiben zu wollen, er hat es so angeordnet.Ist sie ein Turm, „ist sie eine Mauer, dann wollen wir auf ihr ein Boll-werk von Silber errichten,“ das den Turm nicht zum Einsturz bringt,sondern ihn noch mehr befestigt. – Was ist der hl. Josef anderes alsdieses starke „Bollwerk“, das um die Gottesmutter aufgerichtet wurde,da sie als seine Frau ihm unterstand und er für sie Sorge trug?

So wurde also der hl. Josef über Unsere Liebe Frau gesetzt, gewißnicht um sie zu veranlassen, ihr Gelübde der Jungfräulichkeit zu bre-chen, sondern um ihr in diesem Gelübde ein Verbündeter zu sein, da-mit die Reinheit Unserer Lieben Frau unter dem Schleier und Schatteneiner heiligen Ehe und heiligen Seelengemeinschaft in ihrer ganz herr-lichen Makellosigkeit erhalten bliebe.

So sprach der ewige Vater bei sich: Ist die heiligste Jungfrau „eineTür“, dann wollen wir nicht, daß sie sich auftue, wollen sie vielmehrverstärken und mit unverderblichem Holz verrammen, d. h. ihr einenGefährten in der Reinheit an die Seite geben. Dazu bestimmte er dengroßen hl. Josef, der deshalb alle Heiligen und alle Engel, selbst dieSerafim in dieser herrlichen Tugend der Jungfräulichkeit überragensollte.

I I .I I .I I .I I .I I .

Nun kommen wir zum zweiten Punkt, zur zweiten Eigenschaft desPalmbaumes, zur Demut. Obwohl König der Bäume, ist er doch ganzdemütig, er versteckt seine Blüte in Blattscheiden oder Kapseln, die wieTaschen aussehen. Bei dieser Eigentümlichkeit der Palme denken wiran den Unterschied zwischen den Seelen, die nach Vollkommenheitstreben, den Gerechten also, und den Kindern der Welt. Hat so einWeltkind, das nur irdischen Gesetzen folgt, einmal einen guten Gedan-ken oder eine gute Idee, die ihm wertvoll dünkt, oder irgend eine Fä-higkeit, dann gibt es keine Ruhe, bis alle, die ihm begegnen, darumwissen. Solchen Weltkindern ergeht es dann wie den Mandelbäumchen,die es im Frühling mit dem Blühen recht eilig haben; kommt Frostüber Nacht, dann erfrieren sie und setzen keine Früchte an. Diese Welt-kinder, die im Frühling dieses zeitlichen Lebens aus Hochmut undEhrsucht ihre Blüten leichtsinnig entfalten, laufen stets Gefahr, vomFrost überrascht zu werden, der sie dann um die Frucht ihrer Werkebringt.

Page 297: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

296 20. Demut des hl. Josef

Die Gerechten hingegen schützen ihre Blüten mit der Demut wie miteiner Blatthülle und verbergen sie soviel als möglich bis zum Sommerihres Lebens, da Gott, die „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 4,2), ihreHerzen mächtig durchglutet im ewigen Leben, wo sie auf ewig die köst-lichen Früchte der Glückseligkeit und Unsterblichkeit tragen werden.

Erst wenn die Glut der Sonne die Blatthüllen sprengt, zeigt die Pal-me ihre Blüten und dann kommen auch schon die Früchte. Die gerech-te Seele macht es nicht anders: Sie hält ihre Blüte, das heißt ihre Tugen-den unter der Hülle der Demut verborgen, bis zum Tod. Dann abersprengt der Heiland die Hülle, die Blüten öffnen sich, werden sichtbarund schon zeigen sich auch die Früchte.

Wie treu war doch darin der große Heilige, von dem wir sprechen. Es istkaum möglich, diese Tugend in ihrer ganzen Größe zu würdigen. Inwelcher Niedrigkeit lebte er nicht sein Leben lang! Und unter dieser Ar-mut und Niedrigkeit verbarg er seine hohen Tugenden und Würden. Undwas für Würden! Erzieher unseres Herrn und Heilands! Und nicht nurdas, nein, auch noch sein Pflegevater und dazu noch Gemahl der heilig-sten Gottesmutter! O, ganz gewiß werden die Engel, von Staunen hin-gerissen, in Scharen herbeigeeilt sein, um die Demut des hl. Josef zubewundern, wenn er das teure Kind bei sich in der ärmlichen Werkstatthatte, wo er sein Handwerk ausübte, um für den Sohn und dessen Mut-ter, die da bei ihm waren, Brot zu beschaffen!

Kein Zweifel, meine lieben Schwestern, der hl. Josef war tapferer alsDavid, weiser als Salomo und alle anderen, wer sie auch sein mochten,und dennoch mußte er nur Zimmermannsarbeit tun. Wer hätte ohnebesondere innere Erleuchtung bei dem armen Zimmermann diese gro-ßen Gnadengaben Gottes vermutet, die er so sorgfältig verborgen hielt?Welche Fülle von Weisheit mußte er nicht besitzen, da Gott ihm seinenvielgeliebten Sohn anvertraute und die Leitung der heiligen Familieübergab!

Weltliche Fürsten wählen mit der größten Sorgfalt die Erzieher ihrerKinder; sie wollen nur die Fähigsten dafür haben. Und da sollte Gottnicht den in jeder Hinsicht vollkommensten Mann zum Erzieher seinesSohnes gewählt haben, des an Hoheit und Größe alles überragenden,über alles herrschenden herrlichen Königs des Himmels und der Erde?Er konnte es, also wollte und tat er es. Es ist daher nicht zu bezweifeln,daß der hl. Josef mit allen Gnaden und Gaben ausgestattet war, die zudieser hohen, vom himmlischen Vater ihm anvertrauten Aufgabe gehör-

Page 298: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

29720. Demut des hl. Josef

te, zur Obhut über das Geheimnis der Menschwerdung Unseres Erlösersund zur Führung der heiligen Familie, die uns in ihrer Dreizahl ein Bildder allerheiligsten, höchst anbetungswürdigen Dreifaltigkeit ist. Freilichgilt der Vergleich ganz richtig nur für den Herrn, die zweite Person derheiligsten Dreifaltigkeit, da Maria und Josef nur Geschöpfe sind. Wirkönnen aber doch sagen: Die heilige Familie ist die Dreieinigkeit aufErden, wie es die allerheiligste Dreifaltigkeit im Himmel ist. Maria,Jesus, Josef – Josef, Jesus, Maria, wunderbare, höchst nachahmenswerteund überaus hoch zu verehrende Dreifaltigkeit!

Nun versteht ihr schon, wie hoch an Würden, wie reich an Tugendender hl. Josef war; ihr erinnert euch aber auch, wie er, mehr als mansagen und es sich vorstellen kann, niedergedrückt und gedemütigt wor-den ist. Ein Beispiel genügt: Er geht in seine Heimat, in seine Vater-stadt Betlehem, und nur er wurde, wenigstens soweit man weiß, an allenHerbergen abgewiesen, so daß er sich gezwungen sah, die Stadt wiederzu verlassen und seine jungfräuliche Gemahlin in einem Stall, bei Ochsund Esel unterzubringen (Lk 2,4 f). Das war gewiß äußerste Niedrig-keit und Verdemütigung!

Aus Demut auch wollte er Unsere Liebe Frau verlassen, weil „es sichfand, daß sie empfangen hatte“ (Mt 1,19). Der hl. Bernhard läßt ihndabei folgendes Selbstgespräch führen: „Ich weiß, daß sie Jungfrau ist,haben wir doch beide Keuschheit und Jungfräulichkeit gelobt; ich weißauch, daß sie dieses Gelübde niemals brechen wollte, und doch seheich sie nun Mutter werden. Wie nur ist Jungfräulichkeit mit Mutter-schaft vereinbar und Jungfräulichkeit kein Hindernis für eine Mutter-schaft? Mein Gott, sollte sie vielleicht jene ‚Jungfrau‘ sein, von der diePropheten sagen, daß sie ‚empfangen‘ und die Mutter des Messias seinwerde? (Jes 7,14) Wenn das der Fall wäre, dann, Gott bewahre, daß ichUnwürdiger bei ihr bleibe! Es ist besser, daß ich bei meiner Unwürdig-keit sie heimlich verlasse und nicht mehr bei ihr wohne.“

Nur eine wunderbar tiefe Demut kann solche Empfindungen auslö-sen! Solche Demut ließ auch Petrus ausrufen, als er im Schifflein mitdem Heiland war und sich ihm die Allmacht des Herrn im reichenFischfang offenbarte: „Herr, gehe weg von mir“ (Lk 5,38), denn ich binnicht wert bei dir zu sein. Werfe ich mich ins Meer, werde ich gewißzugrunde gehen; Du aber, Du bist allmächtig, Du kannst trockenenFußes über die Wasser schreiten, darum bitte ich Dich, daß Du von mirweggehen mögest.

Page 299: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

298 20. Demut des hl. Josef

Der hl. Josef war also sehr darauf bedacht, seine Tugenden unter derHülle der Demut verborgen zu halten; die kostbare Perle der Jungfräu-lichkeit verbarg er aber besonders sorgfältig. Daher vermählte er sich,damit niemand davon wisse und er, im Schatten der Ehe verborgen,sein jungfräuliches Leben führen könne. Daraus mögen die Jungfrauenund alle, die ein reines Leben führen wollen, lernen, daß es nicht ge-nügt, jungfräulich zu sein, wenn sie nicht zugleich auch demütig sind undihre Reinheit im kostbaren Schrein der Demut verwahren.

Tun sie das nicht, dann wird es ihnen ergehen wie den törichten Jung-frauen, die der Bräutigam von seinem Hochzeitsmahl fortjagte (Mt 25,7-12), weil sie nicht demütig waren. So mußten sie denn zu den weltli-chen Hochzeitsfeiern gehen, wo man auf den Rat des himmlischenBräutigams nicht hört, der ermahnt, daß man demütig sein, d. h. dieDemut üben solle, wenn man zur Hochzeit kommt. Er sagt ja: „Wer zurHochzeit geht oder eingeladen wird, nehme den letzten Platz ein“ (Mt26,7).

Wir ersehen daraus, wie notwendig die Demut zur Bewahrung der Jung-fräulichkeit ist, denn wir werden vom himmlischen Hochzeitsmahl, dasGott den jungfräulichen Seelen in seinen himmlischen Wohnstättenbereitet, ganz sicher ausgeschlossen, wenn wir nicht demütig sind.

Kostbare Flüssigkeiten, vor allem wohlriechende Öle, läßt man nichtoffen stehen, weil sich sonst ihr Duft verflüchtet und die Fliegen sieverderben und wertlos machen (Koh 10,1). Die gerechten Seelen schüt-zen auch ihre guten Werke gleich wohlriechenden Ölen, weil sie umderen Güte und Wert besorgt sind; sie verwahren sie in einem ver-schlossenen Gefäß, aber nicht in irgend einem beliebigen, sondern ineinem Alabastergefäß. Aus einem solchen Gefäß hat die hl. Magdalenaihr Salböl auf Jesu hochheiliges Haupt ausgegossen (Mt 26,7), da er ihrdie verlorene Reinheit wiedergab, – nicht die ursprüngliche, sonderndie wiederhergestellte, durch Buße wiedergewonnene Reinheit, diemanchmal wertvoller ist als die unversehrte, dafür aber oft auch weni-ger demütige Jungfräulichkeit.

In einem Alabastergefäß also müssen auch wir nach dem BeispielUnserer Lieben Frau und des hl. Josef unsere Tugenden und alles, wasdie Menschen an uns schätzen könnten, verwahren und ganz zufriedensein, im Versteck der Selbsterniedrigung Gott gefallen zu dürfen, bis erselbst uns in Sicherheit bringt, das heißt in die ewige Glorie heimholt

Page 300: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

29920. Demut des hl. Josef

und dann unsere Tugenden zu seiner Ehre und Verherrlichung offenbarwerden läßt.

Gab es je eine größere Demut als die des hl. Josef? Ich sehe jetzt vonder Demut Unserer Lieben Frau ganz ab, sagten wir doch schon, daßdie Tugenden der allerseligsten Jungfrau ihre Strahlen auf die Seele deshl. Josef warfen und so eine gewaltige Zunahme aller Tugenden desHeiligen bewirkten.

Das Kleinod, das er bei sich hatte – Unser Herr und Heiland – war zumgroßen Teil sein Eigen. Er aber verhält sich so bescheiden und demütig,als hätte er gar kein Recht darauf, und doch gehörte nächst derallerseligsten Jungfrau das göttliche Kind vor allem ihm; das kann nie-mand bezweifeln, da es ein Glied seiner Familie und das Kind seinerGattin war, die ihm angehörte.

Läßt ein Vogel, etwa eine Taube – dieser Vergleich paßt besser zurReinheit unserer beiden Heiligen – eine Dattel, die sie im Schnabelträgt, über einem Garten fallen, so wird doch niemand behaupten wol-len, daß dieses aus der Dattel aufsprießende Palmbäumlein der Taubegehöre und nicht dem Besitzer des Gartens.

Wenn nun die Himmelstaube, der Heilige Geist, dieses göttliche Sa-menkorn über dem verschlossenen Garten fallen läßt – war doch dieheilige Jungfrau ein „wohlverschlossener Garten“ (Hld 4,12), ringsummit dem Gelübde der Jungfräulichkeit und Reinheit wie mit einer Hek-ke umzäunt, dem glorreichen hl. Josef zu eigen, wie die Gattin demGatten zu eigen ist –, wer könnte da bezweifeln, daß die göttliche Pal-me, die daraus hervorsprießt und Früchte für die Ewigkeit tragen wird,ganz und gar dem hl. Josef gehört? Und dieser große Heilige verliertdarüber seine Ruhe nicht, er ist weder stolz noch eingebildet, er wirdim Gegenteil immer noch demütiger.

Diese zarte Rücksicht und Ehrfurcht für Mutter und Sohn, ein herz-erfreulicher Anblick! Da er ihre Würde noch nicht ganz kannte, hatteer es vorgezogen, seine Gattin zu verlassen. Und als dann der Heilandund Unsere Liebe Frau ihm in allem gehorchten und nichts ohne sei-nen Befehl taten, wie groß war da seine Verwunderung über diese Ehreund wie tief verdemütigte er sich darüber! Das geht über unsere Begrif-fe. Darum nichts mehr zu diesem zweiten Punkt; denn so viel wir überdie Demut dieses glorreichen Heiligen auch sagen könnten, es wärenichts, verglichen mit dem, was noch darüber zu sagen wäre.

Page 301: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

300 20. Ausdauer des hl. Josef

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

Die dritte Eigenschaft oder Eigenart des Palmbaumes ist Tapferkeit,Ausdauer und Kraft, – Eigenschaften, die der hl. Josef in hohem Maßebesaß.

Der Palmbaum ist kräftiger, widerstandsfähiger und ausdauernderals alle Bäume, darum gilt er auch als der König der Bäume. Er beweistseine Kraft und Standhaftigkeit darin, daß er sich um so höher reckt, jeschwerer er beladen ist; darin unterscheidet er sich von den anderenBäumen und eigentlich von allen Dingen, die sich um so mehr zur Erdeneigen, je schwerer ihre Last ist. Die Palme hingegen beugt sich nie, sobeladen sie auch sein mag; es treibt sie immer in die Höhe und so stehtsie aufrecht, und nichts kann sie daran hindern. – Ihre Tapferkeit, wennman so sagen kann, kommt darin zum Ausdruck, daß ihre BlätterSchwertern gleichen; sie scheint ebensoviele Schwerter zu tragen, alssie Blätter hat. Man vergleicht also mit Recht den hl. Josef mit derPalme, denn er war immer standhaft, tapfer und ausdauernd.

Zwischen Standhaftigkeit und Ausdauer ist ein ebensogroßer Unter-schied wie zwischen Kraft und Tapferkeit. – Ein Mensch ist standhaft,wenn er entschlossen und bereit ist, sich gegen die Angriffe des Feindeszu wehren, ohne lange zu zaudern oder mutlos zu werden. – UnterAusdauer und Beharrlichkeit versteht man hingegen das Aushalten inder Verdrossenheit, die sich bei länger andauernden Leiden und Müh-seligkeiten einstellt und eine der größten Plagen ist. Ein Mann ist aus-dauernd und beharrlich, wenn er über diese Verdrossenheit so erhabenist, daß er immer gleichmäßig seinen Willen dem Willen Gottes unter-ordnet, und sich so andauernd überwindet. – Man ist kräftig, wenn manfähig ist, den Angriffen der Feinde mächtigen Widerstand zu leisten, -und tapfer, wenn man sich nicht nur zu Kampf und Widerstand imgegebenen Augenblick bereit hält, sondern auch den Feind angreift,wenn er am wenigsten daran denkt und davon spricht.

Unser glorreicher Heiliger besaß all diese Tugenden und übte sie inhervorragender Weise. Als Unsere Liebe Frau in Erwartung war und ernicht wußte, wie das geschehen sein konnte, bewies er da nicht seineStandhaftigkeit? Mein Gott, was für ein Seelenleid, schier brach ihmdas Herz! Was für eine Flut von Gedanken! Und doch, er hielt aus: Erklagt nicht, er ist weder grob noch unliebenswürdig mit seiner Gemah-

Page 302: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

30120. Ausdauer des hl. Josef

lin, er tut ihr nichts zuleide, er ist genau so lieb mit ihr, behandelt siegenau so ehrfurchtsvoll wie immer.

Und dann, im Kampf mit dem Teufel und mit der Welt, diesen zweischlimmsten Feinden des Menschen, wie tapfer und kraftvoll war er da!Er besiegte sie durch die vollendete Demut, die ihn in seinem ganzenLeben beseelte. Der Teufel haßt die Demut glühend, als ob sie daranschuld wäre, daß er nichts von ihr wissen wollte, – wurde er doch wegenseines Stolzes aus dem Himmel gejagt und in die Hölle verstoßen. Erhaßt sie so glühend, daß er alles mögliche erfindet und vortäuscht, umnur ja den Menschen von der Liebe zur Demut abzubringen, weiß erdoch, daß Gott am demütigen Menschen ein besonders großes Wohlge-fallen hat. Wir dürfen also mit Recht sagen: Wer beharrlich demütigbleibt, ist ein tapferer und starker Mensch, denn er überwindet denTeufel und siegt über die Welt, die voll Ehrgeiz, Hochmut und Eitel-keit ist.

Wie schwer wurde dieser Heilige in der Ausdauer von Gott und vonden Menschen geprüft; in der Ausdauer, die die Verdrossenheit über-windet, diesen inneren Feind, der uns überfällt, wenn Widrigkeit, De-mütigungen, Schicksalsschläge – oder wie man es nennen soll – undsonstige unangenehme Vorkommnisse nicht gleich wieder vorüberge-hen, sondern anhalten.

Welche Prüfungen und welche Ausdauer des Heiligen auf der Fluchtnach Ägypten! Der Engel befiehlt dem hl. Josef, sich eilends aufzuma-chen, die Mutter und das göttliche Kind nach Ägypten zu bringen (Mt2,13 f). Er geht sofort und fragt nicht lange: „Wohin in Ägypten? Wel-chen Weg soll ich einschlagen? Wie werde ich meine Familie ernährenkönnen?“ Er geht ins Ungewisse, mit seinem Werkzeug auf dem Rük-ken, um damit im Schweiße seines Angesichtes Brot für sich und dieSeinigen zu verdienen. O, wie oft mag Verdrossenheit ihn gequält ha-ben, umso mehr, da der Engel ihm nicht gesagt hatte, wie lange er inÄgypten zu bleiben habe! Er konnte sich also weder häuslich nieder-lassen, noch in Gemütsruhe dort bleiben, denn er wußte ja nicht, wannder Engel ihm befehlen würde zurückzukehren. Er mag wohl gedachthaben, daß dies vielleicht noch unterwegs sein könnte, denn die Reisedauerte immerhin so lange, daß der Feind, vor dem er fliehen mußte,inzwischen sterben konnte.

Der hl. Paulus (Hebr 11,8 f) bewundert ungemein den Gehorsam desPatriarchen Abraham. Gott befiehlt Abraham, aus seinem Land fort-

Page 303: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

302 20. Ausdauer des hl. Josef

zuziehen (Gen 12,1). Er sagt ihm nicht, wohin er gehen soll, und Abra-ham fragt nicht: „Herr, Du heißt mich fortziehen, welche Richtung sollich denn einschlagen?“ Er macht sich einfach auf den Weg und geht,wohin der Geist Gottes ihn führt.

O, wie bewunderungswürdig ist doch auch der vollkommene Gehor-sam des hl. Josef! Der Engel sagt nicht, wie lange er in Ägypten zubleiben habe, und Josef fragt nicht. Er bleibt dort fünf Jahre lang, wiedie meisten annehmen, und kümmert sich auch nicht um die Heim-kehr, denn er weiß gewiß, daß der, der ihn fortziehen hieß, auch sagenwerde, wann er heimzukehren habe; und so war er ständig bereit zugehorchen. Ägypten war für den hl. Josef nicht nur ein „fremdes Land“(Hebr 11,9), es war auch ein feindliches, denn die Ägypter hatten esnicht verwinden können, daß die Juden einst aus ihrem Land fortgezo-gen und so viele Ägypter bei ihrer Verfolgung zugrunde gegangen wa-ren. Daß der hl. Josef bei dieser fortwährenden Angst vor den Ägypternnur zu gerne wieder heimgewandert wäre, das könnt ihr euch denken.Die Ungewißheit der Rückkehr mußte auf seinem Gemüt lasten undihm das Herz schwer machen.

Und doch bleibt er immer derselbe, immer gleich sanft, immer gleichgelassen, immer beharrlich dem göttlichen Wohlgefallen zu Willen,immer bereit, sich in allem von Gott führen zu lassen. Er war ja „ge-recht“ (Mt 1,19) und so war sein Wille immer nach dem Willen Gottesgerichtet, immer mit dem Willen Gottes eins, ihm immer gleichför-mig, in allen Lagen, in angenehmen und unangenehmen.

Daß der hl. Josef sich dem Willen Gottes stets vollkommen gefügt,darüber besteht kein Zweifel. Seht nur, wie der Engel mit ihm umgeht:Er befiehlt ihm, nach Ägypten zu gehen, und Josef geht; er befiehlt ihmzurückzukehren, und Josef kehrt zurück. Gott will, daß der hl. Josefimmer arm bleibe – und Armut ist eine der härtesten Prüfungen für unsMenschen –, er aber fügte sich gerne und nicht nur für einige Zeit; erwar sein ganzes Leben hindurch arm.

Und was für eine Armut war das? Eine überall hinausgewiesene, ver-achtete, äußerst entbehrungsreiche. – Die freiwillige Armut, wie dieOrdensleute sie geloben, hat etwas Liebenswürdiges an sich. Sie hin-dert sie nicht zu haben und anzunehmen, was ihnen notwendig ist; sieentzieht und verbietet ihnen nur alles Überflüssige. Die Armut derheiligen Familie war nicht von dieser Art: Das war eine unfreiwilligeArmut, aber auch eine demütigende, nirgends gern gesehene, äußerst

Page 304: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

30320. Josef im Himmel

bittere, aber doch von ihr ungemein geliebte Armut. Jedermann sah imhl. Josef nur den armen Zimmermann (Mt 13,55; Mk 6,3). Obwohl ersich in unsäglicher Liebe abmühte, den Unterhalt für seine kleine Fa-milie zu beschaffen, verdiente er doch nicht so viel, daß nicht notwen-dige Dinge fehlten. Er fügte sich aber in dieser dauernden Armut undErniedrigung demütig dem Willen Gottes und ließ sich von Gefühlender Verdrossenheit, sosehr sie ihm auch zusetzen mochten, weder be-siegen noch zerbrechen. Allzeit war seine Gefügigkeit beharrlich undfreudig wie alle anderen Tugenden, so übte er auch diese immer voll-kommener. Auch Unsere Liebe Frau gewann immer noch mehr Tugen-den und Vollkommenheiten, sie schöpfte sie aus ihrem seligsten Kind,das in keiner Tugend mehr wachsen konnte, da es vom ersten Augen-blick seiner Empfängnis so war, wie es ist und ewig sein wird (Hebr13,8). So wuchs, so eilte die heilige Familie in der Vollkommenheitvoran, Maria schöpfte sie aus der göttlichen Güte, Sankt Josef wurdesie durch die Mittlerschaft Mariens zuteil.

I VI VI VI VI V.....

Was wäre noch zu sagen? Wir dürfen überzeugt sein, daß der glor-reiche hl. Josef droben im Himmel viel vermag bei dem, der ihm die hoheGunst erwies, ihn mit Leib und Seele in den Himmel aufzunehmen,2 wasumso wahrscheinlicher ist, als wir ja keine Reliquien von ihm besitzen.Ich möchte meinen, daß man das nicht bezweifeln kann. Wie auchhätte er, der in seinem Leben so gehorsam war, dem hl. Josef dieseGunst vorenthalten können! Wir können uns vorstellen, daß der hl.Josef den Heiland, als er in die Vorhölle kam, mit diesen Worten ange-redet hat: „Als Du, o Herr, vom Himmel auf die Erde herniederstiegst,da habe ich Dich in mein Haus aufgenommen, in meine Familie. WeißtDu es noch, o Herr? Und da Du geboren warst, habe ich Dich in dieArme genommen. Jetzt nimm Du mich in die Arme, und wie ich fürDich gesorgt und Dich durch das zeitliche Leben geführt, so sorge Dujetzt für mich und führe mich ein in das unsterbliche Leben!“

Wenn kraft der heiligsten Eucharistie unser Leib am jüngsten Tag auferste-hen wird (Joh 6,55) – eine Wahrheit, die wir glauben müssen –, wie könn-ten wir dann bezweifeln, daß der Heiland den hl. Josef, dem die Ehreund Gnade zuteil wurde, den Erlöser so oft auf den Armen zu tragen,mit Leib und Seele zu sich in den Himmel aufgenommen hat? Und wie

Page 305: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

304 20. Josef im Himmel

zärtlich wird er ihn umarmt und geküßt haben, um ihn für alle Arbei-ten und Mühe zu belohnen!

Der hl. Josef ist sicher mit Leib und Seele im Himmel. Wie glücklichwären wir doch, wenn wir uns seine Fürsprache verdienen könnten!Denn weder Unsere Liebe Frau noch der Heiland schlagen ihm etwasab. Er wird uns durch seine Fürbitte zu großem Fortschritt in allenTugenden verhelfen, wenn wir nur Vertrauen zu ihm haben, – vor allemaber in jenen Tugenden, die er in so hohem Grad besaß: in der Li-lienreinheit des Leibes und der Seele, in der so liebenswürdigen Tu-gend der Demut; ferner in der Standhaftigkeit, Kraft und Ausdauer, dieauch uns zum Sieg über unsere Feinde verhelfen, damit wir uns dannim ewigen Leben der Belohnung erfreuen dürfen, die jenen bereitet ist,die in ihrem Erdendasein dem Beispiel des hl. Josef gefolgt sind.

Und diese Belohnung ist keine geringere als die ewige Seligkeit, istdie Wonne der klaren Schau des Vaters, des Sohnes und des HeiligenGeistes.

Page 306: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

305

21. Gespräch

Über die Absicht beim Eintritt ins KlosterÜber die Absicht beim Eintritt ins KlosterÜber die Absicht beim Eintritt ins KlosterÜber die Absicht beim Eintritt ins KlosterÜber die Absicht beim Eintritt ins Kloster11111

Meine lieben Töchter! Unsere gute Mutter legt mir folgende Fragevor: Was für eine Absicht muß man haben, wenn man ins Kloster geht?Das ist wohl die wichtigste, notwendigste und nützlichste Frage, diemir gestellt werden konnte.

1. Meine lieben Töchter! So manche Mädchen gehen ins Kloster, ohneeigentlich zu wissen, warum. Sie kommen da einmal ins Sprechzimmereines Klosters, an ein Gitter, sehen Frauengestalten mit einem Schleierauf dem Kopf, mit einem heiteren Gesicht, liebenswürdig und beschei-den im Wesen und, wie es scheint, sehr glücklich und zufrieden. Undda kommt ihnen der Gedanke: Mein Gott, wie schön muß es da sein,ich möchte es da wohl auch versuchen! Die Welt zeigt uns ohnedieskein freundliches Gesicht, und wir finden auch da draußen das nicht,was wir wollen. – Eine andere wieder sagt: Mein Gott, wie schön die dadrinnen singen! So ein feiner Gesang ist doch etwas Schönes! – Frei-lich, sie hätte schon recht, ins Kloster zu gehen, um ihre schöne Stim-me hören zu lassen. Daheim singt sie an leere Wände hin, niemand hörtihr zu und kümmert sich darum, ob sie schön oder nicht schön singt.Im Chor eines Klosters aber muß sie von allen gehört und beachtetwerden.

Andere wieder gehen ins Kloster, um dort einen tiefen Frieden, geist-liche Freuden und alle möglichen Befriedigungen und inneren Süßigkei-ten zu finden und zu genießen. Sie sagen: Mein Gott, die glücklichenNonnen! Die haben Ruhe vor ihren Eltern, die in einem fort schimpfen.Man kann ihnen nichts recht machen, immer wieder geht es von neueman. Der Heiland verspricht allen, die die Welt verlassen, um ihm zudienen, viele geistliche Freuden, – gehen wir also ins Kloster!

Seht, meine lieben Töchter, keine dieser drei Absichten taugt etwas.Ein Kloster ist ein Haus Gottes, Gott muß „das Haus“ oder „die Stadt“bauen (Ps 127,1) und kein anderer; sonst müßte der Bau, auch wenn erschon fertig wäre, niedergerissen werden. – Ich glaube aber gerne, meinelieben Töchter, daß eure Absichten ganz anderer Art sind und daß ihralle eine reine Gesinnung habt; so wird auch Gottes Segen mit euch sein.

2. Es fallen mir da zwei Vergleiche ein, die mir helfen können, euchverständlich zu machen, worauf eure Absicht gegründet und wie be-

Page 307: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

306 21. Absicht beim Klostereintritt

schaffen sie sein muß. Ich will aber nur einen dieser beiden Vergleicheerläutern.

Gesetzt den Fall: Ein Architekt will ein Haus bauen. Was tut er da?Vor allem zwei Dinge: 1) fragt er sich, für wen das Haus bestimmt ist,ob für einen Privatmann, für einen Prinzen oder für einen König; da-nach muß er sich richten; 2) rechnet er aus, ob er auch das nötige Gelddazu hat. Wollte er den Bau eines Turmes übernehmen und könnte dieKosten nicht bestreiten, so würde man ihn verspotten, weil er etwasangefangen, was er nicht ehrenvoll zu Ende führen kann; 3) muß er sichentschließen, das alte Gebäude niederzureißen, das dort steht, wo er dasneue errichten will.

Meine lieben Töchter! Wir wollen einen großen Bau aufführen, wol-len Gott ein Haus in uns bauen, wollen, daß er in diesem Haus wohneund wir so sein lebendiger Tempel werden. Da müssen wir nun reiflichüberlegen, ob wir dazu auch genügend Mut und Entschlossenheit auf-bringen, uns selbst niederzureißen, uns zu kreuzigen, oder besser vonGott uns niederreißen und kreuzigen zu lassen, damit er uns dann auchneu aufbaue als lebendigen Tempel seiner göttlichen Majestät. Ich sagealso, meine lieben Töchter, unsere einzige Absicht muß sein, uns so mitGott zu vereinigen, wie Christus der Herr sich mit Gott seinem Vatervereinigte, da er am Kreuz starb.

Ich rede jetzt von der allgemeinen Vereinigung durch die Taufe, beider alle Christen sich mit Gott vereinigen, wenn sie den von Gott ein-geprägten Charakter eines Christen empfangen, der sie verpflichtet, dieGebote Gottes und der Kirche zu halten, gute Werke zu tun und diedrei göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zuüben, die ihrer durch die Taufe grundgelegten Gottverbundenheit erstden vollen Wert geben. Sie dürfen dann hoffen, in den Himmel zu kom-men, wo sie sich auf ewig mit der göttlichen Güte, mit Gott vereinigenwerden, weil sie auf Erden die befohlenen Mittel angewandt haben. –Zu mehr sind sie nicht verpflichtet, haben sie doch ihr Ziel, die Gott-vereinigung auf der allgemeinen und breiten Straße der Gebote Gotteserreicht, die sie gewissenhaft erfüllt haben.

Doch für euch, meine lieben Töchter, liegt die Sache anders: Zu denallgemeinen Verpflichtungen als Christen kommen für euch noch be-sondere hinzu. Gott hat euch zu seinen Bräuten erwählt, so müßt ihralso wissen, was notwendigerweise zu einer Ordensfrau gehört und wases heißt, Ordensfrau zu sein.

Page 308: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

30721. Absicht beim Klostereintritt

Ordensfrau, Religiose sein heißt an Gott gebunden sein durch die un-unterbrochene Selbstverleugnung, heißt nur für Gott leben, sodaß Herz,Augen, Zunge, Hände und alles, was unser eigen ist, ohne Ausnahmeund immer im Dienst der göttlichen Majestät stehen. Der Orden gibt unsdazu die geeigneten Mittel: Gebet, Lesung, Stillschweigen, innerlicheEinkehr durch oftmalige Herzenserhebungen zum Herrn. Weil wir aberdazu nur auf dem Weg der ständigen Überwindung unserer Lei-denschaften, Stimmungen, Neigungen und Abneigungen gelangen kön-nen, sind wir gezwungen, uns dauernd zu überwachen, um all dies zumAbsterben zu bringen. Wißt, meine lieben Töchter, „wenn das Weizen-korn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein: wenn es aberstirbt, bringt es hundertfältige Frucht“ (Joh 12,24 f). Dieses hochheiligeWort des Herrn ist ganz klar, er selbst hat es gesprochen. Deshalb sageich euch, die ihr eingekleidet werden möchtet, und euch, meine liebenTöchter, die ihr schon eingekleidet seid und euch nach der Profeß sehnt:Fragt euch öfter, ob ihr entschlossen seid, euch selbst abzusterben. Über-legt es euch wohl, noch habt ihr Zeit genug bis zu dem Tag, da ihr eurenweißen Schleier mit dem schwarzen vertauscht. Denn das erkläre icheuch offen: Wer ein rein natürliches Leben führen will, – ich will euchnichts Schmeichelndes sagen – der soll nur wieder hinaus in die Weltzurückkehren; wer aber entschlossen ist, ein übernatürliches Leben zuführen, der möge hier im Kloster bleiben. Das Ordensleben kann ja nureine Schule der Abtötung und Selbstverleugnung sein, weshalb es unsauch sowohl äußere wie innere Werkzeuge der Abtötung in die Handlegt.

3. Da höre ich euch nun sagen: Ja, mein Gott, das habe ich im Klosternicht gesucht. Ich habe gemeint, eine richtige Klosterfrau müsse nurgerne beten, brauche nur Visionen, Offenbarungen, Ekstasen haben,Engel in Menschengestalt sehen und gerne fromme Bücher lesen. Wie?In der Welt draußen war ich doch so tugendhaft, so abgetötet, so demü-tig, daß alle mich geradezu bewunderten. War denn das nicht Demutund Tugend: Mit den Freundinnen recht lieb über fromme Dinge re-den, Predigten nacherzählen, zu Hause mit allen freundlich umgehen,besonders dann, wenn niemand widersprochen hat?

Gewiß, meine lieben Töchter, das mochte für ein Leben in der Weltganz schön gewesen sein, das Ordensleben aber verlangt Werke, die „desBerufes würdig“ sind (Eph 4,1), das heißt, es verlangt, daß wir uns in

Page 309: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

308 21. Absicht beim Klostereintritt

allen Dingen absterben, sowohl in dem, was unserer Meinung nach gutist, wie auch in allen schlechten und unnützen Dingen.

Meint ihr vielleicht, die Mönche in der Wüste seien zu einer so inni-gen Gottvereinigung gelangt, während sie sich von ihren Neigungenleiten ließen? Sicher nicht; sie haben sich auch in den heiligsten Din-gen abgetötet. Obwohl es ihnen eine so große Freude war, die Psalmenzu singen, taten sie es doch nicht zu ihrer eigenen Befriedigung. Sieversagten sich vielmehr auch diese reinen und erlaubten Freuden, umsich schweren und anstrengenden Arbeiten zu unterziehen.

O nein, meine lieben Töchter, wenn die Regel vorschreibt, sich zurfestgesetzten Stunde Bücher zu holen, so meint sie damit nicht, daß wirum solche bitten, die uns am besten zusagen. Nein, das ist nicht derZweck dieser Vorschrift, ebensowenig wie der anderen.

Eine Schwester fühlt sich, wie sie meint, angezogen zu betrachten,das Offizium zu beten, sich ganz zurückzuziehen; und nun sagt manihr: „Gehen Sie jetzt in die Küche, tun Sie das und das.“ Scheint es euchnicht, daß das für eine so „fromme“ Schwester eine wenig erfreulicheKunde ist?

Meine lieben Töchter, ich komme immer wieder auf das zurück, wasich schon so oft gesagt habe: Wir müssen sterben, damit Gott „in unslebe“ (Gal 2,20). Es ist unmöglich, die Vereinigung unserer Seele mitGott auf einem anderen Weg als auf dem der Abtötung zu erreichen.Die Worte: „Man muß sterben,“ sind bitter; dieser Bitterkeit folgt abereine große Süße auf dem Fuß, denn dieses Sterben vereint uns mit Gott.Ihr wißt doch, daß kein vernünftiger Mensch „neuen Wein in alteSchläuche“ gießt (Mt 9,17). So ist auch der alte Adam kein Gefäß fürden edlen Wein der göttlichen Liebe und muß daher zertrümmert wer-den.

4. Aber wie macht man das? Wie man das macht, meine lieben Töch-ter? Indem man die Satzungen pünktlich beobachtet. Ich kann euchvon Gott aus die Versicherung geben, daß ihr das Ziel, das ihr an-streben sollt, die Vereinigung mit Gott, sicher erreichen werdet, wennihr treu und gewissenhaft tut, was die Satzungen lehren. Achtet wohldarauf, daß ich sage: „wenn ihr tut,“ denn man wird nicht vollkommen,wenn man die Hände in den Schoß legt. Man muß zielbewußt arbeiten,will man sich selbst bezähmen, nach der Vernunft, der Regel und demGehorsam leben, und nicht den Neigungen folgen, die man aus derWelt mitgebracht hat. Der Orden erträgt es, daß ihr eure schlechten

Page 310: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

30921. Absicht beim Klostereintritt

Gewohnheiten, Leidenschaften und Neigungen mitbringt; daß ihr aberdanach lebt, das kann er nicht dulden. Er gibt euch Regeln, die für euerHerz die Kelter sind, um alles herauszupressen, was Gott zuwider ist.Lebt also tapfer nach der Ordensregel, dann werdet ihr glücklich sein.

Da sagt mir nun eine: „Mein Gott, wie soll ich das nur machen, ichhabe nicht den Geist der Regel bekommen.“ Gewiß, meine liebe Toch-ter, das glaube ich Ihnen gern, ich werde Ihnen dazu etwas erzählen:Als ich in Paris war – wo alles zu haben ist, wie nirgends sonst auf derWelt – und vor allem, als ich bei Hof war, habe ich bemerkt, daß manparfümierte Handschuhe, Federbüsche, Ledertäschchen und sonst nochviele hübsche Sachen kaufen konnte, es wurde aber weder der Geisteurer noch einer anderen Regel irgendwo feilgeboten. Damit will ichsagen, meine liebe Tochter, der Geist der Regel ist nur durch gewissen-hafte Beobachtung der Regel zu erwerben. Das gleiche gilt von derDemut und von der Sanftmut, den beiden Grundpfeilern unserer Kon-gregation. Wenn wir uns tapfer und ernsthaft um diese beiden Tugen-den bemühen, dann gibt Gott sie unfehlbar. Glücklich wir, wenn wireine Viertelstunde vor dem Sterben mit diesem zweiteiligen Gewandangetan sind! Wir haben unser Leben gut genützt, wenn wir bald daseine, bald das andere Stück annähen. Denn dieses Kleid besteht nichtaus einem, sondern aus mehreren Stücken, das heißt aus vielen Aktender beiden genannten Tugenden.

5. Meine Mutter, Sie sagen, daß unsere Schwestern wohl guten Willenhaben, aber nicht die Kraft, was sie wollen, auch zu tun; und weil sie ihreLeidenschaften so stark spüren, getrauen sie sich gar nicht anzufangen.– O, nur Mut, meine lieben Töchter! Ich habe euch schon oft gesagt:Das Ordensleben ist eine Schule, in der man seine Aufgaben lernenmuß. Der Lehrer verlangt nicht jedesmal, daß die Schüler ihre Lektiontadellos können, er begnügt sich damit, daß sie sich nach Kräften zulernen bemühen. Machen wir also auch unsere Sache, so gut wir kön-nen, dann wird Gott mit uns zufrieden sein, und auch die Vorgesetzten.

Habt ihr schon einmal einem zugeschaut, der Fechten lernt? Ihr wer-det gesehen haben, daß er oft hinfällt; ebenso fliegt, wer reiten lernt, oftaus dem Sattel. Und doch hält sich weder der eine noch der andere fürüberwunden und besiegt. Denn das eine oder andere Mal umgestoßenund abgeworfen werden, ist noch nicht gleichbedeutend mit besiegtsein. Eure Leidenschaften bieten euch ab und zu die Stirne und dameint ihr: Ich passe nicht ins Kloster, weil ich so leidenschaftlich bin.

Page 311: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

310 21. Absicht beim Klostereintritt

– Nein, meine liebe Tochter, das ist verkehrt. Der Orden feiert keineTriumphe, wenn er sanfte Gemüter und stille Seelen zu erziehen be-kommt; aber temperamentvolle Seelen den Tugendweg zu führen, dasist eine Aufgabe, die ihn freut. Wenn solche Seelen nämlich treu blei-ben, dann überflügeln sie die anderen, nachdem sie in heißen Kämpfeneroberten, was jene mühelos besitzen.

Man verlangt von euch nicht, daß ihr frei von Leidenschaften seid; dasliegt nicht in eurer Macht. Gott will sogar, daß ihr sie bis zum Todspüren sollt. Er will auch nicht, daß ihr sie nur schwach fühlt; das hießeja, daß ein Mensch mit schlechten Gewohnheiten nicht für den DienstGottes tauge. Die Welt, die das denkt, täuscht sich, denn Gott verwirftnie etwas, wo sich keine Bosheit vorfindet. Ich bitte euch, was kanndenn ein Mensch dafür, daß er gerade dieses oder jenes Temperament,diese oder jene Leidenschaft hat? Den Ausschlag geben die Akte, diewir unter dem Druck der Leidenschaften setzen, denn die Akte hängenvon unserem Wollen ab. Ohne unsere Einwilligung kann von einerSünde – die ja freiwillig sein muß – keine Rede sein. Nehmen wir an, esüberfällt mich der Zorn, so sage ich ihm: Fort, pack dich, kannst mei-netwegen platzen, ich tu doch nicht, was du willst, nicht ein erregtesWort soll mir entschlüpfen! – Diese Macht hat Gott uns gelassen, sonsthätte er uns ja zu Unmöglichem verpflichtet, wenn er die Vollkommen-heit verlangt; und das wäre eine Ungerechtigkeit, die es bei Gott nichtgeben kann.

Bei dieser Gelegenheit fällt mir etwas aus dem Alten Testament ein,was gerade hierher paßt (Ex 32,26-28). Als Mose vom Berg, auf demGott mit ihm geredet hatte, herabgestiegen war, sah er, daß die Israeli-ten ein goldenes Kalb anbeteten, das sie sich inzwischen gemacht hat-ten. Da erfaßte ihn heftiger Zorn und Eifer für die Ehre Gottes, und zuAaron und den Söhnen der Leviten gewendet rief er: „Wer für den Herrnist,“ der nehme sein Schwert und töte, was ihm entgegenkommt, derschone nicht Vater noch Mutter, nicht Bruder noch Schwester! Es er-griffen also die Söhne der Leviten das Schwert, und wer die meistentötete, war der Tapferste.

Auch ihr, meine lieben Töchter, sollt das Schwert der Abtötung indie Hand nehmen und eure schlechten Leidenschaften töten und aus-rotten, und wer von euch die meisten zu töten hat, ist die Tapferste,wenn sie nur mit der Gnade mitwirken will. Diese beiden jungen Mäd-chen,2 die ich da vor mir sehe, von denen das eine 15, das andere 16

Page 312: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

31121. Absicht beim Klostereintritt

Jahre alt ist, haben noch wenig Leidenschaften zu töten; ihr Geist isteben erst erwacht. Die großen Seelen aber, die schon so manche Erfah-rung gemacht und von den Wonnen des Paradieses schon einen Vorge-schmack verkostet haben, die müssen ihre Leidenschaften gründlichabtöten und besiegen.

6. Jene Schwestern, die, wie unsere gute Mutter sagt, aus lauter Eiferfür ihre Vervollkommnung alle anderen in der Tugend überflügeln wol-len, können schon, wenn sie es so haben wollen, mit diesen ungestümenWünschen ein wenig ihre Eigenliebe befriedigen, – entschieden besserhandeln sie aber, wenn sie sich eng an die Gemeinde halten, indem siedie Regeln gut beobachten, denn das ist der gerade Weg zu Gott.

Wir draußen in der Welt haben es nicht so gut wie ihr, meine liebenTöchter. Fragen wir nach dem Weg, dann sagt der eine: Da, links! derandere: Da, rechts! Und meistens sagt man uns das Falsche. Ihr aberbraucht nichts zu tun, als euch tragen zu lassen. Ihr gleicht Reisendenauf dem Meer. Das Schiff trägt sie, sie ruhen aus und kommen dochvorwärts. Nicht einmal um den rechten Weg brauchen sie sich zu küm-mern. Das ist Sache des Steuermanns, der immer den Polarstern vorsich sieht und so weiß, daß er die rechte Richtung hat, weshalb er denFahrgästen zurufen kann: „Nur Mut! Ihr seid auf dem rechten Weg.“

Folgt furchtlos diesem Polarstern, meine lieben Töchter, es ist derHerr; eure Regeln sind das Schiff und Steuermann sind die Vorge-setzten, die euch oft genug zurufen: „Haltet euch gewissenhaft an dieRegeln und Satzungen, dann kommt ihr glücklich ans Ziel, zu Gott; sieführen euch sicher dorthin.“ Wohlgemerkt, ich sage „gewissenhaft undtreu“, denn: „Wer seinen Weg vernachlässigt, wird sterben,“ sagt Salomo(Spr 19,16).

7. Meine lieben Töchter, wenn ihr befolgt, was man euch lehrt, dannwerdet ihr glücklich und zufrieden sein und schon in diesem Leben einenkleinen Vorgeschmack der Freuden des Paradieses genießen. Und ge-währt euch der Herr eine solche innerliche Freude oder Süßigkeit,dann habet acht, daß ihr euch nicht daran hängt. Der göttliche Arztversüßt die bittere Arznei der Abtötung, die ihr zu eurer Gesundungschlucken müßt, mit etwas Aniszucker; wenn aber der Arzt auch miteigener Hand überzuckerte Pillen reicht, die Schmerzen der Reini-gung kann er dem Patienten nicht ersparen.

Page 313: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

312 21. Absicht beim Klostereintritt

Nun dürfte euch gewiß ganz klar sein, welcher Art eure Absicht seinmuß, wenn ihr des Heilands würdige Bräute sein wollt und wenn ihrfähig werden wollt, euch mit ihm am Kalvarienberg zu vermählen.

So bringt denn euer Leben und alle eure Handlungen mit dieser Ab-sicht in Einklang und Gott wird euch segnen. Unsere ganze Glückse-ligkeit hängt von der Ausdauer ab. Darum ermahne ich euch, meinegeliebten Töchter, recht von Herzen: Haltet aus! Möge euch die göttli-che Güte in diesem Leben mit ihren Gnaden und ihrer Liebe über-schütten und die sichere Hoffnung auf die Teilnahme an seiner Herr-lichkeit im Jenseits geben. Amen.

8. Meine Mutter, Sie fragen, ob man um Erlaubnis bitten solle, öfterzu kommunizieren3 als die Gemeinde und mehr Abtötungen zu üben, alsin der Gemeinde üblich ist. Ich habe die Frage schon früher einmalbeantwortet. Wenn ich eine Ordensperson wäre, so würde ich, glaubeich, um gar nichts Besonderes bitten: Weder um Bußhemd noch umBußgürtel noch um die Geißel noch um außerordentliches Fasten nochum die heilige Kommunion. Ich würde mich damit begnügen, es inallem mit der Gemeinde zu halten. Wäre ich kräftig, so würde ich nichtvier Mahlzeiten nehmen; würde es aber von mir verlangt, so würde ichmich ohne Widerrede fügen. Wäre ich schwächlich und man gäbe mirtrotzdem nur eine Mahlzeit am Tag, so würde ich mich mit dieser be-gnügen und nicht weiter darüber nachdenken, ob ich zu den Kräftigenoder Schwachen gehöre. – Ich will nur wenig, und was ich will, das willich nur für Gott. Ich habe wenig Wünsche; würde ich aber wieder auf dieWelt kommen, dann hätte ich oder vielmehr möchte ich gar keine Wün-sche mehr haben.

Käme Gott zu mir, um mich mit dem Gefühl seiner Gegenwart zubeglücken, dann würde ich ihm entgegeneilen, ihn zu empfangen undseine Liebe zu erwidern. Besuchte er mich aber nicht, dann bliebe ich,wo ich bin, und ginge nicht zu ihm. Damit will ich sagen: Ich würdenicht auf das Gefühl der Gegenwart Gottes ausgehen, ich würde michmit dem einfachen Wissen aus dem Glauben begnügen.

Gott sei gebenedeit!

Page 314: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

313

22. Gespräch

Die fünf Stufen der DemutDie fünf Stufen der DemutDie fünf Stufen der DemutDie fünf Stufen der DemutDie fünf Stufen der Demut11111

1. Die erste Stufe der Demut ist die Selbsterkenntnis. Wir kennen unsselbst, wenn wir uns bewußt werden, daß wir nichts als Armseligkeit,Erbärmlichkeit und Niedrigkeit sind. Dazu verhilft uns die Stimme desGewissens und das Licht, mit dem Gott unseren Verstand erleuchtet.

Das ist eine ganz gewöhnliche Demut; sie hat wenig Wert, solange siebei dieser Kenntnis stehen bleibt. Denn es gibt doch wenige Menschen,die so blind sind, daß sie, selbst bei ganz geringem Nachdenken, ihreNiedrigkeit nicht klar sehen. Wenngleich sie nun aber gezwungen sind,sich so zu sehen, wie sie sind, so wären sie doch außer sich, wenn anderesie für das hielten, was sie sind.

2. Weil also dieser erste Grad der Demut, diese Selbsterkenntnis,wenig Wert hat, deshalb müssen wir zur zweiten Stufe emporsteigen:zur Anerkennung unseres Nichts. Etwas erkennen und etwas anerken-nen ist nämlich nicht das gleiche.

Die Anerkennung unserer Nichtigkeit besteht also darin, daß wir, woes notwendig ist, das aussprechen und zugestehen, was wir von unswissen. Selbstverständlich dürfen wir so nur sprechen, wenn wir wirk-lich von unserer Nichtigkeit durchdrungen sind. – Es gibt so viele Men-schen, die nur in ihren Worten demütig sind. Sagen Sie doch der eitel-sten Frau oder dem eingebildetsten Mann: „Sind Sie aber ein guterMensch! Welche Verdienste haben Sie sich da erworben! So etwas Voll-endetes macht Ihnen nicht leicht jemand nach!“ – Dann bekommen Siebestimmt die Antwort: „Mein Gott! Aber ich bin wirklich nichts wert,ich bin nur Elend und Unvollkommenheit.“ – Und doch fühlen sie sichaußerordentlich geschmeichelt, daß man sie lobt, und noch mehr, wennman das wirklich zu glauben scheint, was man ihnen gesagt hat.

Solche Worte der Demut kommen nicht aus dem Grund des Her-zens, sie liegen nur auf der Zunge. Nehmt ihr solche Leute beim Wort,dann werden sie sich schwer beleidigt fühlen und sofortige Ehrenret-tung verlangen. – Gott bewahre uns vor solcher Demut!

3. Die dritte Stufe der Demut besteht darin, daß man seine Arm-seligkeit und Niedrigkeit dann zugesteht und bekennt, wenn andere siean uns entdecken. Oft genug gestehen wir, daß wir böse und elend sind,möchten aber um keinen Preis haben, daß ein anderer das von uns

Page 315: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

314 22. Stufen der Demut

behauptet. Und tut er es, dann sind wir nicht nur darüber unzufrieden,sondern wir fühlen uns verletzt, – das sicherste Zeichen, daß es mitunserer Demut nicht weit her ist.

Wir müssen also dann freimütig sagen: „Sie haben recht, Sie kennenmich sehr gut.“ Dieser Grad der Demut steht schon weit höher.

4. Die vierte Stufe der Demut ist Liebe zur Geringschätzung und Freu-de an Herabsetzung und Erniedrigung. Was hat es denn auch für einenSinn, andere täuschen zu wollen; das ist gegen alle Vernunft. Nachdemwir einmal offen zugegeben, daß wir nichts sind, sollen wir froh sein,wenn andere das glauben und aussprechen und uns so behandeln, wiewir sind, wie erbärmliche und armselige Menschen.

5. Die fünfte Stufe der Demut, die höchste und vollkommenste, be-steht darin, daß man die Geringschätzung nicht nur liebt, sondern da-nach verlangt, sie anstrebt und aus Liebe zu Gott daran Freude hat.Glücklich, wer diesen Grad erreicht, aber nur sehr wenige kommen soweit.

Unser Herr und Heiland möge diese kleine Schar vergrößern durchdie 25 und 30 Töchter unserer Kongregation, die ihm geweiht seien!Amen.

Page 316: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

315

23. Gespräch

Letzte Unterredung unseres seligen VLetzte Unterredung unseres seligen VLetzte Unterredung unseres seligen VLetzte Unterredung unseres seligen VLetzte Unterredung unseres seligen Vaters über verschiedeneaters über verschiedeneaters über verschiedeneaters über verschiedeneaters über verschiedeneFFFFFragen der Schwestern von Lragen der Schwestern von Lragen der Schwestern von Lragen der Schwestern von Lragen der Schwestern von Lyon, zwei Tyon, zwei Tyon, zwei Tyon, zwei Tyon, zwei Tage vor seinemage vor seinemage vor seinemage vor seinemage vor seinem

seligen Tseligen Tseligen Tseligen Tseligen Tod am Fod am Fod am Fod am Fod am Fest des heil igen Stephanus 1622est des heil igen Stephanus 1622est des heil igen Stephanus 1622est des heil igen Stephanus 1622est des heil igen Stephanus 162211111

Als er eintrat, sagte er:„Guten Abend, meine lieben Töchter, ich komme, um noch ein biß-

chen mit euch zu plaudern, und dann muß ich Abschied nehmen; derHof und die Welt entziehen mich euch.

Ja, meine lieben Töchter, ich muß wieder fort. Ich habe in dieser Zeitviel Freude mit euch gehabt, sie ist nun zu Ende. Was haben wir unsnoch zu sagen? Wohl nichts mehr. Freilich, Frauen wissen immer nochetwas. Mit Gott ist leichter reden als mit den Menschen.“

Darauf unsere Mutter: „Hochwürdigster Vater, wir möchten mit Ih-nen reden, damit wir mit Gott reden lernen.“

Er antwortet: „Die Eigenliebe bedient sich dieses Vorwandes. Wirwollen aber keine langen Einleitungen machen. Bitte setzen Sie sich,denn unsere Schwestern stehen immer noch.“

I .I .I .I .I .

Eine Schwester fragt: „Ist es nicht besser, auf die Tugenden Gottes zuschauen statt auf die der Vorgesetzten und Mitschwestern?“

Er antwortet: „Nein, es ist nicht gegen die Einfachheit, auf die Tu-genden der Vorgesetzten und Mitschwestern zu schauen; es ist sogarsehr gut. Jedoch auf ihre Tugenden schauen, um mit der Lupe zu unter-suchen, wer am tugendhaftesten ist, um dann zu kritisieren, zu nörgelnund darüber zu tuscheln, das wäre schlimm.

Auf die Tugenden der Vorgesetzten und Mitschwestern schauen, umsie nachzuahmen, um uns zu erbauen, das ist etwas ganz anderes. Wennihr mit Liebe auf die Tugenden der Vorgesetzten und Mitschwesternschaut, um von ihnen zu lernen, so handelt ihr recht.

Gottes Vollkommenheiten sind so über alles erhaben, daß er unsererSchwachheit entgegen kam und Mensch werden wollte, um uns zu zei-gen, wie wir es machen müssen, um ihm ähnlich zu werden.

Wir tun also gut, auf die Heiligen und ihr Beispiel zu schauen undvor allem auf den König aller Heiligen, unseren Herrn und Heiland,

Page 317: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

316 23. Wünsche

um ihm nachzufolgen. Der hl. Antonius hat in seinem ganzen Noviziats-jahr nichts anderes getan, als seinen Mitbrüdern die Tugenden abge-schaut und so einer emsigen Biene gleich von jeder Blume den Blüten-staub geholt, den er für sich brauchte. – Die Liebe zu Gott ist von derLiebe zum Nächsten nicht zu trennen; das Beste ist aber immer, auf dieTugenden des Heilands zu schauen.“

Eine Schwester sagt: „Hochwürdigster Vater, manche Schwestern ver-schauen sich derart in die Tugenden der Vorgesetzten, daß sie diese ineinem fort loben und laut bewundern.“

Er fragt: „Wie? Tut man das hier?“Die Schwester antwortete: „Ja, Hochwürdigster Vater, drei oder vier

Schwestern tun das ständig.“Er antwortet: „Das dürfen Sie nicht dulden, meine liebe Tochter! Mer-

ken die Untergebenen, daß die Oberin etwas eitel ist, daß sie Freudedaran hat, wenn man ihr schmeichelt, und zeigt, daß man sie liebt, danntun ihr die Schwestern recht schön, um lieb Kind bei ihr zu sein. Wolltesie aber zu diesem Geschmeichel ein verärgertes und abweisendes Ge-sicht machen, dann wären die Schwestern nicht so freigebig damit.“

Die Schwester fragt: „Wie sollen wir uns verhalten, HochwürdigsterVater, wenn man uns lobt?“

Er antwortet: „Geht zum lieben Gott und laßt die anderen stehen.Wenn aber die Oberin eine Untergebene lobt, weil sie etwas gut ge-macht hat, dann darf sie die Oberin natürlich nicht stehen lassen. Es istmanchmal am Platz, ein Lob auszusprechen. Die Oberinnen selbst abersollen nicht zugeben, daß man sie lobe. Wundern braucht man sichüber diese Dinge ja nicht, denn wo viele Frauen sind, da wird auch vielgeschmeichelt und schöngetan.“

I I .I I .I I .I I .I I .

Eine Schwester fragt: „Sich ein Amt wünschen oder unglücklich sein,wenn man keines bekommt, – ist das nicht eine große Schwäche?“

Er antwortet: „Beides ist vom Übel, das Wünschen und das Unglück-lichsein. Es ist eine Schwäche, seine Gedanken an derartige Dinge zuverschwenden, besonders dann, wenn es sich um ein ehrenvolles Amthandelt. Ja, uns hervortun zu können, in einem Amt, das uns über die

Page 318: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

31723. Wünsche

anderen stellt, das täte uns so wohl! Zum Beispiel Oberin oder Assi-stentin sein, sein Licht leuchten lassen, – versteht man sich doch so gutaufs Schalten und Walten!“

Eine Schwester macht den Einwand: „Wenn ich Oberin wäre, dannhätte ich so viel Gelegenheit zur Tugend, zur Liebe und Demut.“

Er antwortet: „Ja, meine liebe Schwester, die Eigenliebe hat es gar zugern, daß man sieht, wie tüchtig wir sind! Wie ist diese Schwester dochso sanftmütig, seit sie ein höheres Amt hat und niemand ihr wider-spricht; ihre Tugendhaftigkeit fällt geradezu auf!

Kein Zweifel, mit solchen Gedanken wird die Eigenliebe großgezo-gen. Der Wunsch nach Ämtern ist etwas ganz Gewöhnliches. Solangesich unser Wille nicht daran beteiligt, ist es nicht schlimm und manlacht am besten darüber. Wer sich Ehrenstellen wünscht und ersehnt,darf sie nicht im Kloster suchen. Die Weltmenschen und die Leute beiHof sind stets auf der Jagd nach Würden und hohen Stellen, der Hof istja auch dafür da. Im Kloster aber solch ehrgeizige Wünsche zu haben,ist ein Zeichen, daß man weder losgeschält noch abgetötet ist.

Es gibt auch Seelen, die sich schon vor dem bloßen Wunsch nachÄmtern derartig fürchten, daß sie in ständiger Angst und Aufregungsind; denn während sie sich in der Angst herumquälen, ist ihr Herzallem zugänglich und der Teufel kann mit der Versuchung hinein. Siegleichen Menschen, die sich vor Dieben fürchten und vor ihnen davon-laufen; sie lassen dabei die Haustür offen, und so kommen die Diebeerst recht und können tun, was sie wollen.

Regen wir uns nicht auf, wenn Wünsche in uns wach werden; unsereNatur wird sie hervorbringen, solange wir leben. Fürchten wir uns auchnicht davor, daß sie in uns aufsteigen könnten; wenn nur unser höhererWille sich entschieden an Gott hält; das ist das Wichtigste. Seien wirmit unserem Herzen bei Gott und vereinigen wir uns mit ihm, statt unsmit unnützen Sorgen aufzureiben. Denn wir sollen nichts verlangen undnichts abschlagen, sondern uns der göttlichen Vorsehung überlassen.Wir sollen uns mit keinem Wunsch befassen, sondern nur damit, wasGott aus uns machen will.

Der hl. Paulus überließ sich vom ersten Augenblick seiner Bekeh-rung an vollständig dem Willen Gottes. Der Herr hatte ihm das Augen-licht genommen und sogleich fragte Paulus: ‚Herr, was willst Du, daßich tun soll?‘ (Apg 9,6), und alles war ihm recht, was Gott über ihnverfügen würde. – Davon hängt auch unsere ganze Vollkommenheit ab.

Page 319: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

318 23. Wünsche

Ihr sollt euch also ehrenvolle Ämter nicht wünschen, ist doch dieserWunsch ein großes Hindernis für die Vereinigung der Seele mit Gott,dem Niedrigkeit und Demut wohlgefällt.“

Eine Schwester fragt: „Meinen Hochwürdigster Vater nur die ehren-vollen Ämter oder alle Ämter überhaupt?“

Er antwortet: „Der hl. Paulus untersagt es, sich hohe Ämter und her-vorragende Stellen zu wünschen. Sich niedere zu wünschen, mag nochangehen, doch ist auch dieser Wunsch verdächtig. Der hl. Paulus warntseinen Schüler Timotheus unter anderem auch davor, eitle Wünscheim Herzen zu nähren (2 Tim 2,22). Er kannte diesen Fehler nur zugenau und wußte, wie er unseren Fortschritt hemmt.“

Eine Schwester fragt: „Dürfte man sich ein niederes Amt wünschen?Da es doch beschwerlich ist, könnte man mehr für Gott tun und mehrVerdienst sammeln, als wenn man in seiner Zelle bleibt?“

Er antwortet: „Gewiß, meine Tochter. Schon David sagt, daß er ‚lie-ber der Geringste im Haus Gottes‘ als groß ‚unter Sündern‘ ist (Ps 84,11).Und im 119. Psalm sagt er: ‚Es ist mir heilsam, daß ich gedemütigtward, damit ich Deine Satzungen lernte‘ (119,71). Und doch ist dieserWunsch verdächtig, weil er rein menschlichen Erwägungen entsprin-gen kann. Wie wollt ihr wissen, ob ihr dann bei diesem niederen unddemütigenden Amt auch die Kraft habt, alle damit verbundenenErniedrigungen und Demütigungen gern anzunehmen? Sie könnteneuch doch sehr bitter werden, sehr zum Ekel. Und selbst wenn ihr euchder Abtötung und Verdemütigung augenblicklich gewachsen fühlt, wiekönnt ihr wissen, ob ihr immer die Kraft dazu haben werdet?

Der Wunsch nach ehrenden wie nach demütigenden Ämtern ist alsVersuchung anzusehen. Immer besser, nichts begehren und dafür be-reit sein zu gehorchen. Besser im Gehorsam in seiner Zelle eine kleineHandarbeit machen, lesen oder sonst irgendwie sich beschäftigen; sindwir mit ganzer Liebe dabei, dann haben wir mehr Verdienst als z. B. dieKüchenschwester, die sich die Augen verbrennt, ihre Arbeit aber viel-leicht nur mit halber Liebe tut. Nicht an der Menge unserer Arbeit hatGott Freude, sondern an der Liebe, mit der wir arbeiten.

Man soll überhaupt nicht darüber nachdenken, bei welcher Arbeitmehr Verdienst ist. Wir besonders sollen nicht darauf achten. Es gefälltmir nicht, wenn man immer auf das Verdienst schaut; die Töchter derHeimsuchung sollen vielmehr alles nur zur größeren Ehre Gottes tun.Könnten wir Gott dienen, ohne ein Verdienst zu haben, – was ja nicht

Page 320: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

31923. Wünsche

möglich ist, – dann sollten wir ihm ohne Verdienst dienen wollen. Wäh-len wir nämlich das Verdienstvollere, dann besteht die Gefahr, daß wir,– um einen weidmännischen Ausdruck zu gebrauchen – unseren Ver-stand auf eine falsche Fährte bringen.“

Die Schwester erwidert: „Ich habe das nicht so gemeint, daß manschaut, wo mehr Verdienst ist; ich wollte nur sagen: Es sieht so aus, alskönne man bei beschwerlichen Arbeiten mehr für Gott tun, als wennman in seiner Zelle ist.“

Er antwortet: „Wie ich schon vorhin sagte, nicht die Größe der Arbeitist es, die Gottes Wohlgefallen erregt, sondern die Liebe, mit der wir sieausführen. Eine Schwester, die in ihrer Zelle nur eine kleine Arbeit mitgroßer Liebe ausführt, hat mehr Verdienst als eine andere, die sichschwer abmühen muß, es aber mit weniger Liebe tut. Die Liebe ist es,die unserem Tun Vollkommenheit und Wert verleiht.

Ich gehe noch einen Schritt weiter: Ein Mensch erduldet mit einerUnze Liebe den Martertod für Gott. Gewiß, ein großes Verdienst, dennniemand kann mehr geben als sein Leben. Ein anderer Mensch erträgteinen Nasenstüber mit zwei Unzen Liebe. Er hat viel mehr Verdienst,denn die Liebe gibt den Dingen ihren Wert.

Ihr wißt, daß das beschauliche Leben wertvoller ist als das tätigeLeben. Ist aber im tätigen Leben eine innigere Vereinigung mit Gottvorhanden, dann ist es kostbarer als das beschauliche. Eine Küchen-schwester steht bei den Kochtöpfen am offenen Feuer; sie liebt Gottinniger und tiefer als eine andere, die sich der Beschauung hingibt. Dasmaterielle Feuer schadet nicht ihrer Liebe, ja es hilft ihr im Gegenteil,Gott noch wohlgefälliger zu sein. Es ist gar nicht so selten, daß man beieiner Arbeit mit Gott ebenso vereint ist wie in der Einsamkeit. Ichkann nur immer wieder das eine sagen: Wo mehr Liebe, da mehr Voll-kommenheit.

Nichts verlangen, nichts abschlagen – das ist das beste. Die Quellenaller Wünsche ist doch nur die Natur. Unter dem Vorwand, für Gottviel leisten zu können, beunruhigen sie nur unser Gemüt und befrie-digen die Eigenliebe. – Allerdings, wenn es euch ganz angenehm ist, ineurer Zelle zu bleiben und zu nähen, weil ihr euch aus Mangel an Ener-gie nicht plagen wollt, so verfolgt dieser Wunsch gewiß keinen hohenZweck. Man soll sich nicht nach seiner Zelle sehnen, wenn man nichtdrinnen sein kann, man soll vielmehr das, was man zu tun hat, für Gotttun und alle Wünsche kurz abschneiden. Mein Gott, wann werden end-

Page 321: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

320 23. Wünsche

lich unsere Schwestern nicht mehr so viele Wünsche haben, wann wer-den sie sich nur noch damit befassen, zu tun, was Gott will, und nichtszu wollen, außer was Gott will, dessen Wille uns durch die Regeln undVorgesetzten kundgetan wird.“

Eine Schwester fragt: „Wenn man es nicht fertigbringt, ein Amt ruhi-gen Gemütes auszuüben, weil es einem so zuwider ist, soll man mit derOberin darüber reden oder es einfach annehmen?“

Er antwortet: „O nein, meine Tochter, ihr sollt nichts davon sagen,das wäre gegen die Einfachheit. Ich sage nicht, daß man unter keinenUmständen darüber sprechen soll, aber vollkommener ist es, zu schwei-gen und sich an die Arbeit zu machen. Denn es besteht die Gefahr, daßuns die Eigenliebe nur aus Angst vor dem Versagen zum Reden bringt,damit man schon darauf vorbereitet sei und wir unsere Entschuldigunghaben, wenn wir unsere Aufgabe vielleicht nicht gut erfüllen. Das isteine gefährliche und verdächtige Sache. Man schiebt die Demut alsVorwand vor, in Wirklichkeit ist aber keine Spur von ihr zu finden;man handelt vielmehr gegen alle Demut. Ich würde jedes Amt, ob eh-rend oder verdemütigend, demütig annehmen und antreten, ohne auchnur ein Wort zu sagen, und würde nur dann darüber reden, wenn ichbefragt würde. In diesem Fall würde ich offen sagen, wie mir zumuteist, und weiter nichts.“

Eine Schwester fragt: „Aber soll man bei der Rechenschaft der Obe-rin nicht auch die Gefühle unterbreiten?“2

Er antwortet: „Nun, die Rechenschaft ist etwas anderes. Gewiß solltihr eure Gefühle ganz einfach sagen. Was aber all die Kleinigkeitenbetrifft, die uns durch den Kopf gehen, so halte ich es für besser, daßdies zwischen Gott und euch bleibt; es ist nicht der Mühe wert, daßman sich dabei aufhält. Werden wir aber ein Gefühl nicht los und ver-leitet es zu einem Fehler, dann soll man es der Oberin unterbreiten. –Wollte sich in einem Kloster ein jeder die Ämter nach seinem Ge-schmack wählen, dann könnte eben jeder tun, was er will. Was liegtdaran, wenn unser Amt mühevoll ist, die Vorgesetzten haben es unsübertragen und sie sind Gottes Stellvertreter. David sagt: ‚Wie ein Last-tier ward ich vor Dir‘ (Ps 73,22) und trug deine Gebote. Er zeigt uns da,wie wir uns immer und in allem fügen sollen, was uns von Gott und denVorgesetzten befohlen wird.“

Eine Schwester fragt: „Hemmen uns die Wünsche stark im Fortschritt,auch wenn sie unfreiwillig sind?“

Page 322: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

32123. Wünsche

Er antwortet: „O nein, meine liebe Tochter, unsere Natur wird im-mer wieder Wünsche hervorbringen. Unfreiwillige Wünsche, Gedankenund Regungen schaden aber unserem Fortschritt nicht. Wir sehen dassehr gut beim hl. Paulus, den ‚ein Stachel im Fleisch quälte‘ und zwarso heftig, daß er den Herrn dreimal bat, davon befreit zu werden. Dahörte er ihn sagen: ‚Es genügt dir meine Gnade,‘ Paulus, ‚denn die Kraftkommt in der Schwachheit zur Vollendung‘ (2 Kor 12,7 f), woraufdann St. Paulus in Leid und Versuchung Ruhe und Frieden bewahrte.Was kann es uns machen, Leidvolles zu verspüren, wenn wir nur unserePflicht tun! Lassen wir ruhig die Hunde den Mond anbellen, sie könnenuns nichts antun, wenn wir nicht wollen.

Der Herr wollte uns auch darin Vorbild sein, als er am Ölberg zuließ,daß Regungen in ihm aufstiegen, die mit seinem höheren Seelenlebenim Widerstreit standen. Obwohl er ganz eines Willens mit seinemhimmlischen Vater war, so fühlte er sie dennoch. Zwischen dem Hei-land und uns besteht aber ein Unterschied: er wollte all diese Empfin-dungen ganz freiwillig, rein aus Liebe zu uns fühlen; da er zugleichGott war, hätte er sich davon freimachen können. Wir aber fühlen sie,ob wir wollen oder nicht, und auch dann, wenn der Wille das Gefühlnicht gutheißt.“

Eine Schwester fragt: „Wäre es nicht besser, sich einfach abzulenken,statt mit dem Verstand zu streiten und sich darauf zu versteifen, derVersuchung Herr werden zu wollen?“

Er antwortet: „Selbstverständlich ist es besser, mit dem Heiland zureden und auf diese Weise auf andere Gedanken zu kommen, statt mitdem Teufel zu streiten und sich darin zu verbohren. Einfachheit istimmer und in allem vorzuziehen. Wenn z. B. in mir der Wunsch auf-stiege, Papst zu werden, und dieser Gedanke mir nicht aus dem Kopfginge, so würde ich darüber nur lachen und mich davon abzulenkensuchen. Ich würde darüber nachdenken, wie schön es im ewigen Lebensein wird, wie Gott aller Liebe würdig ist und wie glücklich die Seelenim Himmel sind, die sich Gottes erfreuen dürfen. So habe ich einegroße und edle Ablenkung, denn ich rede mit Gott von seiner Güte undvon Ähnlichem, wenn mir der Teufel den Wunsch nach der päpstlichenWürde in den Kopf setzt.“

Eine Schwester fragt: „Muß man sich Vorwürfe machen, wenn manso ein oder zwei Tage lang wenig darauf bedacht war, die Versuchungenabzuwehren, weil man eben so stark mit Gott beschäftigt war?“

Page 323: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

322 23. Wünsche

Er antwortet: „Es ist ohne Zweifel besser, meine liebe Tochter, wirhalten uns in Gottes Gegenwart, als daß wir über das nachdenken undnachgrübeln, was in uns und um uns vorgeht.“

Eine Schwester fragt: „Wenn Gewissenszweifel aufsteigen, weil Wün-sche und Versuchungen lange gedauert haben und der Geist nicht zurRuhe kommt, darf man dann beichten?“

Er antwortet: „Das können Sie, wenn Sie wollen. Sie können dannsagen: Ich habe zwei oder drei Tage lang eine Versuchung zur Eitelkeitgehabt und weiß nicht recht, ob ich sie abgewehrt habe.“

Eine Schwester fragt: „Hochwürdigster Vater sagen, wir sollen nichtswünschen; sollen wir uns aber nicht die Liebe zu Gott und die Demutwünschen, da doch der Heiland sagt: ‚Bittet, und ihr werdet empfangen,klopfet an, und es wird euch aufgetan?‘ (Mt 7,7; Lk 11,9).“

Er antwortet: „Wenn ich sage: Nichts verlangen – nichts abschlagen,so meine ich das in Bezug auf irdische Dinge, meine Tochter, denn umTugenden dürfen wir bitten. Wenn wir um die Liebe zu Gott bitten,dann meinen wir damit auch die Demut und alle übrigen Tugenden; siesind ja nicht voneinander zu trennen.“

Eine Schwester fragt: „Wenn eine Novizin sich gleich beim Eintrittauf dieses ‚Nichts verlangen – nichts abschlagen‘ wirft, ist da nicht zubefürchten, daß sie das mehr aus Feigheit denn aus heiligem Gleich-mut tut? Wäre es nicht besser für sie, sich auf die Demut zu verlegenund auf die anderen Tugenden, die ihr nottun?“

Er antwortet: „O nein, meine liebe Tochter, wenn sie auf den Weg desheiligen Gleichmutes gedrängt wird, dann ist nichts zu befürchten; er-strebt sie nur die Gottesliebe, dann übt sie damit auch alle anderenTugenden und tut alles was notwendig ist, um Gott zu gefallen; dieGottesliebe übertrifft ja alle anderen Tugenden. – Möge es Gott gefal-len, daß viele diesen Weg geführt werden. Da sie nur von dem einenGedanken beherrscht sind, Gott zu gefallen, werden sie alles vollkom-men tun und sich nicht darum kümmern, was man von ihnen denkt.“

Eine Schwester fragt: „Folgen wir nicht unseren bitteren Empfin-dungen, wenn wir uns in der Rekreation nicht neben eine Schwestersetzen, die uns zurechtgewiesen hat?“

Er antwortet: „Das hieße gewiß offensichtlich seinen Gefühlen nach-geben.

Es gibt Naturen, die sehr leicht weinen, und manchmal sind wir sofroh, weinen zu können, besonders beim Oberinnen-Wechsel. Die Trä-

Page 324: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

32323. Richtig beichten

nen sollen zeigen, daß man nicht herzlos ist, daß man es schwer empfin-det ... Das tut der Eigenliebe so wohl; man soll sehen, daß wir der schei-denden Oberin dankbar sind! – Weibliche Schwäche, weiter nichts!“

I I I .I I I .I I I .I I I .I I I .

Eine Schwester fragt: „Was müssen wir tun, um richtig zu beichten?“Er antwortet: „Was soll ich euch sagen, ihr wißt es ja längst. Und

doch ist es mir ganz recht, daß ihr solche Fragen stellt. Das Beichten istja eine äußerst wichtige Angelegenheit.

Zu einer richtigen Beichte gehören drei Dinge:1) Ihr dürft nur deshalb beichten gehen, um euch mit Hilfe der Gnade,

die euch in diesem Sakrament zuteil wird, mit Gott zu vereinigen. DieOrdensleute haben da den Weltleuten viel voraus, haben sie doch vielweniger Gelegenheit, sich von Gott zu trennen, denn nur die Todsündeist die große Trennung von Gott. Die läßlichen Sünden trennen unsnoch nicht, wenngleich sie die enge Bindung zwischen Gott und derSeele lockern. Kraft des Bußsakramentes aber nähert sich die SeeleGott neuerdings und wird wieder in den früheren Zustand versetzt.

2) und 3) Ihr müßt in aller Einfachheit und Liebe zur Beichte gehen.Sehr oft aber kommen die Beichtkinder mit einer ganz verwirrten undverworrenen Seele, ohne recht zu wissen, was sie sagen wollen. Und dasist doch so wichtig; denn es ist für den Beichtvater eine Plage, wenn ernichts verstehen kann und nicht klug wird aus dem Beichtkind, das, stattseine Sünden zu beichten, sehr oft beim Beichten sogar noch sündigt.

Es werden bei der Beichte vier große Fehler gemacht.1. Fehler: Man kommt zur Beichte, um dort Erleichterung und Trost

zu finden, statt um Gott wohlgefällig zu sein und sich mit ihm zu verei-nigen. Wir kommen uns schon so zufrieden vor, wenn wir uns nur allesvon der Seele geredet haben und meinen, unsere Seelenruhe, unser See-lenfriede hinge davon ab. – Bei diesen weitschweifigen Aussprachen istdie Gefahr groß, daß wir auch die Fehler anderer hineinziehen, wasman schon niemals tun darf. Hier liegt die Gefahr, sich zu verfehlenund selbst in der Beichte zu sündigen.

2. Fehler: Das Beichtkind hält eine fein formulierte Rede, um sichherauszustreichen, tut, wie wenn es in seiner schönen Rede die Fehlerübertreiben möchte, beichtet aber dann ganz grobe Fehler und Sünden,als ob es Kleinigkeiten wären. Damit verbirgt es aber dem Beichtvaterden wahren Seelenzustand.

Page 325: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

324 23. Richtig beichten

3. Fehler: Man beichtet so raffiniert und verschleiert, daß man sichnicht beschuldigt, sondern aus übergroßer Selbstsucht entschuldigt, da-mit der Beichtvater ja nicht hinter die Fehler kommt. – Das wäre sehrverwerflich, wenn man es absichtlich machte.

4. Fehler: Manche finden eine Befriedigung darin, ihre Fehler zu über-treiben oder aus einem kleinen Fehler einen ganz großen zu machen.Das eine wie das andere ist ein sehr großer Verstoß gegen die Aufrich-tigkeit. Ich möchte, daß ihr die Dinge einfach und offen sagt, wie siesind. Man muß zur Beichte kommen, nur um sich mit Gott zu vereini-gen, mit einem ehrlichen Abscheu vor seinen Sünden und mit einemfesten Willen, sich mit Gottes Gnade zu bessern.“

Eine Schwester fragt: „Sollen wir den kleinen Gehorsam vom großenGehorsam unterscheiden und ungefähr so beichten: Ich klage mich an,in einer wichtigen – oder in einer unwichtigen – Sache gegen den Ge-horsam gefehlt zu haben, oder sollen wir die Sache einfach so darlegen,wie sie war? Und ist dann der Ungehorsam gegen die Regel und Sat-zungen auseinander zu halten, da uns doch manche Dinge eindeutigbefohlen und manche nur empfohlen sind?“

Er antwortet: „Ihre Frage ist von größter Wichtigkeit. Die Anklagemuß klar und so vollständig als nur möglich sein. Ich habe es nie gut-geheißen, daß man sich unklar und verworren ausdrückt; die Dingesind so darzustellen, wie sie in der Tat sind. Sonst macht ihr es demBeichtvater schwer; er kann euch nicht verstehen und hält dann kleineFehler für große. Wenn euer Ungehorsam ein an sich schwerer war,beichtet die Sache ganz einfach so, wie sie sich zugetragen hat. Bei denkleinen Verfehlungen ist es anders. Sagt ihr z. B.: Ich klage mich an,zweimal in kleineren Dingen ungehorsam gewesen zu sein, dann gibtsich der Beichtvater zufrieden, weil er weiß, daß es sich um eine Klei-nigkeit handelt.

Bei vielen kleinen Verstößen sind die näheren Umstände in Betrachtzu ziehen, denn die Regel und die Konstitutionen verpflichten an sichnicht unter Sünde. Also nicht die Regeln und Satzungen machen denVerstoß zur Sünde, sondern die Begleitumstände und die Beweggrün-de, die auch sonst Ursachen von Sünden sind.

Ein Beispiel: Die Glocke – die Stimme Gottes – ruft uns des Morgenszum Aufstehen. Ich bleibe aber noch eine Viertelstunde länger liegen.Da sind nicht die Regeln und Satzungen schuld an der Sünde, sonderndie Faulheit, die mich zum Ungehorsam verführt hat. Das sieht jeder-

Page 326: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

32523. Richtig beichten

mann auch ein. Und ebenso sicher ist es, meine lieben Töchter, daß dieVerstöße gegen die Regel größer sind als gegen die Satzungen. Denn dieRegeln sind die Grundpfeiler des Ordens, während die Satzungen nurdie Wegweiser und Markierungen sind, damit wir uns genauer an dieRegel halten. Die Dinge, die in der Regel und in den Satzungen nurempfohlen sind, braucht ihr nicht zu beichten, da ihre Unterlassung nichtSünde ist. Immerhin könnte auch da, je nach Umständen, eine Unterlas-sung Sünde sein, wenn Geringschätzung und ähnliches mitspielt. DieGeringschätzung verursacht überhaupt viele Sünden.“

Eine Schwester fragt: „Soll man das beichten, wenn man sich in derRekreation von seinem Temperament mitreißen läßt und z. B. in einerleichten Sache oder spaßweise streitet, ohne daß man es merkt, son-dern erst später darauf kommt?“

Er antwortet: „O nein, meine liebe Tochter, wenn spaßweise gestrit-ten wird, oder weil man von seinem Temperament überrumpelt wurde,so ist davon nichts zu beichten. Wenn Sie jedoch innerlich nicht nach-geben wollten, dann müßten Sie das in der Beichte sagen.Überraschungsfehler gegen die Regel sind keine Sünde, sind es eben-sowenig wie jene Verstöße, die wir machen, weil uns die Leidenschaftüberrumpelt. Zur Sünde gehört der vorsätzliche Wille.“

Eine Schwester fragt: „Sollen wir bei der Gewissenserforschung dieläßlichen Sünden und die Unvollkommenheiten auseinander halten?“

Er antwortet: „Wer sie auseinander halten kann, für den wäre dasentschieden sehr gut meine liebe Tochter. Aber von 200 können das199 nicht, selbst die heiligsten Seelen kennen sich da nicht aus. Und sokommt man in die Beichte mit einem ganzen Wirrknäuel von Unvoll-kommenheiten und hält Sünde und Unvollkommenheit nicht ausein-ander. Das ist dann für den Beichtvater oft sehr schwer, weil er dochwissen muß, was Sünde und folglich Materie zur Lossprechung ist.

Ich möchte euch erzählen, wie es mir ergangen ist, als ich die seligeSchwester Maria von der Menschwerdung, während sie noch in derWelt war, beichten hörte. Nachdem sie schon drei- oder viermal beimir gebeichtet hatte, klagte sie sich eines Tages verschiedenerUnvollkommenheiten an. Als sie fertig war, sagte ich, daß ich ihr dieLossprechung nicht geben könne, weil ich in ihrer Beichte keine ei-gentliche Sünde gefunden hätte. Sie war darüber höchst erstaunt, hattesie doch zwischen Unvollkommenheit und Sünde nie einen Unterschiedgemacht. Ich sagte ihr also, sie möge eine Sünde aus früherer Zeit ein-

Page 327: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

326 23. Richtig beichten

schließen, wie ihr es ja auch tut. Sie dankte mir für die Aufklärung,wußte sie doch bisher nichts von diesem Unterschied. Ihr seht also, daßdiese Unterscheidung gar nicht so leicht ist, da selbst diese erleuchteteSeele darüber so lang in Unkenntnis geblieben war. Notwendig ist die-ses Auseinanderhalten von Unvollkommenheit und Sünde nicht; diesegroße Seele ist trotzdem heilig geworden; aber jedenfalls ist es gut,wenn man dazu fähig ist.“

Eine Schwester fragt: „Was ist läßliche Sünde und was ist Unvoll-kommenheit?“

Er antwortet: „Die läßliche Sünde hängt von unserem Willen ab. Wokein Wille zu sündigen, da ist keine Sünde. Ein Beispiel: Ich lasse dieOberin ins Sprechzimmer bitten und sage: Ich komme im Auftrag derPrinzessin so und so und überbringe Grüße usw. Habe ich das nun allesfrei erfunden und mir nur so zusammenphantasiert, so ist das gewiß ansich nichts Wichtiges; aber weil ich es freiwillig tue, deshalb ist esläßliche Sünde. Einen Fehler unfreiwillig machen, weil wir überrum-pelt worden sind, das ist Unvollkommenheit. Zum Beispiel: Ich erzäh-le in der Rekreation etwas, dabei unterlaufen mir einige Worte, dienicht ganz mit der Wahrheit übereinstimmen; ich merke das jedocherst, nachdem es heraus ist: Das ist nun keine Sünde, sondern eineUnvollkommenheit, die ich nicht beichten muß, aber beichten könnte,wenn ich sonst nichts hätte. In diesem Fall schließe ich noch eine Sün-de aus früherer Zeit mit ein, weil der Beichtvater sonst keine Materiefür die Lossprechung hat.“

Eine Schwester fragt: „Dürfen wir zur heiligen Kommunion auchdann gehen, ohne vorher zu beichten, wenn wir uns einer läßlichenSünde bewußt sind? Hochwürdigster Vater sagten doch, daß die läßli-che Sünde zwischen Gott und der Seele eine kleine Trennung schafft.“

Er antwortet: „Sie brauchen deshalb von der heiligen Kommunionnicht wegbleiben, außer Sie wollten aus Demut darauf verzichten.“

Eine Schwester fragt: „Dürfen wir bitten, auch außer der für die Ge-meinde bestimmten Zeit zu beichten?“

Er antwortet: „Trifft es mit einem Beichttag der Gemeinde zusam-men, dann dürfen Sie darum bitten. Bekommen Sie keine Erlaubnis,dann geben Sie sich zufrieden. Kommt Ihr Gewissen jedoch nicht zurRuhe, dann dürfen Sie um Erlaubnis bitten, von der heiligen Kommu-nion wegzubleiben. Das Beichten außerhalb der für die Gemeinde be-

Page 328: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

32723. Mahnung und Tadel

stimmten Zeit kann ich nicht gutheißen, weil es bei den anderen denVerdacht erwecken könnte, es müsse etwas Besonderes vorliegen.“3

I VI VI VI VI V.....

Eine Schwester fragt: „Wenn eine Schwester einen Fehler gemachthat und ich finde in meiner Lesung gerade etwas, was sich darauf be-zieht, – darf ich dann von meiner Lesung berichten, um ihr zu helfen,oder wäre das nicht recht?“

Er antwortet: „Sie tun gut daran, wenn der Eifer Sie treibt, der Schwe-ster zu nützen. Wir sollen dem Nächsten helfen, wo immer wir nurkönnen; auch die Mahnungen verfolgen bei uns diesen Zweck. Es fälltmir da gerade die Geschichte von Arsenius ein. Ihr erinnert euch gewißnoch an die kleine Ungehörigkeit, die er sich zuschulden kommen ließ.Wirklich, die heiligen Väter haben ihn mit einer geradezu bewun-derungswürdigen Milde zurechtgewiesen und uns gezeigt, wie liebevolleine Mahnung gegeben werden soll, besonders älteren Leuten gegen-über.

Wenn eine Schwester nicht lernt, ihre Abneigung zu verbergen, sokommt sie um das Verdienst und um die Freuden des schönen Zusam-menlebens; sie vernachlässigt auch ihre Pflicht der Gemeinde gegen-über.“

Eine Schwester fragt: Wie soll ich mich verhalten, wenn die Oberinetwas rügt, was ich gar nicht getan habe?“

Er antwortet: „Sie müssen dabei zwei Tugenden üben, meine liebeTochter. Fragt die Oberin: Haben Sie das getan, meine liebe Schwe-ster? und Sie haben es nicht getan, dann sagen Sie demütig und einfach,wie sich die Sache verhält. Läßt sie sich nicht überzeugen, dann ma-chen Sie also die beiden Tugendakte der Unterordnung und der Er-niedrigung, da man doch glaubt, daß Sie es gewesen sind.“

Eine Schwester fragt: „Wenn man sieht, daß die Oberin dies und jenesbraucht, sollen wir sie nicht drängen, es zu nehmen, oder sollen wir unsmit dem Gedanken zufrieden geben, daß sie im Geist der Regel selbstum das bitten wird, was sie benötigt?“

Er antwortet: „Dazu sage ich: Es gibt zwei Arten von Oberinnen, mei-ne liebe Tochter. Die einen sind sehr hart und streng mit sich; vondiesen dürft ihr euch nicht erwarten, daß sie etwas für sich erbitten.

Page 329: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

328 23. Letzte Empfehlung

Solche Oberinnen fühlen sich verpflichtet, es mit der Regel sehr strengzu nehmen, sie sind dadurch sehr zurückhaltend.

Andere Oberinnen hingegen sind zu weichlich und zu frei und ge-statten sich gerne Erleichterungen. Diese braucht ihr nicht zu drängen;es genügt weitaus, wenn man ihnen gibt, was sie verlangen.

Ich will euch etwas sagen! Nur wenige Heilige haben mit ihren Tu-genden nicht über das Ziel hinausgeschossen. So haben einige auch inder Strenge gegen sich nicht Maß gehalten und nur ganz wenige sindden heiligen goldenen Mittelweg gegangen. So gibt es auch nur wenigeOberinnen, die sich genau in der Mitte halten; die einen sind zu streng,die anderen zu weich.“

*

„In allen unseren Häusern ist mir eines aufgefallen: Unsere Schwe-stern machen keinen Unterschied zwischen der Gegenwart Gottes unddem Gefühl der Gegenwart Gottes. Das ist nicht nur ein großer Fehler,sondern auch große Unwissenheit. Sie meinen, wenn sie Gott nichtfühlen, dann wären sie nicht in Gottes Gegenwart. Seht, wenn einMensch den Martertod für Gott erleidet, dabei aber nicht an Gott,sondern nur an seine Qualen denkt, so hat er doch, obwohl er denGlauben nicht fühlt, in Anbetracht seines ersten Entschlusses, für Gottzu sterben, das Verdienst des Martyriums, und er hat eine große Tat derLiebe vollbracht.

Die Vereinigung unserer Seele mit Gott, das sei unser einziges Ver-langen. Ihr im Kloster habt es gut. Eure Regeln und alle eure Übungenverhelfen euch ununterbrochen dazu; ihr braucht nur mitzutun, ohnedie Zeit mit Wünschen zu verlieren.“

*

Als er bemerkte, daß die Leute die Fackeln angezündet hatten, umihn nach Hause zu begleiten, rief er ganz erstaunt aus: „He, was wolltdenn ihr da? Ich könnte die ganze Nacht hier bleiben und auf das Heim-gehen vergessen. – Jetzt aber muß ich fort, denn der Gehorsam ruft.

Gott befohlen, meine lieben Töchter, ich nehme euch alle im Herzenmit, zugleich aber lasse ich euch mein Herz da als Pfand meiner väter-lichen Liebe.“

Page 330: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

32923. Letzte Empfehlung

Unsere Mutter bittet noch demütig-innig: „Sagen Sie uns doch noch,Hochwürdigster Vater, was sollen wir uns ganz besonders in die Seeleschreiben?“

Er antwortet: „Was soll ich Ihnen sagen, meine liebe Tochter? Mitden beiden Worten: Nichts verlangen – nichts abschlagen, habe ich euchalles gesagt. Was könnte ich euch wohl noch sagen? Ich wüßte nichtsanderes mehr.

Schaut auf das Jesulein in der Krippe. Es erträgt Ungemach und Käl-te und alles, was der himmlische Vater zuläßt. Es weist aber auch diekleinen Erleichterungen, die seine Mutter ihm verschafft, nicht ab.Haben wir je gelesen, daß es seine Händchen nach der Mutterbrustverlangend ausgestreckt? Alles hat es der Sorge und Fürsorge seinerMutter überlassen.

Auch wir sollen nichts verlangen – nichts abschlagen, sondern alles,was Gott schickt, annehmen, Ungemach und Kälte.“

Auf die Frage, ob man heizen solle, antwortete er: „Ist angeheiztworden, dann verlangt der Gehorsam, daß man sich wärme, aber manhüte sich auch hier vor gieriger Hast.“

Page 331: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

330 24. Antworten und Aussprüche

24.

AntworAntworAntworAntworAntworten und Aten und Aten und Aten und Aten und Aussprüche unseres seligen Stifussprüche unseres seligen Stifussprüche unseres seligen Stifussprüche unseres seligen Stifussprüche unseres seligen Stifters,ters,ters,ters,ters,gesammelt im Kloster zu Lyongesammelt im Kloster zu Lyongesammelt im Kloster zu Lyongesammelt im Kloster zu Lyongesammelt im Kloster zu Lyon11111

1. Als er das erste Mal zu uns kam, sprach er mit großer Ergriffenheitungefähr eineinhalb Stunden lang über den Seelenfrieden. Er wieder-holte mehrmals, daß man sich über nichts ängstigen dürfe und denSeelenfrieden bewahren solle, was auch immer uns zustoßen möge.

Er für seinen Teil würde es vorziehen, nur eine Zimmerecke zur Woh-nung zu haben, dort aber in Ruhe zu wohnen, als am Hof mit Ehren undReichtümern überhäuft zu leben. Er wünschte, hier im Zimmer unse-res Beichtvaters zu wohnen. Wir sagten ihm ein paarmal, daß es da fürihn sehr unbequem sei; das ließ er jedoch nicht gelten, denn er habe esdort besser, als er verdiene, und dann sei er doch dort in der Näheseiner lieben Töchter.

Als wir immer wieder betonten, daß dieses Zimmer doch für ihn nichtgut genug wäre, sagte er: „Es ist viel zu gut für mich, macht euch nurkeine Sorgen und beunruhigt euch nicht darüber!“ Und dann sagte ernoch recht demütig und lieb: „Ich sehe schon, ihr möchtet mich gernelos sein. Aber ich bitte euch, laßt mich doch in diesem Zimmer wohnen.Ich habe es da ganz schön; macht euch also weiter keine Gedanken. InAnnecy schlafe ich in einem Zimmer, das zehnmal kälter ist.“

2. Da er immer wieder vom inneren Frieden sprach, baten wir ihn,uns darüber und über das Verhalten beim Oberinnenwechsel eine eige-ne Unterredung zu schenken. „Das will ich gerne tun,“ antwortete erdarauf, „wir wollen nur noch warten, bis unsere gute Mutter da ist.“ –Er sprach dann sehr eingehend über die Losschälung, die man beimOberinnenwechsel üben soll.

„Viele Tränen,“ sagte er, „die dabei vergossen werden, kommen nurvon der Eigenliebe, von der Schmeichelei und von der Angst, man könn-te an unserem guten Gemüt und an unserer Liebe zweifeln. Man täuschtda leicht etwas vor, denn Tränen können genauso lügen, wie Worte.Frauen neigen sehr zu solchen Unvollkommenheiten, besonders dann,wenn sie merken, daß die Oberinnen etwas zärtlich veranlagt sind undsolche Beweise der Zuneigung gerne haben. Von den vielen Tränen, dieaus solchen Anlässen vergossen werden, sind nur die wenigsten echt;eine macht es der anderen nach; das ist halt so Frauenart. – Dieses

Page 332: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

33124. Antworten und Aussprüche

Weinen, diese Tränen sind allerdings sehr verdächtig. Unsere Liebemuß kernig sein; sie darf nichts mit Weichlichkeit zu tun haben. EchteLiebe liebt unbeeinflußt von Nähe und Ferne, sie hängt nicht an reinMenschlichem. Die Gnade hat keinerlei Anteil an derlei Dingen. DieSchwestern sollen in der jeweiligen Oberin Gottes Stellvertreterin se-hen und sich mit menschlichen Neigungen nicht abgeben, die ja nichtsweniger als echte Tugend sind. Und wenn auch die hl. Theresia beimTod eines frommen Priesters viel geweint hat, so brauchen wir das nichtnachzumachen; nur in ihren Tugenden sind die Heiligen nachahmens-wert.“

3. Wir fragten: „Wäre da nicht etwas zu tun, damit der Geist derLiebe und der Einfachheit unter uns erhalten bleibe und auch die ein-zelnen Klöster miteinander verbunden wären? Verschiedene Leutemeinten, eine Generaloberin würde das am ehesten erreichen.“2

Darauf sagte er mit ungewöhnlicher Bestimmtheit: „Meine Töchter,das waren immer nur rein menschliche Gedanken. Ich habe zwei Tageund zwei Nächte darüber nachgedacht, als unsere Mutter mir schrieb,daß man ihr davon gesprochen habe; aber ich sehe keinen Grund, etwaszu ändern.“

Wir fragten: „Was ist also Ihre Absicht, hochwürdigster Herr?“ Erantwortete: „Wir müssen alles der göttlichen Vorsehung überlassen.“

Das sagte er wiederholt und gab uns deutlich zu verstehen, daß ernichts anderes im Sinn habe. Wir wissen, daß er diese Frage auch mitden Vätern der Gesellschaft Jesu besprochen hat und daß sie der glei-chen Ansicht waren. Darüber freute er sich sehr und meinte, in SachenGottes gebe es immer Schwierigkeiten.

Dann sagte er noch dies: „Das Gedeihen einer Ordensgenossenschafthängt nicht vom Vorgesetzten ab; die Erfahrung bestätigt uns das immerwieder. Manche Orden hatten Obere, und ausgezeichnete Obere, undhaben trotzdem in der Zucht nachgelassen. Die Hauptsache ist die Treue,sich mit Gott durch gewissenhafte Beobachtung der Regeln und Satzun-gen zu vereinigen; man mag nach anderen Mitteln Ausschau halten, so-viel man will, es wird doch nichts die Genossenschaft aufrecht erhaltenals die Treue jeder einzelnen Ordensperson in der genauen Beobachtungder Regel.“ – Er fügte noch hinzu, er habe nur den einen Wunsch, daßGott unseren Klöstern den Geist der Einigkeit und Demut schenkenmöge. „Die Einigkeit ist eine Frucht der vollkommenen Regeltreue; sowird der Orden nach Gottes Wohlgefallen bestehen.“

Page 333: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

332 24. Antworten und Aussprüche

4. Wir fragten: „Wie haben wir uns in den irdischen Angelegenheitenzu verhalten? Alles drängt uns, daß wir uns doch damit mehr befassen,mehr Interesse und Liebe dafür aufbringen sollten. Wollen wir unsdavon frei machen, so widerspricht uns jedermann. Immer hält manuns die schön gebauten und mit guten Einkünften versehenen Klösterentgegen und wirft uns die Armut unseres Klosters vor.“

Er antwortete: „Es ist wahr, meine lieben Töchter, die Welt fürchtetsich vor der Armut. Was ist da zu machen? Wir müssen ganz einfach zuverstehen geben, daß wir an den Gütern der Welt nicht hängen undihretwegen den inneren Frieden nicht verlieren wollen.“

In diesem Zusammenhang erzählte man ihm, daß unser Kardinalbeim Brand seines Palastes um sein Tafelsilber im Wert von 6000 Ta-lern gekommen sei. Ich meinte, es sei schade um das viele Geld, das wirsehr gut für den Bau der Kirche hätten brauchen können. Darüber warer ungehalten und sagte: „Mein Gott, haben Sie doch keine solchenWünsche, meine liebe Tochter, nur wenige Menschen finden die Gold-ader der echten Armut: Nichts wünschen und mit dem Wenigen zufrie-den sein, was wir nach Gottes Willen haben. Glücklich die Schwestern,die wirklich arm sind und denen Verschiedenes fehlt!

Der Eifer, die Frömmigkeit und der gute Geist der Oberinnen mußalles ersetzen, was nicht schriftlich festgelegt ist. Es geht gegen meineAbsicht und meinen Willen, wenn man Schwestern mit Gebrechen nichtaufnimmt: wer da menschliche und natürliche Klugheit walten läßt,zerstört den Geist der Liebe.“

Er sagte auch: „Würde die Aufnahme von Schwestern mit Gebre-chen je in unseren Häusern auf Schwierigkeiten stoßen, so würde ichkommen und in den Schlafsälen einen großen Lärm schlagen, damitman erkenne, daß man gegen meinen Willen handelt.“

Wir fragten ihn, ob er dafür sei, daß die Schwestern sich an ihre Elternwenden, wenn diese reich sind und das Kloster in Geldverlegenheit ist.

Er antwortete: „Nein, ich bin nicht dafür. Lieber ist mir, das Klosterist in Geldverlegenheit und hat nicht alles, was es braucht, als daß dieSchwestern sich mit solchen Gedanken beschäftigen, die nur die Ei-genliebe nähren. Nicht einmal für die Sakristei will ich es haben, auchwenn sie armselig ausgestattet ist. Geben die Eltern aus freien Stückenetwas her, dann nehmt es demütig an, jedoch ohne darum zu bitten,sogar ohne einen Wunsch zu äußern, es sei denn bei besonderen, ganzseltenen Gelegenheiten. Arm ist immer besser.“

Page 334: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

33324. Antworten und Aussprüche

Wir fragten: „Wenn die Oberin von einer Verwandten aus dem Klosterder Klarissen um ein Almosen gebeten wird, darf sie es ihr geben?“ Erantwortete: „Ja, sie darf das auch einer anderen Schwester erlauben.“

Ich sagte: „Ich mache mir oft Vorwürfe und habe Gewissensbisse,daß ich in zeitlichen Angelegenheiten zu nachgiebig bin. Ich fürchte, daßdie Eltern durch meine Schuld ihren Töchtern nicht genug mitgebenund das Haus deswegen arm ist.“

Er antwortete: „Sie brauchen sich deswegen nicht zu beunruhigen.Man verzichtet auf die irdischen Güter, nicht weil man sie geringschätztund verachtet, sondern weil man davon innerlich losgelöst ist.“

Dann sagte er: „Unsere gute Mutter möchte gerne, daß ich etwas überdie Leitsätze des Herrn sage; ich ehre, verehre und achte sie von ganzemHerzen, aber leider befolge ich sie nicht. Gottes Sohn hat gesagt: ,Strei-tet nicht vor Gericht‘; halte ich mich daran, dann habe ich die ganzeWelt gegen mich. Gottes Sohn hat gesagt: ,Will dir jemand deinen Rocknehmen, so gib ihm auch deinen Mantel‘ (Mt 5,40; Lk 6,29). Tu ich das,dann heißt es, das wäre nicht recht, ich behielte gar nichts mehr fürmich und wäre schon arm genug. Der Sohn Gottes sagte: ,Wenn dichjemand auf deine rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die anderehin‘ (Mt 5,39; Lk 6,29). Die Welt will davon nichts wissen und nicht diegeringste Kränkung ertragen. Der Sohn Gottes sagt: ,Seid sanftmütig‘(Mt 5,4). Die Welt aber will, daß ich zürne, und tue ich es nicht, dannnennt sie das Dummheit.“

Wir fragten: „Ist es in Ihrem Sinn, hochwürdigster Vater, daß man inallen unseren Häusern Almosen gibt?“

Er antwortete: „Ja, das müssen wir nach den Leitsätzen des SohnesGottes.“

Wir fragten: „Auch dann, wenn wir nicht wissen, ob diese Armenwirklich bedürftig sind?“

Er antwortete: „Wir tun auch dann gut daran, Almosen zu spenden.“5. Wir fragten: „Sollen wir den Beichtvater verköstigen?“Er antwortete: „Wenn ich Beichtvater von der Heimsuchung wäre,

was ich aber nicht verdiene, – es ist schon wahr, ich verdiene es nicht,könnte mir aber nichts Beglückenderes denken, als Beichtvater in derHeimsuchung und damit allem anderen enthoben zu sein, – wenn ichalso euer Beichtvater wäre, würde ich es vorziehen, mich selber zuverköstigen, so gut es eben geht, statt die Klosterfrauen mit der Berei-tung der Mahlzeiten zu bemühen und meine Unvollkommenheiten se-

Page 335: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

334 24. Antworten und Aussprüche

hen zu lassen, wenn ich ein bißchen schwierig bin und mir dies oderjenes nicht paßt oder widersteht. Warum sollten die Dienerinnen Got-tes unter meinen Schwachheiten leiden? Es ist für sie doch tausendmalbesser, sie bleiben in ihrer Ruhe und Abgeschiedenheit und haben mitdiesen Unannehmlichkeiten nichts zu tun. Sehen Sie, meine Tochter,es scheint mir doch sehr wichtig, sich auf die Verköstigung des Beicht-vaters nicht einzulassen. Immerhin möchte ich nicht, daß ihr schon miteurem jetzigen Beichtvater den Anfang macht; er ist so gut und so an-spruchslos, daß es nach meiner Ansicht mit ihm keine Unannehmlich-keiten geben wird. Nachdem ihr schon einmal angefangen, ihn zu ver-köstigen, bleibt dabei, aber bei den anderen müßt ihr schon vorsichti-ger sein. Lieber erhöht man ihnen das Gehalt.

Ja, es ist schon wahr, meine Tochter, an den Speisen habe ich nieetwas auszusetzen, – höchstens daß sie zu gut sind. Ist das nicht recht,meine Tochter?

Sie fürchten, daß den Schwestern übel werden könnte, wenn die Vor-speise aus Resten bereitet ist? Mir wird es übel, wenn ich höre, daß mandavon spricht, aber nicht, wenn ich dergleichen esse.“

6. „Armut und Einfachheit sind euch so dringlich empfohlen unddoch gibt es, wie Sie sagen, Schwestern, die mich darin nicht verstehen.Ich sagte in den Satzungen: Der Gemeinde muß sehr viel daran gelegensein, daß das Amt der Sakristanin mit dem größten Fleiß verwaltet wird(S. 164 ff). Nun verstehen manche Schwestern darunter, man müsserecht besorgt sein, daß in der Sakristei nichts fehle und alle Gegenstän-de reichlich vorhanden und recht schön seien. – Mein Gott, wie ist esnur möglich, die Dinge so zu verdrehen und seinen Neigungen so starknachzugeben! Ist es den Schwestern denn gänzlich entgangen, wie sehrdie Satzungen die Ruhe und Gelassenheit immer wieder ans Herz le-gen, sodaß sie uns niemals abhanden kommen darf? Ich habe bemerkt,daß unsere Schwestern in Annecy es lieben, wenn ihnen in ihrem Amtnichts abgeht, falls sie eines haben; haben sie aber kein Amt, dannkümmern sie sich nicht darum. – Ihr müßt zwei Dinge in eurer Sakri-stei abändern; da doch dieses Kloster unsere zweite Niederlassung ist,möchte ich, daß hier alles so gehalten werde wie in Annecy: 1) EuerZingulum ist nicht einfach genug, es ist zu schön. Eine Quaste an jedemEnde genügt; die anderen sind überflüssig. 2) Eure Albe ist zu reichmit Borten verziert. Die Ärmel sollen gar keine haben, weder innen

Page 336: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

33524. Antworten und Aussprüche

noch außen; es genügt, wenn solche auf den Nähten angebracht sind,doch auch da sollen sie nur schmal sein. Ich sagte in den Satzungen, daßauf den Altären keine mit Stoff bekleideten Figuren aufgestellt seinsollen, weil sie zumeist sehr schlecht gemacht sind, ferner weil dasNähen ein großer Zeitverlust ist und Frauen sich gern mit solchen Sa-chen abgeben. Engel und Kerubim dürft ihr unbesorgt aufstellen.“

7. Wir sagten ihm einmal, daß wir es für eine große Gefahr hielten,wenn Oberinnen kämen, die den Geist der Regel nicht hätten.

Er antwortete: „Was könnte man da machen? Wenn sie die Regelngewissenhaft beobachten, dann wird Gott ihnen mit der Zeit auch denGeist der Regel geben.“

Weiter sagte er: „Wenn eine Schwester zwar sehr tugendhaft abernoch jung ist, tut man trotzdem gut daran, sie zur Oberin zu wählen. Gotthilft den einfachen Seelen, die ihr Vertrauen auf ihn setzen.“ Er fügtehinzu, daß es ihm einen großen Schmerz bereite, wenn man Oberinnenwähle, die für ihr Amt weder die erforderliche Tugend noch die ent-sprechenden Fähigkeiten hätten. Dann sagte er, es gebe nur wenigeOberinnen, die sich auch mit zeitlichen Angelegenheiten beschäfti-gen; es sei dies auch gar nicht ihre Aufgabe, man gebe ihnen eine tüch-tige Hausmeisterin an die Seite, die ihnen diese Arbeit abnehmen soll.

Wir sagten: „Wir möchten meinen, daß Gott uns für die jeweiligenÄmter auch das notwendige Licht gibt, wenn wir nur Vertrauen haben.Wir möchten auch glauben, daß die Liebe alles ist.“ Er antwortete:„Das ist auch so, ihr habt ganz recht. Sind die Oberinnen innig mit Gottvereinigt, dann unterläßt er es bestimmt nicht, sie zu unterweisen.“

Über die Oberinnen, die zu lange im Sprechzimmer bleiben, sagte er:„Damit bin ich gar nicht einverstanden; aber was soll man dagegentun?“

Wir sprachen von der Amtsniederlegung einer Oberin, die den Schwe-stern ihres Klosters sehr nahe ging, und erzählten, daß sich diese an dasWort „Schwester“ nicht gewöhnen konnten und sie immer noch „Mut-ter“ nannten. Er lächelte dazu und sagte: „So sollen sie ihre frühereOberin meinetwegen Großmutter nennen, wenn sie wollen. Ich kannnichts daran ändern, sehe aber daraus, daß sie die Regeln und Satzun-gen weder hochachten noch überhaupt beobachten.“

Wir sagten: „Hochwürdigster Vater, wenn Sie uns einmal gesagt ha-ben, wie wir uns bei der Amtsniederlegung und Neuwahl der Vorge-

Page 337: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

336 24. Antworten und Aussprüche

setzten zu verhalten haben, dann werden Sie ihre Wunder an uns erle-ben.“

Er antwortete: „Wunder wirken unsere Worte nicht. Man brauchtnur das gewissenhaft durchzuführen, was die Satzungen lehren; sie sa-gen hinreichend, was zu tun ist; Frauen haben aber so viele kleine Ei-genwilligkeiten, denen sie lieber folgen, als daß sie gehorchen. Waskann man da machen? Man muß sie weinen und ihre Anhänglichkeitzeigen lassen; sie meinen ja sonst, man hielte sie für herzlos, wenn sieihre Liebe nicht äußerten. Weibliche Schwachheiten, weiter nichts!

Wir dürfen uns weder durch Worte noch durch Handlungen um dieLiebe und Achtung der Geschöpfe bemühen, aber auch nicht anstre-ben, verachtet zu werden. Wenn uns die Geschöpfe hier auf Erden nichtlieben, dann werden sie uns bestimmt im Himmel lieben, wo wir unsalle wiedersehen werden. Warum ist es uns denn gar so um die Liebeder Menschen zu tun? Nur eines ist wichtig: daß der Schöpfer uns liebt.Seine Liebe ist uns ganz sicher, und das soll uns genügen.“

8. „Fragt man euch, ob ihr das kleine Offizium immer beten werdet,dann sagt ganz ruhig ,Ja‘, weil ihr hofft, die Erlaubnis, die ihr vomHeiligen Vater schon für 10-12 Jahre habt, für immer zu bekommen.Es ist meine Absicht und mein Wunsch, daß es immer gebetet werde;wäre man aber dagegen, so müßte ich es schon bleiben lassen.“3

9. Wir fragten: „Sollen wir die Unvollkommenheiten beichten oderwäre das verkehrt?“

Er antwortete: „In der Moraltheologie lernt man, daß man sie zwarnicht beichten muß, wohl aber kann, ohne daß dies fehlerhaft wäre.Man hat euch gezeigt, wie ihr es machen sollt: Ihr sagt ganz allgemeineure Fehler, weil ihr oft nicht unterscheiden könnt, was Sünde oderUnvollkommenheit ist. – Für die gewöhnlichen Beichten braucht ihrjedoch nicht mehr als zwei oder drei Unvollkommenheiten zu erwäh-nen. Bei den außergewöhnlichen und Jahresbeichten ist es auch gut,Unvollkommenheiten zu beichten. Habt ihr euch über nichts anzukla-gen, dann gebt eine Sünde aus früherer Zeit an. Wenn wir eine Regungdes Ärgers oder der Unlust gehabt und aus dieser Stimmung herausetwas gesagt oder getan haben, so können wir es beichten, auch wenn esnichts von Bedeutung war; es könnte doch sündhaft gewesen sein, dennunsere Vollkommenheit ist nicht so groß, daß nicht noch Eigenliebe inuns wäre, und diese verleitet uns immer wieder zu Fehlern. Wir dürfenuns also darüber nicht wundern. Man kann es so beichten: ,Es ist etwas

Page 338: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

33724. Antworten und Aussprüche

vorgefallen, was mir nicht paßte, und da habe ich im Ärger oder ausUngeduld das und jenes getan.‘ – Haben wir uns aber durch diese Ge-fühle nicht zu Handlungen hinreißen lassen, dann hat man keinen Feh-ler begangen, sondern hat sogar ein Verdienst.“

10. Über den Akt der Reue sagte er folgendes: „Er ist dann gut, wennuns der begangene Fehler leid tut, wenn wir ihn aus tiefster Seele verab-scheuen und den Vorsatz fassen, ihn nicht mehr zu begehen. Eine ge-fühlsmäßige, zu Tränen rührende Reue ist nicht erforderlich; wohl aberist es notwendig, daß man es bedauert, Gott beleidigt zu haben. Es istnoch kein Zeichen eines schlechten Willens, wenn man immer wiederdieselben Fehler begeht, wenn es nicht freiwillig geschieht. Ein guterReueakt besteht im festen Vorsatz, Gott nicht mehr beleidigen zu wol-len.“

11. „Unnütze Worte gibt es in der Rekreation nicht; denn alles, wasman zur Aufheiterung sagt, ist nicht unnütz. Diese ist uns notwendig,der Geist kann nicht immer angespannt sein. Man läuft sonst Gefahr,mißmutig und schwermütig zu werden. Es liegt auch nichts daran, wennin der ganzen Rekreation nur über gleichgültige Dinge gesprochen wird;diese Worte wären deshalb nicht unnütz; man braucht nicht immer vonernsten Dingen zu reden. Das Gespräch ist dann heilig und zugleichheiter, wenn nichts Schlechtes dabei vorkommt; wenn man nicht vonden Fehlern anderer spricht; – denn das darf man nie, – und wenn nichtWeltliches oder Unpassendes dabei berührt wird. – Sich über eineSchwester ein wenig lustig machen, sie ein wenig aufziehen, ist nichtschlimm, nur darf man sie nicht kränken, denn das ist nie erlaubt. Hatman aber durch ein Wort eine Schwester verletzt, ohne es zu wollen, sobraucht man es nicht zu beichten, wenn man es scherzweise gesagt hat.Im Streben nach Vollkommenheit müssen wir ins Schwarze zielen,treffen wir aber daneben, so dürfen wir uns nicht grämen.

In der Erholungszeit muß man ganz einfach, schlicht und offen seinund sie gut zu verbringen suchen. Wäre unsere Aufmerksamkeit aufetwas gerichtet, das uns hinderte, die Erholung gut mitzumachen, somüßten wir uns von dieser Sache abwenden.

Man braucht sich keinen Vorwurf zu machen, wenn man vergessenhat, die Erholung Gott aufzuopfern; die allgemeine gute Meinung ge-nügt; immerhin soll man trachten, sie zu Beginn der Erholungsstundezu erneuern. Die Novizen soll man sehr dazu anhalten, denn es ist von

Page 339: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

338 24. Antworten und Aussprüche

großer Wichtigkeit, daß sie die Zeit der Erholung in der rechten Weiseverbringen.“

12. „Steigen in uns geringschätzige Gedanken über Mitmenschen aufund weisen wir sie nicht ab, weil wir sie nicht bemerkt haben, so ist daskeine Sünde; es genügt, daß wir sie dann abweisen, wenn sie uns zumBewußtsein kommen.“

13. „Sie fragen, ob Sie die kleinen Leiden, oder was ein gutes Lichtauf Sie wirft, nicht besser verschweigen sollen, weil Sie sich vielleichtnicht richtig ausdrücken und somit – statt sich anzuklagen – dem Beicht-vater eher Anlaß geben, Sie zu schätzen. – Meine Tochter, offenbarenSie sich ganz schlicht und einfach im Guten wie im Schlechten; es darfnur nicht in der Absicht geschehen, geschätzt zu werden. Werden Siehochgeschätzt, dann nehmen Sie das ebenso ruhig hin, wie wenn Siegeringgeschätzt werden, und verschwenden Sie weiter keinen Gedan-ken daran.“

14. „Es macht nichts, wenn man sich hie und da mit sich selber befaßt,wenn es zu dem Zweck geschieht, sich zu verdemütigen und sich dieeigene Undankbarkeit vor Augen zu halten; man soll sich dabei aberimmer wieder zu Gott hinwenden, denn das ist kein eigentliches Beten,wenn man nur über sich nachdenkt; das Gebet ist ja eine Erhebung desGeistes zu Gott, um sich mit ihm zu vereinigen. Erwägungen müssenwir dann anstellen, wenn der Heiland uns dazu anregt; sonst aber wol-len wir trachten, uns der Vollkommenheit auf dem einfachsten Weg zunähern, und nicht so spitzfindig sein.“4

15. „Wir können uns der Gegenwart Gottes nicht ununterbrochen be-wußt sein; das vermögen nur die Engel. Es genügt, wenn wir soviel alsmöglich daran denken und oft den Geist zu Gott erheben. Eine stetsgespannte Aufmerksamkeit auf Gott ist nicht notwendig. Zieht uns un-sere Beschäftigung von Gott ab und ist sie notwendig, dann brauchenwir uns nicht zu beunruhigen. Es genügt, alles, was wir tun, einfach undschlicht für Gott zu tun. Selbst wenn man übersehen hätte, vor derArbeit die gute Meinung zu erwecken, mache man sich keinen Vor-wurf, sondern hole sie einfach nach. Die allgemeine Aufopferung amMorgen genügt.

Tun wir etwas Gott zuliebe, dann sind wir schon in seiner Gegenwart.Ebenso ist uns seine göttliche Güte gegenwärtig, wenn wir nur das Ver-langen haben, in seiner Gegenwart zu sein. Wundern wir uns nicht,wenn wir das Bewußtsein seiner Gegenwart nicht so festhalten können,

Page 340: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

33924. Antworten und Aussprüche

wie wir das gerne möchten. Wir können glücklich sein, wenn wir dasheilige Verlangen haben, Gott zu dienen, und brauchen es nicht schwerzu nehmen, wenn wir nicht so die Begeisterung fühlen, die wir uns fürseinen Dienst wünschen möchten.“

16. „Und kommt es euch vor, als ob euch mehr die Furcht vor demTod als die Liebe bewegt, eure Unvollkommenheiten abzulegen, sokümmert euch nicht darum; reinigt eure Absicht und alles ist gut. Grü-belt nicht viel über die Fehler nach, die ihr in der Erregung begeht,lenkt eure Aufmerksamkeit davon ab! Wir müssen wohl immer in denHerzpunkt der Vollkommenheit zielen, dürfen aber nicht erstaunt sein,wenn wir nicht treffen, wie wir möchten.“

„Die Sehnsucht nach den ewigen Dingen muß Ihr Gemüt, liebe Toch-ter, mit heiliger Ruhe erfüllen; kümmern Sie sich nicht um die from-men Gefühle; halten Sie sich vielmehr für unwürdig, solche zu haben.“

„Wenn es Ihnen auch scheint, daß Sie beim Essen eine sinnliche Befrie-digung empfinden, so ist doch nichts Schlechtes dabei. Geben Sie sichsolchen Ängsten nicht hin. Essen Sie Gott zuliebe und bleiben Sie ruhig.Machen Sie das in aller Einfachheit, ohne sich einzubilden, daß der Ge-horsam Ihnen nur ein Vorwand sei, um sich zu befriedigen. Ist Ihr Willenicht dabei, so liegt keine Gefahr vor. Nur keine Spitzfindigkeit!“

17. „Ich bin niemandem böse, wenn er beim Beten einschläft, wennman sich nur Mühe gibt, wach zu bleiben. Man muß das in aller Demutertragen, wie eine Statue vor Gott bleiben und alles annehmen, was eruns schickt. Dem Heiland gefällt es zuweilen, uns während des ganzenGebetes mit dem Schlafe kämpfen zu sehen, ohne uns davon befreienzu wollen; wir müssen es dann geduldig leiden und die Demütigungliebevoll hinnehmen. Sagt nur nie, daß ihr nichts tun könnt; wir kön-nen immer, wenn wir wollen; sonst würde der Heiland Unmöglichesvon uns verlangen, was er nie tut. Wir vermögen alles mit der Gnade,die uns nie fehlt“ (Phil 4,13).

18. „Um uns auf die heilige Kommunion vorzubereiten, wollen wiruns ganz nahe beim Heiland halten, ihm sagen, wozu die Liebe unsdrängt und was er uns eingibt; erwägen und bedenken, daß er Fleischvon unserem Fleisch geworden ist, um eins mit uns zu werden. Undgleich der Braut im Hohelied müssen wir ihn bitten, uns zu küssen ‚mitdem Kuß seines Mundes‘ (Hld 1,1). Das tut er denn auch, wenn er beiuns einkehrt, und dann kann die Seele sagen: Mein Geliebter ist meinund ich bin sein“ (Hld 2,16; 6,2).

Page 341: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

340 24. Antworten und Aussprüche

19. „Wir werden niemals ganz frei von läßlichen Sünden sein. Es nütztuns nichts, wenn wir uns wohl selbst der Fehler anklagen, aber keinenTadel ertragen können. Sträuben wir uns freiwillig dagegen, daß manunsere Fehler sieht, so ist das nur Eigenliebe. Das Gefühl des Wider-strebens allerdings, das in uns aufsteigt, wenn man uns tadelt, hat nichtszu sagen, wenn der Wille fest bleibt, die Demütigung liebevoll anzu-nehmen.

Es ist immer besser, die Seele im Vertrauen auf Gott zu halten als inder Furcht, auch wenn der Zweck der Furcht unsere Verdemütigungwäre. Die Liebe bringt uns genug Demütigungen ein.“

20. „Meine Tochter, berauben Sie sich nicht der heiligen Kommunionaus Verbitterung. Überkommt Sie dieses Gefühl, dann nahen Sie sichdem Heiland erst recht, um mit ihm im Geist der Sanftmut eins zuwerden. Bei manchen Fehlern ist es allerdings angebracht, sich dieheilige Kommunion zu entziehen; so z. B. wenn wir durch ein ungedul-diges Wort oder eine jähzornige Handlung Ärgernis gegeben haben.“

21. „Unsere Seele hält Gott dann die Treue, wenn sie sich seinemWillen vollkommen anheimgegeben hat, alles geduldig annimmt, wasseine Güte zuläßt, wenn wir alle unsere Übungen in der Liebe und ausLiebe tun, besonders das Gebet, bei dem wir dem Heiland in vertrau-licher Zwiesprache von unseren kleinen Nöten sprechen, sie ihm zei-gen und ihm ergeben bleiben in allem, was er mit uns machen will. Wirsind Gott treu, wenn wir gehorsam sind, alles, was man uns befiehlt,gerne tun, auch dann, wenn es uns Überwindung kostet, – wenn wirgewissenhaft auf das Glockenzeichen hin sofort aufstehen, – wenn wirdie Zerstreuung beim Gebet und Offizium abwehren; – wenn wir dieReinheit der Gesinnung bewahren; denn nur in einem reinen Herzenwohnt Gott, nicht aber in einem Herzen, das voller Eitelkeit und Selbst-herrlichkeit ist. Ein solches Herz straft und züchtigt er vielmehr uner-bittlich. Gott hat euch schon in eurer frühesten Jugend zu seinem Dienstberufen, das ist eine große Gnade. Dankt ihm dafür von ganzem Her-zen und mit ganzer Seele!“

22. „Wir dürfen die Unvollkommenheiten anderer nie mit Wissen undWillen betrachten. Das ist etwas sehr Häßliches, meine liebe Tochter.Sehen wir sie aber, ohne es zu wollen, so müssen wir uns davon ganzruhig abwenden und an den Himmel denken, an die VollkommenheitenGottes, des Heilands, der Mutter Gottes, der Engel und Heiligen unddazwischen uns die eigene Nichtswürdigkeit und Niedrigkeit vor Au-

Page 342: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

34124. Antworten und Aussprüche

gen halten. Fallen uns die Unvollkommenheiten der anderen ein, dannmüssen wir uns in Grund und Boden hinein verdemütigen und vernich-ten, müssen einsehen, daß wir nur ein Wurm sind, der kein Recht hat,das Tun und Lassen anderer zu zerpflücken, die noch dazu Bräute desHeilands sind. Halten wir unserem Herzen die eigenen Schwächen vorund weisen wir uns selber zurecht, damit wir künftig besser auf der Hutsind. O, schaut nicht auf die Unvollkommenheiten eurer Mitschwe-stern, fallt ja nicht in diesen Fehler, denn er verzögert stark eure Voll-kommenheit und schadet eurer Seele sehr.“

23. „Wenn es einer leid tut, nicht genug mit der Oberin oder Novizen-meisterin sprechen zu können, dann rate ich, es ihr zu sagen. Ich fürmeine Person würde dann um eine ausgiebige Buße bitten. Doch dasbeste Mittel, solches zu verhindern, ist dies: Gott anhangen und nichtam Geschöpf hängen bleiben.“

24. „Wir sind dann auf das betrachtende Gebet in der rechten Weisevorbereitet, wenn wir in großer Demut und mit dem Bewußtsein unse-rer Nichtigkeit kommen, wenn wir den Heiligen Geist um seinen Bei-stand, den Schutzengel um seine Mithilfe bitten, wenn wir uns währenddes Betens recht ruhig in der Gegenwart Gottes halten und glauben,daß er mehr als wir selber in uns ist. Und wenn wir auch dabei keinelangen Erwägungen und Betrachtungen anstellen, so liegt nichts daran,denn das Gebet hängt weder von Überlegungen noch von Erwägungenab. Es ist ein einfaches Hinmerken unseres Geistes auf Gott. Je einfa-cher, je gefühlsärmer unser Geist ist, desto mehr ist es wirklich Gebet.Nur wenige Menschen erfassen diese Wahrheit, besonders wenige Frau-en, und doch ist gerade für sie, bei ihrem Mangel an Wissen, das langeErwägen beim Beten vom Übel.

Ich rate schon an, daß man untertags nach Möglichkeit kleine Erwä-gungen mache, um sich wieder zu sammeln. An seine Sünden soll manwährend des Gebetes nicht denken; fallen sie uns ein, dann erniedrigenwir uns vor Gott mit einem einfachen Akt der Demut, in den wir alleunsere Sünden einschließen, ohne sie einzeln zu betrachten. Diesereine Akt genügt. Für gewöhnlich zerstreut uns die Rückerinnerung anunsere Sünden nur.

Wenn ihr alles, was ihr tut, für Gott tut, dann seid ihr ständig in derGegenwart Gottes. Essen, schlafen, arbeiten aus Liebe zu ihm, heißt inseiner Gegenwart sein. Es liegt nicht in unserer Macht, ständig dasBewußtsein der Gegenwart Gottes zu haben, außer diese besondere

Page 343: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

342 24. Antworten und Aussprüche

Gnade ist uns zuteil geworden. – Haben wir eine Beschäftigung, dieunsere Aufmerksamkeit ganz beansprucht, dann müssen wir ab und zuan Gott denken; vergessen wir es, so müssen wir uns verdemütigen undvon der Demut zu Gott emporsteigen und von Gott wieder zur Demuthinabsteigen und mit ihm vertrauensvoll reden, wie ein Kind mit derMutter, denn er weiß genau, was wir sind.“

25. „Es wäre verkehrt, während der ganzen Rekreation von weltli-chen Dingen oder von sich zu reden. Tut man es das eine oder andereMal mit ein paar Worten, um eine Schwester zu unterhalten, so brauchtman das noch nicht zu beichten.“

26. „Seid recht eifrig bemüht, die Einfachheit zu üben und eine de-mütige Gesinnung zu wahren; verschmäht menschliche Weisheit undKlugheit und erfaßt die Weisheit des Kreuzes.“

27. „Wundert euch nicht über die Versuchungen. Haltet euch für einreines Nichts; macht euer Herz leer von weltlichen Anhänglichkeitenund prägt den gekreuzigten Herrn Jesus hinein. Dankt ihm für eurenBeruf, seid fest entschlossen zu gehorchen, denn möglicherweise wer-det ihr niemals befehlen; sagt aber auch nicht wie so manche: ich möchtenicht Oberin sein; bewahrt den heiligen Gleichmut: Nichts verlangen,nichts abschlagen!“

28. „O, es ist durchaus vernünftig, daß wir auf die Annehmlichkeitender Welt verzichten, da doch Gott unseretwegen auf seine Herrlichkeitverzichtet hat. So viel Licht habt ihr schon, daß ihr erkennt, worin dasGlück eures Berufes besteht.“

29. „Sagt nie: Das können wir nicht; sagt vielmehr: es scheine euch,ihr könntet es nicht; denn mit der Gnade können wir alles; Gott läßtuns niemals im Stich.“

30. „Wenn nötig, dürft ihr euch während der Betrachtung schon set-zen, aber nicht die ganze Zeit. Nur nicht so weichlich mit sich sein! Dasist gefährlich und schadet uns auf dem Weg des Heiles sehr. Körperli-che Krankheiten sind für die Frömmigkeit kein Hindernis, sie fördernuns vielmehr, wenn wir sie aus der Hand Gottes annehmen. Man kannvor den Mitschwestern immer ein heiteres Gesicht zeigen, trotz allerSchmerzen.“

31. „Meine Töchter, hüten Sie sich vor dem Grübeln! Der Geist Gotteswohnt nicht mit einem Geist zusammen, der alles wissen will, was in ihmvorgeht. Nur Mut: die kleine und kleinmütige Tochter muß noch ganzhochgemut werden und wird dann alle Schwierigkeiten überwinden.

Page 344: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

34324. Antworten und Aussprüche

Wir wollen keine unnützen Tränen vergießen. Wenn wir schon fürjedes unnütze Wort Rechenschaft ablegen müssen, dann erst recht fürgrundlos vergossene Tränen. Nehmen wir uns doch auch vor unnützenWorten in acht; hat man da zwei oder dreimal gefehlt, dann muß manes beichten.

Man hat die Gelübde nach den Regeln abgelegt; diese verpflichtenaber nicht unter Sünde. Regel und Satzungen sind also nicht Ursachevon Sünden.

Sie müssen recht tapfer sein, meine liebe Tochter, denn Sie sind eineTochter des gekreuzigten Heilands. Sie sollen kein anderes Lebenszielkennen als die Vereinigung Ihrer Seele mit Gott. Seid ihr doch glück-lich! Eure Regeln und all eure Übungen führen euch zu dieser Vereini-gung mit Gott.

Bei unseren Schwierigkeiten müssen wir ganz fest bleiben; in diesemLeben werden wir nicht immer im selben Zustand sein; das ist nichtmöglich. Das erste Opfer, das wir darbrachten, als wir uns dem Herrnhingaben, behält seine Kraft und genügt, wenn wir auch nicht aufmerk-sam sind, ihm immer wieder aufzuopfern, was wir tun.

Die Gefühle sind nicht notwendig, um zur Vollkommenheit zu ge-langen. Der Heiland war auf dem Ölberg gänzlich allen Trostes be-raubt und erfüllte doch vollkommen den Willen seines Vaters“ (Mt26,37-46).

32. „Die gute und echte Führung hängt von der Gnade ab und nichtvon der natürlichen Begabung. Die Gnade gibt die nötige Erfahrung inviel vollkommenerer, wenn auch nach außen weniger glänzender Wei-se als alle menschliche Weisheit und Klugheit, aber darin liegt ja gera-de ihr vorzüglicher Wert.“

33. „Wir müssen den notwendigen leiblichen Bedürfnissen, wie Nah-rung, Kleidung, Heizung dankbar und demütig Rechnung tragen, dür-fen darüber nicht verstimmt sein noch bei unseren Unpäßlichkeitenbedauert werden wollen. Mögen sich die verzärtelten Weltkinder sobenehmen, die Kinder Gottes aber geben sich mit derartigenWeichlichkeiten nicht ab. Die Satzungen sagen Ihnen, was Sie zu tunhaben: Bitten Sie ganz einfach und ohne Ängste um das, was Sie brau-chen.“

34. „Ihren Wunsch, die Regeln zu beobachten, müssen Sie recht warmhalten, da diese doch ganz Liebe sind. Bleiben Sie sich bewußt, daß dieSchwierigkeiten nicht ausbleiben, verlieren Sie aber nicht den Mut,

Page 345: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

344 24. Antworten und Aussprüche

vertrauen Sie auf Gott und werfen Sie sich in die Arme der göttlichenVorsehung. Es gibt keinen sichereren Weg als das Leiden, wenn man esgeduldig, sanftmütig und aus Liebe trägt. Im Leiden können wir denHeiland und die Heiligen nachahmen. Wir müssen die Überzeugunghaben, daß alles, was wir leiden, vor Gott nicht viel ist, und sollen sowenig wie möglich an unsere Leiden denken.“

35. „Von dem Gefühl der Befriedigung, das Sie haben, wenn Sie sichnotwendige Dinge gönnen, können Sie sich sehr wohl abwenden. Siemachen es dann einfach so, wie jemand, der einen anderen Weg wählt,weil er durch eine schmutzige Straße nicht gehen will. So müssen wirhandeln und dann nicht weiter darüber nachdenken.“

36. „Es ist wohl gut, alle längeren Gespräche abzubrechen, außerjene, die das geistige Wohl betreffen. Freilich, wenn der Vater oder dieMutter ein Gespräch beginnt, dann soll man sie nicht unterbrechen;wenn sie aber ausgeredet haben, soll man ihnen einige gute Gedankenmitgeben, die ihnen Freude bereiten, dabei aber nicht die Überlegenenspielen. Hört ihnen ruhig zu, unterbrecht sie nicht; das wäre nicht inmeinem Sinn. Anders ist es bei Leuten, die aus der Welt alle möglichenNeuigkeiten hereintragen, nach denen ihr nicht fragen sollt. Gebt euchGott anheim, denn die Eltern haben ihre Kinder oft schnell vergessen.“

37. „Die Demut ist eine so vorzügliche Tugend, daß nur die Heiligensie vollkommen üben. Sie zieht auch die anderen Tugenden nach sich.Im Geist der Demut handeln heißt, mit seinen Handlungen die Absichtverbinden, sie demütig zu verrichten. So müssen all unsere Handlun-gen und Werke gestaltet sein, damit wir dem Heiland nachfolgen, dersich erniedrigt hat bis zum Kreuzestod“ (Phil 2,8).

38. „Wir müssen froh sein, wenn wir etwas haben, was den anderendienen kann, wie z. B. Gegenstände der Sakristei. Mein Gott, leiht sierecht gerne aus! Wenn Gott zuläßt, daß sie dabei Schaden leiden, sowird er euch auch die Mittel schicken, wieder andere zu kaufen. Unddas sind so geringe Sachen, daß man sich dabei nicht aufhalten, son-dern seinen Geist lieber auf das ewige Leben richten soll.“

39. „Es ist wohl wahr, daß die Liebe unseren Werken ihren Wert gibt.Gott allein kann die Liebe schenken; erhofft sie mehr von ihm als voneuch selbst.“

40. „Es ist recht so, wenn ihr im Guten wie im Schlechten ungern voneuch redet; tut es so wenig wie möglich, das ist das Beste.“

41. „Der Artikel über die Keuschheit bezieht sich in der Hauptsache

Page 346: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

34524. Antworten und Aussprüche

auf die große Einfachheit und Lauterkeit des Herzens und verbietet be-sonders die unreinen Gedanken, ich meine natürlich die freiwilligen.“

42 „Ob das Wort Gottes in gehobener oder schlichter Sprache vor-getragen wird, ist ganz unwichtig, das sind menschliche Bestrebungen,die in allem hoch hinaus wollen.“

43. „Man muß sich ganz in die Hand Gottes geben und ihm auf dieArt dienen, die er will. Sich von Gott und den Vorgesetzten führen las-sen, das ist der wahre Eifer.“

44. „Es ist von großer Wichtigkeit, daß die Schwestern ihre geistigeNahrung den Wahrheiten und Klarheiten des Glaubens entnehmen. Manmuß sie dazu erziehen, auch wenn es ihnen schwer fällt. Man darf ihnennicht erlauben, sich in Schwärmereien und Gefühlen zu verlieren, diealles eher als echte Tugend sind. Viel reden hat gar keinen Wert, han-deln muß man, das ist das Wichtige.“

45. „Ihr seid ins Kloster gegangen aus Liebe zu Gott. Ob euch diegöttliche Güte den Weg der Freude oder der Bitternis oder der Verdemüti-gung führt, jeder sei euch recht. Der eine wie der andere ist verdienst-voll. Sehen Sie, meine Töchter, als die hl. Blandina von den Heiden zuTod gemartert wurde, sagte sie: ‚Ich bin Christin‘. Auch wir, meinelieben Töchter, sollen in Leiden und Schwierigkeiten immer nur sa-gen: ,Ich bin Christin‘.“

46. „Es fällt uns schwer, eine Erniedrigung zu ertragen; wir habenAngst vor Demütigungen, – nun, das sind Unvollkommenheiten, mitdenen wir alle behaftet sind. Wir dürfen uns darüber nicht wundern,wollen vielmehr guten Mut fassen, auf Gott vertrauen und nichts ande-res wollen, als ihm zu gefallen. Verdemütigungen sind nicht so schlimm,wie man glaubt; sie schaden nicht soviel, wie man meint und wie esscheint; wir dürfen keine solche Angst vor ihnen haben. Schaut denHeiland an, er hat sich so tief erniedrigt bis zum Tod (Phil 2,8) und mitihm alle Heiligen, die jede Gelegenheit, sich in dieser Tugend zu üben,so eifrig aufgegriffen haben. Freut euch über diese Gelegenheit, nehmtsie gern und liebend an. Heißt die Verdemütigung und Erniedrigungwillkommen, liebt sie, umarmt sie gleichsam. Wundert euch nicht überden Hang zur Eitelkeit, wehrt sie nur beharrlich ab. Solange sie euerTun nicht beeinflußt, ist nichts Schlimmes dabei.“

47. „Ihr möchtet wissen, wie dieses Wort aus dem Psalm 1, man solle‚Tag und Nacht das Gesetz des Herrn betrachten‘, zu verstehen ist. Nun,das heißt: wir sollen alles, was wir tun, zu seiner Ehre verrichten und

Page 347: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

346 24. Antworten und Aussprüche

unser Herz aufmerksam auf ihn gerichtet halten. Glaubt aber ja nicht,daß ihr deshalb immer auf den Knien liegen müßt!“

48. „Ihr fragt mich, wie ich es mache, ruhig zu bleiben, während allesin aufgeregter Hast ist. Nun, ich bin nicht auf der Welt, um das Gehetzenoch zu vermehren, das schon reichlich genug vorhanden ist. Wennman mich fragt, wo ich wohne, dann freue ich mich, sagen zu können:Beim Gärtner unserer Töchter der Heimsuchung Mariä.“

49. „Nur wenige Frauen sind nicht eigensinnig; trifft man einmal eine,die es nicht ist, dann soll sie uns teuer sein.

Überkommt uns eine Versuchung zum Neid, weil eine andere Schwe-ster ihre Sache besser macht als wir oder weil sie beliebter ist, dannmuß man das Herz zusammendrehen, wie man ein Handtuch auswindet,damit es Vernunft annimmt.“

50. „Nein, meine Tochter, Sie sollen sich mit kleinlichen Wünschennicht befassen, sie sind Ihres Herzens nicht würdig und halten es nurab, sich den gediegenen Tugenden zu widmen. – Und was Ihre Frageüber die Kälte betrifft, wissen Sie, was Sie aushalten müssen? – Wenndie Oberin Sie in den Garten schickt, Küchenkräuter zu holen, und esist so kalt, daß Ihre Finger schier an den Kräutern anfrieren, – auchdann müssen Sie sie holen, da es der Gehorsam fordert.“

51. „Mit unseren kranken Schwestern müssen wir recht viel Geduldhaben und ihnen so viel als möglich Erleichterung verschaffen und janicht meinen, es fehle ihnen nicht viel. Es ist nicht an uns, ihren Zu-stand zu beurteilen.“

52. „Nicht weil wir schön gesungen haben, werden wir in den Himmelkommen, sondern weil wir gehorsam waren. Gott wird uns beim Ge-richt nicht fragen, ob wir viel im Chor gebetet, sondern ob wir seinenWillen erfüllt haben.“

53. „Sie fragen, wie das zu verstehen sei, was die Satzungen sagen:Man dürfe Augen und Worte nur dem Dienst des göttlichen Bräutigamswidmen und damit nicht menschliche Stimmungen und Neigungen be-friedigen.

O, meine Tochter, Sie reden da von einer Vollkommenheit, die nurwenige Menschen üben, obwohl alle es sollten. Sehen Sie, meine Toch-ter, da sind z. B. zwei Schwestern, die eine haben Sie sehr gern, dieandere ist Ihnen nicht sympathisch und deshalb schauen Sie sie auchweniger herzlich an. Würden Sie diese Mitschwester jedoch rein ausLiebe zu Gott lieben, so würden Sie die Ihnen weniger zusagende Schwe-

Page 348: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

34724. Antworten und Aussprüche

ster ebenso herzlich ansehen wie die andere und ihr ebenso alles Liebeund Gute wünschen wie der anderen.“

54. „Es ist wahr, ich habe alle Menschen sehr lieb, vor allem dieeinfachen Seelen. Ich bringe allen Achtung entgegen; das lehrt mich dereinfache Anstand, und es ist mir ein angeborenes Bedürfnis. MancheLeute meinen, wenn sie zu Amt und Würden gelangt sind, müßten sievon aller Welt entsprechend geehrt werden, und wenn sie Briefe schrei-ben, dann wollen sie sich nur bei sehr angesehenen Persönlichkeitenmit ‚sehr ergebener‘ oder ‚ergebener Diener‘ unterzeichnen. Solche Un-terschiede habe ich nie machen können. Ich unterschreibe mich so beiallen ohne Unterschied, nur bei meinen Dienern Peter und Franz nicht,denn die würden meinen, ich hielte sie zum Narren, wenn ich hin-schreibe: ‚Ihr sehr ergebener Diener‘. Ich mache zwischen den Men-schen so gut wie keinen Unterschied.“

Wir sprachen von seiner Nachgiebigkeit und fragten ihn, wie er esmache, für alle Menschen so zugänglich zu sein.

Er antwortete: „Das fällt mir nicht schwer; es hat mich noch niegereut, nachgiebig gewesen zu sein, wohl aber, wenn ich es nicht war.Von Natur aus habe ich keinen hartnäckigen Willen, – und übrigenssoll man denn nicht den Mitmenschen entgegenkommen? Ich kann dasnicht: meinen Willen anderen aufzwingen; sehe ich, daß jemand etwashaben will, dann lasse ich ihn gewähren.“

Ich gab ihm zu verstehen, daß ich gerne so nachgiebig sein möchtewie er, und sagte, daß ich sehr oft gerade dann ins Sprechzimmer geru-fen werde, wenn es zum Chorgebet läutet: Sogar am heiligen Weih-nachtsfest wäre ich wegen einer geringfügigen und unwichtigen Sacheum die Komplet gekommen.

Er antwortete: „Das ist echte Nachgiebigkeit; – wie Sie auch jetztdiese Tugend üben, da Sie mit mir beisammen sein wollen.“

Am Stephanstag, während der Non, sprach er uns von der Schönheitdieser heiligen Tugend. Er fügte hinzu: „Man muß die Weltleute leh-ren, womöglich nicht gerade während des Chorgebetes zu kommen.“

55. Wir sprachen über Predigt und Beichte. Er sagte: „Ich höre dasWort Gottes sehr gerne, das ist meine einzige gute Seite. Ich begehebeim Beichthören wohl viele Fehler, zwei Fehler aber jedenfalls nicht:ich bin nicht kleinlich und ich verstelle mich nicht.“

Page 349: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

348 24. Antworten und Aussprüche

56. Er erklärte mir eines Tages, daß er die Neugründung in Besançonsehr wünsche, und sagte, er freue sich, daß der Orden sich so ausbreite,da die Schwestern so friedlich und herzlich zusammenlebten.

57. Wir sagten ihm einmal, daß wir den lebhaften Wunsch hätten, inunserem Kloster nach seinem Geist zu leben.

Er antwortete: „Gott bewahre euch davor! Lebt nach dem Geist Got-tes und des hl. Augustinus.“

58. Als er die Beichte einer Schwester gehört und sich fast anderthalbStunden mit ihr abgegeben hatte, sagten wir, es sei bewunderungswür-dig, mit welcher Sanftmut und Geduld er sich dieser Mühe unterzogenund die Schwester so lange angehört habe.

Darauf erwiderte er: „Es ist schon recht. Kranke muß man wie Kran-ke behandeln. Wenn sie sich aussprechen wollen, sollte man ihnen aberso viel als möglich zu reden verbieten.“

59. Wir fragten: Ist es im Sinn der Satzungen, der Oberin zu sagen, wasman von ihr denkt, Sie schicken uns doch dafür zur „Gehilfin“ der Oberin?

Darauf sagte er, er habe dies in die Satzungen nur für jene hineinge-schrieben, die nicht das Vertrauen dazu hätten, mit der Oberin selberzu sprechen; – die besten Schwestern seien aber jene, die das größteVertrauen zeigten.

60. „Ja, meine Tochter, auch uneheliche Kinder dürfen Sie aufneh-men, auch solche, deren Eltern wegen eines schweren Vergehens hinge-richtet worden sind; sie selbst können ja nichts dafür.“ – Ich sagte ihm,daß ich mich nicht getraut habe, ein solches Mädchen hier in der Stadtaufzunehmen, ich habe gefürchtet, auf Widerspruch zu stoßen. Woraufer erwiderte: „Warum haben Sie es nicht nach Annecy geschickt?“

61. „Nein, man darf den Schwestern niemals erlauben, das Chorgebetwegen einer Arbeit zu unterlassen, nicht einmal wegen des Sakristeidien-stes. Die Lesung dürften Sie schon eher unterlassen, aber nur selten.“„Wie glücklich,“ sagte er, „sind doch die Schwestern, die einen großenEifer zeigen, sich immer und in allem an die Gemeinde zu halten! Gotterweist ihnen damit eine große Gnade. Ich will euch erzählen, was icheinmal mit einem guten Ordensmann erlebt habe, der viele Bußübungenund Kasteiungen über die Gemeindeübungen hinaus auf sich nehmenwollte. Ich sprach mit ihm des langen und breiten von dem Glück, inallem sich an die Gemeinde zu halten, und bat ihn, es doch einmal zuversuchen. Er tat es. Nach einiger Zeit besuchte er mich und danktemir sehr herzlich, daß ich ihm zu seinem Glück verholfen hätte.“

Page 350: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

34924. Antworten und Aussprüche

62. Wir sagten ihm, daß manche Schwestern von Natur aus sehr we-nig essen, für gewöhnlich nur den dritten Teil ihrer Portion; wir mein-ten, ob wir ihnen nicht energisch sagen sollten, daß sie mehr essen.

Er antwortete, es sei besser, sie täten sich eine Zeitlang schwer, umsich daran zu gewöhnen; es sei aber notwendig, weil es ihnen mit derZeit doch schaden könnte, so wenig zu essen.

63. „Nein, es ist keine Sünde, mit Lust zu essen, das sind Unvoll-kommenheiten unserer Natur. Man muß die Gier bezähmen und diebitteren Worte wieder gut machen. Ich für meine Person bin kein stren-ger Kritiker. Der hl. Bernhard sagt, daß sich wenige Menschen in derFührung anderer gleichen, daß aber eine gütige und milde Führung im-mer vorzuziehen sei. Man mag schauen, wohin man will, immer wiedermuß man auf die Sanftmut und Güte zurückkommen.“

64. „Ich sehe, daß alle Oberinnen die mürrischen und launenhaftenSchwestern aus ihren Klöstern weg haben möchten. – Es ist ja mensch-lich, nur an Angenehmem Freude zu haben. Ich bin aber durchaus derAnsicht, daß man das Tor des Klosters nicht den Schwestern öffne, die inein anderes Kloster gehen wollen, sondern nur jenen, die es nicht selberwünschen, aber von den Oberen aus wichtigen Gründen in ein anderesKloster geschickt werden. Sonst würde die geringste Unannehmlichkeitgenügen, Schwestern in Unruhe zu versetzen und auf eine falsche Fährtezu locken: statt selber anders zu werden, würden sie meinen, das Heil-mittel gefunden zu haben, wenn sie in ein anderes Kloster gingen.

Ebensosehr mißfällt mir das Bestreben von Oberinnen, ihre Häuserdurch Neugründungen zu entlasten. Das alles kommt vom rein mensch-lichen Denken und von der Unlust, seine eigene Last zu tragen.“

65. „Es wird auf immer und ewig mein Wille sein, daß man die mitGebrechen Behafteten in die Genossenschaft aufnehme, mit Ausnahmeder Gebrechen, die in den Regeln und Satzungen angegeben sind. –Nehmt sie auf! Glaubt es mir: die menschliche Klugheit ist der Gütedes Kreuzes feind. Nehmt die Krüppelhaften, die Buckeligen, die Ein-äugigen, ja selbst die Blinden liebreich auf, wenn sie nur eine lautereGesinnung haben! Denn im Himmel werden auch sie schön und voll-kommen sein. Und wenn wir allen, die äußere Unvollkommenheitenan sich haben, beharrlich Liebe erweisen, dann wird uns Gott, allermenschlichen Klugheit zum Trotz, eine ganze Schar Schwestern schik-ken, die selbst in den Augen der Welt schön und anziehend sind.“

Page 351: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

350

25.

WWWWWas der selige Vas der selige Vas der selige Vas der selige Vas der selige Vater der Schwester Claudia –ater der Schwester Claudia –ater der Schwester Claudia –ater der Schwester Claudia –ater der Schwester Claudia –SimpliciSimpliciSimpliciSimpliciSimplicienenenenennnnnneeeee gesagt hat gesagt hat gesagt hat gesagt hat gesagt hat11111

Sie meinen, Sie würden es genau so machen, wie ich, wenn ich imKloster wäre, meine liebe Tochter. Ja, wie würde ich es denn machen?Ich habe keine Ahnung davon; wie sollte ich das auch wissen? Ich wür-de es sicher nicht so gut wie Sie machen, bin ich doch ein Hasenfuß, dernichts taugt. Eines aber weiß ich, ich würde mit der Gnade Gottes michgewissenhaft an alle Tugendübungen und kleinsten Observanzen hal-ten, die im Kloster eingeführt sind, und würde mich bemühen, auf die-se Weise das Herz des Heilands zu gewinnen. Ich würde das Stillschwei-gen beobachten, würde aber auch während des Stillschweigens reden,freilich nur dann, wenn es die Liebe verlangt, sonst nicht. Ich würdestets ruhig und leise sprechen, ja darauf würde ich ganz besonders ach-ten, weil die Satzungen es vorschreiben. O ja, ich glaube schon, daß ichdas alles tun würde. Dann würde ich auch die Türen leise auf und zu-machen, weil unsere Mutter das so angeordnet hat, denn wir wollengerne alles tun, was unsere Mutter will. Ich würde im Haus die Augenniederschlagen und leise gehen. Gott und seine Engel schauen unsimmerfort zu und haben ganz besonders die Seelen lieb, die ihre Sacherecht machen.

Ich meine, wenn ich mich dem Heiland schon einmal ganz überge-ben habe, wie das bei der Gelübdeablegung geschieht, dann würde ichihn für mich sorgen lassen und alles, was mich betrifft, ihm überlassen;ich würde, meine ich, mit mir machen lassen, was man will. Bräuchteman mich zu etwas oder gäbe man mir ein Amt, dann würde ich dieseBeschäftigung lieb haben und mir die größte Mühe geben, alles rechtgut zu machen. Würde mir kein Amt zugeteilt, ließe man mich stehen,dann würde ich mich in nichts hineinmischen und mich nur um daseine kümmern: gewissenhaft zu gehorchen und den Heiland innig zulieben. Immer und überall würde ich mir die ganz gewissenhafte Beob-achtung der Regel und Satzungen recht angelegen sein lassen. O, darinmüssen wir so eifrig sein, wie wir nur können, denn dafür allein sindwir doch ins Kloster gegangen wir zwei, nicht wahr? Ich freue mich,daß es eine Schwester Claude-Simplicienne gibt, ich habe sie sehr lieb,meine gute Schwester Claude-Simplicienne. Sie will hier meinen Platz

Page 352: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

35125. Schwester Simplicienne

einnehmen und mit jedem Tag will sie ihre Sache besser machen. Nichtwahr, das wollen wir doch, wir zwei? Ja, geben wir uns alle Mühe; wirwollen alles aufs Beste tun.

Um aber alles gut tun zu können, wollen wir daran gehen, unsereStimmungen und Neigungen ehrlich und gründlich zu überwinden; dennnur sie allein hindern uns, unsere Sache gut zu machen. Es soll unsnichts davon abhalten, alles genau zu erfüllen, was die Satzungen vor-schreiben; mit der Gnade Gottes können und müssen wir es zusam-menbringen; wir dürfen aber nie darüber erstaunt sein und den Mutverlieren, daß wir immer noch Fehler begehen. Das wird immer so seinund Gott läßt es zu, damit wir uns in der Demut üben; von uns ausvermögen wir es ja nicht anders.

Ich möchte meinen, daß ich im Kloster auch recht heiter wäre und sofroh darüber, daß mir alle Übungen so schön vorgeschrieben sind. Über-stürzen würde ich mich aber nie, o nein, ich glaube, ich würde alles inRuhe machen, nachdem ich mich jetzt schon nie übereile; das eine alsohätte ich schon gelernt.

Ich würde mich bei jeder Gelegenheit, bei jeder Tugendübung undsogar bei jedem Akt der Demut erniedrigen und für recht gering halten.Und wüßte ich nicht, wie mich erniedrigen, dann soll das ein Grundsein, mich erst recht für klein zu erachten. Ich würde mir die allergröß-te Mühe geben, alles, was ich tue, in Gottes Gegenwart zu tun und zwarmit aller Demut und Liebe, deren ich fähig bin. Das lernt man dochhier, nicht wahr? Oder hätten wir vielleicht etwas anderes zu tun? Nein,nur das. Ich würde mich im Vergleich zu den anderen für recht kleinund gering halten. Wenn wir auch den Mut gehabt, alles zu verlassen,was wir in der Welt besaßen, mehr Mut noch müssen wir aufbringen,uns selbst zu verlassen. Es war ja recht wenig, was wir in der Weltzurückgelassen; da es aber alles war, was wir haben konnten, so habenwir alles verlassen. Jetzt haben wir nur mehr das zu tun, was in derRegel und in den Satzungen geschrieben ist. Machen wir mit jedemneuen Tag unsere Sache besser!

Ich würde auch die Satzungen von der Demut und der Eingezogenheit2

recht oft lesen. Lesen Sie es nicht oft? Wir werden also unser Bestes tun,ich weiß es, und Gott wird uns helfen. Wir sind guten Mutes.

Gott sei gebenedeit!

Page 353: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

352

26.

Auszug aus der Geschichte der „Galerie“Auszug aus der Geschichte der „Galerie“Auszug aus der Geschichte der „Galerie“Auszug aus der Geschichte der „Galerie“Auszug aus der Geschichte der „Galerie“11111

Als mir der Heiland die unfaßbare große Gnade gewährte, ins Klo-ster einzutreten, waren unser nicht mehr als sechs Schwestern da. Siewaren Engel an Reinheit und Liebesglut und mit verschiedenen außer-ordentlichen Gebetsgnaden ausgezeichnet. Sie hätten ganz auf die leib-lichen Bedürfnisse vergessen, wenn unser heiliger Stifter nicht aus-drücklich gewünscht hätte, daß wir zu den Mahlzeiten, zur Erholungund zum Schlafengehen auf das erste Glockenzeichen ebenso raschgehorchten wie zum Aufstehen und zum Chorgebet.

Er sagte: „Meine lieben Töchter, derselbe Gott, der euch zur Betrach-tung und zum Chorgebet ruft, ruft euch auch zur Erholung und zumSchlafengehen. Und weil ich möchte, daß ihr allen eigenen Wünschenabgestorben seid, deshalb möchte ich euch auch immerfort, Tag und Nacht,von einer tiefen innerlichen Opfergesinnung erfüllt wissen, die bei euchGeißel, Fasten und Bußgürtel ersetzen soll. Ich versichere euch, meinegeliebten Töchter unseres gemeinsamen Herrn und Meisters, daß ihrsein Herz mit Freude erfüllen werdet, wenn ihr alle Übungen der Regelgewissenhaft beobachtet, denn sie sind nicht Menschen- sondern Gottes-werk. Ich versichere euch, nichts darin niedergeschrieben zu haben, wasnicht der Heilige Geist mir eingegeben hätte. Die erste Eingebung, die ermir zuteil werden ließ, war, hier eine heilige Stätte der Geborgenheit zubauen für Frauen mit schwachen Körperkräften aber gesundem Geist.Darum möchte ich auch nicht, daß außer den angegebenen Bußübungennoch andere Strengheiten eingeführt würden.“

Es gab zwischen unseren beiden Mitschwestern Favre und Chastel we-gen einer Tugendübung eine kleine Meinungsverschiedenheit. Unser hei-liger Stifter, dem man nichts verbarg, erfuhr davon. Er kam in die Ge-meinde zu einer geistlichen Unterredung und sprach unter anderem auchvon der Eintracht, die unter uns herrschen solle. Er wandte sich dann zuunserer Würdigen Mutter und sagte: „Verstehen sich meine Töchter gutund sind sie lieb miteinander? Es könnte doch auch zuweilen ein un-freundliches und weniger höfliches Wort fallen. Man darf sich darübernicht wundern; ich will euch aber ein Heilmittel dagegen angeben, wennschon einmal so etwas vorkommt. Die Schwester, die unfreundlich war,kniet sich vor die Schwester hin, der sie wehgetan, und sagt: ,Meine Schwe-

Page 354: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

35326. Geschichte der Galerie

ster, ich bitte Sie um Verzeihung und bitte innig Euer Lieb, für meineBesserung zu beten.‘ Fangen wir also gleich mit dieser Übung an. Meinelieben Schwestern Péronne-Marie und Marie-Jaqueline, kommen Sieher, knien Sie sich hin und Schwester Péronne-Marie möge um Verzei-hung bitten.“ Das taten sie ohne weiteres und umarmten sich dann herz-lich. Darauf sagte der heilige Stifter: „So ist’s recht, ich bin sehr zufrie-den mit euch. – Noch eins, meine lieben Töchter, gehen wir mit allenunseren Schwierigkeiten zu unserer Mutter. Selber damit fertig werdenwollen, ist nur Zeitverlust, denn in eigenen Angelegenheiten sind wirkeine guten Richter. Gehen wir aber zu ihr, dann üben wir die beidenTugenden, die unser göttlicher Meister so sehr liebt. Er wird uns dannseinen Segen geben auf ewig.“

Einmal hatte unsere Schwester de Chastel bei Tisch einen faulenApfel gegessen; wir hatten es bemerkt und neckten sie dann in derErholungszeit. Unser heiliger Stifter erfuhr es und ermahnte uns dannin einer geistlichen Unterredung, im Refektorium die Augen niederzu-schlagen, um Schwestern, die solche Abtötungen verrichten wollten,nicht in Verlegenheit zu bringen. Er sagte: „Meine lieben Töchter, ihrsollt euch an den Tugenden eurer Mitschwestern erbauen und nichtdarüber lachen und reden; die Eitelkeit könnte sie sonst um ihr Ver-dienst bringen. Es liegt mir sehr viel daran, daß ihr nicht vom Essenredet; essen wir ganz einfach, was uns vorgesetzt wird, ob es unsschmeckt oder nicht. Wenn nur unser ‚Würmersack‘ sich aufrecht er-hält, das genügt.

Meine lieben Töchter, ihr sollt große Ehrfurcht vor einander haben.Wenn sich die Väter der Gesellschaft Jesu hundertmal am Tag begeg-nen, so nehmen sie hundertmal das Birett vor einander ab. Wenn ihreuch begegnet, so braucht ihr nur den Kopf neigen; vor Weltleuten abermacht eine Verbeugung, damit ein größerer Unterschied zwischen denweltlichen und klösterlichen Umgangsformen bestehe. Ist das rechtso?“ Alle antworteten: „Ja, Hochwürdigster Vater!“

„Ein Pater aus dem Orden der Feuillanten,“ sagte der Heilige weiter,„der hier durchreiste, erzählte mir, daß es in Italien Klosterfrauen gäbe,die derart an ihren Rosenkränzen, Medaillen, Kapseln und Ähnlichemhingen, daß sie lieber aus dem Kloster austräten, als sich von diesenDingen zu trennen. Darum dachte ich mir, ihr solltet alles untereinan-der vertauschen, damit ihr allein nur Gott anhanget. Wir wollen fürdiesen Tausch den letzten Tag des Jahres wählen, wenn ihr euch auch

Page 355: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

354 26. Geschichte der Galerie

die Jahresheiligen auslost. Die Väter der Gesellschaft Jesu ziehen je-den Monat einen Schutzheiligen; wir wollen uns damit begnügen, daseinmal im Jahr zu tun.“

Mutter Brechard fragte: „Wie machen wir das am besten?“ – Er ant-wortet: „Ihr nehmt eure Rosenkränze und Kreuze und alles, was ver-tauscht werden muß, legt sie zusammen und den Namen des Heiligendarauf und dann lost ihr.“ –

„Nun noch etwas Wichtigeres, meine lieben Töchter: In manchenKlöstern ist es Brauch, ‚Madame, die frühere Oberin, Madame die er-wählte Oberin, Madame hin, Madame her‘ zu sagen; das kann ich nichtausstehen. Damit es nun bei uns, die wir nur gering sind, keine solchenTitel gebe, machen wir es so: Zu den Zetteln, auf denen die Heiligen-namen stehen, wird zugleich auch eine Nummer gesteckt; sovieleSchwestern, soviele Zettelchen und Nummern. Dann nimmt jede Schwe-ster ein Los und behält dann für das ganze Jahr den Rang, der ihr zuge-fallen ist. So werdet ihr dann vollkommen von allem losgeschält sein.“

Nach diesen Worten gab er uns den heiligen Segen und zog sich zu-rück.

Am Tag des hl. Laurentius im Jahr 1612 hielt uns der selige Vatereinen kleinen Vortrag. Unsere Würdige Mutter fragte ihn, worin dieLiebenswürdigkeit und die Mäßigkeit bestehe.

„Liebenswürdig sein, meine liebe Tochter, heißt nach dem hl. Paulus‚allen alles sein, um alle zu gewinnen‘, heißt, sich der Art und denStimmungen der einzelnen anpassen; heißt, mit den Trauernden trau-ern, – denn es wäre sehr unpassend, in Gegenwart eines bekümmertenMenschen zu lachen oder in Gegenwart eines freudig bewegten Men-schen ein trauriges Gesicht zu machen.

Mäßig ist, wer nur soviel ißt, als er entsprechend seiner Konstitutionbraucht, und nicht mehr. Die schwermütig veranlagten Menschen es-sen für gewöhnlich mehr als die anderen. Zum Beispiel: der eine istsehr durstig, er trinkt zwei Glas Wein; der andere ist nicht so durstig,trinkt aber trotzdem auch zwei Glas. Der zweite verfehlt sich gegen dieMäßigkeit und Genügsamkeit. Das gleiche gilt für das Essen.“

Page 356: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

355

A N M E R K U N G E NA N M E R K U N G E NA N M E R K U N G E NA N M E R K U N G E NA N M E R K U N G E N

1. GESPRÄCH1. GESPRÄCH1. GESPRÄCH1. GESPRÄCH1. GESPRÄCH

1 Dieses erste Gespräch setzt sich tatsächlich aus zwei Unterweisungen desHeiligen zusammen, wie es ja schon ihr Inhalt zeigt. Die erste über dieVerpflichtung der Satzungen hielt der Heilige im Sommer 1611, kurz nachder Profeß der ersten Mütter des Ordens. Der Heilige, der sonst frei sprach,hielt dieses Thema für so wichtig, daß er sich darauf schriftlich vorbereitete.Ein Teil dieser Notizen ist noch erhalten. (Siehe Ausgabe Annecy 6. Band, S. XI).Übrigens weist in diesem Gespräch alles auf die ersten Anfänge des Ordens hin:Das Thema selbst, die Anspielungen auf die Kleinheit und Jugend der Ge-nossenschaft, der Name „Genossenschaft“, den er ihr gibt („Orden“ wurdedie Heimsuchung erst später).

2 Das gilt für alle Regeln, ausgenommen jene, die die Gelübde betreffen.Der Heilige hatte aber damals die Unterscheidung nicht zu machen, weilja die Schwestern der Heimsuchung vorerst keine Gelübde ablegten. Er woll-te zunächst „kein anderes Gelübde als das des heiligen Petrus, da ihn der Herrdreimal seine Liebe beteuern ließ“. Die Liebe zum göttlichen Bräutigam soll-te die Stelle der Gelübde einnehmen, damit sich an ihnen das Wort des Apo-stels bewahrheite, daß das Band der Liebe das Band der Vollkommenheit ist(Satzungen in der ersten Form). Später wandelte der Heilige, gedrängt durchden Erzbischof von Lyon, Kardinal von Marquemont, seine Genossenschaftin einen Orden mit feierlichen Gelübden um (Siehe Vorrede zu den Satzun-gen, deutsche Ausgabe 1931, S. 7-11).

3 Kurz skizziert ergibt die Unterweisung folgenden Inhalt:a) An sich verpflichten die Satzungen nicht unter Sünde.b) Man sündigt aber schwer, wenn man sie aus formeller Verachtung über-

tritt; ist diese Verachtung nicht so deutlich ausgesprochen, aber doch vorhanden,dann ist zum mindesten eine läßliche Sünde nicht abzuleugnen.

c) Freiwillige Übertretungen, nicht aus Verachtung der Regel, sondern ausSchwäche, sind läßliche Sünden, wegen des Motivs, das dazu führt.

d) Unfreiwillige Übertretungen der Regel (aus Vergeßlichkeit usw.) sind ge-wöhnlich keine Sünde.

e) Die Liebe muß die gewissenhafte Beobachtung der Regel erzwingen, nicht sosehr die Furcht vor der Sünde und den Sündenstrafen.

4 Der zweite Teil des ersten Gespräches ist eine eigene Unterweisung desHeiligen, die er den Schwestern nach der Mutter Fichet am 10. August 1612gehalten hat (s. Ausg. Annecy 6, XI Anm.), also ein Jahr später als der ersteTeil des Gespräches. Franz von Sales gibt knappe, inhaltsreiche Leitsätzeüber die Frömmigkeit, wie er sie bei seinen Töchtern haben will: Echt (keineäußeren Handlungen, Gesten ohne inneren Gehalt), kraftvoll, nicht weichlichund verzärtelt; hochherzig, nicht kleinlich, verzagt, engstirnig. – Ist diese ArtFrömmigkeit wirklich besonders auf Frauen abgestimmt, wie manche glaubenmachen wollen?

Page 357: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

356 Anmerkungen

2. GESPRÄCH2. GESPRÄCH2. GESPRÄCH2. GESPRÄCH2. GESPRÄCH

1 Dom Makey (Ausgabe Annecy 6. Band, S. 473) gibt als Datum diesesGespräches den Februar 1615 an, wegen der Anklänge an das 9. Buch derAbhandlungen über die Gottesliebe, das der Heilige um diese Zeit nieder-schrieb. Die hl. Franziska von Chantal fügte in ihrer Ausgabe der Gesprächeeinen etwas umgemodelten Abschnitt aus einer Karfreitagspredigt des Heiligenein (Ausgabe Annecy 6. Band, S. 26, 27 – Ausgabe Annecy 10. Band 389-391). In der neuesten von der Heimsuchung zu Annecy als definitiv erklärtenAusgabe der Gespräche wurde dieser Abschnitt ausgelassen. – Dieses Gesprächzeigt wieder den positiven Gehalt der salesianischen Aszese. Demut ist not-wendig, aber kein Endziel: „Man tritt einen Schritt zurück, um sich dannin Gott hineinzustürzen.“ Demut gilt nur als Grundlage des Vertrauens.Ebenso ist Selbstentäußerung notwendig, aber nicht Zweck an sich. Das Zielist die Hingabe an Gott. Man löst sich los von Vergänglichkeit, um sich mitUnvergänglichem zu bekleiden. Deswegen sind Demut und Selbstentäußerungnicht weniger wichtig, sie sind eben die einzige Grundlage, auf der sich dasVertrauen und die Hingabe an Gott aufbauen kann. Der Heilige betont auchimmer wieder ihre Notwendigkeit und zwar begnügt er sich nicht mit ein-zelnen Akten dieser Tugend, sondern fordert konsequent ihre Erfüllung inallen Äußerungen des vielgestalteten Lebens.

2 Wie man sieht, umfaßt die Hingabe an Gott ein passives und ein aktivesElement. Man überläßt sich Gottes Willen, läßt ihn mit uns schalten und walten,tut aber zugleich aus Liebe und mit aller Gewissenhaftigkeit alles, was Gottvon uns verlangt. So bei den Krankheiten, die man zu heilen sucht, aberzugleich willig erträgt (n. 3), bei den Abneigungen, denen wir uns nicht ganzentziehen können, die wir also als Prüfung ertragen müssen, zugleich aberzu bekämpfen gehalten sind (n. 4), bei unseren Verpflichtungen (n. 5) usw.

3 Franz von Sales spricht hier vom Gebet der Ruhe, das ja im allgemeinendie Frucht des Lebens der Selbstentäußerung ist, nach Franz von Sales aber auchbei noch unvollkommenen Seelen vorkommt und nicht gestört werden soll, –bei solchen aber eine Ergänzung durch Erwägungen über das Tugendlebenaußerhalb der Betrachtung finden muß.

3. GESPRÄCH3. GESPRÄCH3. GESPRÄCH3. GESPRÄCH3. GESPRÄCH1 Der hl. Franz von Sales hielt diese Predigt nach den ausdrücklichen Zeugen,

den ersten Heimsuchungsschwestern, am 4. Januar 1618 (s. Ausg. Annecy 6,S. 473).

2 Die Tugend des Gleichmutes, die eine ständige Beherrschtheit und Über-legenheit über die wechselnden Situationen und Stimmungen sowie über dasAufwallen der Leidenschaft voraussetzt, also eine durchaus aktive Tugendist, wird vom hl. Franz von Sales andauernd gefordert. Sie ist eine derGrundhaltungen der salesianischen Seele. Ihre Wurzeln sind der durch den Glau-ben erleuchtete Verstand (hier legt Franz von Sales darauf den Nachdruck), dernicht die blinden Leidenschaften und unberechenbaren Stimmungen aufkom-

Page 358: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

357Anmerkungen

men läßt, sowie die Hingabe an den göttlichen Willen, die jedes Drängen derEigenliebe und des Eigenwillens zurückweist, um nur Gottes Willen in den Din-gen zu sehen, zu tun und anzunehmen.

3 Einer der in dem Kloster der Heimsuchung üblichen Bräuche. Jede Schwestererhält eine andere Schwester zugewiesen, die ihr im geistlichen Leben hilft, daherder Name „Gehilfin“. Ihre Aufgabe skizziert hier der Heilige.

4 Doctrina S. Gregor. Thaum., Paraphr. in Eccles. 4, 10-12.5 Die Hingabe an Gottes Vorsehung schließt wohl das ängstliche, hastige

Sorgen um die eigene Vervollkommnung, das immer wiederholte ängstliche Su-chen nach neuen Mitteln, fromm zu werden, aus, aber keineswegs die gewissen-hafte Pflichterfüllung, der sie nur den Stachel der Selbstgefälligkeit nimmt,da sie nicht auf sich, sondern auf Gott baut, den Erfolg nicht vom eigenenTun und Hasten erwartet, sondern von Gottes Gnade. Dann ist auch derSeelenfrieden gegeben, den nicht Versuchungen, äußere und innere Stürme stö-ren können, sondern nur die ängstliche Hast, die unbezähmten Leidenschaftenund vor allem die Ichsucht, wenn man ihr mehr oder minder freien Lauf läßt.

4. GESPRÄCH4. GESPRÄCH4. GESPRÄCH4. GESPRÄCH4. GESPRÄCH1 Nach Dom Makey hat der hl. Franz von Sales dieses Gespräch im Sommer

1618 zu Annecy gehalten (s. Ausg. Annecy 6, 474). Auch in dieses Gesprächhat die hl. Johanna von Chantal Fragmente aus den Predigten des Heiligeneingeschaltet, die aber aus der definitiven Ausgabe 1933 wieder entferntwurden.

2 Die hl. Johanna Franziska von Chantal.3 Es steht in dieser Ausgabe als 10. Gespräch und wurde vom Heiligen

zwei Jahre vor diesem gehalten.

5. GESPRÄCH5. GESPRÄCH5. GESPRÄCH5. GESPRÄCH5. GESPRÄCH1 Dieses Gespräch ist im Sommer 1622 gehalten worden, also ein halbes

Jahr vor dem Tod des Heiligen (s. Ausg. Annecy 6, 474).2 Auch hier wird die Demut ganz positiv gewertet. Sie ist der Weg zum

Vertrauen, auf dem sich die Hochherzigkeit aufbaut. Wie keine echte Demutohne Gottvertrauen, so auch keine echte Demut ohne Hochherzigkeit.

6. GESPRÄCH6. GESPRÄCH6. GESPRÄCH6. GESPRÄCH6. GESPRÄCH1 Die Abreise der Schwester Claude Agnes Joly de la Roche und ihrer

Gefährtinnen, die im Juli 1620 zur Gründung eines Heimsuchungsklostersnach Orleans gesandt wurden, bot dem hl. Franz von Sales den Anlaß zudiesem Gespräch (s. Ausg. Annecy 6, 86 Anm.). Vertrauen auf Gott, Freude,sein Apostel zu sein, Zusammengehörigkeit trotz der Trennung, das sinddie Leitgedanken dieses Gespräches. In ihm finden wir zum ersten Mal einenKernsatz des Heiligen ausgesprochen: „Nichts verlangen und nichts abschla-gen“, ein Satz, dem wir noch öfter in den Gesprächen begegnen werden, derdie Lehre des Heiligen von der Hingabe an Gott in wenigen markantenWorten zusammenfaßt.

Page 359: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

358 Anmerkungen

7. GESPRÄCH7. GESPRÄCH7. GESPRÄCH7. GESPRÄCH7. GESPRÄCH

1 Dieser Brauch ist weit verbreitet. Vielfach (so in Frankreich, Savoyen usw.)wird er in Familien und Klöstern so geübt, daß eine Bohne in einem Kuchenverborgen wird. Wer das Stück Kuchen mit der Bohne erhält, der ist König.Dieser König wird dann auf mancherlei Weise geehrt. Franz von Sales hattediesen schönen Volksbrauch in seiner Ordensfamilie eingeführt und die Schwe-stern pflegten auch ihm ein Stück Kuchen zuzuteilen, um ihm die Möglich-keit zu geben, einmal ihr König zu werden. Das traf im Jahr 1620 zu. DieGemeinde schickte ihm sofort ihre Ergebenheitserklärung und bat ihn, ihrseine Gesetze zu erteilen. Diese Bitte beantwortete er mit der „Predigt“, dieuns hier erhalten ist (Ausg. Annecy 6, 102 Anm.).

Franz von Sales bringt hier wieder die großen Anliegen vor, die ihn in derLeitung jener Seelen beschäftigten, die ein Gott hingegebenes Leben führenwollten: Vertrauen auf die Gnade und nicht auf sich selbst; restlose Hingabean Gottes Vorsehung, schlichte Erfüllung seiner Pflichten und nicht ängstlichesHerumschauen nach immer wieder anderen Mitteln der Frömmigkeit; nichtVermehrung der Übungen, sondern Vertiefung der Gesinnung; Hochherzig-keit und Gleichmut allem gegenüber, was auch kommen mag. – Franz vonSales weiß, wie gerade hochgesinnte Seelen sich in Erregung über ihre Fehler,in brennender Sehnsucht nach geistlichem Fortschritt, in immerwährenderAusschau nach neuen Mitteln und Wegen dazu verzehren. Deshalb führt ersie immer wieder auf den schlichten Weg demütiger, vertrauender und hoch-herziger Hingabe an Gott und treuer Pflichterfüllung zurück und weist sieauf die Gefährlichkeit dieses unruhigen Hastens, dieser ständigen Aufgeregt-heit, in ihrem Seelenleben hin. Er kleidet hier seine tiefen Gedanken in Bilder,die uns heute etwas seltsam anmuten. Wir dürfen aber über dieser bildlichenEinfassung nicht den tiefen Inhalt übersehen, den er übrigens in ungemein prä-gnanten und einprägsamen Merksätzen, den drei Gesetzen, zusammenfaßt.

8. GESPRÄCH8. GESPRÄCH8. GESPRÄCH8. GESPRÄCH8. GESPRÄCH1 Dieses und das folgende Gespräch (die in der Ausgabe der hl. Johanna

von Chantal zu einem Gespräch zusammengefaßt wurden), sind um das Jahr1615 gehalten worden (Ausg. Annecy 6, 468 und 473).

2 Diese sehr wichtige Unterscheidung zwischen den Neigungen und An-hänglichkeiten wurde leider von manchen Übersetzern der „Anleitung zumfrommen Leben“ nicht beachtet. Von den Anhänglichkeiten kann und mußman sich frei machen, die Neigungen in uns können wir aber nicht auslö-schen (Anl. 1,7 ff).

3 In den Klöstern der Heimsuchung liefern die Schwestern zweimal im Jahrihr Ordenskleid ab und erhalten dafür ein anderes, das sie sich nicht aussuchendürfen. Sie müssen das Kleid annehmen, das die beauftragte Schwester ihnengibt, auch wenn es ihnen nicht so gut steht.

4 Aus dieser Stelle wie aus dem ganzen Gespräch ersehen wir, wie weit derHeilige den Begriff der Armut und der damit verbundenen Loslösung von Meinund Dein faßt. Er fordert Loslösung nicht nur vom äußeren Besitz, sondern

Page 360: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

359Anmerkungen

von allem Irdischen, ja sogar von geistlichen Freuden, vom Streben nach eigenerEhre, von unserem eigenen Willen. Hier wie in allen Bezirken des geistlichenLebens begnügt sich der Heilige nicht mit einigen Übungen, sondern er denktGottes Forderungen bis zum Letzten durch und wendet sie auf das Leben bis indessen letzte Einzelheiten an. Wie der Begriff der Loslösung von Meinund Dein, so wird von ihm auch der damit verwandte Begriff des „gemeinsa-men Lebens“ bis in die letzten Folgerungen ausgelegt. Alles ist gemeinsam,nicht nur Haus, Kleidung, Nahrung usw., sondern auch Freuden und Leiden,unser Wille, unsere geistlichen Güter, sodaß man im Kloster nichts sein Ei-gen nennen darf.

5 Wir dürfen nicht vergessen, daß in der Heimsuchung auch Witwen auf-genommen werden. Die Stifterin, die hl. Johanna Franziska von Chantal, warselbst Witwe, und umhegte auch als Ordensfrau ihre Kinder mit zärtlicherLiebe.

9. GESPRÄCH9. GESPRÄCH9. GESPRÄCH9. GESPRÄCH9. GESPRÄCH1 Dieses Gespräch wurde von der hl. Johanna von Chantal mit dem vorher-

gehenden zu einem Gespräch verbunden. Es wurde aber vom Heiligen an einemanderen Tag, wenn auch wahrscheinlich gleichfalls im Jahr 1615, gehalten(Ausg. Annecy 6, 468 und 473).

10. GESPRÄCH10. GESPRÄCH10. GESPRÄCH10. GESPRÄCH10. GESPRÄCH1 Dieses Gespräch war in der Auflage der hl. Johanna von Chantal das 9.

in der Reihenfolge (wegen der Zusammenlegung der zwei vorhergehendenGespräche). Es wurde am 14. Juli 1616 gehalten (Ausg. Annecy 6, 473). Diehl. Johanna von Chantal hat in ihrer Ausgabe der Gespräche bedeutende Stellenausgelassen, dafür aber eine Seite aus einer Predigt des Heiligen eingefügt.

2 Dem hl. Franz von Sales oder auch der Schwester, die dieses Gesprächniedergeschrieben hat, ist hier ein kleiner Irrtum unterlaufen: Es handelt sichbei dieser Begebenheit nicht um den hl. Franziskus, sondern um Barbarus,einen seiner Schüler.

3 Wer vom Fasten dispensieren kann, wird jedes Jahr im Fastenhirtenbriefbekannt gegeben. Die Bestimmungen sind nach Diözesen und Ländern ver-schieden. Die Oberen haben für gewöhnlich nur die Vollmacht zu erklären,daß das Fastengebot unter diesen und jenen Umständen nicht verpflichtet;die eigentliche Fastendispens kann für gewöhnlich der Ortspfarrer oder inmanchen Diözesen auch der Beichtvater geben.

11. GESPRÄCH11. GESPRÄCH11. GESPRÄCH11. GESPRÄCH11. GESPRÄCH1 In der Ausgabe der hl. Johanna von Chantal ist es das 10. Gespräch.

Nach Dom Makey hielt es der hl. Franz von Sales im Februar 1612, alsonoch in den Anfängen der Heimsuchung (Ausg. Annecy 6, 473). Die hl. Johan-na von Chantal hat in ihrer Ausgabe eine Seite aus zwei anderen Werkendes Heiligen eingefügt, dafür Verschiedenes ausgelassen.

Page 361: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

360 Anmerkungen

12. GESPRÄCH12. GESPRÄCH12. GESPRÄCH12. GESPRÄCH12. GESPRÄCH1 Der Heilige hielt dieses Gespräch zu Annecy im Jahr 1618, also vier Jahre

vor seinem Tod (Ausg. Annecy 6, 474). Die Heimsuchung ist bereits als klau-surierter Orden mit feierlichen Gelübden approbiert. – Hat auch der Heiligezugegeben, daß seine Schwestern nun Gelübde ablegen, so will er doch, daß dieLiebe der Leitgedanke ihres Lebens und Strebens bleibe. Daher auch hier diestarke Betonung der Liebe im Gehorsam.

2 Von einem mechanischen, automatischen Gehorchen kann also keine Redesein. Die Befehlsgewalt und folglich auch der Gehorsam finden ihre Grenzen1. in den Geboten Gottes und der Kirche, 2. im jeweiligen Amtsbereich. DerHeilige spricht dem Amtsmißbrauch keinesfalls das Wort.

3 Es handelt sich hier um die 25. Satzung: Von der Zurechtweisung (Aufl.1928 der Satzungen, S. 121-123).

13. GESPRÄCH13. GESPRÄCH13. GESPRÄCH13. GESPRÄCH13. GESPRÄCH1 Dieses Gespräch, das nach Dom Makey (Ausg. Annecy 6, 474) aus dem

Jahr 1619 stammt, ist in der Ausgabe der hl. Johanna von Chantal das zwölfte.Die Heilige hat große Stücke der Handschrift ausgelassen und dafür einigeStellen aus den Briefen des hl. Franz von Sales in sie hineingefügt, ohne sie zukennzeichnen. Das Gespräch ist nicht eine wohlgeordnete Abhandlung, sonderneine zwanglose Plauderei, in der der Heilige die Tugend der Einfachheit schil-dert und ihre Anwendung auf die verschiedenen Lagen des klösterlichen Lebensaufzeigt, zum Teil dazu durch die Fragen seiner Zuhörerinnen angeregt.Die Einfachheit ist eine jener Grundhaltungen der Seele, die der Heilige mitbesonderem Nachdruck fordert, weshalb sie auch als eine der salesianischenGrundtugenden angesprochen werden muß. Ein kompliziertes Wesen gegen Gott,Schlauheit, Diplomatie und Unaufrichtigkeit gegen die Oberen und Mitmen-schen lehnt der Heilige auf das kräftigste ab. Der Einfachheit, Geradheit undSchlichtheit gehört seine ganze Liebe.Die einfache Seele kennt nur ein Ziel: Gott, die Liebe zu ihm, die Erfüllungseines Willens, das Verlangen, ihn zu erfreuen (Nr. 2). Es ist dies der einzigeBeweggrund ihrer Handlungen. Sie scheut jede Nebenabsicht, jeden egoistischenNebengedanken (1, 4). Ihrer Liebe zu Gott gibt sie auch ganz einfachenAusdruck , sie tut das, was Gott will, und quält sich nicht um anderes (2, 3),grübelt nicht nachträglich nach, ob alles recht war, was sie getan hat (7), auchnicht, ob sie vorwärts kommt oder nicht (10), tut einfach und schlicht, wasGott will, und überläßt ihm das Gelingen (10). Sie hat nur eine Liebe: Gott,nur ein Verlangen: seinen Willen zu tun (17).

Wie ihre Einstellung gegen Gott ganz einfach ist, so auch ihr Verhalten gegendie Mitmenschen. Ihren Vorgesetzten verschweigt sie nichts aus menschlichenRücksichten (8, 13, 15) und läßt sich von ihnen in aller Herzenseinfaltleiten (16). Mit den Mitmenschen verkehrt sie schlicht und einfach (9), ohne sichallerdings von den Stimmungen mitreißen zu lassen, die ihre Seele in derenNiederungen durchziehen (6, 12), ohne auch die Klugheit außer acht zu las-sen, die ja der Einfachheit nicht entgegengesetzt ist (5, 13, 14, 18, 19).

Page 362: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

361Anmerkungen

14. GESPRÄCH14. GESPRÄCH14. GESPRÄCH14. GESPRÄCH14. GESPRÄCH

1 Dieses Gespräch, das in der Ausgabe der hl. Johanna von Chantal das 13.ist und dort den Titel „Vom Geist der Regel“ trägt, hat der Heilige nachden Angaben der hl. Johanna von Chantal im Jahr 1618 gehalten (s. Ausg.Annecy 6, 473).

2 Diese ersten Sätze der Satzungen lauten: Viele Jungfrauen und Frauenverlangen auf Antrieb des Heiligen Geistes gar oft nach dem klösterlichenLeben. Wegen ihrer schwächlichen Körperbeschaffenheit oder wegen vorgerücktenAlters oder endlich, weil sie sich nicht zur Übung körperlicher Strenge ange-zogen fühlen, können sie nicht in Orden eintreten, in denen man wie in denmeisten bei uns bestehenden reformierten Versammlungen zu schweren äußerenBußwerken verpflichtet ist ... Damit also solche Seelen künftig hierzulandeeinen sicheren Zufluchtsort haben, ist diese Versammlung gegründet und so ein-gerichtet worden, daß keine große Strenge die Schwachen und Kränklichenabhalten kann, in dieselbe einzutreten und sich da ohne Unterlaß der Vollkom-menheit der göttlichen Liebe zu befleißen (Satzungen, Ausg. 1928, S. 65-67).

3 Hier ist noch die frühere Gesetzgebung der Orden vorausgesetzt, die dieheilige Kommunion nur für bestimmte Tage vorschreibt. Seit Pius X. ist in allenOrden und religiösen Genossenschaften die tägliche Kommunion die Regel. –Deshalb behält das Beispiel, das der Heilige anführt, als Beispiel doch seineganze Kraft, wenn es auch nicht mehr für die heilige Kommunion gilt, da hierdie Regel der Heimsuchung wie aller Orden nach den KommuniondekretenPius X. abgeändert wurde. Es gilt eben für die anderen religiösen Übungen,Bußübungen usw., die in der Regel vorgeschrieben sind und die man nichtauf eigene Faust vermehren oder vermindern darf.

15. GESPRÄCH15. GESPRÄCH15. GESPRÄCH15. GESPRÄCH15. GESPRÄCH

1 Der hl. Franz von Sales hat dieses Gespräch (das 14. in der Ausgabe derhl. Johanna von Chantal) nach Dom Makey im Jahr 1620 gehalten. – Diehl. Johanna von Chantal hat es ziemlich genau abdrucken lassen, die letztenSeiten ausgenommen (von Nr. 9 dieser Übersetzung ab), die sie ausließ, wofürsie dann den Schluß des folgenden Gespräches einsetzte.

2 Diese Episode ereignete sich im Kloster zu Bourges. Die Kandidatin, vonder hier die Rede ist, wurde nach dem Tod des Heiligen auf dessen Anrufung hinvon ihrem Gebrechen wunderbar geheilt (s. Ausg. Annecy 6, 254).

3 Die eigentliche Gewissensrechenschaft dürfen die Oberen nicht mehrverlangen (s. Codex Iuris Canonici Can. 630). Eine freiwillige Ausspracheüber die eigenen Fehler ist weiterhin gestattet, ebenso Fragen der Oberenüber die äußere Disziplin, über die Gebetsweise und dergleichen.

4 Vergleiche Anmerkung 3 zum 14. Gespräch.

Page 363: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

362 Anmerkungen

16. GESPRÄCH16. GESPRÄCH16. GESPRÄCH16. GESPRÄCH16. GESPRÄCH1 Dieses Gespräch (das 15. in der Ausg. der hl. Johanna von Chantal) stammt

nach Dom Makey aus dem Jahr 1618. Die hl. Johanna von Chantal hat in ihrerAusgabe einige Stücke aus Predigten des Heiligen hineingefügt, den letztenTeil zum vorhergehenden Gespräch geschlagen und Verschiedenes ausgelassen.Die Ausgabe 1933 hat den ursprünglichen Text wiederhergestellt.

2 Im religiösen Unterricht und in der Erklärung der Regel wird in denKlöstern gewöhnlich auch die Beichte behandelt; man erklärt den Novizinnenund Schwestern, was Gegenstand der Beichte ist und was nicht, und wieihre Beichte beschaffen sein soll. Auf diese Erklärung der Novizenmeisterin undder Oberin, sowie auch auf mögliche private Äußerungen derselben, wenn sie vonSchwestern darüber befragt werden, bezieht sich die Bemerkung des Heiligen.

3 In Gewissensfragen darf kein Oberer und keine Oberin Rechenschaft ver-langen (s. Codex Iuris Canonici can. 630) und auch keinerlei Druck auf die Unter-gebenen ausüben, um sie zu erzwingen. In Gewissensfragen ist in erster Linie derPriester zuständig, der Beichtvater und der Seelenführer. Die Kirche läßt indieser Hinsicht den Ordensschwestern große Freiheit. Natürlich wird eine gro-ße Offenheit der Oberin gegenüber immer von größtem Nutzen sein.

17. GESPRÄCH17. GESPRÄCH17. GESPRÄCH17. GESPRÄCH17. GESPRÄCH1 Dieses Gespräch (das 16. in der Ausg. der hl. Johanna von Chantal)

stammt wahrscheinlich aus den ersten Tagen des Jahres 1617 (s. Ausg. Anne-cy 6, 470, 473). Die hl. Johanna von Chantal gibt ihm den Titel: „Über dieAbneigungen“, der allerdings nur die ersten beiden Fragen betrifft.

18. GESPRÄCH18. GESPRÄCH18. GESPRÄCH18. GESPRÄCH18. GESPRÄCH1 Das 18. Gespräch (in der Ausg. der hl. Johanna von Chantal das 17.)

stammt aus dem Frühjahr 1621 (s. Ausg. Annecy 6, 474). Die Heilige hatdiesem Gespräch nichts hinzugefügt, sie hat es aber bedeutend gekürzt. DieAusgabe 1933 stellt den ursprünglichen Text wieder her.

2 Ein Jesuitenpater aus Mailand (1547-1591).3 Dieser und der im nächsten Abschnitt erwähnte Fall ereigneten sich sehr

häufig zur Zeit des hl. Franz von Sales. Heute dürften solche Fälle wohlkaum mehr vorkommen.

4 Ist natürlich ironisch gemeint.

19. GESPRÄCH19. GESPRÄCH19. GESPRÄCH19. GESPRÄCH19. GESPRÄCH1 Dieses Gespräch (das 18. in der Ausg. der hl. Johanna von Chantal) stammt

nach Dom Makey (Ausg. Annecy 6, 474) aus dem Jahr 1621. Die hl. Johannavon Chantal hat es in ihrer Ausgabe fast unverkürzt abgedruckt: sie hatnur eine längere Stelle aus einer Predigt des Heiligen hinzugefügt (Ausg.Annecy 6, 348-351), die vom Betrachten handelt.

2 Zu diesem Abschnitt s. Anm. 3 zum 14. Gespräch S. 361.

Page 364: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

363Anmerkungen

20. GESPRÄCH20. GESPRÄCH20. GESPRÄCH20. GESPRÄCH20. GESPRÄCH1 Diese Predigt, die eigentlich aus dem Rahmen des Buches fällt, weil sie mit

einem Gespräch nichts zu tun hat, sondern eine regelrechte Predigt ist, hatder Heilige wahrscheinlich am 19. März 1622 in Annecy gehalten (s. Ausg.Annecy 6, 474). Die hl. Johanna von Chantal hat sie fast wörtlich aus denHandschriften in ihre Ausgabe übernommen, wo sie das 19. Gespräch bildetmit dem Titel: „Über die Tugenden des hl. Josef.“Der bildliche Rahmen entspricht dem Zeitgeschmack und den naturwissenschaft-lichen Anschauungen jener Zeit. Die Gedanken aber sind von beachtenswer-ter Tiefe und Feinheit.

2 Es ist dies kein Lehrsatz der Kirche, sondern nur eine fromme Ansicht, dieauch noch einige andere Theologen vertreten, z. B. Gerson, Bernhard vonSiena und Suarez (s. Josef Seitz, Die Verehrung des hl. Josef, Freiburg 1908, S.256 und 262; Dict. de Theologie cathol., Paris Letouzey VIII. 1519).

21. GESPRÄCH21. GESPRÄCH21. GESPRÄCH21. GESPRÄCH21. GESPRÄCH1 Der Heilige hat es in Paris im August 1619 gehalten (s. Ausg. Annecy 6,

474). Die hl. Johanna von Chantal hat es in ihrer Ausgabe nur wenig gekürztund nichts hinzugefügt.

2 Das Kloster von Paris wurde am 16. Mai 1619 gegründet. Nach demNoviziatsbuch dieses Hauses waren die Namen dieser zwei jungen Kandidatin-nen, die am 25. November 1619 eingekleidet wurden: Maria Katharina Camusund Helene Maria Grison; die erste war bei der Einkleidung 15 Jahre alt, diezweite 16 Jahre und 9 Monate.

3 Zu dieser Frage vergleiche die dritte Anmerkung zum 14. Gespräch S. 361.

22. GESPRÄCH22. GESPRÄCH22. GESPRÄCH22. GESPRÄCH22. GESPRÄCH1 Es dürfte nach der Anzahl der Heimsuchungsschwestern, die der Heilige

mit 25 oder 30 angibt, aus dem Jahr 1617 stammen (s. Ausg. Annecy 6, 474).Die hl. Johanna von Chantal hat dieses Gespräch nicht in ihre Ausgabe aufge-nommen. In der Ausgabe von Annecy 1895 steht es im Anhang (S. 400-402).

23. GESPRÄCH23. GESPRÄCH23. GESPRÄCH23. GESPRÄCH23. GESPRÄCH1 Die Überschrift gibt das Datum dieser so schlichten und doch ergreifenden

Unterredung an. Wir haben hier die letzten Empfehlungen des Heiligen anseine Schwestern. – Wohl gerade das ungemein Vertrauliche dieses Gesprächeshat die hl. Johanna von Chantal veranlaßt, das meiste davon zurückzubehalten.Das 21. Gespräch ihrer Ausgabe, das den Titel „Nichts verlangen“ führt, istzusammengesetzt aus Teilen dieses hier vorliegenden Gespräches, aus einemBruchstück des 21. Gespräches (n. 8) und aus Bruchteilen von Predigten desHeiligen.

2 Über die Rechenschaft s. Anmerkung 3 zum 14. Gespräch auf S. 361.

Page 365: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

364 Anmerkungen

3 Über diesen Punkt bestimmt jetzt der Codex folgendes: „Wenn eine Or-densschwester um einen aus den Beichtvätern (außerordentlichen oder einenvom Ordinariat für das Beichthören der Ordensschwestern designierten Beicht-vater) bittet, so ist es keiner Oberin erlaubt, weder selbst noch durch andere,weder direkt noch indirekt nach dem Grund der Bitte zu fragen, durch Wortoder Tat die Bitte zurückzuweisen oder auf irgend eine Weise zu zeigen, daßsie dies nicht gerne sieht (can. 521. § 3). Schäfer, Das Ordensrecht, Münster1923 S. 117.

24.24.24.24.24.

1 In dieser Sammlung haben die Schwestern von Lyon eine Reihe von Ant-worten niedergelegt, die der Heilige ihnen auf ihre Fragen während des ein-monatlichen Aufenthaltes in Lyon (29. Nov.-28. Dez. 1622) vor seinem Todgegeben hatte. – Die Fragen wurden zum Teil von den Schwestern gestellt,wenn sie im Sprechzimmer den Weisungen des Heiligen lauschten, zum Teilauch von der Oberin oder von anderen Schwestern, wenn sie mit dem Heili-gen allein sprachen. – Außerdem wurde in diese Sammlung noch eine Anzahlseiner Aussprüche aufgenommen, die er bei verschiedenen Anlässen getanhatte und die hier lose, ohne inneren Zusammenhang aneinandergereihtsind. – Die hl. Johanna von Chantal hat von dieser Sammlung nur ein Bruch-stück für ihr 21. Gespräch übernommen.

2 Der Heilige hatte bestimmt, daß die einzelnen Häuser seines Ordensnur vom Diözesanbischof abhängen sollten. Er hatte sich immer gegen denG e d a n k e n e i n e r Generaloberin gewehrt. Die genaue Beobachtung der Regel,die Überwachung durch den jeweiligen Bischof und eine gewisse Ehrenstellungder „heiligen Quelle“, des Klosters von Annecy, sollten genügen, um alleKlöster seines Ordens in der Treue, im Geist ihrer Regel und in der Eintrachtuntereinander zu erhalten. Die Erfahrung von drei Jahrhunderten hat demHeiligen recht gegeben.

3 Der Heilige hatte seinem Orden für das Chorgebet statt des großen Breviers(wie es damals Sitte war) das kleine Offizium Unserer Lieben Frau gegeben.Es erhoben sich dagegen heftige Widersprüche, denen aber der Heilige nichtnachgab. Er erhielt am 23. April 1618 ein Breve des Papstes Paul V., dasden Orden für sieben Jahre vom Brevier dispensierte, und er konnte dieErneuerung der Dispens erhoffen.

4 Hier und an anderen Stellen dieser Sammlung (17, 24) spricht der Heiligevon der Betrachtung, die er aber immer mit dem Namen „Gebet“ bezeichnet,weil sie wesentlich ein Gebet sein soll, bei dem man sich mit Gott und nichtmit sich selbst beschäftigt, ein Gebet, eine innige Aussprache mit Gott, zuder Erwägungen und Betrachtungen nur als Brücke zu dienen haben.

2 5 .2 5 .2 5 .2 5 .2 5 .

1 Die Schwester Claude-Simplicienne wurde am 2. Juli 1614 als Laienschwestereingekleidet. Wegen ihres unschuldigen und naiven Wesens war sie dem hl.Franz von Sales besonders teuer. In einem der vertraulichen geistlichen Ge-

Page 366: FRANZ VON SALES GEISTLICHE GESPRÄCHE von Sales - Geistliche Gespräche.pdf · Dieser Text ist jetzt durch die von der Heimsuchung zu Annecy 1930 herausgegebene Fassung überholt,

365Anmerkungen

spräche, die der Heilige mit der Gemeinde führte, sagte sie ihm, sie möchte allesgenau so tun, wie er, wenn er eine Schwester der Heimsuchung wäre. Daraufgab ihr der Heilige diese reizende Antwort, die die hl. Johanna von Chantalzwar nicht in ihre Ausgabe der Gespräche übernommen, aber doch in eineranderen Sammlung abgedruckt hat (s. Ausg. Annecy 6, 397 Anm.).

2 Zwei Kapitel der Satzungen der Heimsuchung (22 und 23; S. 113-119).

26.26.26.26.26.

1 In den Annalen der Heimsuchung führt das erste Klösterlein, die Wiege desOrdens, den Namen „Galerie“ von einer Galerie, die den Garten mit demWeingarten des Klosters verband. – Die Schwester Marie-Adrienne Fichet hatdie Geschichte der Anfänge des Ordens geschrieben, die mit dem Namen „Ge-schichte der Galerie“ bezeichnet wurde. – In dem hier mitgeteilten „Aus-zug“ wird der Ursprung einiger Gebräuche des Ordens erzählt, die für seinenGeist bezeichnend sind.