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Ganz normale Organisationen Organisationssoziologische Interpretationen simulierter Brutalitäten Ordinary Organizations Sociological Reinterpretations of Simulated Brutalities Stefan Kühl* Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg, Institut für Gesellschaftswissenschaften, Holstenhofweg 85, D-22043 Hamburg Zusammenfassung: Dieser Artikel liefert eine Neuinterpretation zentraler sozialpsychologischer Experimente zur Ge- horsamsbereitschaft. Durch das Soda-Cracker-Experiment von Frank, das Milgram-Experiment, das Stanford-Prison- Experiment und das Deportationsexperiment wird nicht, wie häufig impliziert, allgemeines Verhalten in der modernen Gesellschaft reproduziert. Vielmehr können, so die These des Artikels, aus den Experimenten nur Rückschlüsse auf das Verhalten in Organisationen gezogen werden. Es lässt sich zeigen, dass durch die Experimente das Aufwerfen der Mit- gliedschaftsfrage, die Selbstbindung an eine einmal getroffene Eintrittsentscheidung, das Verhalten innerhalb einer Indif- ferenzzone und die Resistenz innerhalb von Kontrolllücken abgebildet wurden und so – eher ungewollt denn gewollt – in den Experimenten das Verhalten in „ganz normalen Organisationen“ simuliert wurde. Summary: This article proposes a reinterpretation of important social psychological experiments about obedience. The thesis of this article is that the Soda Cracker Experiment of Frank, the Milgram Experiment, the Stanford Prison Experi- ment, and the Deportation Experiment do not represent general behavior in modern society. On the contrary, the experi- ments only allow conclusions about behavior in organizations. It is possible to show that the experiments reproduce – more by chance than on purpose – typical characteristics of organizational behavior: the membership question, the pro- cess of the self binding of members, and behavior within a typical zone of indifference. 1. Einleitung: Wozu Organisationen fähig sind Der Schwerpunkt der Organisationssoziologie liegt seit der Ausbildung dieses Forschungszweiges auf alltäglichen Organisationsereignissen. Sie analysiert das alltägliche Entscheidungsverhalten von Füh- rungskräften in öffentlichen Verwaltungen (Koch 1993), arbeitet heraus, wie der „funktionale Dilet- tantismus“ von Organisationen des Non-Profit- Sektors wirkt (Seibel 1992), bietet Erklärungen dafür an, weswegen es in Produktionsunternehmen immer wieder zum „erfolgreichen Scheitern“ von Gruppen- arbeitskonzepten kommt (Kühl 2002). Oder sie ar- beitet heraus, weshalb es für Entwicklungshilfeinsti- tutionen funktional ist, sich bei der Abwicklung ihrer Projekte nicht allzu genau über die Details in- formieren zu lassen (Rottenburg 2002). Es fällt auf, dass sich die Organisationssoziologie – von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – bisher kaum den Themen gewidmet hat, die aufgrund ih- rer Monstrosität als zentrale Brüche in der moder- nen Gesellschaft interpretiert werden (vgl. auch die Kritik bei Bauman 1989: 8ff.). Wie ist es möglich, dass in der modernen Gesellschaft Ereignisse statt- finden, die dem Selbstverständnis der Modernisie- rung zutiefst zuwiderlaufen? Welche organisatori- schen Entwicklungen, so beispielsweise eine bisher soziologisch kaum behandelte Frage, waren nötig, damit 1915 innerhalb von wenigen Monaten der Genozid an den Armeniern ausgeführt werden konnte (vgl. Dadrian 1995)? Wie lässt sich die Funktionsweise der Gulags soziologisch erklären (vgl. Applebaum 2003)? Welche organisations- 90 © Lucius & Lucius Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S. 90–111 * Die Thesen dieses Artikels habe ich in Seminaren an der Venice International University, der Universität München, der Universität Hamburg, der Universität der Bundeswehr Hamburg, der Universität Bielefeld und der Universität Kiel vorgestellt. Adrian Itschert, André Kieserling, Bar- bara Kuchler, Boris Holzer und Veronika Tacke sowie vier Gutachtern der Zeitschrift für Soziologie sei für die teil- weise ausführliche Kritik früherer Fassungen dieses Arti- kels gedankt. Mein ganz besonderer Dank gilt Christoph von Lowtzow, der nicht nur eine frühe Fassung dieses Ar- tikels ausführlich kommentiert hat, sondern mich vor über zwei Jahrzehnten mit den sozialpsychologischen Experi- menten zur Gehorsamsbereitschaft vertraut gemacht hat.

Ganz normale Organisationen · 2020. 4. 26. · Soda-Cracker-Experiment, das Milgram-Experi-ment, das Stanford-Prison-Experiment und das De-portationsexperiment in aller Kürze vorgestellt

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  • Ganz normale OrganisationenOrganisationssoziologische Interpretationen simulierter Brutalitäten

    Ordinary OrganizationsSociological Reinterpretations of Simulated Brutalities

    Stefan Kühl*Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg, Institut für Gesellschaftswissenschaften,Holstenhofweg 85, D-22043 Hamburg

    Zusammenfassung: Dieser Artikel liefert eine Neuinterpretation zentraler sozialpsychologischer Experimente zur Ge-horsamsbereitschaft. Durch das Soda-Cracker-Experiment von Frank, das Milgram-Experiment, das Stanford-Prison-Experiment und das Deportationsexperiment wird nicht, wie häufig impliziert, allgemeines Verhalten in der modernenGesellschaft reproduziert. Vielmehr können, so die These des Artikels, aus den Experimenten nur Rückschlüsse auf dasVerhalten in Organisationen gezogen werden. Es lässt sich zeigen, dass durch die Experimente das Aufwerfen der Mit-gliedschaftsfrage, die Selbstbindung an eine einmal getroffene Eintrittsentscheidung, das Verhalten innerhalb einer Indif-ferenzzone und die Resistenz innerhalb von Kontrolllücken abgebildet wurden und so – eher ungewollt denn gewollt –in den Experimenten das Verhalten in „ganz normalen Organisationen“ simuliert wurde.

    Summary: This article proposes a reinterpretation of important social psychological experiments about obedience. Thethesis of this article is that the Soda Cracker Experiment of Frank, the Milgram Experiment, the Stanford Prison Experi-ment, and the Deportation Experiment do not represent general behavior in modern society. On the contrary, the experi-ments only allow conclusions about behavior in organizations. It is possible to show that the experiments reproduce –more by chance than on purpose – typical characteristics of organizational behavior: the membership question, the pro-cess of the self binding of members, and behavior within a typical zone of indifference.

    1. Einleitung: Wozu Organisationen fähig sind

    Der Schwerpunkt der Organisationssoziologie liegtseit der Ausbildung dieses Forschungszweiges aufalltäglichen Organisationsereignissen. Sie analysiertdas alltägliche Entscheidungsverhalten von Füh-rungskräften in öffentlichen Verwaltungen (Koch1993), arbeitet heraus, wie der „funktionale Dilet-tantismus“ von Organisationen des Non-Profit-Sektors wirkt (Seibel 1992), bietet Erklärungen dafür

    an, weswegen es in Produktionsunternehmen immerwieder zum „erfolgreichen Scheitern“ von Gruppen-arbeitskonzepten kommt (Kühl 2002). Oder sie ar-beitet heraus, weshalb es für Entwicklungshilfeinsti-tutionen funktional ist, sich bei der Abwicklungihrer Projekte nicht allzu genau über die Details in-formieren zu lassen (Rottenburg 2002).

    Es fällt auf, dass sich die Organisationssoziologie –von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – bisherkaum den Themen gewidmet hat, die aufgrund ih-rer Monstrosität als zentrale Brüche in der moder-nen Gesellschaft interpretiert werden (vgl. auch dieKritik bei Bauman 1989: 8ff.). Wie ist es möglich,dass in der modernen Gesellschaft Ereignisse statt-finden, die dem Selbstverständnis der Modernisie-rung zutiefst zuwiderlaufen? Welche organisatori-schen Entwicklungen, so beispielsweise eine bishersoziologisch kaum behandelte Frage, waren nötig,damit 1915 innerhalb von wenigen Monaten derGenozid an den Armeniern ausgeführt werdenkonnte (vgl. Dadrian 1995)? Wie lässt sich dieFunktionsweise der Gulags soziologisch erklären(vgl. Applebaum 2003)? Welche organisations-

    90 © Lucius & Lucius Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S. 90–111

    * Die Thesen dieses Artikels habe ich in Seminaren an derVenice International University, der Universität München,der Universität Hamburg, der Universität der BundeswehrHamburg, der Universität Bielefeld und der UniversitätKiel vorgestellt. Adrian Itschert, André Kieserling, Bar-bara Kuchler, Boris Holzer und Veronika Tacke sowie vierGutachtern der Zeitschrift für Soziologie sei für die teil-weise ausführliche Kritik früherer Fassungen dieses Arti-kels gedankt. Mein ganz besonderer Dank gilt Christophvon Lowtzow, der nicht nur eine frühe Fassung dieses Ar-tikels ausführlich kommentiert hat, sondern mich vor überzwei Jahrzehnten mit den sozialpsychologischen Experi-menten zur Gehorsamsbereitschaft vertraut gemacht hat.

  • soziologischen Erkenntnisse kann man aus denMassenmorden an geistig Behinderten und psy-chisch Kranken während des Nationalsozialismusziehen (vgl. Schmuhl 1987, Bock 1991)? Weswe-gen konnten die Massendeportationen von Juden,Roma und Sinti in die Vernichtungslager in Ost-europa ohne große Proteste abgewickelt werden?Wie konnte die „Ordnung des Terrors“ in denKonzentrationslagern der Nationalsozialisten auf-rechterhalten werden (vgl. Sofsky 1997)? Welcheorganisatorischen Prozesse spielten beim „Kriegohne Gnade“ zwischen den USA und Japan einewichtige Rolle (vgl. Dower 1986)? Wie lassen sichdas My Lai Massaker oder andere Morde der US-Armee an der Zivilbevölkerung während des Viet-nam-Kriegs erklären (vgl. Kelman 1973, Kotek/Ri-goulot 2000)?

    Im Gegensatz zur Organisationssoziologie – undletztlich der Soziologie insgesamt – hat die experi-mentelle Sozialpsychologie überraschend wenig Be-rührungsängste gegenüber diesen Fragestellungen.Unter kontrollierten Bedingungen werden in derSozialpsychologie Testpersonen zu Reaktionen ver-leitet, die aus der Außenperspektive als „moralischhöchstproblematisch“ angesehen werden. Hinterzentralen sozialpsychologischen Experimenten stecktdie Frage, ob das Individuum für Verhaltensweisenwie Gewaltbereitschaft oder Brutalität disponiertist oder ob es durch die Übernahme von Rollen zueinem solchen Verhalten gebracht wird (vgl. Sabini/Silver 1983: 147, Bauman 1989: 153).

    Ziel dieses Artikels ist es, zentrale sozialpsychologi-sche Experimente zur Gehorsamsbereitschaft einerorganisationssoziologischen Neuinterpretation zuunterziehen.1 Bei der Interpretation des Soda-Cra-cker-, des Milgram-, des Stanford-Prison- und desDeportationsexperiments wird, so die Kritik, derfür die Interpretation von Laborexperimenten typi-sche Fehler einer Übergeneralisierung der Ergebnis-se gemacht: Die Interpretation der Experiment-ergebnisse wird nicht auf ein spezifiziertes sozialesSystem (zum Beispiel informelle Gruppensituatio-nen) beschränkt, sondern die Aussagen werden für

    das Verhalten in der Gesellschaft insgesamt (also inspontanen Interaktionen, in Gruppen, in sozialenBewegungen, in Organisationen etc.) generalisiert.2

    Die These dieses Artikels lautet, dass bei diesen vierExperimenten zur Gehorsamsbereitschaft unge-wollt das Verhalten in Organisationen simuliertwurde und deswegen aus den Experimenten zwarRückschlüsse auf das Verhalten von Personen inOrganisationen möglich sind, nicht aber auf ihrVerhalten in der modernen Gesellschaft generell. Esliegt in der Natur des Laborexperiments, dass diehier vorgestellte Argumentation zur Reichweite derExperimente zur Gehorsamsbereitschaft (nur) aufPlausibilitäten aufbauen kann.3 Bei sozialpsycholo-gischen Experimenten in Laboren handelt es sichimmer erst einmal „nur“ um eine Interaktion zwi-schen einem Wissenschaftler und einer oder mehre-ren Versuchspersonen. Das Verhalten in Experi-menten interessiert aber nur insofern – und hier

    Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 91

    1 Die soziologische (Re-)Interpretation von sozialpsycho-logisch angelegten Experimenten mag sowohl für einenSoziologen als auch für einen Psychologen ungewohnteKost sein. Schon in den siebziger Jahren stellte JohanGoudsblom (1979: 22f.) fest, dass die soziologische Inter-pretation von Experimenten, die in psychologischen La-bors durchgeführt wurde, von der Zunft lediglich mit Na-senrümpfen zur Kenntnis genommen wird. An dieserHaltung, die sich nur durch die etablierte Arbeitsteilungzwischen Soziologie und Psychologie erklären lässt, hatsich in den letzten dreißig Jahren nichts geändert.

    2 Vgl. zu typischen Fehlerquellen beim LaborexperimentKühl 2005. Neben der angeführten Fehlerquelle einerÜbergeneralisierung lassen sich weitere typische Fehler-quellen bei Laborexperimenten benennen. Eine Fehler-quelle in der Interpretation von Experimenten betrifft diestatistische Validität. Es muss hinterfragt werden, ob diestatistischen Prüfverfahren richtig angewandt wurden undausreichen, um die These zu bestätigen. So lässt sich beimStanford-Prison-Experiment fragen, ob man aufgrund dernur einmaligen Durchführung des Experiments die Ergeb-nisse generalisieren darf. Überraschenderweise spielt die-ses Experiment trotz des „n = 1“ in der ansonsten auf hoheFallzahlen fokussierten Sozialpsychologie eine zentraleRolle und wird deswegen von mir auch in die Argumenta-tion einbezogen. Eine weitere Fehlerquelle betrifft den Zu-sammenhang zwischen der statistischen Hypothese undder Sachhypothese. Es ist vorstellbar, dass die statistischenVerfahren korrekt angewandt wurden, die bestätigten Hy-pothesen aber – aufgrund von Fehlern in der Operationali-sierung – nicht die Sachhypothesen belegen. Beim Mil-gram-Experiment oder beim Stanford-Prison-Experimentlässt sich beispielsweise fragen, ob die – hoffentlich – rich-tig gerechneten statistischen Ergebnisse wirklich ein Indizfür Gehorsamsbereitschaft sind oder ob sie vielleicht ehereine angeborene oder ansozialisierte Brutalitätsbereit-schaft widerspiegeln.3 Methodisch betrachtet handelt es sich bei den in diesemArtikel angestellten Überlegungen um Ad-hoc-Hypothe-sen, die aus dem Datenmaterial der vier Experimente ge-wonnen werden. Im Rahmen der quantitativ orientiertenExperimentalforschung ist die Aufstellung von Ad-hoc-Hypothesen ein wichtiger Schritt bei der Interpretationvon Experimenten. Die aufgestellten Ad-hoc-Hypothesenkönnen jedoch nicht durch die Ergebnisse der Experimen-te als bestätigt oder falsifiziert angesehen werden, sondernmüssten, wenn man dem Paradigma der Sozialpsychologiefolgen wollte, in einem zweiten Schritt durch neue Experi-mente geprüft werden.

  • liegt ein Paradox dieser Methodik – als das Verhal-ten im Experiment für Verhalten außerhalb derexperimentellen Situation charakteristisch ist. Undgenau diese Verbindung zwischen der sozialen Si-tuation in einem Experiment und den sozialen Si-tuationen außerhalb des Labors kann selbst nichtexperimentell belegt werden, sondern lediglich übereinen gut begründeten Experimentaufbau oderüberzeugende Gründe in der Interpretation des Ex-periments plausibilisiert werden (Greenwood 1989:175ff.).

    Nachdem im folgenden zweiten Abschnitt FranksSoda-Cracker-Experiment, das Milgram-Experi-ment, das Stanford-Prison-Experiment und das De-portationsexperiment in aller Kürze vorgestellt wer-den, werden im dritten Abschnitt die Experimenteunter dem Gesichtspunkt der Mitgliedschaft ana-lysiert. Im Mittelpunkt des vierten Abschnitts stehtdie Frage, wodurch die Bindungsbereitschaft an dieMitgliedschaftserwartungen hergestellt wird. StattGeldzahlungen scheinen die Selbstbindungen derMitglieder an einmal getroffene Eintrittsentschei-dungen eine zentrale Rolle zu spielen. Im fünftenAbschnitt wird herausgearbeitet, weswegen in denExperimenten die Verhaltenserwartungen an dieTestpersonen permanent gesteigert werden können.Eine wichtige Rolle nimmt dabei die Indifferenzzo-ne ein, auf die sich die Testpersonen bei der Einwil-ligung zum Experiment einlassen. Im sechstenAbschnitt wird aufgezeigt, wie die Testpersonen„Kontrolllücken“ nutzen, um sich den Anforderun-gen wenigstens teilweise zu entziehen. Im siebtenAbschnitt werden weitere Forschungsperspektivenherausgearbeitet. Es spricht einiges dafür, dass Or-ganisationen, die auf der Freiwilligkeit von Mit-gliedschaften beruhen, in der Formalisierung vonVerhaltenserwartungen weiter gehen können alsOrganisationen, die auf den Mechanismus derZwangsmitgliedschaft zurückgreifen.

    2. Sozialpsychologische Experimente zurGehorsamsbereitschaft: Die mehr oderminder ungewollte Simulation vonVerhalten in Organisationen

    In der Frühphase der Sozialpsychologie standen, be-sonders aufgrund der Prägung durch die Arbeitenvon Kurt Lewin, Fragen des Anpassungsdrucks imMittelpunkt. Muzafer Sherif zeigte beispielsweise,wie sich die Einschätzungen von Testpersonen ver-ändern, wenn diese durch andere anwesende Per-sonen beeinflusst werden. In seinem Experimentmussten Testpersonen die Bewegung eines Licht-

    punktes in einem dunklen Raum beschreiben. DieAnwesenheit von anderen Personen führte dazu,dass die Testperson häufig nicht mehr den eigenenEinschätzungen folgte, sondern sich vielmehr anspontan etablierten Normen, also den Entscheidun-gen der anderen anwesenden Personen, orientierte(Sherif 1936: 93f.). Solomon E. Asch zeigte in ei-nem anderen maßgeblich durch Lewin beeinfluss-ten Experiment, wie stark Personen sich dem Druckanderer Personen unterordnen. In seinem Experi-ment wurden sieben Personen aufgefordert, dieLänge dreier Linien einzuschätzen. Sechs der siebenPersonen waren Mitglieder des Forschungsteams,die – ohne dass es die siebte Person wusste – ledig-lich die Rolle von Testpersonen spielten und syste-matisch falsche Einschätzungen abgaben. Das Er-gebnis war, dass unter dem Druck der sechsPersonen die eigentliche Testperson den falschenEinschätzungen der anderen Personen folgte (Asch1951: 177ff., 1955: 31ff.). Inspiriert durch die frü-hen von Sherif und Asch durchgeführten Experi-mente entwickelte sich in der Sozialpsychologie einstarkes Interesse für Fragen der Gehorsamsbereit-schaft und der Autoritätshörigkeit – ohne dass aberdarüber reflektiert wurde, ob durch die neuen Ex-perimente nach wie vor spontane Interaktionenoder vielleicht andere soziale Phänomene simuliertwurden.4

    Eines der ersten Experimente zur Untersuchung vonGehorsamsbereitschaft war das Soda-Cracker-Expe-riment des Lewin-Schülers Jerome D. Frank (1944).Die Studie wurde Mitte der dreißiger Jahre durch-geführt, um den Widerstand von Kindern gegen dieNahrungsmittelaufnahme näher zu untersuchen. ImExperiment verlangte der Experimentleiter von er-wachsenen Testpersonen, zwölf ungesalzene, wenigschmackhafte Kekse zu essen. Einer ersten Gruppevon Testpersonen wurde mitgeteilt, dass das wis-senschaftliche Experiment das Essen von Soda-Cra-ckern nötig mache. Diese Testpersonen aßen dieCracker in der Regel, ohne offene Ablehnung zuzeigen (Situation 1). Einer zweiten Gruppe wurdemitgeteilt, dass es für das Experiment keinen Unter-schied mache, ob die Testpersonen die Soda-Cra-cker essen oder nicht, dass aber der Experimentlei-ter versuchen werde, die Testpersonen zum Essendieser Cracker zu bringen. In dieser Gruppe kam essehr schnell zu verschiedenen Formen des Wider-standes gegen die teilweise gewaltsamen Bestrebun-

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    4 Zu Recht wirft Kieserling (1999: 17, auch 343) die Fra-ge auf, ob die frühe experimentelle Kleingruppenfor-schung wirklich Gruppenprozesse untersucht hat odernicht vielmehr einmalige Face-to-face-Interaktionen.

  • gen des Experimentleiters, die Testperson zum Es-sen zu bekommen (Situation 2). Den Testpersonender dritten Gruppe wurde diese Information erstmitgeteilt, nachdem sie zusammen mit dem Experi-mentleiter einen ersten Keks verspeist hatten. Indiesem Fall war die typische Reaktion der Testper-sonen große Unklarheit darüber, ob sie mit dem Es-sen des Kekses fortfahren sollten oder nicht (Situa-tion 3).

    Inspiriert durch das Soda-Cracker-Experiment führ-te Stanley Milgram in den frühen sechziger Jahrendas wohl bekannteste Experiment zur Autoritäts-hörigkeit durch.5 In dem Grundexperiment erklärteein mit zentralen Insignien der wissenschaftlichenAutorität ausgestatteter Experimentleiter der Test-person, dass diese im Rahmen eines Experimentszur Lernfähigkeit von Schülern die Rolle eines Leh-rers zu übernehmen habe. Wenn ein im Nebenraumsitzender Schüler eine falsche Antwort gab, solltedie Testperson diesem Elektroschocks in kontinu-ierlich zunehmender Stärke verabreichen. Die Test-person wusste nicht, dass der Schüler von einemMitarbeiter des Forschungsteams gespielt wurdeund seine Reaktionen auf die Stromstöße, wieSchmerzensschreie, Proteste und plötzliches Ver-stummen, lediglich simuliert waren. Sowohl in demdurch Milgram durchgeführten Grundexperimentals auch in Reproduktionen des Experiments durchandere Forscher war ein überwiegender Teil derTestpersonen bereit, Stromschläge von 450 Volt zuverabreichen, Stromstöße also, die beim Schüler ex-treme Schmerzen hervorgerufen hätten (vgl. Mil-gram 1963; siehe auch Ancona/Pareyson 1968,1971/1972, Rosenhan 1969, Edwards et al. 1969,Mantell 1971a, 1971b, Kilham/Mann 1974: 699,Burley/McGuiness 1977, Shanab/Yahya 1978, Mi-randa et al. 1981, Schurz 1985, Meeus/Raaijma-kers 1986).6

    Das Stanford-Prison-Experiment, das von einerForschungsgruppe um Philip Zimbardo durch-geführt wurde, erlangte eine ähnliche Prominenzwie das Milgram-Experiment. In diesem Experi-ment, das lediglich einmal Anfang der siebziger Jah-re durchgeführt wurde, teilte der Experimentleitereine Gruppe von „normalen“ Männern nach demZufallsprinzip in eine Gruppe von Gefängniswär-tern und eine Gruppe von Gefangenen auf. In einemfiktiven Gefängnis in der Universität von Stanfordsollten die beiden Gruppen für einige Tage die Rol-len von Gefängniswärtern und Gefangenen spielen.Dafür wurden die Wärter mit Uniformen, Sonnen-brillen, Pfeifen und Knüppeln ausgestattet, wäh-rend den Gefangenen eine Gefangenenkleidung mitIdentifikationsnummern auf der Vorder- und Rück-seite angezogen wurde. Das für zwei Wochen ge-plante Experiment wurde von den Experimentlei-tern nach sechs Tagen abgebrochen, weil sich beider Hälfte der Gefangenen starke Anzeichen vonPassivität und Depression ausbildeten, während ei-nige Wärtern sadistische Verhaltensweisen ent-wickelten (vgl. Haney et al. 1973: 69ff.; fernerZimbardo et al. 1973, Zimbardo et al. 1975).

    In der Literatur bisher weitgehend unbeachtet ge-blieben ist das ursprünglich als Planspiel konzipier-te Deportationsexperiment (vgl. Kraus 1987: 50ff.,

    Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 93

    Abb. 1 Anteil der Versuchsper-sonen, die sich vor dem Verzehr dessechsten Kekses geweigert haben,die Nahrungsaufnahme fortzuset-zen, und auch durch direkten Drucknicht dazu zu bewegen waren, denVerzehr fortzusetzen (nach Frank1944: 28).

    5 Vgl. für die Referenz zu Franks Experiment Milgram1963: 372.6 Aufgrund eines anderen Experimentaufbaus können dieForschungen von Meeus/Raaijmakers 1986 nur mit Ein-

    schränkung hinzugezogen werden. Es geht in dieser For-schung nicht um die körperliche Bestrafung eines Schülers,sondern um die ungerechtfertigte Ablehnung eines ver-meintlichen Bewerbers für eine Arbeitsposition. Die Studievon Kilham und Mann ist nur begrenzt vergleichbar, weilnicht das Baseline-Experiment von Milgram durchgeführtwurde, sondern eine Variation des Experiments, in dem einPeer die Stromstöße setzt und die Versuchsperson lediglichdie Anweisung zum Stromstoß geben muss. Für Jordanienwurde aus Vergleichbarkeitsgründen das Sample mit jungenErwachsenen und einer Gehorsamkeitsbereitschaft von62,5 % (Shanab/Yahya 1978) herangezogen und nicht dieVorläuferstudie mit Kindern und einer Gehorsamkeits-bereitschaft von 73 % (Shanab/Yahya 1977). Die Ergebnis-se der Studie über Südafrika (Edwards et al. 1969) konntennur über die Sekundärliteratur erschlossen werden.

  • Berg 1988: 121ff.).7 Dabei handelt es sich um dieSimulation einer Deportation von mehreren hun-derttausend Gastarbeitern aus dem Osten Deutsch-lands in ein radioaktiv verseuchtes Gebiet in Süd-deutschland. Für diese Massendeportation musseine Gruppe von Testpersonen nächtliche Transpor-te durch Deutschland planen, die Bahnwaggons fürden Transport einer großen Anzahl von Personenentwickeln und ausstatten, eine möglichst kosten-günstige Verpflegung organisieren und die Arbeits-fähigkeit der Personen nach ihrer Ankunft imstrahlenverseuchten Gebiet untersuchen. Die Test-personen nehmen verschiedene Stellen im Rahmender Operation ein und dürfen nur schriftlich mit-einander kommunizieren, die Züge werden im Spieldurch Formulare symbolisiert. Anders als beim

    Milgram-Experiment und beim Stanford-Prison-Experiment sind die „Opfer“ des organisatorischenVerhaltens also „virtuell“. Diese Distanz zumOpfer entspricht weitgehend der Situation in denVerwaltungen, die für die Abwicklung der Massen-deportationen während des Nationalsozialismusverantwortlich waren.8 Als Ziel der simuliertenOperationen wird den Teilnehmern die offizielleZweckformulierung eines Bahnunternehmens, alsodie möglichst effektive Abwicklung von Güter- undPersonentransporten, genannt. Dass es sich bei denTransporten um Zwangsdeportationen von Auslän-dern in ein strahlenverseuchtes Gebiet handelt,kann jeder Stelleninhaber aber aus den mitgeliefer-ten Informationen erschließen. Das Experimentwurde seit den frühen siebziger Jahren mit 350 ver-schiedenen Gruppen mit durchschnittlich fünfzehnTeilnehmern durchgeführt. Nur in einem einzigenFall wurde der Widerstand so stark, dass das Spielvon den Teilnehmern selbst abgebrochen wurde. Inallen anderen Fällen wurde das Spiel von der Spiel-leitung beendet, nachdem eine signifikante Anzahlvon Zügen unter Beteiligung aller Teilnehmer dieBahnhierarchie durchlaufen hatte und in den strah-lenverseuchten Gebieten angekommen war (Kraus2003: 3).9

    94 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S. 90–111

    Abb. 2 Ergebnisse des ursprüng-lichen Baseline-Experiments von Mil-gram (1963) und dessen Replikatio-nen: Anteil der Versuchspersonen, dieStromstöße bis zur Obergrenze von450 Volt versetzten (siehe auch dieÜbersichten bei Smith/Bond 1993:20, Blass 2000b: 59, Neubacher2002: 54). In seinen späteren Studiennutzte Milgram (1974: 56ff.) ein neu-es Baseline-Experiment (weniger ele-gantes Gebäude, Erwähnung einesHerzproblems durch den Schüler),das aber ebenfalls bei 65 % der Per-sonen die Bereitschaft erzielte, Strom-stöße von 450 Volt zu setzen.

    7 Auf die methodischen Unterschiede zwischen Experi-ment, Rollenspiel und Planspiel kann hier nicht im Detaileingegangen werden; siehe Berg 1988: 149f. Unterschiedescheinen aber nicht vorrangig im Aufbau dieser drei Me-thoden zu legen, sondern im Erkenntnisinteresse. Wäh-rend bei Experimenten explizit der wissenschaftliche Er-kenntnisgewinn im Mittelpunkt steht, werden Rollen- undPlanspiele häufig bei einem vorrangig didaktischen Inte-resse eingesetzt. Franks Soda-Cracker-Experiment und dasMilgram-Experiment ähneln stark dem Idealtyp eines so-zialpsychologischen Experiments, beim Deportations-experiment finden sich viele Elemente des Planspiels. DasStanford-Prison-Experiment liegt mit seinen starken Rol-lenspielanteilen zwischen diesen beiden Polen. Wichtig istsowohl bei Experimenten als auch bei Planspielen, dassdas Verhalten nicht mit dem Hinweis „es war doch nurein Experiment“ oder „es ist doch nur ein Spiel“ gerecht-fertigt werden kann. Beim Deportationsexperiment wirddies dadurch sichergestellt, dass die Teilnehmer zu Beginnaufgefordert werden, im Spiel so zu handeln, wie sie glau-ben, dass sie sich auch in der Realität verhalten würden,und wie sie es verantworten können; vgl. Kraus 1987: 75,Berg 1988: 154.

    8 So unternahm Franz Novak, der Transportoffizier AdolfEichmanns im Reichssicherheitshauptamt, beispielsweisein der Zeit von 1940 bis zu seiner Versetzung nach Ungarnim März 1944 keine einzige Dienstreise in die erobertenGebiete im Osten. Es spricht vieles dafür, dass er in derZeit, in der er für die Zugplanungen der Massendeporta-tionen nach Auschwitz und in die anderen Vernichtungs-lager verantwortlich war, kein einziges Mal bei einemTransport anwesend war; vgl. Pätzold/Schwartz 1994: 30.9 Weil das Deportationsexperiment in der Regel unter Ge-sichtspunkten der politischen Jugend- und Erwachsenen-bildung durchgeführt wurde, wurden die Ergebnisse nie so

  • Aus soziologischer Perspektive ist die dominierendeInterpretation dieser Experimente interessant. DieForschungen sind für die Sozialpsychologie zentral,weil durch sie experimentell eine Art DurkheimscheUrerkenntnis bewiesen werden konnte, die besagt,dass Verhaltensweisen nicht primär auf Charakter-eigenschaften von Personen zurückgeführt werdenkönnen, sondern als Ergebnis „situativer Zwänge“zu verstehen sind (vgl. Milgram 1974: 138; sieheauch Blass 2000a: xiii). Die Experimente zeigten,dass nicht primär ein ansozialisiertes oder gar ange-borenes Verhalten der Testpersonen wichtig war,sondern ein den jeweiligen Situationen entsprechen-des rollenadäquates Verhalten, das nur wenig nachAlter, Geschlecht, kulturellem Hintergrund und po-litischer Einstellung variierte.10

    Besonders die Forschergruppen um Philip Zimbar-do und Stanley Milgram tendierten bei der Diskus-

    sion der Reichweite dieser „Urerkenntnis“ dazu,die Ergebnisse ihrer Experimente als Aussagen überGehorsamsbereitschaft und Autoritätshörigkeit ins-gesamt zu generalisieren. Zimbardo nimmt seinExperiment zum Anlass, auf die Wirkung von „Eti-kettierungen“ in der modernen Gesellschaft hin-zuweisen, und suggeriert, dass aus den Experimen-ten Erkenntnisse nicht nur über das Verhalten inGefängnissen, sondern in der modernen Gesell-schaft insgesamt gewonnen werden können (vgl.Zimbardo et al. 1975: 280ff.). Milgram erklärt dasVerhalten der Versuchspersonen damit, dass sie inseinem Experiment in gesellschaftliche Strukturenwie Wertsysteme und Autoritätsbeziehungen einge-bunden sind, aus denen sie nur mit großen Schwie-rigkeiten aussteigen können. Charakteristisch fürden breiten Erklärungsanspruch ist Milgrams Fra-ge, wozu eine Regierung mit all ihrer Autorität undihrem Prestige fähig ist, wenn bereits ein unbekann-ter Experimentleiter Erwachsene dazu bringenkann, einen fünfzigjährigen Mann zu unterdrückenund ihm schmerzhafte Elektroschocks zu verset-zen.11

    Die Methodenkritiker des Milgram-Experimentsspürten, dass es Probleme mit der Generalisierungder Erkenntnisse aus den Experimenten gab.12 So

    Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 95

    präzise dokumentiert, dass sich Zeitreihen oder Vergleich-barkeiten zwischen Teilnehmergruppen herstellen ließen.Die Spielsitzungen konnten nicht so stark standardisiertwerden, dass der Verlauf hätte kontrolliert variiert werdenkönnen, um die Auswirkungen von Variablen auf denSpielverlauf zu beobachten. Einzelne Spielverläufe lassensich noch durch „Archivarbeiten“ rekonstruieren, weil dieDienstwegnachrichten, die Zuglaufzettel und Lebensmit-telzettel von diesen Spielen aufbewahrt wurden. Besondersauffällige Spielsituationen wurden mittels Experteninter-views mit den Spielleitern rekonstruiert. Die (bisher nurvorläufige) Auswertung basiert auf insgesamt fünf durch-geführten Deportationsexperimenten. Bei einem Experi-ment handelt es sich um die sehr gut dokumentierten Er-gebnisse eines Experiments aus dem Jahr 1987 (Kraus1987, Berg 1988). Bei zwei weiteren Experimenten ausden Jahren 2001 und 2002 sind die Zuglaufzettel, dieschriftliche Kommunikation und ein Teil der Auswer-tungsdokumentation erhalten geblieben, so dass es mög-lich war, den Spielverlauf zu rekonstruieren. Zwei weitereExperimente wurden in Kooperation mit Eric Treske undUrsula Bohn in den Jahren 2000 und 2002 mit zwei unter-schiedlichen Studierendengruppen durchgeführt; vgl.Hansjakob 2003, Taffertshofer 2003.10 Siehe die Replikationen des Milgram-Experimentsdurch Shanab/Yahya 1977: 534 (Einfluss Alter, Ge-schlecht), Mantell 1971a (Einfluss kultureller Hinter-grund, politische Einstellung), Schurz 1985 (Einfluss vonzwanzig Persönlichkeitsmerkmalen). Insgesamt zeigen ver-schiedene Follow-Ups zum Milgram-Experiment in Bezugauf die Gehorsamsbereitschaft wenig Variationen nachGeschlecht, Alter, Rasse, Bildung oder politischer Einstel-lung; siehe aber Sheridan/King 1972: 165f., Kilham/Mann1974: 700ff. Nur vereinzelt wurden positive Korrelatio-nen von Gehorsamsbereitschaft mit niedriger Ich-Stärke(vgl. Larsen et al. 1976) und der Unfähigkeit sich in ande-re Personen zu versetzen (vgl. Burley/McGuiness 1977)festgestellt. Sie stellen aber die situationalistische Grund-erklärung des Experiments nicht in Frage.

    11 Vgl. Milgram 1965: 75. Eine typische Verallgemeine-rung findet sich bei Kroners (1988: 19) Anwendung aufdie Friedensforschung.12 Man kann bei jedem Experiment den Vorwurf erheben,dass es nur Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit wieder-gibt. Aber deswegen, so die methodische Erwiderung, istes ja „auch nur ein Experiment“ und nicht die „gesell-schaftliche Realität“. Die vier hier vorgestellten Experi-mente unterscheiden sich in Hinblick auf den Grad der„Verfälschung“ der Realität. Gegen die Validität des De-portationsexperiments könnte man vorbringen, dass unterden Rollen- und Planspielbedingungen Verhaltensweisenentstehen können, die in „richtigen Organisationen“ nichtauftreten würden. Dieses Argument wurde auch gegen dasStanford-Prison-Experiment verwendet, weil es nur umdie Simulation eines Gefängnisses ging. Auffällig ist je-doch, dass die Verhaltensweisen im Experiment kaum mitdem Spielcharakter begründet wurden (in die Richtung:„Super, endlich kann ich mal Ausländer verseuchen spie-len.“; „Toll, ich wollte immer schon Gefangene verprü-geln.“). Der spielerische Charakter wird erst in der Aus-wertung hervorgehoben, wenn es um die Rechtfertigungder Verhaltensweisen geht. Milgram umschifft dieses Pro-blem geschickt, indem er durch seinen Experimentaufbauden Testpersonen die Rechtfertigungsmöglichkeit nimmt,dass es sich ja nur um ein Spiel handelt. In der Wahrneh-mung der Testperson werden den Schülern ja reale Strom-stöße versetzt (siehe die trotzdem erhobene Kritik an derbegrenzten Aussagefähigkeit durch Orne/Holland 1968).Interessanterweise setzt genau an diesem Punkt in der So-

  • behauptete beispielsweise Erich Fromm (1973: 74),dass die Erkenntnisse von Milgram nicht für das„reale Leben“ generalisierbar seien. Die Experi-mente würden lediglich zeigen, dass in der moder-nen Gesellschaft Wissenschaft einen so hohen Kre-dit genieße, dass sich kaum eine Person vorstellenkann, dass im Namen der Wissenschaft „falsch“ ge-handelt wird. Genauso wie Abraham sich nicht vor-stellen konnte, dass Gott irrte, als er von ihm ver-langte, seinen Sohn zu töten, hätten sich dieTestpersonen im Milgram-Experiment nicht vor-stellen können, dass im Namen der WissenschaftUnrecht geschehe. Eine ähnliche Auffassung vertrittSteven Patten, der argumentiert, dass in MilgramsVersuchsaufbau die Autorität von Experten lediglichsimuliert wurde und es sich deswegen verbiete,Rückschlüsse beispielsweise auf das Verhalten vonEichmann während des Holocaust oder von Calleywährend des My Lai Massakers in Vietnam zu zie-hen (vgl. Patten 1977a: 438f., auch 1977b: 350ff.).13

    Die These, dass Gehorsamsbereitschaft in den Ex-perimenten mit der Gehorsamsbereitschaft gegen-über wissenschaftlichen Autoritäten zusammen-hängt, lässt sich jedoch nur schwer plausibilisieren.Milgram konnte im so genannten Bridgeport-Expe-riment zeigen, dass die Verlagerung in Gebäude au-ßerhalb der Universität und der Verzicht auf einigeInsignien der wissenschaftlichen Autorität die Ge-horsamsbereitschaft nicht signifikant reduzierte(Experiment 10; vgl. Milgram 1974: 72ff.).14 Einesder auffälligsten Phänomene beim Stanford-Prison-Experiment sind die Konflikte, die sich zwischenWärtern und den mäßigenden wissenschaftlichenExperimentleitern ausbildeten (vgl. Zimbardo et al.1973: 55ff.). Bei einem Großteil der Deportations-experimente wurde auf jede Form der Simulation

    von wissenschaftlicher Autorität verzichtet, und imKontext von Lehrerfortbildungen hatte die Experi-mentleitung eine geringere universitäre Ausbildungals die Testpersonen.

    Die Hauptfrage, die durch die verschiedenen sozial-psychologischen Experimente aufgeworfen wird,bleibt also, weswegen Personen bereit sind, Dingezu tun, die sie unter „normalen“ Umständen nie-mals tun würden. Weshalb essen Personen zwölfäußerst geschmacklose Soda-Cracker, nur weil einExperimentleiter dies von ihnen verlangt? Wie lässtsich erklären, dass Personen bereit sind, auf Anwei-sung einer Autorität Schülern schwerste Stromstößezu versetzen? Wie kommt es, dass Personen, diesich selbst als Pazifisten bezeichnen, in der Rolledes Gefängniswärters Gefangene stundenlang exer-zieren lassen? Wie ist zu erklären, dass sich nach allder Aufklärung über die Grausamkeiten des Holo-caust Testpersonen an einer simulierten Deporta-tion von Minderheiten in strahlenverseuchte Gebie-te beteiligen?

    3. Das experimentelle Aufwerfen derMitgliedschaftsfrage

    In der Interpretation besonders des Milgram-Expe-riments und des Deportationsexperiments gibt eseinen, wenn auch schwach ausgeprägten Erklä-rungsstrang, der auf Webers Bürokratiekonzeptionzurückgreift. Die hohe Folgebereitschaft wird mitder Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Hierar-chiestufen oder der Arbeitsteilung auf der gleichenhierarchischen Ebene erklärt. Stanley Milgramkonnte in seinem Experiment „A Peer AdministersShocks“ nachweisen, dass eine weitere Aufsplittungder Aufgabe die Folgebereitschaft auf 93 % erhöh-te. Wenn die Testperson nur Zuarbeiten leistet undeine andere Person die Stromstöße setzt, entstehtdie größte Gehorsamsbereitschaft aller Experiment-variationen.15 Perdita Berg erklärt die hohe Folge-bereitschaft im Deportationsexperiment mit den„scheinobjektiven, funktionalen Zwängen undStrukturen der bürokratischen Organisation“, indie die Teilnehmer eingegliedert werden. Das De-portationsexperiment lege nahe, dass auch ohne

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    zialpsychologie die Kritik an der Forschungsethik an. Essei doch nicht möglich, dass man die Versuchspersonennicht nur über die eigentlichen Ziele des Versuches täu-sche, sondern ihnen auch noch vorspiele, sie würden ernst-haft Menschen verletzen; vgl. Baumrind 1964. Die Ideegespielter Experimente („ich erzähle Ihnen jetzt den Auf-bau des Milgram-Experiments und bitte Sie dann, sich sozu verhalten, als ob Sie das alles nicht wüssten“) führteverständlicherweise nicht zu den gleichen Ergebnissen wiedie ursprünglichen Experimente.13 Diese Form der Kritik hat in der Sozialpsychologie Tra-dition. Experimente, so der generalisierte Verdacht, bildenprimär das Verhalten in Experimenten ab und besagen we-nig über das Leben außerhalb des Laboratoriums; vgl.Greenwood 1989: 177ff.14 Die Einschätzungen von Milgram (1963: 373) sind hierwidersprüchlich. In seinem ursprünglichen Artikel deuteter „consequences for performance“ durch die Verlagerungdes Experiments nach außerhalb der Universität an.

    15 Vgl. Milgram 1974: 122, Experiment 18; siehe auchden ursprünglichen Antrag Milgrams an die National Sci-ence Foundation, Milgram 1962: 22ff. Wesley Kilhan undLeon Mann (1974: 699) stellten in ihrer Experimentseriefest, dass die Gehorsamsbereitschaft höher ist, wenn dieVersuchsperson lediglich die Anweisung zum Setzen einesStromstoßes geben muss, als wenn sie selbst den Knopffür einen Stromstoß drücken muss.

  • Gruppendruck, ohne massenpsychologische Auf-heizung und ohne die Wirkungen persönlicher Au-toritätsbeziehungen, alleine aufgrund „situativerEinflüsse und Bedingungen“, dem „Faschismus ver-gleichbare Vorgänge möglich sind“.16

    Hier werden offensichtliche Parallelen zu WebersBürokratietheorie hergestellt (vgl. z.B. Bauman1989: 160ff.). Bürokratien bestehen nach Max We-ber aus einem kontinuierlichen, regelgebundenenBetrieb von Amtsgeschäften, dem Prinzip der Hie-rarchie, einem Set von Regeln, nach denen verfah-ren wird, und einer aktenmäßigen Dokumentationder Abläufe und Entscheidungen. Die Mitglieder ei-ner Bürokratie gehorchen folglich nur ihren sachli-chen Amtspflichten. Sie haben genau definierteKompetenzen, sind in eine eindeutige Hierarchieeingebunden und unterliegen einer durch diese Hie-rarchie kontrollierten Amtsdisziplin (vgl. Weber1976: 548ff.). Weber begreift bürokratische Ver-waltungen als Maschinen, die ihre Aufgaben sach-lich, präzise und seelenlos erledigen. Die technischeÜberlegenheit dieses bürokratischen Mechanismussteht dabei für Weber genauso fest wie die tech-nische Überlegenheit der Produktionsmaschine ge-genüber der klassischen Handarbeit (vgl. Bardmann1994: 280).

    Aber reicht diese Weberianische Erklärung für dieAnalyse dieser Experimente aus?

    Die Gemeinsamkeit aller vier Experimente ist, dasssie testen, was Personen bereit sind zu tun, um ih-ren (Selbst-)Ausschluss aus dem Experiment – zudem sie sich ohne Kenntnisse genauer Details ver-pflichtet haben – zu verhindern. Die Konzeptiondes Milgram-Experiments zielt darauf ab zu mes-sen, ob die Testperson bereit ist, ein zentralesWenn-dann-Programm (Wenn der Schüler einenFehler macht, dann setze einen um 15 Volt gestei-gerten Stromstoß) zu ignorieren, wissend, dass die-se eine Verweigerung zu einem sofortigen Aus-schluss in Form der Beendung des Experimentsführt. Die Testpersonen werden bei einem Zögernmit den Aufforderungen „Bitte fahren Sie fort“,„Das Experiment verlangt, dass Sie fortfahren“,„Es ist absolut notwendig, dass Sie fortfahren“ und„Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen“in gesteigerter Form darauf hingewiesen, dass eineWeigerung eine Verletzung der Experimentbedin-gung bedeutet (vgl. Milgram 1963: 372ff.). BeimDeportationsexperiment wird versucht, Personen,die Zweifel am Zweck der Operation anmelden,

    durch Verzögerungen, Beschwichtigungen und Zu-geständnisse zum Verbleib in der Organisation zubewegen. Die Frage der Fortsetzung wird also be-wusst nicht durch die Experimentleitung aufgewor-fen, sondern es wird ausgetestet, ob es zu eigenstän-digen „Kündigungen“ kommt (vgl. Berg 1988:236). Dass beim Stanford-Prison-Experiment dieGefangenen nicht selbst über ihren „Austritt“ ausdem Experiment entscheiden können, scheint klar,befinden sie sich doch in einer Publikumsrolle wiesie nur für totale Institutionen wie Gefängnisse, Ir-renanstalten oder Wehrpflichtsarmeen typisch sind(vgl. Goffman 1961). Interessanter sind die Be-schränkungen für die Wärter. Der Experimentauf-bau basiert darauf, dass den Wärtern die Möglich-keit zum Ausstieg möglichst wenig vor Augengeführt wird, damit man die Anpassung ihres Ver-haltens an die experimentellen Anforderungen be-obachten kann (vgl. Haney et al. 1973: 70ff.).

    Über diese für sozialpsychologische Experimenteeher untypische Fokussierung auf die Frage von„Weitermachen oder Ausstieg“ wird (wohl eher un-bewusst) ein Phänomen simuliert, dass für Organi-sationen charakteristisch ist: die Mitgliedschaft.Der große Fortschritt der Organisationssoziologiegegenüber der Weberianischen Bürokratietheoriewar neben dem Abschied von einer zweckrationa-len Konzeption von Organisationen die Einführungdes Konzeptes der Mitgliedschaft (vgl. als Über-blick zum Abschied von der ZweckrationalitätLuhmann 1973; zum Mitgliedschaftsbegriff Luh-mann 1964). Schon die frühe Organisationsfor-schung hatte einen Blick dafür, dass sich Personenin einer spezifischen Organisation ganz anders ver-halten als außerhalb der Organisation oder auchnur in einer anderen Organisation. Die liebendeund sorgende Familienmutter regiert als Macherinin „ihrem“ Unternehmen mit harter Hand. Der Ab-teilungsleiter, der in seinem Ministerium für seinautoritäres Verhalten bekannt ist, fällt an der War-teschlange im Supermarkt durch ausgesprochen zu-vorkommendes Verhalten gegenüber seinen Mit-menschen auf. Und die anwendungsorientierteManagementforschung arbeitet sich seit Jahrzehn-ten an der Frage ab, wie man den Fließbandarbei-ter, der bei der Leitung seines Fußballvereins undbeim Bau seines Hauses beeindruckende Manage-mentqualitäten zeigt, dazu bringen kann, wenigs-tens ein wenig dieses Know-hows auch bei derMontage eines Kotflügels einzusetzen.

    Die Luhmannsche Organisationssoziologie erklärtdieses „komische“ Verhalten mit Erwartungen, dieOrganisationen an ihre Mitglieder stellen. Der Ein-tritt in eine Organisation bindet Personen an einen

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    16 Vgl. Berg 1988: 330 und 339. Diese Erklärungen wei-sen Ähnlichkeiten mit Weberianischen Begründungsver-suchen für den Holocaust auf; vgl. Bauman 1989: 18.

  • spezifisch eingeschränkten Möglichkeitsraum desVerhaltens. Die Personen können in einer Organisa-tion nicht das gleiche Verhaltensspektrum aus-schöpfen wie in einer Fußgängerzone, auf einemSpielplatz oder in ihrer Familie. Die Verhaltens-regulierung basiert auf einer Bedingung, die Aus-gangspunkt für alle weiteren Formalisierungen vonVerhaltenserwartungen ist. Die Bedingung für dieMitgliedschaft in Organisationen ist die Anerken-nung der Erwartungen, die die Organisation an dasVerhalten ihrer Mitglieder stellt. Dementsprechendist eine Nichtanerkennung dieser Verhaltenserwar-tungen mit einer Mitgliedschaft nicht vereinbar(Luhmann 1964: 54, 2000: 113). Die Organisatio-nen können durch dieses Prinzip von der Frage derindividuellen Motivation ihrer Mitglieder abstra-hieren. Ob jemand Mitglied in der Organisation ge-worden ist, weil die Gehaltszahlungen hoch sind,sich Wechselchancen in attraktivere Jobs bietenoder weil man von den Kollegen viel lernen kann,ist für die Organisation zweitrangig. Sie kann da-von ausgehen, dass es eine generalisierte Motiva-tion ihrer Mitglieder gibt, den Befehlen, Regeln undProgrammen der Organisation zu folgen, und dieMitglieder nicht von der Sinnhaftigkeit jeder einzel-nen Vorschrift und Anweisung überzeugt werdenmüssen (Luhmann 1964: 89ff., 1973: 128ff.).

    Das Besondere an der Mitgliedschaftserwartung ist,dass diese bereits dann verletzt ist, wenn man sichals Mitglied einer einzigen Anforderung der Orga-nisation entzieht. Wer „eine Weisung seines Vor-gesetzten“ nicht annimmt oder „einer Vorschriftaus Prinzip die Anerkennung verweigert“, rebel-liert, so Luhmann (1964: 63), „gegen das Systemund gegen alle formalen Erwartungen“. Die explizi-te Aussage eines Sachbearbeiters des Bafög-Amtesgegenüber seiner Chefin, dass er ihr die angeforder-te Akte einer Studierenden nicht zu Verfügung stel-len wird, löst ja nicht deswegen erhebliche organi-satorische Unruhe aus, weil diese eine Akte für dieArbeit des Bafög-Amtes unerlässlich ist, sondernweil die Ablehnung auch nur dieser einen kleinenAnweisung als Rebellion gegen alle formalisiertenErwartungen in der Organisation interpretiert wer-den muss.

    Nur über diese Fokussierung der zentralen Mit-gliedschaftsregel auf auch nur eine explizite Miss-achtung können Organisationen eine Generalisie-rung von formalisierten Verhaltenserwartungenzustande bringen, die in der modernen Gesellschaftsonst kaum noch vorzufinden ist. Bei jeder Kom-munikation innerhalb einer Organisation fragt sichein Mitglied, ob es sich gerade den formalen Erwar-tungen der Organisation entsprechend verhält oder

    nicht und ob es mit einer Ablehnung einer formalenErwartung die Mitgliedschaft aufs Spiel setzt. DieFrage, die gerade bei problematischen Anforderun-gen im Raum steht, ist: „Kann ich Mitglied bleiben,wenn ich diese und jene Zumutung offen ablehne?“(Luhmann 1964: 40).

    Um das Argument zuzuspitzen: Erst die Fokussie-rung aller vier Experimente auf „Weitermachenoder Ausstieg“ bewirkt, dass – wohl eher unbe-wusst – die zentrale Mitgliedschaftsregel von Orga-nisationen abgebildet wird und das Verhalten derTestpersonen in Experimenten dem Verhalten vonMitgliedern in Organisationen so ähnlich wird.17

    Die Diskussionen zwischen Versuchsleiter und Test-person im Soda-Cracker-Experiment, in dem dieTestpersonen versuchen sich den Erwartungen zuentziehen ohne eine offene Verweigerung auszuspre-chen, kann als eine Auseinandersetzung über die zen-trale Mitgliedschaftsregel interpretiert werden. BeimMilgram-Experiment macht der Experimentleitermit seiner expliziten Aufforderung an die Testper-son, mit dem Experiment fortzufahren, diese daraufaufmerksam, dass eine Nichtbeachtung eine Weige-rung ist, mit der die Teilnahmebedingung verletztwird. Der Stress der widerständigen Personen im De-portationsexperiment entsteht dadurch, dass sie sichin ihrer Verweigerungshaltung zwar moralisch imRecht sehen, aber sich durch die „Mitgliedschafts-regel“ an das Experiment gebunden sehen.

    Wie kann man erklären, dass Personen bereit sind,sich den Bedingungen in den Experimenten zu un-terwerfen?

    4. Die Bindungskraft vonOrganisationsmitgliedschaften: zwischenAnreiztheorie und Selbstbindung

    Sowohl in der sich auf Karl Marx berufenden Ar-beitssoziologie als auch in der verhaltenswissen-schaftlichen Entscheidungstheorie in der Traditionvon Chester Barnard wird die zentrale Bedeutungvon Geldzahlungen herausgestellt. Geldzahlungensind, so die auf den ersten Blick wenig überraschen-de Einsicht, ein effektives Mittel, Personen an eine

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    17 Im Umkehrschluss kann man dann auch argumentieren,dass Experimente die ihren Aufbau nicht auf die Frage„Weitermachen oder Ausstieg“ zuspitzen die Mitglied-schaft nur begrenzt simulieren und deswegen Schwierig-keiten haben, Rückschlüsse auf das Verhalten in Organisa-tionen zuzulassen (siehe auch die frühen Versuche vonAdams/Rosenbaum 1962 zur Simulierung von Mitglied-schaft).

  • Organisation zu binden. Anders als Interessens-organisationen, die darauf angewiesen sind, dasssich ihre Mitglieder mit den Zwecken und der Füh-rung der Organisation identifizieren und dass diebereitgestellten Informationen Motivationskraft fürdie Mitglieder haben, können sich Organisationen,die ihre Mitglieder über Geld binden, Zwecke,Kommunikationen und Führungspersonal leisten,die nicht motivierend auf die Mitglieder wirken(vgl. Luhmann 1964: 89ff.).18

    Da der Bedarf an Geld „chronisch“ ist, könnenMitglieder nicht nur zeitlich befristet, sondern dau-erhaft an eine Arbeitsorganisation gebunden wer-den. Sie können über Geldzahlungen veranlasstwerden, den Wechsel von motivierenden Zwecken(Rettung von aidskranken Kindern) zu wenig moti-vierenden Zwecken (Verkauf von Aids-Medika-menten unter Profit-Gesichtspunkten) zu akzeptie-ren. Mitglieder können über Geldzahlungen dazuveranlasst werden, auch über längere Zeit demoti-vierende Informationen, etwa solche über tödlicheNebenwirkungen neu entwickelter Medikamente,zu ertragen. Organisationen ist es ferner möglich,Führungspersonal einzusetzen, das sich zwar alssachkompetent hervortut, gegenüber den Unterge-benen aber nicht besonders motivierend wirkt. Dadie Folgebereitschaft über Geldzahlungen an dieMitglieder sichergestellt wird, kann die Organisa-tion auf den charismatischen Führer verzichten(Luhmann 1964: 94ff.). Nicht ohne Grund hebt

    Max Weber hervor, dass die Ausbildung der Geld-wirtschaft eine wesentliche Voraussetzung für dieAusbildung bürokratischer Verwaltungen war –und man könnte ergänzen – für bürokratisierte Ar-beitsorganisationen generell (Weber 1976: 558f.).

    Es fällt jedoch auf, wie schwach in den Experimen-ten die Bindungskraft von Geld ist. Zwar erhaltendie Teilnehmer beim Soda-Cracker-Experiment,beim Milgram-Experiment und beim Stanford-Pri-son-Experiment Vergütungen für ihre Teilnahme,und man könnte aus einer organisationssoziologi-schen Perspektive hier ein Substitut für Lohnzah-lung erkennen, aber die vergleichsweise geringenSummen scheinen nicht der ausschlaggebendeGrund für die Gehorsamsbereitschaft zu sein. Die 4$ für die einstündige Teilnahme am Milgram-Expe-riment oder die 15 $ pro Tag, die beim Stanford-Prison-Experiment bezahlt wurden, waren für dieTeilnehmer vermutlich der Anreiz, sich für die Ex-perimente zu melden, können aber das Verbleibenim Experiment nicht erklären. Milgram wiederhol-te sein Experiment mit Studenten der Yale Univer-sity, die kein Geld erhielten, und die Ergebnisse gli-chen sehr stark den Ergebnissen der Testpersonen,die bezahlt wurden (vgl. Milgram 1963: 377). DieForschungsgruppe um Philip G. Zimbardo stelltefest, dass die 15 $ für eine 8-stündige Wachschichtbeziehungsweise für 24 Stunden in Gefangenschaftim Verlauf des Experiments immer mehr zu einerAbstraktion wurden, „eine schwache Quelle extrin-sischer Rechtfertigung“, die viel weniger verlockendwar als die Motivation, die aus der „dynamischenBeziehung zwischen Wärtern und Gefangenen ent-stand“. So machten die Wärter unbezahlte Über-stunden und verlangten nie mehr Geld, selbst als siebemerkten, wie ermüdend ihre Aufgabe war. AmEnde des Experiments waren alle außer zwei Ge-fangenen bereit, auf das schon verdiente Geld zuverzichten, wenn sie „zur Bewährung“ freigelassenwerden würden (Zimbardo et al. 1975: 276ff.; zitiertnach der deutschen Übersetzung Zimbardo et al.2002: 75). Die geringe Bindungswirkung von Geldwird beim Deportationsexperiment noch deutlicher.Aufgrund der Integration in schulische oder univer-sitäre Lehrveranstaltungen erhielten die Teilnehmerkeine Zahlungen (vgl. Berg 1988: 181ff.).

    Wie lässt sich die Rolle von Geldzahlungen anTestpersonen einordnen? Lediglich in Ausnahme-situationen scheinen Akteure ihre Entscheidungenentsprechend der Rational-Choice-Theorie durch-zukalkulieren. Diese Form der rationalen Kalkula-tion tritt auf, wenn man den eigenen Einsatz, denNutzen, die Nebenfolgen und die möglicherweiseverpassten Alternativen bestimmen kann. Die Über-

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    18 Die in der Organisationsforschung zentrale Unterschei-dung zwischen Arbeits- und Interessensorganisation bautmaßgeblich auf dieser Unterscheidung auf. Arbeitsorgani-sationen wie Unternehmen, Verwaltungen, Universitätenoder Krankenhäuser sind nicht darauf angewiesen, dassdie Zwecke, Ziele und Interessen der Mitglieder mit denender Organisation übereinstimmen. Da diese Organisatio-nen ihre Mitglieder durch Geldzahlungen an sich binden,haben sie die Möglichkeit, sich über die individuellen Mo-tivlagen ihrer Mitglieder weitgehend hinwegzusetzen. Da-gegen sind Interessensorganisationen wie Kirchen, Vereineund Parteien „von unten“ konstituiert. Weil sie ihre Mit-glieder in der Regel nicht bezahlen, sondern häufig im Ge-genteil durch ihre Mitglieder finanziert werden, müssendiese Organisationen ihre Mitglieder über motivkräftigeZwecke mobilisieren. Die Zwecksetzungen der Organisa-tionen müssen mit den Zwecken, Zielen und Interessender Mitglieder zwar nicht völlig übereinstimmen, aber zu-mindest kompatibel sein. Schließlich ist der Grund für einEngagement nicht die monatliche Überweisung, sonderndie Überzeugung, dass der eigene Einsatz für Jesus Chris-tus, für (manchmal auch gegen) eine Umgehungsstraßeoder für den Sieg des Sozialismus bei den nächsten Wahlenüber eine Organisation besser zu bewältigen ist; siehe zurUnterscheidung neuerdings Schimank 2003: 32ff.

  • legung, ob man für eine Million Euro mit einem rei-chen Mann eine Nacht verbringt oder ob man fürdie vage Aussicht auf 250 000 Euro und einen Plat-tenvertrag bereit ist, sich hundert Tage in einenContainer sperren zu lassen, könnten klassische Si-tuationen für eine solche rationale Kalkulation sein.Fraglich scheint aber, ob das Versetzen gesundheits-schädigender Stromstöße, das Einprügeln auf Ge-fangene oder das Töten von Mitgliedern ethnischeroder religiöser Minderheiten als Ergebnis eines ra-tionalen Kosten-Nutzen-Kalküls zu verstehen ist.

    Bei den hier geschilderten Experimenten scheinenGeldzahlungen, wie gesagt, nur insofern eine Rollezu spielen, als sie nötig sind, die Personen zur Ent-scheidung zu veranlassen, sich dem Experimentauszusetzen. Dabei scheint es sogar zweitrangig zusein, ob die Bindung über Zahlungen an die Test-personen oder über Zahlungen der Teilnehmer her-gestellt wird. Wenn man sich vor Augen führt, dassdie Teilnehmer am Deportationsexperiment eineAufwandsentschädigung bezahlten, kann man ver-muten, dass die „Zahlung durch Teilnehmer“ in Be-zug auf die Bindungswirkung ein funktionalesÄquivalent zur „Bezahlung von Teilnehmern“ ist.

    Ist die Entscheidung zum „Eintritt“ erst einmal ge-troffen, kann man eine flexible Anpassung des An-spruchsniveaus, der Erwartungshaltung der Test-personen an die Bedingungen beobachten. KurtLewin (1936) hat herausgearbeitet, dass das An-spruchsniveau von Personen nicht nur ausschlag-gebend dafür ist, ob sie eine Handlung als Erfolgoder Misserfolg interpretieren, sondern dass sichdas Anspruchsniveau selbst mit dem Erfolg oderMisserfolg einer Handlung verändert. Wenn mannicht den erhofften Umsatz von 100 000 Euro imJahr erzielt, führt das nicht nur dazu, dass man überdas Resultat seines Einsatzes enttäuscht ist, sondernman passt – bewusst oder unbewusst – seine An-sprüche an diesen Misserfolg an. Wenn man fest-stellt, dass man für einen Stundenlohn von 4 $ Per-sonen elektrische Stromstöße versetzen muss, danngibt es nicht nur die Möglichkeit, mit Enttäuschungauf diese moralisch belastende Anforderung zu rea-gieren, sondern auch die Möglichkeit einer Senkungdes Anspruchsniveaus.

    Welche Erfahrungen für die Bindungswirkung inOrganisationen kann man aus den Experimentenziehen?

    Das Besondere an Organisationen in der modernenGesellschaft ist, dass Personen durch eine eigeneEntscheidung in ihnen Mitglied werden. Unabhän-gig davon, ob man durch die eigenen Eltern, durcheine göttliche Berufung oder durch die wirtschaftli-

    chen Verhältnisse dazu gedrängt wird – der Eintrittin eine spezifische Organisation ist in der modernenGesellschaft immer eine Entscheidung des zukünfti-gen Mitglieds selbst. Es unterschreibt selbst seinenArbeitsvertrag, spricht selbst sein Gelöbnis zurTreue gegenüber Gott und seiner Kirche und fülltselbst das Überweisungsformular für den Mitglied-schaftsbeitrag für die Arbeiterwohlfahrt aus.

    Die Kontingenz der Mitgliedschaftsentscheidung inder modernen Gesellschaft wird auch im Austrittdeutlich. Fast alle Organisationen in der modernenGesellschaft machen ihren Mitgliedern den Austrittleicht. Salopp ausgedrückt: Aus fast jeder Organisa-tion kommt man schneller wieder heraus als ausdem Telefon-Vertrag bei einer Mobilfunkgesell-schaft oder dem Kaufvertrag mit einem Buchclub.Selbst die israelische Armee, sicherlich eine der Or-ganisationen mit den rigidesten Maßnahmen zurVerhinderung eines Austritts, verfügt über eineVielzahl von Tricks und Möglichkeiten, die Mitglie-dern einen Austritt ermöglichen.

    Die Experimente können als Indiz dafür gedeutetwerden, dass genau diese Dispositionsmöglichkeitüber die eigenen Mitgliedschaften einen Austritt soschwierig macht (vgl. Indizien bei Milgram 1974:140ff., Miller 1986: 225f.). Weil der Eintritt nichterzwungen wird, sondern freiwillig erfolgt, bindensich die Mitglieder an eigene Entscheidungen. Sie„verlieren ihr Gesicht“, wenn sie kurz nach demEinstieg in eine Organisation wieder aussteigen. Sieproduzieren, um einen Gedanken von Erving Goff-man zu nutzen, „Verlegenheit“ – nicht nur für sich,sondern auch für das Gegenüber. Goffmans Gedan-ke ist, dass man in Interaktionen Ansprüche an-meldet, wie man bezüglich seiner Persönlichkeitwahrgenommen werden will, und dass sich die In-teraktionspartner an diesen Ansprüchen orientie-ren, wenn sie an der Aufrechterhaltung der Inter-aktion interessiert sind. Es wird dann aber auchvon den Individuen erwartet, dass sie sich miteinem kohärenten und der Situation entsprechen-den „Selbst“ präsentieren. Bilden sich Brüche in derDarstellung aus, dann entsteht Peinlichkeit, dienicht nur für die verlegene Person, sondern für dieganze Interaktion ein Problem darstellt. Deswegensind die Bemühungen von Interaktionspartnern da-rauf gerichtet, das Entstehen von Verlegenheit undPeinlichkeit zu vermeiden (vgl. Goffman 1956: 268;auch Silver et al. 1987: 47ff.).

    In den Experimenten ist man jedoch gezwungen,seine Kündigung mit einem Verweis auf die Vor-kommnisse in den Organisationen zu rechtfertigen.Damit diskreditiert man aber nicht nur die Organi-sation, sondern auch seine nur kurze Zeit zurücklie-

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  • gende Entscheidung, an dieser teilzunehmen. Jero-me D. Frank verweist beispielsweise in der Auswer-tung seines Experiments darauf, dass der Wider-stand der Testpersonen gegen das Essen derSoda-Cracker dadurch unterdrückt wurde, dass siedieser Aktion freiwillig zugestimmt hatten. Einevon Franks Testpersonen erklärte seine Folgebereit-schaft damit, dass er sich bewusst auf ein Experi-ment eingelassen hatte und deswegen meinte, demfolgen zu müssen, was der Experimentleiter vonihm verlangte (Frank 1944: 37). Milgram verweistauf eine Reihe von Bindungsfaktoren, die die Test-personen zum Ausführen der Stromstöße gebrachthätten. Dazu gehörten die Bindung an das ur-sprüngliche „Versprechen“, dem Versuchsleiter zuhelfen, und die „Peinlichkeit“ des Ausscheidens(Milgram 1963: 377).

    Dieser Gedanke wird noch deutlicher, wenn mansich das Verhalten der Personen ansieht, die ihre„Mitgliedschaft kündigten“ und aus den Experi-menten ausstiegen. Interessant am Milgram-Experi-ment ist ja nicht nur das hohe Maß der Gehorsams-bereitschaft, sondern auch das Verhalten derjenigenPersonen, die sich entschlossen, dem Schüler keineStromstöße mehr zu versetzen. In keinem der doku-mentierten Fälle sprangen diese Personen nach Ab-bruch des Experiments auf und eilten dem ver-meintlich verletzten Schüler zur Hilfe. Vielmehrblieben sie in der Regel bedrückt auf ihrem Stuhlsitzen. Beim Stanford-Prison-Experiment schämtesich einer der Wärter, der seinen Job kündigen woll-te, nicht nur gegenüber „seinen Kollegen“, sondernauch gegenüber der Experimentleitung. Bei einemder genauer dokumentierten Deportationsexperi-mente äußerte eine der Personen, die nach langemZögern „ihren Job“ als Waggonausstatter kündigte,dass sie sich bei der Kündigung schlecht gefühlt ha-be. Sie habe sich bei der Anmeldung zum Seminarja eigentlich zur Teilnahme bereit erklärt. In einemanderen Fall folgte die Person, die als einzige ihrenJob gekündigt hatte, in der Auswertungsphase einerdreißigminütigen Diskussion, wie man die Trans-porte noch effizienter hätte gestalten können, undwagte es nicht, ihre Bedenken gegen das Experi-ment vorzubringen (vgl. Zimbardo 1974: 567, Mil-ler 1986: 252).

    Man kann vermuten, dass den Testpersonen derAusstieg aus Experimenten besonders deswegen soschwer fällt, weil durch den Experimentaufbau eineVielzahl „gesichtswahrender“ Austrittsbegründun-gen verbaut wird, die wir aus Organisationen sonstkennen. Man kann nicht auf die plötzliche Verset-zung seines Mannes oder seiner Frau hinweisen, diees einem unmöglich macht, an dem Experiment

    weiter teilzunehmen. Man kann nicht verkünden,dass man ein finanziell besseres Angebot von einemanderen Experiment bekommen hat. So stecken dieTestpersonen in dem Dilemma, entweder ihrenZweifeln an der Richtigkeit ihres Handelns nach-zugeben und damit einen Gesichtsverlust zu riskie-ren oder aber die Verlegenheit in der Interaktion zuverhindern und die Handlungen fortzusetzen.

    5. Die graduelle Steigerung von Anforde-rungen innerhalb der Indifferenzzone

    Der Aufbau der meisten Experimente zur Gehor-samsbereitschaft ist durch eine graduelle Steigerungder Anforderungen an die Testpersonen gekenn-zeichnet. Beim Soda-Cracker-Experiment interes-siert, beim wievielten Keks die Testperson anfängt,die Nahrungsaufnahme zu verweigern (vgl. Frank1944: 48ff.). Beim Milgram-Experiment werdendie Stromstöße kontinuierlich gesteigert, und diegesamte Experimentapparatur zielt darauf ab zumessen, bis zu welcher Stärke Stromstöße gegebenwerden (vgl. Milgram 1963: 376). Beim Deporta-tionsexperiment steht die Frage im Mittelpunkt, obbei der Mitteilung zusätzlicher Informationen oderbei Verschärfung der Anforderungen Widerstandentsteht. Wann, so die Frage im Deportationsexpe-riment, ziehen die Teilnehmer Konsequenzen undtragen das Risiko ihrer Entlassung: Wenn sie erfah-ren, dass nicht 50, sondern 150 Personen pro Wag-gon umgesiedelt werden? Wenn ihnen mitgeteiltwird, dass während der Transporte Menschen zuSchaden kommen? Wenn sie nebenbei aus der Zei-tung erfahren, dass der Zielort mit hoher Wahr-scheinlichkeit radioaktiv verseucht ist, die Umsied-ler also in den Tod geschickt werden (vgl. Kraus2003; siehe auch Kraus 1987: 80, Berg 1988: 199)?

    Besonders bei der Auswertung des Milgram-Experi-ments wurde darauf verwiesen, dass die Folge-bereitschaft mit der graduellen Steigerung der An-forderungen zu tun hat. Die Bestrafung desSchülers beginnt mit dem harmlosen Stromstoß von15 Volt, und jeder weitere Stromstoß bedeutet im-mer nur eine relativ geringe Verschärfung gegen-über dem unmittelbar vorhergehenden Stromstoß(vgl. Gilbert 1981: 691ff.). Angesichts der nur gra-duellen Steigerung fragt man sich, wann der Mo-ment erreicht ist, in dem man aussteigen sollte.Wenn die ersten Proteste der Testperson erklingen?Oder wenn die Proteste der Testperson bei immerhöher werdenden Stromstößen plötzlich verstum-men? John Sabini und Maury Silver verweisen da-rauf, dass die Schwierigkeit für die Testperson da-

    Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 101

  • durch entsteht, dass sie bei einem Ausstieg sichselbst (und der Experimentleitung) gegenüber recht-fertigen muss, weswegen sie bereit war, den nur ge-ringfügig niedrigeren Stromstoß zu versetzen. Indiesem Selbstdarstellungsdilemma scheinen vieleTestpersonen bereit zu sein, weitere Stromstöße zuversetzen, weil sie dadurch das Problem vermeiden,ihre vorige Handlung rechtfertigen zu müssen (vgl.Sabini/Silver 1980; siehe auch Kelman 1973: 44ff.,Gilbert 1981: 691f., Baumann 1989: 157, Neuba-cher 2002: 57).19

    In der Sozialpsychologie wird das Phänomen alsFoot-in-the-Door-Prinzip bezeichnet. Die Theseder Sozialpsychologen Jonathan L. Freedman undScott C. Fraser ist simpel: Einer Person, die sich zueiner wenig fordernden und anspruchsvollenHandlung bereit erklärt, fällt es schwer, sich denwachsenden Anforderungen eines Kommunika-tionspartners zu widersetzen. Für jemanden, dersich beispielsweise dazu bereit erklärt, eine Petitionfür Vorsicht im Straßenverkehr zu unterschreiben,ist es schwer, sich dem Wunsch zu widersetzen, eingroßes Schild gegen zu schnelles Fahren in seinemVorgarten aufzustellen – jedenfalls schwerer als füreine Person, die nicht bereit ist, ihre Unterschriftfür die Petition zu geben (vgl. Freedman/Fraser1966: 200). Wenn man sich von einem männlichenoder weiblichen Wesen erst einmal zu einem „Da-te“ hat breitschlagen lassen, dann fällt es schwer,sich dem Abschiedskuss an der Türschwelle odernoch weiter gehenden Zärtlichkeiten zu verwei-gern. Aufgrund dieses Foot-in-the-Door-Prinzipslautet die erste Frage, die Wahlforscher den Wäh-lern beim Verlassen der Wahlbüros stellen, auchnicht „Was haben Sie gewählt?“, sondern „HabenSie gewählt?“ – eine Frage, die den sozialpsycholo-gisch ungeschulten Wähler erst einmal angesichtsder Dummheit dieser Frage verstummen lassenmüsste. Schließlich gibt es ja kaum einen anderenGrund für einen Erwachsenen, sich an einem Sonn-tag in einer umfunktionierten Grundschule ein-zufinden.20

    Aus organisationssoziologischer Sicht lässt sich die-ses für soziale Systeme generalisierbare Phänomennoch weiter spezifizieren. Alle hier vorgestelltenExperimente machen sich eine zentrale Erwartungzunutze, die Organisationen an ihre Mitgliederrichten können: Die Folgebereitschaft innerhalb ei-ner nicht näher spezifizierten Indifferenzzone. Mit-gliedschaften legen, so bereits die Beobachtung vonChester Barnard, immer nur einen Rahmenkon-trakt zwischen der Organisation und dem Mitgliedfest. Es wird der Zeitraum festgelegt, in dem mansich den Organisationsregeln zu beugen hat, es wer-den die Grenzen der Autoritätsunterwerfung be-tont, und es wird festgelegt, welche Leistungen dasMitglied für seine Unterwerfungsbereitschaft er-hält. Aber welche Leistungen ein Mitglied für dieOrganisation im Einzelnen zu erbringen hat, wirdnicht weiter spezifiziert. Jedes Organisationsmit-glied stellt mit dem Eintritt in die Organisation eineArt „Blankoscheck“ aus. Bei Organisationsmitglie-dern entsteht eine folgenreiche „Indifferenzzone“,innerhalb derer sie zu den Befehlen, Aufforderun-gen, Anweisungen und Vorgaben der Vorgesetztennicht Nein sagen können (Barnard 1938: 161ff.).21

    Die Funktionalität für Organisationen liegt auf derHand: Die Mitglieder geloben eine Art begrenztenGeneralgehorsam gegenüber zunächst nicht weiterspezifizierten Weisungen. So ermöglichen sie esdem Management, die Organisation schnell undohne umständliche interne Aushandlungsprozessean veränderte Anforderungen anzupassen. Erst die-se Dispositionsfreiheit macht es Organisationenmöglich, in einer sich wandelnden Umwelt ihrenBestand zu sichern. Das Überleben in problemati-schen Umwelten setzt voraus, so der Gedanke vonLuhmann (1964: 94), dass „Entscheidungen unbe-stimmten Inhaltes vertagt und trotzdem gesichertwerden“. Ein Mitglied erträgt innerhalb der Indiffe-renzzone ein hohes Maß an Veränderungen, Ent-

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    19 In einer Zweitauswertung der Tonbandmitschnitte ausMilgrams Bridgeport-Experiment konnten Rochat, Mag-gioni und Modigliani (2000) zeigen, dass Probanden, diein der Frühphase des Experiments ihre Bedenken äußer-ten, mit größerer Wahrscheinlichkeit ausstiegen als Pro-banden, die keine Zweifel anmeldeten. Von 21 Personen,die sich schließlich widersetzten, widersprachen 57,1 %dem Versuchsleiter bereits vor oder beim 150-Volt-Level;von den 19 Gehorsamen hatte bis zum 150-Volt-Level kei-ner widersprochen; vgl. auch Neubacher 2002: 57.20 Den Hinweis auf das Wahlbeispiel verdanke ich AndréKieserling. Für die Gesellschaftsebene gibt es Möglich-

    keiten, die von Historikern aufgestellte These einerschrittweisen Gewöhnung der Bevölkerung an den natio-nalsozialistischen Repressionsapparat mit dem Foot-in-the-Door-Phänomen in Verbindung zu bringen; vgl. denÜberblick bei Lang 1990: 8ff., Trommler 1992: 92ff.21 Mit Gregory Bateson lässt sich der Begriff der Indiffe-renz genauer bestimmen. Indifferenz lässt sich als die an-dere Seite von Differenz verstehen. Indifferenz verweist al-so darauf, dass eine organisatorische Erwartung für dasMitglied keine Differenz (keinen Unterschied) macht. Or-ganisationen erzeugen eine Indifferenz, die ein Nein auchdort unwahrscheinlich werden lässt, wo man es anderen-falls vielleicht erwarten würde. Veronika Tacke sei für denHinweis auf die Spezifikation der Indifferenzzone ge-dankt.

  • täuschungen und Belastungen, bevor es sich zumAustritt aus einer Organisation entschließt.

    Genau dieser Effekt von Indifferenzzonen wird, sodie These, in den Experimenten (ungewollt) ge-nutzt. Die Testpersonen erhalten bei ihrer „Bewer-bung“ lediglich rudimentäre Informationen. In derSuchanzeige des Milgram-Experiments wird bei-spielsweise nur mitgeteilt, dass es um die einstündi-ge Teilnahme an einem Experiment zur Gedächt-nisleistung geht (vgl. Miller 1986: 39). BeimStanford-Prison-Experiment erfahren die Teilneh-mer lediglich, dass es sich um eine psychologischeStudie über das Leben in Gefängnissen handelt (vgl.Zimbardo et al. 1973: 36). Beim Deportationsexpe-riment wird zu Anfang nur erklärt, dass es um dieSimulation von Transporten im Rahmen einesBahnunternehmens geht (vgl. Kraus 1987: 74ff.).Mit der Bereitschaft, sich auf das Experiment ein-zulassen, erklären sich die Teilnehmer zur Folge-bereitschaft innerhalb der Indifferenzzone bereit.

    Aber was genau gehört in eine Indifferenzzone, dieman als Mitglied akzeptieren muss? Es herrscht inOrganisationen in der Regel Einverständnis darü-ber, welche Handlungen von einem Mitglied auf al-le Fälle erwartet werden können und welche aufgar keinen Fall. Dazwischen liegt aber ein großerGraubereich, der immer wieder neu austariert wird.Vom Filialleiter eines Drogeriemarktes wird erwar-tet, dass er im Notfall an der Kasse einspringt. Ge-nauso klar ist auch, dass er gegenüber dem Regio-nalleiter keine allgemeinen Assistenzaufgaben zuübernehmen hat. Aber gehört auch die gewaltsameFestnahme eines Ladendiebes in die Indifferenzzo-ne, die er akzeptieren muss? Von einer Professorinder Fakultät für Chemie wird das Betreuen, Kor-rigieren und Benoten von Diplomarbeiten Studie-render ihres Fachgebiets erwartet. Genauso klar ist,dass sie Arbeiten aus den Gesellschaftswissenschaf-ten nicht begutachten muss. Aber wie sieht es mitder Erwartung von Studierenden anderer Studien-schwerpunkte aus, die eine intensive Zweitbetreu-ung möchten? Gehört dies in ihre Indifferenzzone?

    Hier deutet sich an, wie sich die graduellen Steige-rungen von Anforderungen innerhalb und außer-halb von Organisationen unterscheiden. Bei Inter-aktionen außerhalb von Organisationen kann sichdie Testperson den Anforderungen auf vielfacheArt und Weise entziehen – sie hat lediglich mitSelbstdarstellungsproblemen in der konkreten In-teraktion beispielsweise mit dem Bürgerinitiativ-ler, dem werbenden Verehrer oder dem Wahlfor-scher zu kämpfen. Bei Prozessen innerhalb derOrganisation hängt die gesamte Mitgliedschaft ander Frage nach der Unterwerfungsbereitschaft un-

    ter die formalisierten Erwartungen der Organisa-tion.

    6. Resistenz gegen Autoritäten: DasKontrollproblem in Organisationen

    Aus dieser Perspektive können nun Aktionen ver-deckter Resistenz in den Experimenten erklärt wer-den. Bereits in der Organisationssoziologie in derTradition von Herbert Simon wurde darauf auf-merksam gemacht, dass nicht jeder Schritt kontrol-liert werden kann. Die Indifferenzzone, so die Ar-gumentation, bringt für die Organisation zwarFlexibilitätsvorteile mit sich, durch die nur wageDefinition der Aufgaben des Organisationsmit-glieds entsteht jedoch ein Kontrollproblem (vgl.Schimank 1986: 73f.). Ähnlich strukturiert ist auchdie Idee des Transformationsproblems in der mar-xistischen Industriesoziologie. Hier ist der Grund-gedanke, dass durch den Arbeitsvertrag zwar dieLeistungen des Kapitalisten, also die Lohnzahlung,genau spezifiziert ist, die Gegenleistungen der Ar-beiter jedoch nicht genau festgelegt sind. Der Ein-kauf von Arbeitskraft durch den Kapitalisten – dieformelle Subsumtion des Arbeiters – sei, so das aufMarx (etwa 1962: 532f.) aufbauende Argument,nicht gleichbedeutend mit der realen Nutzung derArbeitskraft durch das Kapital – die reelle Subsum-tion. An dieser Stelle setze ein alltäglicher Kampfum die Ausschöpfung des Arbeitspotenzials ein.Auch die Principal-Agent-Theory behandelt letzt-lich das gleiche Problem. Der Agent vollbringt be-stimmte Leistungen für einen Prinzipal und tendiertaus eigener Nutzenorientierung dazu, die Beloh-nungen des Prinzipals durch möglichst geringe Leis-tungserbringung zu erzielen. Der Prinzipal kann aufdiese Leistungszurückhaltung häufig nicht reagie-ren, weil er verschiedene Agenten gleichzeitig imAuge behalten muss, häufig nicht über die notwen-digen Fachkenntnisse verfügt, um die Leistungs-erbringung des Agenten überprüfen zu können, undweil ihm auch nicht immer Sanktionsmöglichkeitengegenüber dem Agenten zur Verfügung stehen (vgl.Moe 1984).

    In den Experimenten wird – eher ungewollt denngewollt – dieses Kontrollproblem nachgebildet.Beim Soda-Cracker-Experiment besteht die Strate-gie der Testpersonen im ersten Versuchsaufbau da-rin, den Verzehr so weit es geht in die Länge zu zie-hen und den Experimentleiter durch Gespräche vonder Durchsetzung des Keksverzehrs abzulenken(Frank 1944: 58ff.). Beim Deportationsexperimentzögern die Personen, die den Zweck des Experi-

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  • ments erkannt haben, ihren Austritt relativ langeZeit hinaus. Sie feilschen um eine Reduzierung derBelegungsquote für die Waggons mit der Begrün-dung, die Umsiedler seien „keine Sklaven“ und esgehe darum, ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten (Berg1988: 236ff., 258). Die einfachere Strategie scheintzu sein, die eigenen Arbeitsleistungen zu reduzieren,anstatt den Austritt aus der Organisation zu erklä-ren. In einer der interessantesten Variation des Mil-gram-Experiments verließ der Experimentleiter denRaum und gab seine Anweisungen per Telefon. DerAnteil der Testpersonen, die bis zum höchstenStromstoß von 450 Volt gingen, sank auf unter einViertel. Viele Testpersonen meldeten den geforder-ten Stromstoß an den Experimentleiter, gaben inWirklichkeit aber einen deutlich niedrigeren odergar keinen Stromstoß ab (vgl. Milgram 1974: 62,Miller 1986: 48; siehe auch die Ergebnisse einesähnlichen Experiments von Meeus/Raaijmakers1986: 317).

    Dieses Verhalten als Widerstand zu bezeichnen,scheint übertrieben. Martin Broszat hat in seinenStudien über den Nationalsozialismus den BegriffResistenz vorgeschlagen, um Verhaltensweisen zucharakterisieren, die unterhalb der Schwelle einesdirekten Widerstandes liegen. Broszat wollte mitdiesem Begriffsvorschlag darauf hinweisen, dass esbei Aktionen wie der Beibehaltung des Kruzifixesin den Schulen, der Vermeidung des Hitlergrußesoder dem Hören von ausländischen Rundfunksen-dern nicht darum ging, das System grundlegend inFrage zu stellen. Vielmehr ging es darum, die durchdie Nationalsozialisten gelassenen Handlungsspiel-räume dafür zu nutzen, sich den Anforderungen desRegimes punktuell zu entziehen (vgl. Broszat 1981;siehe auch Hirschman 1970: 23ff.).

    Die Grenze zwischen Resistenz und Widerstandlässt sich für Organisationen konkretisieren. Ver-stöße gehören in Organisationen zum Alltag. Mankann Fehler machen, Anweisungen unterlaufen,sein Arbeitspensum verzögern und seine Unzufrie-

    denheit mit den Anweisungen seines Chefs zumAusdruck bringen. Als Organisationsmitglied istman sich bewusst, dass diese Verstöße zwar teilwei-se geduldet werden, nicht aber als prinzipielle Ver-weigerung gegen eine Anweisung oder eine Vor-schrift verstanden werden dürfen. Erst wenn einMitglied auf einen Verstoß hingewiesen wird und esauf seinem Verhalten beharrt, greift die Regel, dassdie Verweigerung, einer Anweisung eines Vor-gesetzten oder einer einzigen Vorschrift Folge zuleisten, eine Rebellion gegen die Organisation mitihren formalen Erwartungen als Ganze ist (vgl.Luhmann 1964: 63). Das Beharren auf einem Ver-stoß hat deswegen in der Regel die Beendigung derMitgliedschaft oder die Veränderung der Regelnzur Folge.

    Wird dagegen das von den formalen Erwartungenabweichende Verhalten als Versehen, Missgeschick,Missverständnis, Unaufmerksamkeit oder einmali-ge Schwäche dargestellt, kann dies ohne große Pro-bleme mit der zentralen Mitgliedschaftsregel ver-einbart werden. Ein von den Formalerwartungenabweichendes Verhalten wird als Fehler markiertund ist, wenn diese Markierung vom betroffenenOrganisationsmitglied übernommen wird, keineBedrohung mehr für die Formalisierungsversucheder Organisation als Ganze. Die Organisation hatnach dem Eingeständnis eines Fehlers die Möglich-keit, verstärkt auf die Einhaltung der Regel zu ach-ten, das Organisationsmitglied dieser Verhaltens-erwartung nicht mehr auszusetzen oder sogarweitere Verfehlungen zu übersehen (vgl. Woodard1944: 333f., Luhmann 1964: 256f.).

    In den Experimenten wurde das Ausnutzen derKontrolllücken nicht systematisch untersucht. DieTestfrage für die Unterscheidung von Resistenz undWiderstand wäre, wie eine Person reagiert, wennsie auf ihr von den Regeln abweichendes Verhaltenhingewiesen wird. Wie reagieren die Personen inFranks Soda-Cracker-Experiment auf den Hinweis,dass sie den Keks bitte schneller zu essen haben?

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    Abb. 3 Vergleich zwischen dem Base-line-Experiment, dem Experiment, indem die Testperson lediglich die An-weisung zum Setzen der Stromstößegibt, dem Bridgeport-Experiment unddem Experiment mit einem abwesen-den Leiter (vgl. Milgram 1974: 56ff.,62ff.). Gemessen wird die Prozent-zahl der Personen, die bereit ist, denhöchsten Stromschlag von 450 Voltzu setzen.

  • Wie reagieren die Testpersonen im Milgram-Expe-riment, wenn der Experimentleiter wieder in denRaum zurückgekehrt? Setzen sie ihre Schummeleienfort, setzen sie die erwarteten Stromschläge odersteigen sie aus dem Experiment aus? Wie reagierendie ihre Arbeit verzögernden Testpersonen im De-portationsexperiment, wenn sie von ihren Vor-gesetzten dazu aufgefordert werden, wenigstens ei-nen Teil ihres Arbeitspensums zu erfüllen?

    7. Zusammenfassung und Ausblick

    Die Bedeutung der Experimente zur Gehorsams-bereitschaft für die Sozialpsychologie liegt darin,dass sie „unmenschliches Verhalten“ mit der Anpas-sung an Rollenerwartungen erklären. Sie machen da-mit einen „situativen Ansatz“ stark, der einen Blickdafür hat, dass sich auch „normale“ Personen „un-menschlich“ verhalten, wenn sie einem bestimmtenSet von „Rollenerwartungen“ ausgesetzt werden. Injedem, so die zugespitzte Schlussfolgerung, stecktdas Potenzial für einen kleinen Eichmann. Man mussnur in die entsprechende organisatorische Maschineeingebunden werden.22

    Mit dieser Überlegung werden Ansätze konterka-riert, die organisierte Brutalitäten vorrangig mitpsychischen Dispositionen oder Sozialisationseffek-ten erklären. Theodor W. Adorno, sicherlich der be-kannteste Vertreter eines solchen Ansatzes, sucht bei-spielsweise eine Erklärung für Auschwitz in derAusbildung eines „Sozialcharakters“, der durch feh-lende emotionale Beziehungen, die Unfähigkeit zumenschlichen Erfahrungen, Organisationswut undeine Hypostasierung der Tätigkeiten gekennzeichnetist (vgl. Adorno 1970). Schon im Mittelpunkt seinerfrühen Studien zur autoritären Persönlichkeit standdas potentiell faschistische Individuum, das durch ei-ne hohe Vorurteilsbereitschaft gekennzeichnet istund dessen Persönlichkeitsstruktur es empfindlichfür antidemokratische Propaganda macht (vgl.Adorno et al. 1950).

    Dieser Artikel kritisiert, dass der situative Ansatzbisher nicht weit genug getrieben wurde. Überspitztausgedrückt: Bei der Interpretation der Experimen-

    te besteht die Tendenz, sich mit der Aussage zufrie-den zu geben, dass es die Situationen und nicht diepersönlichen Dispositionen sind, die zur Gehor-samsbereitschaft führen. Es wird aber nicht im De-tail spezifiziert, welcher Typ von sozialem Systemim Experiment simuliert wurde. Vor dem Hinter-grund dieser fehlenden Spezifizierung liegt es dannnahe, aus den Experimenten Aussagen übermenschliches Verhalten in der modernen Gesell-schaft insgesamt zu treffen und die Aussagekraftder Experimente tendenziell zu überziehen. Ent-gegen diesem Trend zur Übergeneralisierung vonExperimentergebnissen scheint es sinnvoll, sozial-psychologische Experimente danach zu differenzie-ren, ob sie spontane Face-to-face-Interaktionen,Interaktionen in einer Gruppe oder Kommunikatio-nen in Organisationen abbilden.23

    Bei einer ersten Kategorie von Experimenten han-delt es sich um die Simulation von spontanen Inter-aktionen. Interaktionen als soziale Systeme bildensich aus, wenn sich Personen gegenseitig wahrneh-men und sich bemüßigt sehen, ihr Verhalten auf dasder anderen Personen einzustellen. Ein Interak-tionspartner weiß, dass er von anderen wahr-genommen wird, und er weiß auch, dass diese ande-ren wissen, dass er das weiß (vgl. grundlegendLuhmann 1975: 10ff., Fuchs 1989: 171f., Kieser-ling 1999: 15ff.). Interaktionen entstehen in Grup-pen oder in Organisationen, sie können aber auch,wie in dieser uns interessierenden Kategorie, spon-tan, unfokussiert beim Zusammentreffen auf einerParty, beim Warten in einer Schlange oder beim Zu-sammenprall in der Fußgängerzone entstehen. Zudieser letzten Kategorie lassen sich die Experimentezur Normanpassung in Interaktionen zählen, wiesie von Muzafer Sherif und Solomon E. Asch unterdem unpräzisen Begriff des Gruppendrucks durch-geführt wurden (vgl. Sherif 1936, Asch 1951,1955). Zu Experimenten, die spontane, unfokus-sierte Interaktionen abbilden, kann man auch dasAussonderungsexperiment von Hagen Kordes rech-nen. In diesem Feldexperiment wurden vor einerUniversitäts-Mensa Studierende unter dem Vor-wand einer statistischen Erhebung in „Deutsche“und „Ausländer“ getrennt. Durch Handzettel, Mar-kierungen vor den Türen und Ansprechen durchMitglieder des Versuchsteams wurden Studierendezu einem nach „Deutschen“ und „Ausländern“ ge-

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    22 Besonders die Forschergruppe um Zimbardo sieht ihreeigene Forschung in dieser sozialpsychologischen Tradi-tion. Mit Verweisen auf Mischel 1969 und Argyle/Little1972 wird behauptet, dass Persönlichkeitsmerkmale nurvon beschränktem Nutzen für die Vorhersage künftigenVerhaltens sind. Die Situation sei die ausschlaggebendeVariable zur Erklärung von menschlichem Verhalten; vgl.Zimbardo et al. 1975.

    23 Bei Organisationen benutze ich den Begriff der Kom-munikation, weil in den Experimenten nicht nur verbaleoder nonverbale Face-to-face-Interaktionen provoziertwerden, sondern auch der schriftliche Verkehr zwischenTestpersonen.

  • trennten Eintritt veranlasst. 95 % der Studierendenfolgten den Anweisungen und ließen sich wie eine„Trottmasse“ bereitwillig segregieren (vgl. Kordes1994: 14ff., 46).

    Bei einer zweiten Kategorie von Experimenten wer-den scheinbar Gruppenprozesse nachgebildet. Es istdas Verdienst Erving Goffmans, die Gleichsetzungvon Interaktion und Gruppe in der frühen Klein-gruppenforschung in Frage gestellt zu haben (vgl.Goffman 1962). Gruppen „erschöpfen“ sich nichtin einer Interaktion, und man kann zu einer Gruppeauch gehören, wenn man an einer Interaktion nichtteilnimmt. Gruppen sind, so die Bestimmung Hart-mann Tyrells, mehr als ein „lockeres Netzwerkpersönlicher Verbindungen“. Es bildet sich eineVorstellung von „Zugehörigkeit“ und „Zusammen-gehörigkeit“ aus (Tyrell 1983: 83). Zu der Katego-rie Gruppe lassen sich beispielsweise die Experi-mente zählen, in denen während Jugendcamps dieBildung von unterschiedlichen Cliquen gefördertund dann beobachtet wird, welche Faktoren zu ei-ner Verstärkung oder Abschwächung von Konflik-ten zwischen den Gruppen führen (vgl. Sherif 1958;auch Sherif et al. 1955).

    Bei einer dritten Kategorie von Experimenten wer-den zentrale Elemente von Organisationen abgebil-det. Zu dieser Kategorie lassen sich Experimentezählen, die die Bindung von Mitgliedern an hierar-chische Anweisungsstrukturen und Regeln spezifizie-ren (vgl. für die Abgrenzung von Organisationenvon Interaktionen und Gesellschaft Luhmann 1975:12). Eine der ersten experimentellen Untersuchungs-reihen, die das Zusammenspiel von Mitgliedschafts-regeln, Hierarchie und Programmen untersucht ha-ben, waren die Experimente der Forschungsgruppevon John French. Im Mittelpunkt der Experimen-treihe stand die Frage, welche Rolle die Legitimitäteiner Vorgesetztenanweisung auf die Folgebereit-schaft von Untergebenen hat (vgl. French et al.1960; siehe auch French/Raven 1958a, 1958b). Ei-ne der ersten Untersuchungen, die in den Blicknahm, wie sich Organisationsmitglieder bei Wider-sprüchen zwischen hierarchischen Anweisungenund Organisationsprogrammen verhalten, war dasFeldexperiment der Gruppe um Charles K. Hoflingzum abweichenden Verhalten in Krankenhäusern.Sie konnte zeigen, dass Krankenschwestern auf-grund ärztlicher Anweisungen dazu bereit waren,gegen zentrale Regeln der Organisation zu versto-ßen (vgl. Hofling et al. 1966).

    Schon in der Welt außerhalb des Laboratoriumssind die Abgrenzungen zwischen Interaktionen,Gruppen und Organisationen nicht immer selbst-verständlich. Wenn es bei Personen zu einer Anei-

    nanderreihung von Interaktionen kommt, weil siezufällig den gleichen Rückweg von der Schule ha-ben oder sich regelmäßig in der Disko treffen, kön-nen sich Gruppenprozesse ausbilden. Wann aber ge-nau eine Gruppe entsteht, können häufig weder dieBeteiligten noch die interessierten Wissenschaftlergenau bestimmen. Manchmal kommt es vor, dasskleinere Organisationen nur begrenzt eindeutigeMitgliedschaftsbestimmungen und hierarchische An-weisungsverhältnisse nutzen. Firma, Partei oder Ver-ein erscheinen dann eher als Clique denn als ausdif-ferenzierte Organisation. Bei vielen Interaktionen imUmfeld von Organisationen, wie Betriebsfeiern,Mensaschlangen oder Fahrstuhlfahrten, ist nicht ein-deutig, ob sie mit der Funktionsweise von Organi-sationen oder mit der Logik geselliger Interaktionerklärt werden können.24

    Erschwert wird eine Differenzierung dadurch, dassAspekte wie Selbstbindung, Indifferenz und Kon-trolle auch in spontanen Interaktionen, Gruppenoder Familien vorkommen. In der spontanen Inter-aktion am Infostand einer Partei binden sich dieDiskutanten an die Positionen, die sie zu Beginn derDiskussion eingenommen haben. In einer Cliquemüssen sich die Mitglieder gegen viele Anforderun-gen der Gruppen indifferent verhalten, weil siesonst nicht akzeptiert werden. Auch in einer Fami-lie kann es das Problem geben, dass sich die Kinderder Kontrolle ihrer Eltern entziehen (oder die „Un-terwachung“ der Eltern durch die Kinder nur un-vollständig funktioniert). In Organisationen bildensich diese Aspekte jedoch in einer eigenen Formaus, weil die Selbstbindungen der Mitglieder, derenSich-Einlassen auf Indifferenzzonen und deren (im-mer unvollständige) Kontrolle vor dem Hinter-grund formalisierter Rollenerwartungen stattfin-den, an die sich die Mitglieder durch ihren Eintrittin die Organisation und den drohenden Ausschlussaus dieser gebunden fühlen.25

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    24 Diese Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Interaktio-nen, Gruppen und Organisationen spiegeln sich – in ver-schärfter Form – in Experimenten wider, da bei ihnen derÜbergang zwischen den simulierten sozialen Systemenhäufig fließend ist. Gerade weil Experimente zeitlich starkbeschränkt sind und es sich vorrangig um einmalige Inter-aktionen zwischen Personen handelt, die sich nicht ken-nen, deuten sich die Gruppen- oder Organisationsprozessehäufig nur an. Andere Typen von sozialen Systemen wieMassen (vgl. Wright 1978) oder Bewegungen (vgl. Japp1993) können durch Experimente kaum abgebildet wer-den, weil die dafür erforderliche hohe Teilnehmerzahl nurschwer zu mobilisieren und in einen Experimentaufbau zuintegrieren ist.25 Ein Besuch beim Arzt oder die Teilnahme an einer Un-

  • Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der Rein-terpretation des Soda-Cracker-, des Milgram-, desStanford-Prison- und des Deportationsexperimentsziehen? Auch wenn die Übergeneralisierung der Ex-perimentsergebnisse zurückgewiesen wird und dieAussagekraft der Experimente auf das Verhalten inOrganisationen reduziert wird, ist diese „Beschei-dung“ der Experimente lediglich ein schwacherTrost.

    Erstens ist es kaum möglich, sich eine moderne Ge-sellschaft ohne Organisationen vorzustellen. Sicher-lich: Gegen die vorschnelle Diagnose einer Organi-sationsgesellschaft spricht, dass das IndividuumRollenerwartungen nicht nur in Organisationen,sondern auch in der Familie, im Freundeskreis,beim Spontaneinkauf im Warenhaus, im Stau aufder Autobahn oder bei der semesteranfänglichenDemonstration gegen Studiengebühren kennt (vgl.Kühl 2004: 79ff.). Aber gerade im Vergleich zu denHochkulturen scheint die moderne Gesellschaft ins-gesamt auf die Ordnungsleistung von Organisatio-nen nicht verzichten zu können. Dementsprechendsind durch Organisationen geplante, unterstützteund durchgeführte Brutalitäten typische Phänome-ne der modernen Gesellschaft.

    Zweitens spricht nichts dafür, dass koordinierteBrutalitäten nur durch Organisationen erzeugt wer-den. Die Pogrome gegen Juden in Europa lassensich, auch wenn sie häufig koordiniert waren, eherals Massenphänomen denn als Organisationsphä-nomen beschreiben. Die Forschungen über den Ge-nozid in Ruanda gehen zwar von einem hohen Maßan Planung und Koordination aus, der Blutrauschscheint aber weniger das Ergebnis von auf Mitglied-schaft, Hierarchie und Zweckformulierung basie-renden Organisationen denn Ausdruck einer sozia-len Bewegung gewesen zu sein. Forschungen überGangs, Cliquen und Banden haben gezeigt, dassauch nicht formalisierte Gruppen zu einem hohenMaß an Brutalität sowohl gegenüber ihren Grup-penmitgliedern als auch gegenüber Nichtmitglie-dern fähig sind. Mitläufertum in Form von still-schweigender Akzeptanz von Gewalt lässt sich nurschwer mit Kategorien der Organisationssoziologieerklären, sondern scheint eher im Widerstreben zuliegen, sich auf unfokussierte und unberechenbareInteraktionen einzulassen.

    Drittens ist es wenig beruhigend, d