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Ästhetische Erziehung oder Bildung in der zweiten Moderne? Über ein Kontinuitätsproblem didaktischen Denkens Hamburg University Press Kunstpädagogische Positionen 3 Gert Selle

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Ästhetische Erziehung oder Bildung in der zweiten Moderne? Über ein Kontinuitätsproblem didaktischen Denkens

Hamburg University Press

Kunstpädagogische Positionen 3

Gert Selle

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EditorialGegenwärtig tritt die Koppelung von Kunst & Pädagogik,Kunstpädagogik, weniger durch systematische Gesamt-entwürfe in Erscheinung, als durch eine Vielzahl unter-schiedlicher Positionen, die aufeinander und auf die Geschichte des Faches unterschiedlich Bezug nehmen.Wir versuchen dieser Situation eine Darstellungsform zu geben.

Wir beginnen mit einer Reihe von kleinenPublikationen, in der Regel von Vorträgen, die an derUniversität Hamburg gehalten wurden in dem Bereich,den wir FuL (Forschungs- und Le[ ]rstelle. Kunst –Pädagogik – Psychoanalyse) genannt haben.

Im Rahmen der Bildung und Ausbildung von Stu-dierenden der Kunst & Pädagogik wollen wir Positionenzur Kenntnis bringen, die das Lehren, Lernen und die bildenden Effekte der Kunst konturieren helfen.

Karl-Josef Pazzini, Eva Sturm,Wolfgang Legler, Torsten Meyer

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Gert SelleÄsthetische Erziehung oder Bildung in der zweiten Moderne?Über ein Kontinuitätsproblem didaktischen Denkenshrsg. von Karl-Josef Pazzini,Eva Sturm, Wolfgang Legler,Torsten Meyer

Kunstpädagogische Positionen 3/2004Hamburg University Press

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1. VorbemerkungenGanz ohne Motto komme ich nicht aus: Karl Kraus – derWiener »Fackel«-Kraus – schreibt um 1908: »Der Künstlerentdeckt, was nicht gebraucht wird. Er bringt das Neue.«Und: »Der Künstler ist nur einer, der aus der Lösung einRätsel machen kann.« (Kraus 1986, 335, 338)

Was ist demnach ein Kunstpädagoge? Auch Einer,der betreibt, was nicht gebraucht wird? Einer, der Neuesbringt? Einer, der aus Lösungen Rätsel macht? Damitmacht er sich nur unbeliebt.

Immerhin hat Karl Kraus auch festgestellt, dass esdie Bescheidwissenschaft ist, die den ersten Platz in derdeutschen Bildungslandschaft einnimmt. Zu den Be-scheidwissenden habe ich nie gehört. Trotzdem halte ichIhnen einen Vortrag.

Didaktisches Denken entsteht unter dem Druck kul-tureller Entwicklungen, die seine Bewegungsfreiheit undsein Selbstverständnis einschränken. Es reflektiert seltendie verdeckten eigenen Abhängigkeiten. Es kommt fastimmer zu spät, was seine Einwirkungsmöglichkeiten aufden Prozess der Kultur betrifft. Und heute steht es auchnoch vor dem Problem eines Bruchs mit Traditionen, derseine lineare Fortsetzung unwahrscheinlich macht.Darüber unter anderem möchte ich sprechen.

Gestatten Sie einige Vorbemerkungen. Erstens: DieEinladung zu dieser Vorlesungsreihe habe ich ange-nommen, um als Nichtmehrbeteiligter festzustellen, obich mit dem Bewusstsein leben muss, einer ausster-benden Spezies von Pädagogen angehört zu haben, derdie Erfahrung, sie sei überflüssig geworden, unentwegtbestätigt wird, oder ob mir noch etwas einfällt. DieUngewissheit hat mein Nachdenken beschleunigt, sodass Sie ein Zwischenergebnis mitgeteilt bekommen.Immerhin befinde ich mich jetzt an einem Punkt, an demich meine Selbstzweifel objektivieren und sachlich übermeine vergangene Arbeit als Kunstpädagoge reden kann,als wäre sie die eines anderen.

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Zweitens: Ich muss mich dafür entschuldigen, dassich hier nicht als Zeitzeuge auftreten werde, obwohl ichvermutlich von den Veranstaltern dazu einbestellt wor-den bin, Ihnen etwas Brauchbares aus der Geschichte der Fachdidaktik zu vermitteln. Die Diskursgeschichte desFachs, in der Statthalter pädagogischen Wissens, alsoBescheidwissende, unentwegt versucht haben, ihreStandpunkte durchzusetzen, fand ich schon langweilig,als ich noch gezwungen war, daran teilzunehmen. Meine Erfahrung ist, dass das gestern Gedachte, Gelehrteund Durchgesetzte von der jeweils gelebten Kulturbereits überholt war, ehe es dort ankam. Das gilt auch für das erst heute Gedachte. Wer zu spät kommt, denbestraft das Leben. Ich werde daher nur eine einzigehistorische Anleihe machen, und zwar bei der Kunst-erziehungsbewegung um 1900, mit der das Problem sei-nen Anfang nimmt.

So sage ich auch gleich: Ich kann mir eine Lehre desLehrens und Lernens heute nur als permanent zu aktuali-sierendes Vorausdenken gesellschaftlicher Bestimmt-heiten des ästhetischen Subjekts vorstellen, das sich infortlaufender Auflösung und Verwandlung befindet, sodass Didaktik zu einem Konstrukt von bewusst kurzgehaltener Gültigkeit wird, zu einer vorläufigen Ver-suchsanordnung. Früher gab es große didaktische Fertig-Entwürfe, um längere Zeit Schule zu machen. Heute müsste Didaktik in einem fließenden Kontext vonBeobachtung, Reflexion und Experiment im Blick aufAusschnitte der kulturellen Gegenwart sich ständig korri-gieren oder neu entwerfen, sie ist als mobiles Potentialim Aufbau und nicht als irgendeine jemals fertige Lehrezu verstehen. Ausgearbeitete didaktische Modelle alternerschreckend schnell. Sie müssen also kein schlechtesGewissen haben, wenn Sie von der einen oder anderenhistorischen Position nichts wissen. Weil ich meineFachbibliothek verschenkt habe, könnte ich demVermittlungsauftrag von Didaktikgeschichte auf demüblichen geistesbescheid-wissenschaftlichen Wege

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sowieso nicht mehr nachkommen. In meinem Versuch,über das Bedingungsgefüge didaktischen Denkens nach-zudenken und es vielleicht neu zu öffnen, kann ich nurbegründete Privatmeinung vortragen. Aber was warDidaktik – von ihrer versteckten gesellschaftlichenDeterminiertheit abgesehen – jemals anderes als privateMeinung, in möglichst beeindruckende bescheidwissen-schaftliche Form gebracht? Lassen Sie sich niemals davonbeeindrucken! Das meiste ist schon falsch, ehe es alsdurchgesetzt gilt.

Drittens: Es sind einige Behauptungen zur Sachevoranzustellen, damit Sie entscheiden können, ob Sie weiter zuhören wollen. Wer heute von ästhetischerErziehung und Bildung redet, muss pädagogisches Pathosmeiden wie die Pest.

Man dürfte eigentlich nur von der Unmöglichkeitüberzeugt sein, irgendetwas umsetzen zu können, wasals Eingriff in den Kulturprozess, sei es fördernd, störendoder korrigierend, zu verstehen wäre. Es spielt überhauptkeine Rolle, dass es einen ästhetischen Erziehungs- undBildungsapparat in und neben diesem Kulturprozess gibtund dass seit einem Jahrhundert Kunsterzieherinnen undKunsterzieher ausgebildet und didaktikgestützt in dieInstitutionen geschickt werden, um dort zu arbeiten. KeinWissenschaftler hat diese Tätigkeit je evaluiert.

Man könnte die Geschichte der ästhetischenErziehungs- und Bildungslehren daher ungestraft auchals eine Geschichte des Scheiterns oder Versagens inter-pretieren. Immerhin scheint jetzt die Epoche der un-hinterfragbaren Selbstgewissheiten ästhetischer Lebens-lehren vorüber. Das haben viele Didaktikproduzenten nurnoch nicht gemerkt oder sie lassen es sich nicht anmer-ken, weil sie dann erschrocken für sich selber dieSinnfrage stellen müssten.

Meinen eigenen Fall von Sinnverlustempfinden, dasmich aus dem Hochschulverkehr gezogen hat, betrachteich nicht als persönliches Unglück sondern als Symptomder Lage. Das Jahrhundert-Paradigma ästhetischer

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Erziehung und Bildung ist ein Auslaufmodell. Offen-sichtlich ist, was einmal Sinn und Ziel solcher Praxis war,von der gesellschaftlichen Entwicklung überholt, sei es bei der Vermittlung von Fertigkeiten zur Anpassung an den Modernisierungsprozess, sei es als Korrektiv politisch-gesellschaftlicher Verhältnisse, sei es in der Kompensation realkultureller Überforderungen des Subjekts.

Ästhetische Erziehung und Bildung sind zuneh-mend in den Zwangsabläufen systemimmanenter technoästhetisch bestimmter Sozialisationsprozesse auf-gegangen. Die Einpassung geschieht im Kulturprozessselbsttätig und kaum beeinflussbar durch Pädagogik.Längst ahnen wir, dass die neue Medienkultur die von ihr definierten ästhetischen Erziehungs- und Bildungs-aufgaben höchst effektiv selbst übernommen hat. Ichgehe daher davon aus, dass kein beliebiger, die Kontinuität pädagogischen Denkens im Ästhetischenwahrender, sondern ein prinzipieller und radikaler Paradigmenwechsel mit dem Eintritt in das Zeitalter derNeuen Medien begonnen hat.

Im Verbund hochwirksamer neuer Technologien mitdem Kapitalismus unserer Tage ist ein ökonomisch-ästhetisch-kultureller Machtkomplex, ein Gefüge struk-tureller Formungen von Wahrnehmung, Bewusstsein,Lebens-weise und Erwartungshaltung entstanden, dasselbst Alt-Achtundsechziger überrascht, die an der erstenkritischreaktiven Didaktikwelle der Nachkriegszeit teilhatten, als die Medienkultur Licht und Schatten zuwerfen begann.

Niemand, zuallerletzt die so genannten»kritischen«Didaktik-Denker nach 1968, vondenen Sie einige hier ken-nen gelernt haben, hätte damals gedacht, dass der Herr-schaftsbereich neuer Technologien sich derart generali-sieren und sich unangefochten bis in den Entwurf neuerMenschenbilder hinein erstrecken würde. Von Cyborg-Existenzen, von Mind-Uploading oder von Körperre-generation via Gentechnik sprach damals noch niemand.

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Wenn es vor 1933 und wieder nach 1945 zum nach-vollziehbaren Bestand der Ziele ästhetischer Erziehungs-und Bildungsarbeit gehörte, auf Selbstentwürfe wahrnehmender, urteilender und handelnder Individuenim Rahmen der lang anhaltenden ersten ModerneEinfluss zu nehmen, dann war dies d ie Sinnkonstanteberuflichen Handelns schlechthin, die sich bei unter-schiedlichster Auslegung von der musischen Kunst-erziehung bis in ausgeweitete Praxen einer ästhe-tischen Erziehung der 80er Jahre, ja noch bis in unsereGegenwart erstreckt.

An dieser wie auch immer differenziert gebroche-nen Sinnkonstante didaktischen Denkens müssen wirheute zweifeln. Ästhetische Erziehungs- und Bildungs-lehren waren zwar seit je überfordert, wo es um prakti-sche Eingriffe in den gesellschaftlichen Prozess der Kulturging. Aber sie blieben immer optimistisch. Im Zeitaltermultipler Realitäten, die sich der Einbildungskraft, undinvasiver Technologien, die sich des Körpers bemächtigen– also d e r beiden klassischen Ansatzstellen einer ästhetisch infizierten oder ästhetisch operierendenPädagogik seit je – ist mit den herkömmlichen Hoff-nungen, Argumenten und Instrumenten aber kaum nochetwas auszurichten.

Das neue Subjekt wird massiv kulturell konstituiert,erzogen und gebildet; es ist Gewalten unterworfen,denen niemand mehr ausweichen kann. Wie definiertsich ein zukünftiges Ich-Subjekt? Wie wird es im Affektder Medienkultur des 21. Jahrhunderts wahrnehmen,reflektieren, reagieren? Auf welcher Höhe seines Existenzbewusstseins wird es sich bei seiner Einver-nahme, Aufspaltung und Neukonstitution entwerfen,bewegen, darstellen?

Sie sehen, wohin ich abdrifte: Ich lande unweiger-lich bei einer Kunst der Gegenwart, die solcheEinvernahme, Aufspaltung und Neukonstitution themati-siert und Fragen nach der veränderten conditio humanain der Kultur der Hochtechnologien stellt.

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Wird eine solche Kunst in Zukunft ästhetischeBildungsaufgaben im Sinne eines Instruments zur reflexi-ven Selbst-Bewusstmachung übernehmen?

Es spricht einiges dafür. Wo stünde ich mit meinemnachhinkenden Bewusstsein in meiner Gegenwart,hätten mich nicht Bruce Nauman, Tony Oursler, MonaHatoum, Matthew Barney und andere mit ihrer Kunstgründlich aufgestört?

Die Frage ist, ob, wer nicht aufgestört reagierend inder Gegenwart lebt, die immer schon halb Zukunft ist,überhaupt noch Didaktik, auch im Sinne einer Auto-didaktik der ästhetischen Erkenntnisfähigkeit treibenund dabei auf Gegenwartskunst verzichten kann. Fürmich ist die reflektierende, mit neugierig machenderErfahrung experimentierende Gegenwartskunst einegrundlegende Lehre des Wahrnehmens undBewusstmachens von Gegenwart und möglicherZukunft. Sie ist das didaktischste Material, das ich kenne,das Sichtbarste und Beunruhigendste, aber auch dasSprödeste, das man sich und anderen zumuten kann. Undsie ist aktuell, was Schule offenbar nicht sein kann.

Sie sehen, ich werde mich nicht auf einen Didaktik-begriff festlegen lassen, der für den Schulgebrauchzurechtgestutzt ist. Es geht ja um ein Bewusstsein desLebens in der Kultur der zweiten Moderne; Schule ist danur ein Randproblem.

Nun besteht mein Problem darin, dass ich alles, waszu sagen ist, in die nächsten 45 Minuten pressen muss.Ich werde schnell sprechen und keine Bilder zeigen. Ichübe mich in der Kunst der Verkürzung. Das halten Sie mirnachher bitte nicht vor. Sie dürfen sowieso alles verges-sen, was ich Ihnen erzähle.

2. Gegenwarts- und ZukunftsbilderIn einem Spiegel-Artikel beschreibt Rafaela von Bredowden Alltag von Zarko, einem Programmierer, der als

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junger Rentier allein in einem vernetzten Hightech-Hausin Kalifornien lebt: »Zarko Draganics Hund heißt Rex undbellt so tief und rau, als wäre er mindestens Doggen-groß. Zarkos Frau hat eine warme Stimme und sprichtitalienisch. Sowohl Hund als auch Frau könnten ihm,ihrem Herrn, nicht besser gehorchen: Sie reagieren aufKnopfdruck. Denn ihre Körper bestehen aus Kabeln,Schaltern und vibrierenden Membranen, Elektronen-ströme sind ihr Lebenssaft. Deswegen bellt Rex, derHundeautomat, immer im gleichen rauen Rhythmus, unddie Frauenmaschine sagt immer dasselbe: ›Il caffé é aper-to‹, das Café ist geöffnet.

Zarko zuckt mit den Schultern: ›Was hätte ich denntun sollen?‹, fragt er. ›Ich mag Hunde so gern, hatte aberkeine Zeit für einen.‹ Nicht einmal eine Freundin passte insein Leben als Jungunternehmer. (…)

Dabei hat er all die Technik gut versteckt. Fast allesliegt unter Putz und unterm Holzfußboden: zwei Stand-leitungen zum Internet, eine ISDN-Verbindung und fünfanaloge, davon eine fürs Fax, eine für Daten, zählt derFachmann auf, und drei ›für die Stimmübertragung‹. Er meint normales Telefonieren – beim Netzmann giltdie menschliche Stimme nur als eines von vielenDatenformaten. (…)

In jedem Raum kann er sich zu jedem Zeitpunkt aufmindestens drei Arten ins Internet loggen. 7 Computerstehen im Kontakt zur Außenwelt, 14 Telefonhandsetsgesellen sich zu den Web-Handys und Fernbedienungenin den sechs Räumen seines Hauses. ›So dass ich immereine in Reichweite habe.‹« (Der Spiegel 27 (2000): 128 f.)

Der Computerspezialist, Unternehmer und Futuro-loge Ray Kurzweil denkt in seinem Buch »Homo S@piens«ungehemmt über Anverwandlungsmöglichkeiten deszukünftigen Menschen an seine intelligenten Maschinennach, unter anderem über den Transfer menschlichenBewusstseins in eine solche: »Wenn das Gehirn einesMenschen gescannt und sein Bewusstsein in einer Dateieines datenverarbeitenden Mediums wiederhergestellt

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wurde, werden äußere Beobachter den Eindruck haben,dass die neue ›Person‹ genau dieselbe Persönlichkeit undGeschichte und dieselben Erinnerungen hat wie derursprünglich gescannte Mensch. Die Interaktion mit derneuen Person wird genau dasselbe Gefühl vermitteln wiedie mit der alten. Die neue Person wird behaupten, diealte zu sein, und sie wird sich erinnern, die alte Persongewesen zu sein. Sie wird beispielsweise wissen, dass siein Brooklyn aufgewachsen ist, dass sie sich einemScanning unterzogen hat und dass sie in einer Maschineaufgewacht ist. Und sie wird sagen: ›Hey, diese Technikfunktioniert wirklich!‹

Bleibt nur noch das kleine Problem des Körpers. Wasfür einen Körper wird eine Datei mit einem reinstalliertenBewusstsein haben? Den ursprünglichen menschlichenKörper, einen verbesserten Körper, einen synthetischenKörper, einen nanotechnischen Körper oder einen virtuel-len Körper in einer virtuellen Umwelt? (…)

Dagegen wird sich die neue Person, sobald siegetrennt existiert, mit Sicherheit für das Original halten.Sie wird keinen Augenblick glauben, dass sie Selbstmordbeging, als sie dem Transfer in ein neues datenverarbei-tendes Medium zustimmte und ihren alten, langsamen,aus Kohlenwasserstoffverbindungen aufgebauten neuro-nalen Datenverarbeitungsapparat zurückließ. Wenn sieüberhaupt darüber nachdenkt, ob sie wirklich die Personist, die sie zu sein meint, dann höchstens mit demErgebnis, daß sie ihrem alten Selbst dankbar ist, daß esden Sprung riskiert hat, ohne den sie jetzt nicht existie-ren würde.« (Kurzweil 1999, 200)

Vom Körper bleibt ein Chip. In ihm soll die biogra-phische Substanz gespeichert und aktiv sein. Sie sehen, inwelchen ästhetisch relevanten Dimensionen heute schongedacht wird. Ich werde darauf zurückkommen.

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3. Von der Verwicklung didaktischer Entwürfe in ihrengesellschaftlichen KontextÄsthetische Erziehungs- und Bildungslehren sind Produk-te der Modernisierungsgeschichte der Industriekultur,auch dort, wo sie gegen diese Kulturgerichtet erscheinen.Wir sehen das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts inEngland. Aber auch die deutsche Kunsterziehungsbewe-gung am Anfang des 20. Jahrhunderts ist ein solches Pro-dukt industriekultureller Selbstmodernisierung in Gestalteiner Reform des Ausbildungs- und Bildungsdenkens.

Bei allem Enthusiasmus eines Glaubens an die bil-denden Kräfte von Kunst und an ein ästhetisch aufnah-mebereites Subjekt ist dieser Aufbruch, dem letztlich alleheutigen Kunsterzieherinnen und Kunsterzieher ihreExistenz verdanken, an Entstehungsgründe gekoppelt,die außerhalb des gedachten Zusammenhangs von Kunstund Bildung liegen. Es gibt kein neutrales Interesse anästhetischer Erziehung und Bildung an sich, es wäre denneine Illusion des professionellen Bewusstseins.

So müssen wir die Kunsterziehungsbewegung im Rahmen von Reformvorhaben sehen, die gesellschaftlich,das heißt ökonomisch, politisch und kulturell anders motiviert sind als das nach außen bloß kind- und jugend-bewegt erscheinende Teilunternehmen Kunsterziehung.Der Nationalökonom Heinrich Waentig schließt seine1909 veröffentlichte Studie zur internationalen Kunst-gewerbereform: »So wird man in der Tat nicht leugnen können, dass auch vom Standpunkte der ganzenVolkswirtschaft die künstlerische Veredelung dergewerblichen Produktion als ein nationaler Gewinn zubetrachten ist, dass alle Opfer, die der Staat für die ästhe-tische Erziehung des Volkes bringt, sich auch wirtschaft-lich bezahlt machen werden. (…)

Denn die moderne Kunstgewerbebewegung, weitentfernt, die Zivilisation unserer Zeit zu Grabe zu tragen,scheint vielmehr dazu bestimmt, uns mit ihr zu versöh-nen. (…)«

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Sie folge ihr, sagt Waentig, »indem sie die Wirt-schaft zur Kultur empor bilde(n) und erst damit erlebens-wert mache(n)«. (Waentig, 409 f.) Waentig interpretiertwirtschaftlichen Erfolg als kulturelles Ereignis, beidemhat ästhetische Erziehung zuzuarbeiten – ein sehrmoderner Standpunkt. Man kann auch von einer ideolo-gischen Kontextualisierung sprechen oder von derBeseitigung einer Differenz.

Wir finden diesen Strang funktionaler Bestimmtheitin den Programmen der Kunsterziehungsbewegungwieder, allerdings überlagert von der Idee einer vonZwecken eher freigehaltenen subjektiven Bereicherungdurch Kunst, die wir als zunächst funktionsfreieBildungsidee identifizieren können.

Der funktionale Strang ästhetischer Erziehung isthistorisch leicht nachvollziehbar, wenn man bedenkt,dass Deutschland damals vor der Eroberung des Welt-markts technischer Industrieerzeugnisse stand und die technisch-ästhetische Intelligenz, vertreten durchMuseumsdirektoren wie Jessen und Lichtwark,durch Werkbundmitglieder wie Muthesius undKerschensteiner, sich zum Anwalt brauchbarer Quali-fikationen für eine ästhetische Aufrüstung machte. (vgl.Selle 1981, 118 f.)

Das ist die eine, handfest ökonomisch begründeteSeite der Reform. Hingegen sagt der Lehrer HeinrichWolgast 1902 in einem Vortrag über die Bedeutung der Kunst für die Erziehung auf der Deutschen Lehrer-versammlung, also zur Zeit und im Umkreis der Kunsterziehungstage: »Das Fundament unserer Arbeit istdie Anschauung. Die künstlerische Erziehung will nichtsanderes, als dieses Fundament tiefer begründen. Mehr als der Intellekt und das sittliche Handeln hält sich die künstlerische Tätigkeit wie das künstlerischeGenießen in der Sphäre der Sinne (…). Die künstlerischeErziehung will (…) dem Kinde feinere Augen und Ohren geben, indem sie es anleitet, künstlerisch zu sehenund zu hören.« (Wolgast 1903, 6 zit. In: Selle 1981, 123)

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Da ist von keiner Unterordnung unter Zwecke dieRede, sondern, wie Wolgast auch sagt, von der »harmoni-schen Ausbildung aller Kräfte«, ein Ziel, dem sich vorallem die »Hamburger Lehrervereinigung für die Pflegeder künstlerischen Bildung« verschrieben hatte. Wir können also von einem Reformstrang der vom Zweckbefreiten Bildung sprechen. Dieser wird freilich immerwieder von den »kunstökonomischen« Argumenten, diezur Begründung ästhetischer Bildungsmaßnahmen her-angezogen werden, unterlaufen.

Ich setze Bildung hier kurzer Hand mit Selbst-bildung, das heißt mit Freiheit zur reflektierten Sub-jektivität gleich (sofern es eine Autonomie des Subjektsgesellschaftlich überhaupt geben kann), und ich setzeErziehung mit der Absicht gleich, auf diesen Prozess imSinne gesellschaftlicher Erwartungen Einfluss zu nehmenund die sich Bildenden kontrolliert zu konditionieren. Es gibt also nur wenig Freiräume für eine Bildungspraxis,die sich ganz dem Subjekt vorbehält. Alles andere bleibt – als Erziehung – durch gesellschaftlicheNotwendigkeit begründete, fremd bestimmende undfremd bestimmte Vorsätzlichkeit.

In den neuen ästhetischen Bildungsfreiräumenallerdings soll Entscheidendes stattfinden: JohannesRichter, der erste Historiograph der Kunsterziehungs-bewegung stellt fest: Es geht um »die Verdrängung desbloß gewussten Wissens (…) durch das angeschaute undgefühlte Wissen« (Richter 1909, 176), oder, wie Carl Götzesagt, darum, dass sich »neben dem Wort als begrifflichesSymbol das Bild als sinnlich wahrnehmbares Zeichen zumAusdruck der den Geist beherrschenden Vorstellungenund Gefühle« (Götze 1902, 144) behaupten müsse.

Da können wir von einem frühen iconic turn redenund insgesamt von einer Verlagerung der Erkenntnis-fähigkeit auf das Ästhetische. Gewiss müssen wir auch von einem lebensreformerisch gesinnten Ge-bildeten-Idealismus der Zeit ausgehen, der blind bliebgegenüber der kulturellen Situation, in der man sich

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befand, auch gegenüber der Scheinfreiheit des individu-ellen Bildungsgeschehens.

Dennoch möchte ich die Bildungsperspektive derKunsterziehungs- und Jugendbewegung mit aller Vor-sicht alsQuelleeinerpädagogischen Funktionsbefreiungs-idee bezeichnen, die eine Tradition begründet hat. Michund andere jedenfalls hat diese damals angemahnteMöglichkeit fast hundert Jahre danach beschäftigt. DieErziehungsargumente hingegen fand ich immer faden-scheinig und fad. Mein zugegeben elitärer Standpunktwar, dass es dafür genug weisungsgebundenes und vorabgehorsames Personal gab und gibt, man braucht dafürnur in ein Studienseminar zu gehen. Ich fühlte mich nieweisungsgebunden und vorab gehorsam. Allein Selbst-behauptung, das distanzierte Bewusstsein, die ästhetischreflektierte Welterfahrung, radikale Subjektorientierungzählten für mich. Ich weiß nicht, ob ich ästhetisch gebil-det bin, ästhetisch erziehen lassen wollte ich mich jeden-falls nie im Leben. Dass man dieses Schicksal sowiesokuturell erleidet, auch ohne Kunstunterricht, steht aufeinem anderen Blatt. Und dass Kunst als BetriebssystemTeil der Kultur ist, in der gelebt, unterrichtet und gelerntwird, muss man immer mitbedenken.

Die Kunsterziehungsbewegung hat sich mit einemTrick aus der Affäre gezogen. Sie hat sich gleichsam ausKunst und Kultur ihrer Zeit herauskatapultiert und einescheinbar unbeeinflusste eigene Kunstsphäre erfunden.Helmut Hartwig hat auf diese erstaunliche Leistung, sichan den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, hinge-wiesen, in der Feststellung, dass die Kunsterziehungs-bewegung ihren Gegenstand eben gerade nicht in derKunst ihrer Zeit gefunden hat (vgl. Hartwig 2000, 93).

Sie beruft sich auf die Kunst der Kinder. Der »Geniusim Kinde«, so ein Buchtitel 20 Jahre danach (Hartlaub1922), ist es, der gefeiert wird, als sei Kunst etwas Eingeborenes, Ursprüngliches, das hervorgeholt undpädagogisch gepflegt werden kann wie eine frühe indi-viduelle Kraft, der Welt unmittelbar zu begegnen. Die

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Kinderzeichnung wird als Kunstform entdeckt und damitder Psychologie enteignet, deren Studienobjekt sieschon war. Das geht so weit, dass ein Paul Klee Zeich-nungen aus seiner Kindheit in das Oeuvreverzeichnisaufnehmen wird und Künstler der ersten Moderne Kinderals die unverfälschten »Primitiven« der eigenen Kulturschätzen lernen.

Das Kind als Künstler – diese Interpretation zielt aufeine Lehre frei entwickelbarer Subjektivität in der indivi-duellen Weltbegegnung, die schon im frühen Kindesalterbeginnt, unverkennbar ästhetische Spuren zu hinterlas-sen. Wir befinden uns damit im Zentrum der Kunst-erziehungsbewegung, dort, wo sie meint, ganz bei sich zusein, befreit von den Zwängen ihrer gesellschaftlichenEpoche. Es ist der Raum eines Denkens, in dem jungeSubjekte im Schutz einer neuen Pädagogik die in ihnenangelegte individuelle Freiheitsbestimmung durch künst-lerische Tätigkeit erfahren sollen. Mit dieser Setzungeiner Genese des Bewusstseins der Freiheit aus demkünstlerischen Sehen und Handeln ist notwendig derGedanke einer Selbstbildung verbunden, freigehaltenvon gesellschaftlichen Zweckbestimmungen.

Damit befinden wir uns an der Quelle aller späterenVorstellungen von Subjektorientierung im Ästhetischen.Natürlich ist das damals als zweck- und einfluss-frei beschriebene Unmittelbarkeits-Verhältnis von Kindund Kunst höchst problematisch, zumal es als eine der grundlegenden kunstpädagogischen Selbsttäu-schungen traditionsbildend gewirkt hat, mindestens bisans Ende der musischen Erziehungsidee in den 60erJahren. Aber niemand ist von dieser Tradition ganzunberührt geblieben.

Über die Vorstellung, es müsse doch ein bildsames,besser ein sich selbst bildendes ästhetisches Subjekt derWahrnehmung geben, das sich zu einer wenn auch rela-tiven Freiheit des Bewusstseins seiner selbst zu ent-wickeln vermag, sind die klügsten Didaktiker der erstenund zweiten Moderne bis heute nicht hinausgekommen.

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Diese Projektionsleistung einer selbst-konstruktivisti-schen Potenz ist bei allen kritischen Vorbehalten gegenü-ber der Kunsterziehungsbewegung und auch nach demviel berufenen Tode des Subjekts Grundannahme desästhetischen Bildungsdenkens geblieben, das sich nunfreilich weniger auf das Kind als Künstler bezieht oder aufjenen missverständlichen Satz von Beuys, dass jederMensch ein Künstler sei, sondern sich Künstlerinnen undKünstlern der Gegenwart zuwendet, die eine exemplari-sche Praxis des reflektierten ästhetischen Handelns vor-führen, als seien sie die ästhetischen Bildungs-Vorarbeiterinnen und -Vorarbeiter unserer Zeit.

Die Vorstellung vom sich selbst ästhetisch bilden-den Subjekt bezeichnet das Fundamental-Paradigma, denGlaubenssatz aller, die nicht bloß erziehen und einfachfunktionieren möchten, wie es gesellschaftlich verlangtoder opportun ist.

Selbst die einst außerordentlich kritischen Ra-tionalisten der Visuellen Kommunikation, die im Namender Aufklärung und des politischen Widerstands gegenjede ästhetische Bevormundung, sei es durch Medien, seies durch Kunst, vorgingen, haben an ein letztlich nicht-korrumpierbares Subjekt der Wahrnehmung und desHandelns geglaubt. Hätte es diesen Glauben an dieMöglichkeit einer Freiheit individueller und gesellschaft-licher Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung nichtgegeben, wären alle didaktischen Konzepte von 1968 bisheute sinnlos und überflüssig gewesen.

Letztlichblieb die Hoffnung, sich von Funktionalisie-rungszwängen frei halten (oder frei wähnen) zu können,als Lehr- wie als Lernsubjekt, das Motiv aller ästheti-schen Bildungsentwürfe, wobei verdrängt werden konn-te, dass wir niemals aus dem Lauf der gesellschaftlichdefinierten Modernisierungsgeschichte unserer Kulturausscheren können, zu der ja auch der Begriffswandelvon Subjekt und Freiheit zählt. Idealistische Blindheitgegenüber dem Gewicht der Kultur, woran die originaleKunsterziehungsbewegung vor 100 Jahren litt, können

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wir uns nicht mehr leisten, weder erkenntnistheoretisch,noch didaktisch oder praktisch.

Aber ich möchte den finden, der von sich behauptenkann, er habe sich von diesem kunstpädagogischenFundamentalismus, der in dem Gedanken steckt, es gäbedoch so etwas wie eine ästhetisch generierbareSubjektautonomie, gänzlich freigemacht. Selbst das»dividuelle«, das fragmentierte, von Nietzsche vorweg-genommene Subjekt der zweiten Moderne, wie bei Maset beschrieben, ist noch eine Konstruktion, der dieVorstellung einer Bildungsarbeit an sich selbst nicht aus-getrieben ist.

Wie distanziert und kritisch reflektiert auch immer,wir hängen am Tropf der einst so optimistischen Kunst-erziehungsbewegung, und mögen wir uns dafür hassen.Deshalb habe ich Ihnen diesen Ausflug über ein Jahr-hundert zurück zugemutet.

Ich wollte Wurzeln zeigen, die noch nicht ausgeris-sen sind.

Halten wir nüchtern fest: In der Spur der Bildungs-perspektive der Kunsterziehungsbewegung bündeln sichModernisierungsbestrebungen einer Kulturepoche inDeutschland, die auch eine neue subjektive Beweglich-keit entwerfen. Immerhin standen die Erlösung von derEnge des Wilhelminismus, der Bruch mit demzweckunterworfenen, industrierationalen Denken, dieBefreiung des Körpers, eine neue Nähe zu Natur undKunst und der Aufbruch in ein anderes Lernen undVerstehen auf dem Programm. Doch bleiben dieseBefreiungsversuche eingebunden in den Funktions-zusammenhang der damaligen Modernisierung, sind alsoletztlich zweckgebunden, bei allem Anschein vonBefreiung. Sie erscheinen nicht unmittelbar funktionali-siert, daher gibt es immer diesen Illusionsspielraum derästhetischen Freiheit des Subjekts.

Die Kunsterziehungsbewegung blieb durchgängigvon zwei Motivlinien durchkreuzt – von der Idee derVermittlung ästhetischer Fähigkeiten und Fertigkeiten im

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Sinne der Erziehung modern wahrnehmender und aufunmittelbare Ziele der Modernisierung ausgerichteterMitglieder der sich gerade neu definierenden Industrie-nation und von der Idee einer auf der individuellenWirksamkeit des Kunsterlebens beruhenden ästheti-schen Selbstbildung als Fundament eines zwecktranszen-dierenden kultivierten Daseins und BewusstseinsEinzelner in dieser Gesellschaft.

Wir müssen im Auge behalten: Lehren ästhetischerErziehung und Bildung sind nicht denkbar ohne denBezug zu ihrer gesellschaftlichen Ausgangslage. Sie wer-den von solchen Ausgangslagen her strukturiert, sindalso reaktiv. In der shareholdervalue-Gesellschaft der Ge-genwart zählt nur, was unmittelbaren Gewinn bringt,Bildung eingeschlossen. Man kann sie kaum noch als dasvon Nützlichkeit Freigehaltene bezeichnen. Die Realitäthat das Wunschdenken überholt. Was die funktionalisie-rende Ausbildungsperspektive betrifft, gibt es keinKontinuitätsproblem. Sie scheint immer wieder aktuali-sierbar, vor allem, wenn plötzlich Spezialisten fehlen. Nurwas den Traum einer funktionsbefreiten Bildungs-perspektive betrifft, ist ein Schwund zu verzeichnen, oderein Vergessen. An ihre Stelle ist ein neuer Ausbildungs-Realismus getreten.

Wer für ein erfolgreiches Leben in der zweitenModerne gerüstet sein will, muss über die Fähigkeit zuraschen Wechseln und geschmeidiger Anpassung ver-fügen, wozu auch eine Grundierung mit ästhetischerSelbstbildungserfahrung hilfreich sein kann: Einer mei-ner Studenten in Oldenburg begann mit Theologie,sattelte auf Kunst um, bewährte sich in ästhetischerArbeit und wurde nach dem Abbruch seines Studiumsohne Examen hoch bezahlter Computerspezialist. Wieihm seine alles andere als nutzenorientierte ästhetischeBeweglichkeit als Bildungskapital auf diesem Gebietgeholfen hat, weiß ich nicht. Offensichtlich konnte sieihm teilweise eine Ausbildung ersetzen. Informatik hat erjedenfalls nie studiert.

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Das spricht alles gegen die Rest-Hoffnung, dass eine nicht auf Anwendung gerichtete Bildungs-perspektive vom Nutzendenken freigehalten werdenkann. Es gibt kein Schlupfloch. Aber reizvoll ist derGedanke immer noch.

4.Die Verspätung didaktischen DenkensSchon um 1900 ist zu erkennen, dass die ökonomie-gesteuerte und technologieabhängige Kulturent-wicklung einer neuen Didaktik vorausgeht. Dochwährend man für die historische Kunsterziehungs-bewegung von einer nur leichten Verspätung didakti-schen Reagierens sprechen kann, hat sich der Abstandzwischen der globalen techno-kulturellen Expansion undden ihr hinterherhinkenden Modellen ästhetischerErziehung und Bildung enorm vergrößert. Man muss sichfragen, wozu es eigentlich diesen Kunstunterricht nochgibt, zumal ein allgemeines Outsourcing zu beobachtenist. Die Kinder- und Jugendkulturarbeit, die Er-wachsenenbildung und das Museum haben längst eige-ne kunstpädagogische Bereiche ausgesondert. Aberweder hier noch für die Schule gibt es Vorwärtsstra-tegien, die mit der kulturellen Entwicklung Schritt halten.Didaktik ist im Wesentlichen Legitimationslehre für einePraxis geblieben, die traditionsgebunden auf der Stelleverharrt, oder die der kulturellen Entwicklung atemloshinterherläuft, zumal die neuere Didaktikgeschichteunter gnadenlosem Zwang steht: Alles, was sich zumÄsthetischen der Kultur im Lauf von Jahrzehnten proble-matisch aufsummiert hat, wurde einem Schulfach aufge-laden, das sich ursprünglich nur auf das künstlerischeSehen und Produzieren bezog. Design, Wohnen,Alltagsrituale, Werbung, politische Ästhetik, NeueMedien – was immer aktuell anfällt, wird im pädagogi-schen Additionsverfahren zusammengeführt und ent-sprechend oberflächlich im Kunstunterricht behandelt.

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Aber unablässig wird uns auch vorgeführt, dass dertechnokulturelle Komplex selber pädagogisch generativist und zu seiner Weiterentwicklung, wozu auchProduktion und Einvernahme neuer Subjektivität zählen,keiner erzieherischen Hilfe oder Korrektur bedarf, weil ersich selbst hilft und sich selbst korrigiert, indem er sichüberholt. Bald werden immer mehr Kids ihren Laptop undihr Handy haben. Bald werden sie sich damit heranholen,was sie sich nur wünschen können. Der schon zitierte RayKurzweil prognostiziert für die allernächste Zukunft dieallgemeine Virtualitätserfahrung als Alltagsphänomen:»In der virtuellen Realität kann jeder mit jedem allesmachen, unabhängig von physischer Nähe. Die dafürerforderliche Technik ist leicht zu handhaben und allge-genwärtig. Ein normales ›Telefongespräch‹ beinhaltetdreidimensionale Bilder mit hoher Auflösung, die mitHilfe von Retina-Displays und Audio-Linsen projiziertwerden. Zudem gibt es jetzt dreidimensionale hologra-phische Displays. Beide Techniken vermitteln dem Nutzerdas Gefühl, er sei der anderen Person körperlich nahe. DieAuflösung entspricht der optimalen menschlichenSehschärfe oder übertrifft sie. Es kann daher vorkommen,daß der Nutzer glaubt, eine andere Person sei körperlichanwesend, obwohl sie nur mittels elektronischerKommunikation projiziert wird.« (Kurzweil 1999, 318)

Was für Subjekte werden das sein, die sich real-nichtreal kommunizierend begegnen, die zugleich anwe-send und nichtanwesend sind? Welche Erfahrung derSelbstvergewisserung werden sie machen? Werden sie zuSpezialisten der Aufhebung des Unterschieds von Näheund Ferne, zu Übergangsartisten zwischen wechselndenRealitätsentwürfen und Identitätsmodellen?

Der Medientheoretiker Peter Weibel sekundiertmein ratloses Fragen; ich füge ein paar Zitatfetzenzusammen: »Die Kommunikation der Nahgesellschaft,von Angesicht zu Angesicht, war durch die Reichweiteunserer Sinne beschränkt (…). Teletechnologien befreienuns aus dem Gefängnis des Hier und Jetzt. (…) Wir haben

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Handys mit Bildschirmen, mit denen wir bald jederzeitund an jedem Ort Zugang zur virtuellen Welt haben. Dieganze Welt wird überzogen mit einer Vielzahl virtueller,paralleler Welten. (…) Das Leben wird ein Lebensspiel. (…)«(Der Spiegel 27 (2000): 136-159)

An anderer Stelle sagt Weibel: »Jedes Subjekt kannsich eigentlich wählen, wann und zu welcher Zeit es wel-ches Subjekt sein möchte« (Kunstforum 151(2000):159).

Nun werden Sie einwenden, soweit sind wir nochnicht. Und was dieser Kurzweil schreibt, ist doch sciencefiction. Aber die Protagonisten der zweiten Moderne meinen es ernst, sie denken in Dimensionen naherWahrscheinlichkeit. Auf dieses Denken, auf die inzwi-schen verbreitete Möglichkeit, überhaupt so zu denken,kommt es an. Es ist der Beginn eines Gewöhnungs-prozesses, eine einübende Bejahung im Vorab, eineVorwegunterwerfung unter den Kulturprozess.

Für Hans Moravec, einen anderen Propheten derzweiten Moderne, wird es dereinst nur noch virtuell ins-zenierte Körpererfahrung geben. In den Zustand derKörperlosigkeit transplantierte menschliche Bewusst-seine werden in der Weite simulierter Welten der Zukunftunter anderem von der Illusion leben, sie hätten einenKörper. (Moravec 1998, 331 ff.)

Nicht diese schöne Aussicht, von der Last desKörpers befreit zu sein, um dennoch Lustempfindungenzu genießen, finde ich interessant, sondern dass sie allenErnstes in freudiger Erwartung gedacht wird.

Da quellen Vorabidentifikationen unter dem Druckder technologischen Entwicklung quasi freiwillig auf.

Ich fürchte, dass es ein Diesseits und ein Jenseits derValidität didaktischen Denkens an dieser Grenze gibt,gemessen am Bevorstehenden. Schon heute verbringenmanche Schüler die Nacht im Internet und bekommenam nächsten Morgen irgendeinen Kunstunterricht ange-boten, der sie gar nicht berühren kann. Auch elaborierteModelle der ästhetischen Erfahrungsarbeit zur Gegen-wart werden derart obsolet. Das Altern meines eigenen

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Entwurfs hat mir, ich gebe es zu, zu schaffen gemacht.Selber Opfer der kulturellen Beschleunigung, bin ichheute zum Umdenken gezwungen, obwohl ich weiß, dassich den Zug nicht mehr erreichen werde. Nicht nur meineLebenszeit, auch die kulturelle Zeit läuft mir davon.

Ich muss das ganz nüchtern sehen: Als ich vor 20Jahren begann, Versuche zu einer ästhetisch-praktischenErfahrungslehre im Rahmen einer Wiederentdeckung deswahrnehmenden Subjekts anzustellen, habe ich nicht miteinem so frühen Verfallsdatum des Modells gerechnet.Ich konnte mich in eine damals vielerorts begonneneRehabilitation des Körpers eingliedern, die im pädagogi-schen Bereich jene sinnlich-praktische Gegenstands-bezogenheit der Aneignung betonte, die einst der histori-schen Kunsterziehungsbewegung unterlegt war und ineinem reformpädagogischen Sinne alles Lehren undLernen durchwalten sollte. Als ich bemerkte, wie nah ichin praktischen Experimenten an Vorgehensweisen dermich damals berührenden Gegenwartskunst herankam,lag die Idee des kunstnahen ästhetischen Projekts in derLuft (vgl. Selle 1992). Über diesen Vorschlag zur ästheti-schen Arbeit in Projektform statt Kunstunterricht istdann heftig gestritten worden. Manche hielten dasModell der Selbstkonfrontation im Hier und Jetzt einerWahrnehmungssituation für zu simpel und nicht weitrei-chend genug, andere fanden es zu anstrengend oder fürdie Schule nicht realisierbar. Dass es schon überholt war,als es noch diskutiert wurde, hat keiner gemerkt, ich auchnicht. Der Körper wurde plötzlich fortgedacht, war nichtsmehr wert.

Wir haben gerade bei Weibel gehört, dass es innächster Zukunft um eine Befreiung aus dem Gefängnisdes Hier und Jetzt gehen wird. Der Körper mit seiner definierten Endlichkeit ist wieder ins Abseits geraten,diesmal vielleicht endgültig, siehe Moravec. Weibelmokiert sich über eine Kunst, die sich noch mit demPhänomen der biologischen Zeit beschäftigt, und betont,dass es aufgrund neuer Technologien möglich sei, »die

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biologische Zeit ab(zu)lehnen, die man den Tod nennt.«(Weibel 2000, 159)

Als notorischer Didaktiker des Hier und Jetzt undder leiblichen Präsenz des Bewusstseins bin ich demnachausgemustert. Ich will nicht diskutieren, welche Verdrän-gungsleistung Weibel mit seinem Technologietriumphüber den Tod gelingt. Wichtig in unserem Zusammen-hang ist: Wo der Körper bereits theoretisch eliminiert ist,wo er entmaterialisiert, zu einer künstlich erzeugten neuronalen Reizempfindung wird, um, virtuell reani-miert, todlos weiterzuexistieren, als gäbe es ihn nochschmerzfrei und unsterblich, ist die Anverwandlung desMenschen an seine Maschinenwelt bereits im Denkenvollzogen. Es wird dann in der Tat unsinnig, in der ästhetischen Bildungsarbeit von einem Modell der Selbstanstrengung auszugehen, in dem auch Leibes-kräfte, ein working out noch eine Rolle spielen sollen. Ich gebe zu: Meine Begriffsbestimmungen ästhetischerArbeit stammen aus der alten, physisch bestimmtenArbeitsgesellschaft (vgl. Selle 1988, 1998). Über virtuelleästhetische Arbeit habe ich noch nicht nachgedacht. So sind mir mit der Endlichkeit und leiblichenBegrenztheit des ästhetisch arbeitenden Subjekts dieGrundbausteine aus meinem didaktischen Modell herausgebrochen.

Obwohl, kürzlich fand ich etwas zum Lachen. Ichhabe meinen Ansatz der intensivierten Wahrnehmungim Hier und Jetzt einer Situierung des körpergebundenenIch, das sich einem Ausschnitt der materiellen Weltmomentan konfrontiert und dabei ein Bewusstsein seiner Existenz entwickelt, an einer didaktik-fernen Stelleunverhofft wieder gefunden – in einer Felswand, an derein Bergsteiger scheitert.

In Paragrana, Zeitschrift für Historische Anthro-pologie, fand ich einen Aufsatz, in dem die Autorin aufaltehrwürdige Weise, nämlich als Augenzeugin, denKörper wieder ins Spiel bringt. Sie beschreibt minutiös dieAnstrengungen eines Extrembergsteigers, der bewusst

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eine Route gewählt hat, die als unmöglich gilt, und sieanalysiert seinen aussichtslosen Kampf mit dem über-hängenden Fels anhand einer Video-Aufzeichnung mikro-skopisch bis in die Anspannung von Muskeln und Sehneneinzelner Finger hinein. Der ans Ende seiner Kräftegelangte Kletterer lässt sich nach dem letzten Versuchgezielt ins Seil fallen, um sich nicht im Abrutschen an derFelswand zu verletzen. (vgl. Peskoller 2000, 107 f.)

Ich denke daran, dass es Freeklimber gibt, die ohneSeilsicherung steigen. Das existentielle Grundmotiv derSelbstanstrengung, das für mich bzw. mein Modell ästhe-tischer Arbeit immer zentral war, ist im Bergsteiger-beispiel mit einem extremen Vertrauen auf den Körperverbunden. Radikaler lässt sich die Bewusstseins-fixierung auf ein leibgebundenes Hier und Jetzt, dasbewältigt werden muss, nicht formulieren. Ich erinnerean Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart, die einevergleichbare Unbedingtheit des Experiments mit demeigenen Körper antreibt wie Marina Abramowic, Orlan,Chris Burden, Flatz oder Stelarc.

Stelarc ist ein Sonderfall, weil er zwei Erfahr-ungslinien exemplarisch verbindet oder gegeneinanderausspielt. Er führt vor, was man künftig mit dem Körpermachen (lassen) kann, wenn man ihn überdehnt undwenn man ihn aufrüstet und vernetzt. Die radikaleBefreiung der Wahrnehmung bedeutet, dass das alte,leibgebundene Ich sich in den offenen Raum der Vir-tualität entgrenzt. Es hört nicht mehr an der physischenHaut des Körpers auf. Wie Claudia Benthien in ihrem Buchüber die Haut (vgl. Benthien 1999, 265 ff.) am Phänomender Teletaktilität nachweist, dehnt sich ein neues, gren-zenloses, den Körper hinter sich lassendes Ich in die Weiteeiner mit anderen geteilten Tele-Sinnlichkeit aus.

Verachtung der Begrenztheit des Körpers auf dereinen, seine Apotheose als Kontaktstelle entgrenzterWahrnehmungsräume des Virtuellen auf der anderenSeite – dieser Widerspruch, den der Künstler Stelarc imWortsinne verkörpert, könnte den Aisthesisbegriff und

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eine Ästhetik der Zukunft bestimmen. Stelarc transzen-diert seinen alten Körper, indem er ihn real dehnt undquält, und er propagiert den neuen elektronisch erwei-tert empfindenden, von technischen Prothesen besetztenKörper, der auf Impulse aus dem Netz reagiert.

Die Performance ist so befremdlich wie faszinie-rend. Dieser Künstler könnte einmal als einer der erstengelten, die das fortgeschrittene Bewusstsein im Zeitalterdes Tele-Sensualismus dokumentieren. Er tritt als eine ArtProtodidaktiker der Erfahrung zukünftiger Schwere-losigkeit des Seins auf, mit durchaus prophetischemGestus. Aber er setzt seinen Körper als unverzichtbaresInstrument der Transformation ein, wir können auchsagen, er macht ihn zum Zeichenträger eines Bewusst-seinszustandes zwischen den Kulturen des Realen unddes Virtuellen. Er zeigt uns die Anstrengung einerZwischenbefindlichkeit.

Es kommt mir aber weder bei diesem Kunstbeispielnoch bei dem Bergsteigerbeispiel darauf an, imNachhinein Beweismittel für die Schlüssigkeit meineseigenen existentialästhetischen Ansatzes zu gewinnen.Recht zu behalten hat mich nie interessiert. Interessanthingegen ist, dass die moderne Anthropologie, die eineBezugswissenschaft von Didaktik sein könnte, infolge der Auflösung lange gültiger kultureller Definitionenihres Menschenbildes gezwungen ist, sich einen neuenMenschen zu denken. Dass es dabei zu so furiosenRückrufen des Körpers in ein Hier und Jetzt seinerBewährung kommt zu einer Zeit, in der solcheMaterialisationen etwa nach Auffassung von Weibel völ-lig veraltet erscheinen, ist schon kurios. Da wird dasAnkrallen an den Fels beschrieben wie eine frühe Ötzi-Erfahrung, dem Tod im Gestein, der ältesten und festesten Materie, zu trotzen. Im Erkenntnisfeld dermodernen Anthropologie wird also etwas beispielhaftsichtbar gemacht, was im Bild des technologisch entkör-perlichten Lebens bereits verschwunden ist. EineErinnerung taucht auf.

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Der eingangs zitierte Zarko, ein Mensch auf demWege zur Körperlosigkeit in einem virtuellen Leben,möchte am Ende etwas anderes. In der Spiegel-Geschichte über ihn heißt es: »Jetzt hat er Zeit und über-legt, wie und wo er den Rest seines Lebens verbringensoll. ›Vielleicht ziehe ich mal nach Japan‹, sagt Zarko. ›Daist einfach überall Technologie.‹ Die Handys dort seienwinzig und bildeten ganze Web-Seiten ab! Und dieMädels, schwärmt er, trügen ›Hightech wie Ketten umden Hals geschlungen‹. Ganz zu schweigen von denFlirtgettys, handlichen Helfern für den elektronischenAbgleich gewünschter Partnermerkmale: Ein Piepensimuliert erhöhten Herzschlag. ›Vielleicht gehe ich auchnach Italien‹, sagt der Programmierer, ›das ist so schönLowtech‹. Zarkos Arme umreißen das vernetzteWohnzimmer. ›Dieses ganze Zeug hier, das will ich sowie-so nicht mehr.‹« (Der Spiegel 27 (2000): 130)

Der Schluss klingt unbegründet resignativ. Tatsächlich ist nur von einer Ratlosigkeit die Rede. Sie bezeichnet eine Situation, in der wir uns im Grundealle befinden. Lässt sich daraus etwas machen? Immerhinkann man das Eingeständnis von Ratlosigkeit sympa-thischer finden als den allseits bezeugten Zweckoptimis-mus des Glaubens an die Segnungen der digitalenModernisierung.

5. Eine situative Experimentaldidaktik für die Gegenwart?Das handelnd-betroffene Subjekt ist ratlos. Bedarf espädagogischer Hilfe? Darf Didaktik ratlos sein? Ich möchte die Fragen offen halten. Zunächst frage ich, wieman dem Zuspätkommen zuvorkommen könnte. Manmüsste heute als Didaktikbetreiber aus einem reaktivenFolgedenken in ein Gleichzeitigkeitsdenken zur Gegen-wart wechseln.

Diese Möglichkeit demonstriert uns Gegenwarts-kunst. Sie definiert sich dadurch, dass sie ein Gegen-

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wartsbewusstsein exemplarisch vermittelt, dass sie essichtbar, greifbar, also möglich macht. Gegenwartskunstmanifestiert und interpretiert im Kulturprozess angeleg-te, aber noch nicht verfestigte ästhetische Selbst-erfahrungs- und Bewusstmachungsmöglichkeiten ihrerProduzenten und Rezipienten. Sie hält sich »auf der Höheder Zeit«, aber sie hält auch eine gewisse Distanz undreflektiert, was geschieht und was möglich ist. Wer sichauf sie einlässt, begegnet einer ästhetischen Lehre desLernens für das Leben in der Gegenwart, ohne dass einesolche Lehre gemeint sein muss. Wenn Didaktik, noto-risch zu spät kommend, von der Gegenwartskulturimmer schon überholt, endlich ratlos wird, empfiehlt sicheine Befragung von Gegenwartskunst. Oder die Verwand-lung in eine solche Kunst. Oder ein Anschluss.

Die Konsequenz liegt nahe, ist jedoch schwierig zurealisieren. Dafür sind Didaktiker nicht ausgebildet;außerdem haben sie Vorbehalte. Es ist noch nicht langeher, dass sich erziehungswissenschaftlich orientierteDidaktiker öffentlich von solchen distanzierten, die sichauf das Abenteuer Kunst eingelassen hatten, statt aufNummer sicher zu gehen und einer wissenschaftsförmi-gen Ableitungs- und Beweisrationalität zu vertrauen.

Es muss Furcht vor Ratlosigkeit sein, die denFrontenwechsel von der Bescheid-Wissenschaft zur Kunstmit einem Verrat an der Didaktik verwechselt. Als ob eseine Sicherheit des Handlungswissens im pädagogischenRaum je gegeben hätte. Es war und ist so unsicher, weil esnur versuchsweise gelten kann. Didaktikerinnen undDidaktiker – das sind im Grunde alle, die lehren wollen –müssen lernen, Ratlosigkeit auszuhalten.

Die Ratlosigkeit, von der Zarko exemplarisch befal-len ist, kann nur durchgespielt, aber nicht beseitigt wer-den. Sie entspricht der Lage des Subjekts in einer histo-risch-kulturellen Situation des Hier und Jetzt. Aus demNicht-Wissen ein Bewusstsein seiner selbst als Rätsel inder Zeit zu gewinnen, halte ich für didaktisch begründba-rer, lerntheoretisch interessanter und lebenstechnisch

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anregender als eine zu frühe Entscheidung für irgendeineEntweder-Oder-Gewissheit.

Ich weiß als Didaktiker heute eben nicht, wohin dieReise geht. Täte ich so, als wüsste ich es, läge ich schonfalsch. Mein Anschluss an Gegenwartskunst ist allesandere als eine Garantie für Gewissheit. Gegen-wartskunst ist ein Kompositum spielerischer Projek-tionen, ironischer Fiktionalität und irritierender Viel-deutigkeiten. Was hätte ein pädagogischer Gewissheits-apostel in einer wuchernden Installation von JasonRhoades zu suchen? Ein Didaktiker oder Kunstpädagogewürde vielleicht damit anfangen, theoretisch und prak-tisch Ordnung in das Chaos zu bringen, es zu enträtseln.Das wäre vermutlich ganz falsch. Es wäre besser, er gingedarin unter, vorläufig wenigstens.

Ich muss mir jeden Tag neu zusammensetzen, wasich für lehr- und lernbar halte, welche Bewusstseins-perspektive ich verfolgen will. Über Jahrzehnte sind mirdas Bescheidwissen und die Systematisierungszwängeirgendwelcher Betondidaktiker auf den Geist gegangen.Da liegen dicke Bücher wie Grabsteine veralteterGewissheiten in der pädagogischen Landschaft herum.Einige kleinere Versteinerungen habe ich leider selbsthinterlassen. Mich beruhigt nur, dass sie sowieso nichtgelesen werden.

Es käme ja eher darauf an, mit einer hoch ent-wickelten ästhetischen Sensibilität an Gegenwart teilzu-haben, in der Beobachtung von Feldabschnitten aus derTätigkeit anderer zu lernen und vorläufige Schlüsse dar-aus zu ziehen.

Ratlosigkeit ist ein produktiver Zustand. AuchKünstlerinnen und Künstler sind oft ratlos, ehe sie zuexperimentieren beginnen. Ich erinnere an den jungenBruce Nauman, wie der 1968/69 in seiner Werkstatt mitsich selbst und einer geliehenen, primitiven Videokamerazögerlich herumzuspielen begann, und was am Ende alsPerformance der Bewusstmachung von Raum, Körperund Zeit dabei herauskam (vgl. Kat. B. Nauman 1997).

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Wenn ich abschließend beschreiben soll, welche Artdidaktischen Denkens mir heute noch produktiv erschie-ne, dann ein solches, das sich mit seiner Ungewissheitabfindet und versucht, sich mit den avancierten Formender Produktion von Bewusstheit mitzubewegen, die inGegenwartskunst angelegt sind. Das heißt aber auch, indieser Parallelität den Charakter des Experiments und derVorläufigkeit zu wahren.

Flächendeckende Modelle einer allgemeinen ästhe-tischen Erziehungs- und Bildungslehre halte ich nichtmehr für vorstellbar. Unpraktikabel sind sie allemal.Didaktisches Denken kann nur auf Probe, fallweise,situativ, momentan, offen, reversibel, als Experiment imÄsthetischen, notfalls ohne Wissenschaftsbasis, legiti-miert durch Nähe zu künstlerischen Vorgehensweisenproduktiv sein.

Für das Studium bedeutet das: Nicht irgendeineDidaktik ist zu vermitteln oder zu adaptieren, sondern dieFähigkeit zum selbständigen ästhetischen Experimentund seiner Reflexion ist zu entwickeln, von jederStudentin, jedem Studenten für sich selber neu. Natürlichgilt das auch für alle, die Didaktik lehren.

Eine Alternative wäre, sich von der technokulturel-len Innovation direkt erfassen und mittragen zu lassenum der Teilhabe an Erfahrungen willen, die dort vermit-telt werden. Aber dann würde gerade das reflexiveMoment künstlerischer Verarbeitung neuer Realitätenfehlen, jene Distanz, die ein bewusstes Bewusstseinschafft. Man wäre dann einvernommen, wie es manchePropheten der Maschinen-Intelligenz wohl sind, die kei-nen Abstand zur eigenen Funktionalität mehr gewinnen.

Wie aber könnte eine momentan-situative Experi-mentaldidaktik zum ästhetischen Gegenwartsbewusst-sein erarbeitet werden?

Gewiss nicht wie ein Modell, das die Gesamtheit derkulturellen Situation unter einen pädagogischen Nennerzu bringen versucht. Eher wird es auf der Suche nach An-knüpfungspunkten um ein exemplarisches Zapping

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durch Zonen neuer kultureller Angebote und Erfahrungs-felder gehen, um Fallstudien des Verhaltens Einzelneroder kleiner Gruppen.

Das wäre, neben der Gegenwarts-Kunstnähe, meinezweite Empfehlung an Didaktiktreibende: der Blick aufLebensweltgestaltungsweisen im konkreten Fall. Manmuss das Fernrohr der didaktischen Distanz für eineSelbstbelehrung eine Weile herumdrehen und zum Bei-spiel jenen Bricolage-Existenzen aus der Nähe zusehen,die inzwischen zum soziologisch und pädagogischdeklrierten Fall geworden sind. Pierangelo Maset hat voreinigen Jahren mit seiner Übertragung des Konstruktsvom dividuellen Subjekt theoretisch den Versuch unter-nommen, eine Didaktik ästhetischer Differenzleistungenzu begründen. Ich würde gern näher an die Lebenswirk-lichkeit einzelner Exemplare dieser neuen Gattung ästhe-tisch Handelnder im Zeitalter der multiplen Realitätenund parallelen Erlebniswelten herankommen wollen, andie Differenz-Realitäten in der Kultur, wie Ulrich Beck, derSoziologe, sie in der Fallstudiensammlung »EigenesLeben« (1995) dargelegt hat. Das hieße, didaktischeBescheidenheit zu üben, vielleicht sogar Didaktik-Absti-nenz. Denn eben diese Studien decken Fähigkeiten fürLebensgestaltung auf, die außerhalb jeder ästhetischenErziehungs- und Bildungspraxis liegen.

Was letztlich bleibt, ist der Subjektbezug. Also jeneszweifelhafte Relikt aus der Geschichte der Kunst-pädagogik. Wir müssen damit leben und rechnen.

Wer sich nicht bloß für Anpassungsleistungen ver-einnahmen und als Ausbilder verbrauchen lassen will,braucht diesen Bezug, um noch mögliche oder neueBildungsperspektiven durchspielen zu können. Gäbe esim Praxisfeld kein Lernsubjekt mehr, stürbe auch dasLehrsubjekt ab, es würde ihm der Adressat fehlen, auf denes sich im Lehr- und Lernalltag beziehen kann. Das mussIhnen deutlich vor Augen stehen: Wenn Sie im LehrenSubjekt bleiben wollen, müssen Sie einzelne lernendeSubjekte vor sich haben, die als solche auf Sie reagieren.

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Sonst funktionieren Sie bloß in einem Apparat, der funk-tioniert bzw. eben nicht funktioniert. Ästhetisch arbeitenkann man nur mit ästhetischen Subjekten und als ästhe-sches Subjekt. An diesem Satz kann ich mich festhalten.Er scheint auch jenseits der Grenze zu den altenDidaktiken in der Offenheit des Denkens zu gelten.

So könnte ich mir heute Biographiestudien im Sinneeines künstlerischen Forschungsprojekts vorstellen. Was tun einzelne dieser fragilen, multiplen, vorüberge-hende Identitätszustände probenden ästhetischen Sub-jekte der Gegenwart?

Spannend würde die Beobachtung dann, wennEigenwilligkeiten, Abweichungen, Entscheidungs-freiräume zu erkennen wären – Indizien für eine unter-gründig gelebte, relative Freiheit zur subjektivenDifferenz, und sei sie noch so gebrochen, widersprüchlich,verdeckt. Natürlich bin ich nicht so naiv, dass mir nichtbewusst wäre, dass es auch eingeschränkte Subjekt-autonomie letztlich nicht geben kann, weil jede histo-rische Interpretation des Subjektiven letztlich eine kultu-relle Konstruktionsleistung ist. Natürlich können wirheute nicht mehr wie einst die Kunsterziehungs-bewegung von einem bildsamen, sich an eigener oderfremder Kunstproduktion aufrichtenden, vom gesell-schaftlichen Druck sich zeitweise befreienden, sich frei-zügig bildenden, sich selbst kultivierenden Subjektausgehen. Das Bild war damals schon zu schön, um wahrzu sein. Es muss aber auch klar sein, dass jedeSubjektkritik, jedes Umkreisen des Begriffs, jederNeudefinitionsversuch oder die Suche nach den neuzusammensetzbaren Resten, das Ringen um eine trag-fähige Vorstellung vom Subjekt der Gegenwart nicht nurauf eine Konstruktionsleistung von beschränkterGültigkeit und Dauer hinausläuft, sondern dass dieseArbeit unverzichtbar ist, will man überhaupt noch überästhetische Erziehung oder Bildung reden. Übrigens kehrtdie uns gut bekannte, alte Vorstellung vom unverwech-selbaren Individuum an unerwarteter Stelle wieder. In

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Kurzweils technobiologischer Transplantationsphantasieerwacht das alte personale Selbst im Labyrinth elektroni-scher Schaltungen auf dem Siliziumplättchen als Trägerseines konservierten Bewusstseins quasi unverändert zuneuem Leben. Eine naive Vorstellung, finde ich, als obnichts Einschneidendes passiert wäre. Subjektivität ohneden biologischen Körper, aus dessen Geschichte sie bisherebenso hervorgegangen ist, wie aus der Kultur, in die wirhineingeboren sind, würde doch wohl eine andere seinmüssen als jene, die wir kennen.

Im Augenblick wäre ein Subjektkonstrukt denkbar,das dazwischen liegt, ein Ich-Entwurf, der sich derDoppelerfahrung von Materialität und Immaterialitätverdankt, weil diese Wahrnehmungsformen und -gehaltezur Zeit real nebeneinander bestehen: In den Köper eingesperrt sein und zugleich zeitweilig von ihm in einer virtuellen Existenz befreit sein, ist das zukünftignahe Zustandsbild.

Dass eine Subjektvorstellung »zwischen den Stüh-len« der kulturellen Situation entspräche, leuchtet ein.Ich bezweifle allerdings, dass es sinnvoll wäre, allgemein-verbindliche Modelle einer Didaktik daraus abzuleiten,die den Anspruch erheben, alle Lernschritte und Vollzügeder Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung zu einemabgedichteten pädagogischen Handlungsrahmen zu ver-binden. Ich misstraue pädagogischer Logik, die hat schonzuviel Unsinn behauptet und durchgesetzt. Alles sprichtfür ein Stadium des Beobachtens und des Experimen-tierens in einem Crossover von Versuchsanordnungen,die sowohl in die Vergangenheit der Körperbindung vonErleben und Erfahren als auch in die Zukunft transzendie-render ästhetischer Erlebnis- und Erfahrungswelten desvirtuellen Raumes gerichtet sein mögen.

Damit ist freilich das Kontinuitätsproblem nichtgelöst. Es wird nicht reichen, eine Didaktik des Sowohl-als-auch zu betreiben, die im Wechsel einen Schrittzurück und einen nach vorn probiert. Das neue Subjekt istja nicht als ein additives, sondern nur ein in struktueller

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Verwandlung begriffenes zu denken. Also bedarf es einerNeuerfindung von Didaktik, nicht einer simplen Kombi-nation von Altem und Neuem. Das Neue aber ist eine ein-zige Ungewissheit, ein Rätsel.

Alles spricht gegen allzu frühe Gewissheit undVerbindlichkeit. Deshalb plädiere ich auch für ein didakti-sches Moratorium, für eine Besinnungspause. Wie wärees mal mit gar keiner Didaktik? Verzicht auf Didaktik istnatürlich ein übler Trick, sich unter autodidaktischenDruck zu setzen, das Gegenteil von gar keiner Didaktik.Aber man würde damit auf die Spur einer eigenenErkenntnisarbeit gesetzt, statt anderen falsche Gewiss-heiten vorsetzen zu müssen oder von anderen solche vor-gesetzt zu bekommen.

Jedenfalls fände ich es spannender, statt, wie ge-habt, Didaktik weiter zu betreiben, als wäre nichtsgeschehen, zuzusehen, wie jemand heute, kulturell deter-miniert bis auf die Knochen, dennoch teilautonom, sichselbst bestimmend handelt, sich als Wahlsubjekt auf Zeitbegreift und wie weit dabei Reflexivität und Gegen-wartsbewusstsein erkennbar würden. Ich wäre derBelehrte, nicht der Belehrende. Den Rollentausch em-pfehle ich allen, die sich als Didaktikproduzierende ver-stehen – und natürlich allen, die dazu verdammt sind,Didaktikkonsumierende zu werden. Also Ihnen.

Vortrag gehalten am 12.06.2001.

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Selle, Gert: Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogischePraxis. Reinbek 1988.– Das ästhetische Projekt. Plädoyer für eine kunstnahePraxis in Weiterbildung und Schule. Unna 1992.– Kunstpädagogik und ihr Subjekt. Entwurf einerPraxis–theorie. Oldenburg 1998.Waentig, Heinrich: Wirtschaft und Kunst. Eine Unter-suchung über Geschichte und Theorie der modernenKunstgewerbebewegung. Jena 1909.Weibel, Peter: »Chronokratie. Ein Gespräch mit BirgitRichard«. Kunstforum International 151 (2000): 152 ff.– »Sadomaso in Reinform. Wie verändert die globaleKommunikation die Gesellschaft?«. Der Spiegel 27(2000): 136 ff.

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Fragmente aus dem Gespräch nach der VorlesungAufgezeichnet von Adrienne Gräfe

Zur Rolle des Historischen in der Didaktik taucht die Frageauf, ob es nicht ein Vergangenes geben müsse, von demaus man erst zu neuen Positionen gelangen könne.

Selle: Er fände es interessanter, wenn Didaktik nichtals Didaktikgeschichte vermittelt würde, sondern als dasim Augenblick auftauchende Problem. So als gäbe eskeine Geschichte dahinter. Das Historische komme dannschon von selbst. Didaktik werde stets wieder aufs Neueaufgewärmt wie eine Suppe, die man andere probierenlassen wolle, weil sie irgendwann einmal frisch und inter-essant war. Zu meinen, das einst Gewesene müsse auchandere interessieren, sei aber der falsche Ansatz didakti-schen Denkens.

Sturm: Warum habe Selle dann aber sein Leben langDidaktik gelehrt, sich der Frage gestellt, wie man ästheti-sche Strukturen oder Projekte erzeugen könnte? Er ziehejetzt einen Schlussstrich unter die Didaktik und sei dochselbst Didaktiker.

Selle: Seinem Schicksal als Didaktiker entkomme ernicht. Er werde ja noch mit seinem Ruhegehalt dafürbezahlt. Er entkomme auch nicht den ehemaligen eige-nen Denkfiguren und beende auch nicht die Didaktik. Erhabe nur die Frage gestellt, ob man die Didaktik nicht ein-mal aussetzen könne. Vielleicht könne man den momen-tanen Zustand der Ratlosigkeit dazu verwenden, einmalnicht sofort didaktischen Rat zu wissen, sondern diesenZustand wahrnehmen und damit experimentieren?Experimentieren heiße ja eben gerade nicht, dass manvon vornherein ein klares Konzept haben müsse. Das seigenau wie mit der künstlerischen Arbeit, bei der man,hätte man ein ganz genaues Konzept, lediglich zumAusführenden dieses Konzeptes würde. Man müssegemeinsam mit anderen Leuten in ein Problem einstei-gen, welches diese ebenfalls beschäftige. Er habeDidaktik immer indirekt gelehrt, nie direkt. Didaktik als

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solche sei bei ihm kein einziges Mal als Gegenstand auf-getaucht. Aber in jeder seiner Übungen sei Didaktikgedacht worden. Sie sei praktiziert worden, und zwarnicht nur von ihm, sondern auch von den Menschen, diemit ihm gearbeitet hätten. (…) Er selbst habe nicht aufge-hört, über den Sinn von Lernprozessen nachzudenkenund über die Möglichkeit, diese anzustoßen. Nur halte erden Umgang mit Didaktik als Wissenschaft für nicht sehrproduktiv in der augenblicklichen Situation. (…)

Die Leute, die an die Schule gegangen seien, kämenin eine ungebrochene, unerschütterliche Tradition derWeitergabe von didaktischen Gewissheitslehren an denStudienseminaren. Das sei das eigentlich Öde, was dapassiere. Es sei denn, es gebe auch da Leute, die dieseLehren selbst bezweifeln. In weiten Teilen werde abernach seinem Eindruck so getan, als sei das, was vor 20Jahren gültig gewesen sei, es auch heute noch und nochin zehn Jahren. Das funktioniere nicht. Er denke, dass erein Publikum habe, vor dem man Didaktik mal aussetzenkönne, neu erfinden könne.

Legler: Selle habe in seiner Analyse der Kunst-erziehungsbewegung ein wunderbares Beispiel dafürvorgetragen, wie man sinnvoll Didaktikgeschichte schrei-ben könne. Er habe gezeigt, unter welchen Bedingungendidaktisches Nachdenken stattfinde, dass es sich zum Teilin illusionären Freiräumen bewege, dass es auf der ande-ren Seite doch sehr stark in gesellschaftliche Funktions-zusammenhänge eingepasst werde. Es sei also von histo-rischen Voraussetzungen abhängig und verliere seineGültigkeit, wenn sich diese Voraussetzung änderten. Zum»Verfallsdatum« Selles eigener didaktischer Überlegun-gen erlaube er sich dennoch Zweifel anzumelden, da sichSelle in den letzten Jahren ja immer als jemand verstan-den habe, der ästhetische Erfahrungen anstoßen wolle.Er behaupte einfach einmal, eine solche Intention habekein Verfallsdatum, auch wenn die ästhetischen Erfah-rungen sich nicht auf der Höhe der Avantgardekunst be-wegten. Das sei für ihn eher ein sekundäres Problem. (…)

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Er habe da vor kurzem eine merkwürdige Erfahrunggemacht, die er in anekdotischer Form einbringen wolle:Er habe mit Erwachsenen und Kindern ein Seminar gehal-ten, in dem auch praktisch gearbeitet worden sei und dahabe ihm ein Computerfachmann begeistert erzählt, wieer mit seiner Familie einen Ferienkurs auf einer unter-fränkischen Burg gemacht habe und dass dieser Kurs eineso tolle Erfahrung gewesen sei. Auf Nachfragen stelltesich heraus, dass diesen Kurs Leute aus der Britsch-Kornmann-Schule gemacht hätten. Offensichtlich war esfür diesen Menschen, der die ganze Zeit mit neuestenTechnologien zu tun hatte, eine wunderbare Erfahrung,einmal ganz anachronistische Dinge zu tun. Gerade denBruch, den Kontrast fand er so fantastisch. Das habe ihmzu denken gegeben, was eigentlich das Relevante für sol-che Erfahrungen sei. Die dahinter stehende didaktischeKonzeption war es offensichtlich nicht, denn die war denTeilnehmern vollkommen egal.

Selle: Ja, da sei die Burg gewesen. Die sei stärker alsalle Theorie.

Pazzini: Wenn er Züge an der normalen Didaktik kri-tisiere, dann deshalb weil hier versucht würde, mittelseingeübter Methoden Angst wegzunehmen, beimLehrenden wie beim Schüler. Für die Erzeugung vorüber-gehender Gewissheiten müsse man aber selber geradestehen. Wenn Didaktik im Wesentlichen als Absiche-rungsmechanismus funktioniere, würde eine Distanzerzeugt, bei der nichts mehr rüberkomme. Zu versuchen,trotz aller Ungewissheit loszugehen, eine Setzung zumachen, darauf müsse eine Institution wie dieUniversität in Bezug auf die Schule vorbereiten. Bei SellesVortrag habe er den Eindruck gehabt, er hätte Angst,didaktisch zu sein, als wenn die Avantgarde hinter ihmher sei. Diesen Druck würde er sich selbst gegenwärtignehmen. Gerade unter den Veränderungen der zweitenModerne bedeute dies für ihn auch eine Relativierungdessen, was Fortschritt sei. Im Moment könne das, wasnotwendig oder angebracht ist, auch eine Position des

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17. Jahrhunderts sein. Die Kraft der curricularen Kanali-sierung, die die Institutionen gehabt haben, wo etwasvon unten anfängt und immer höher entwickelt wird undman am Fortschritt teilhat, die sei verloren gegangen.Alles sei sozusagen auf einer Ebene. Verknüpfungen wür-den von keiner Institution als Kanon geliefert. Das seieine ähnliche Ausgangsposition wie gegenwärtig in derKunst.

Selle: Wenn man sich in der Kunst umschaue, würdedieses Unübersichtlichkeitsgefühl natürlich auch bestätigt. Man bekomme nirgends Gewissheit. Die Gewissheit, überhaupt arbeiten zu können, die müsseman sich vorübergehend selber herstellen. Das sei dannein Experiment, etwas für ein halbes oder ein Jahr zumachen. Man müsse das ausprobieren – nach bestemWissen und Gewissen. Aber das sei etwas anderes als Gewissheit.

Legler: Aber jedes Experiment, jedes Erfahrungs-angebot sei eine Chance, sich neu zu positionieren.Deshalb könne seines Erachtens eine Didaktik, die aufErfahrung setze und die Subjektivität des jeweilsLernenden mit einbeziehe, nicht per se obsolet sein.

Selle: Es sei doch aber peinlich, irgendwann festzu-stellen, dass man ein didaktisches Modell konstruierthätte und danach gehandelt hätte, während dieTechnokultur längst an einem vorbeigezogen wäre, undman habe diese nicht beachtet, aus welchen Gründenauch immer, nicht gekannt, nicht einschätzen können.

Wenn man überlege, was in der Zwischenzeit anLiteratur erschienen sei dazu, was an Wahrnehmungs-weisen hinzuerfunden worden sei, auch was anErfahrungen geschildert werde, was über die neuenMedien produzierbar wäre, dann könne man natürlichbestreiten, dass alles immer komplexer werde, mankönne vielleicht einfach sagen, dass es einfach nur mehrwürde. Aber in ein Gebäude, welches sich Didaktik nennt,müsse man das doch irgendwie einbeziehen. SolcheEntwicklungen müssten doch irgendwo vorkommen, auf-

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genommen werden als Fakt. (…) Man könne heute, wennman einfach nur ganz alltägliche Handlungen beobachte,gravierende Veränderungen in der Produktion von Wahr-nehmung beobachten. Wo käme das in der Didaktiklehrevor? Allenfalls in speziellen Angeboten wie der Medien-kunde oder Mediendidaktik. Aber in Wirklichkeit seiendiese Veränderungen Beweise einer ständigen kulturellenÜberforderung. Über diese Überforderung müsse mannachdenken, wenn man Didaktik denkt. Es sei heute fürihn wichtiger, Menschen zu beobachten als sich hin-zusetzen und nachzulesen, was Didaktiker vor dreißigJahren geschrieben hätten oder was er selbst vor zehnoder zwanzig Jahren geschrieben hätte. Das sei für ihneinfach uninteressant.

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Gert Selle (geb. 1933) studierte Germanistik, Kunst-geschichte und Kunstpädagogik. 1960–1968 war erKunsterzieher in Frankfurt, dann Dozent an der Werk-kunstschule bzw. der Fachhochschule Darmstadt. 1974Berufung auf den Lehrstuhl für Bildende Kunst – VisuelleKommunikation an der PH Niedersachsen, Abt. Braunschweig, die später Teil der TU wird. Seit 1981 bis zu seiner Emeritierung Professor für Theorie, Didak-tik und Praxis ästhetischer Erziehung an der Uni-versität Oldenburg.

Gert Selles frühere Arbeiten beschäftigen sich mitdesign-, kultur- und fachgeschichtlichen Fragestellungen(z.B. »Ideologie und Utopie des Design. Zur gesellschaftli-chen Theorie der industriellen Formgebung«, Köln 1973;»Jugendstil und Kunstindustrie. Zur Ökonomie undÄsthetik des Kunstgewerbes um 1900«, Ravensburg1974; »Die Geschichte des Design in Deutschland von1870 bis heute. Entwicklung der industriellen Produkt-kultur«, Köln 1978; zusammen mit M. Andritzky:»Lernbereich Wohnen. Didaktisches Sachbuch vomKinderzimmer bis zur Stadt«, 2 Bde., Reinbek 1979 oder –unter Mitarbeit von Jutta Boehe – »Kultur der Sinne undästhetische Erziehung. Alltag, Sozialisation, Kunst-unterricht in Deutschland vom Kaiserreich zur Bundes-republik«. Köln 1981).

Die Bücher der 80er und 90er Jahre sind auf die Ent-wicklung einer erfahrungsbezogenen und kunstnahenPraxis ästhetischer Erziehung fokussiert (z.B. »Gebrauchder Sinne. Eine kunstpädagogische Praxis«, Reinbek 1988;als Herausgeber: »Experiment ästhetische Bildung.Aktuelle Beispiele für Handeln und Verstehen«, Reinbek1990; »Das ästhetische Projekt. Plädoyer für eine kunst-nahe Praxis in Weiterbildung und Schule«, Unna 1992oder »Kunstpädagogik und ihr Subjekt. Entwurf einerPraxistheorie«, Oldenburg 1998). Die Reihe der didakti-schen Publikationen wurde wiederum flankiert vonBüchern zu kulturgeschichtlichen Themen (»Die eigenenvier Wände. Zur verborgenen Geschichte des Wohnens«,

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Frankfurt/New York 1993; »Siebensachen. Ein Buch überDinge«, Frankfurt/New York 1997 und die Neufassungvon »Geschichte des Design in Deutschland« 1994).

Daneben hat Gert Selle mit Buchbeiträgen undAufsätzen in die kunstpädagogische Diskussion einge-griffen und dabei besonders seine Skepsis gegenüberjeder Form didaktischer »Planungsrationalität« begrün-det. Seit der Emeritierung arbeitet er auch wieder verstärkt künstlerisch – literarisch als Essayist (»Beiseite-gesprochen. Über Kultur, Kunst, Design und Pädagogik«,Frankfurt 2000), als Bildermacher, der Großplakat-material auf seinen geheimen Bilderschatz abfragt(Ausstellungen in Klagenfurt und Nürnberg). Für 2004sind ein weiterer Essayband (»Stückwerk«) und eineAusstellung zum Plakatprojekt in Oldenburg geplant.

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Bisher in dieser Reihe erschienen:

2003Hermann K. Ehmer: Zwischen Kunst und Unterricht –Spots einer wiedersprüchlichen wie hedonistischenBerufsbiografie. ISBN 3-9808985-4-7

2004Helmut Hartwig: Phantasieren – im Bildungsprozess?ISBN 3-937816-03-8

Gert Selle: Ästhetische Erziehung oder Bildung in derzweiten Moderne? Über ein Kontinuitätsproblem didak-tischen Denkens. ISBN 3-937816-04-6

Barbara Wichelhaus: Sonderpädagogische Aspekte derKunstpädagogik – Normalisierung, Integration undDifferenz. ISBN 3-937816-06-2

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ImpressumBibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Kunstpädagogische PositionenISSN 1613-1339Herausgeber: Karl-Josef Pazzini, Eva Sturm,Wolfgang Legler, Torsten Meyer

Band 3ISBN 3-937816-04-6Layout: Rikke SalomoBearbeitet von Katarina Jurin, Rikke SalomoDruck: Uni-PriMa, Hamburg© Hamburg University Press. Hamburg 2004http://hup.rrz.uni-hamburg.deRechtsträger: Universität Hamburg.

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Hamburg University Press

Kunstpädagogische Positionen 3

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