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Glaukom-Mythen Prof. Dr. med. Thomas Neuhann

Glaukom-Mythen - 2020.saoo.ch¤sentationen/Plenum_1... · • „Glaukom“ ist eine progrediente atrophierende Optikus-Neuropathie, die durch eine Höhe des Augendrucks verursacht

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Glaukom-Mythen

Prof. Dr. med. Thomas Neuhann

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Μυθος - Λογος

• Mythos = Laut, Wort, RedeErzählung, sagenhafte Geschichte, Mär...

• Für die Sophisten steht Mythos im Gegensatz zum Logos, der durch verstandesgemäße – wissenschaftliche –Beweise die Wahrheit seiner Behauptungen zu begründen sucht.

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Glaukom-Mythen– eine kleine Auswahl –

• „Der richtige Druck“- Korrekturfaktoren und ihre Ermittlung

• Das Zieldruckprinzip• Das Niederdruck-Glaukom

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Korrektur des applanatorischen Druckwertes nach Hornhautdicke

• Die Höhe des Augendrucks (IOD) ist ein Kernparameter für die Diagnostik und Behandlung des Glaukoms – „der wichtigste Risikofaktor“

• Die Goldmann-Applanations-Tonometrie (GAT) ist der „Goldstandard“ für die Messung des IOD

• Die GAT ist im Messwert von den biomechanischen Eigenschaften der Hornhaut abhängig– Goldmann 1960

• Korrektur der GAT-Werte sinnvoll, um Fehlbewertungen zu vermeiden

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Mythos

• Diese Abhängigkeit wird hinreichend genau durch die Unterschiede in der Hornhautdicke (CCT) repräsentiert– Unterstellung: Alle sonstigen biomechanischen Parameter unter

Hornhäuten sind i.W. gleich

• Diese Abhängigkeit ist – im Wesentlichen – linear• Korrekturfaktoren mit linearer Beziehung zur CCT lassen den

„richtigen“ IOD ermitteln– Dresdner Korrekturtabelle: 550µ = 0; je 25µ nach unten/oben = ± 1 mmHg

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Datenlage

• Glaukomprogression ist hoch korreliert zu CCT– die Korrektur des IOD nach CCT erklärt aber nur einen Teil davon

(Brandt et al 2011)• In einem theoretischen biomechanischen Modell hat im Bereich

der physiologischen Variation – die CCT einen potentiellen Einfluss von ± 2,87 mmHg, – Die Hornhautkurvatur von ± 1,76 mmHg, – Der Elastizitätsmodul (Young) von ±17,86 mmHg (!!)

(Liu und Roberts, 2005)

• In einer Vergleichsmessung DCT (Pascal) vs. GAT allein und nach den meist verbreiteten Korrekturtabellen nach CCT wächst die Diskrepanz mit der Hornhautdicke (je dicker umso mehr falsch niedrig)(Wachtl et al. 2016)

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Datenlage

• Die DCT ist theoretisch vom Messprinzip her nicht nennenswert abhängig von den biomechanischen Eigenschaften der Hornhaut

• Die DCT misst auch tatsächlich extrem genau übereinstimmend mit dem manometrischen Druck– Unterschied statistisch signifikant, aber irrelevant: 0,02 / 0,2 / 0,8 ± ~1,4 bei

15 / 20 / 35 mmHg); Konkordanzkoeffizient 0,98 (Boehm et al, 2008 – Dresden!)

• In einem Vergleich der DCT-Werte mit denen der GAT allein oder nach Korrektur an gleichen Patienten zeigt sich eine nicht-lineare Abhängigkeit der Diskrepanzen zu den CCT-Werten. – Die Dresdener Tabelle ist relativ durchschnittlich noch am nächsten dran,

hat aber auch besonders große Abweichungen

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Datenlage:DCT vs GAT CCT-korrigiert

DCT - GATkorrigierte nachdiversen Korrekturfaktoren

DCT - GAT korrigiert nach Dresdner Tabelle

Wachtl et al, 2016, Klin Mbl Augenheilk

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Logos:Was folgt daraus?

• Biomechanische Eigenschaften gehen weit über CCT hinaus– „Weiche dicke und harte dünne, weiche dünne und harte dicke

Hornhäute möglich“• CCT hat natürlich Einfluss auf Druckmessung:

– Bei sonst gleichen biomechanischen Eigenschaften• Statistische Korrekturfaktoren – namentlich CCT – haben

– Große Fehlerbreite– Nachteil Statistik gegenüber Einzelfall

• Durchschnittliche Kinderzahl einer deutschen Frau.....,

– Sollten obsolet sein, weil es eine bessere Alternative gibt....

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Logos:Wie macht man‘s nun sinnvollerweise?

• GAT mit DCT gegenmessen: Individueller Korrekturfaktor– Gelegentliche Kontrollwiederholung macht sicherer– Angabe der Messqualität– Zusätzlicher Parameter OPA „gratis“ – Bedeutung noch weiter

zu etablieren– Saubere Datenbasis – Theorie und Praxis passen zusammen

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Mythos - Nachtrag: CCT als eigenständiger Risikofaktor für Glaukom

• OHTS – TeilergebnisBrandt et al 2011– Für Konversion OHT -> Glaukom ist CCT ein signifikanter Prädiktor in einem

multivaraten Modell– Dies bleibt statistisch im Modell so, auch wenn man IOD-Werte CCT-korrigiert

verwendet– CCT < 555µ 3x höheres Risiko als CCT > 588µ– HR 1,82 für jede 40µ mehr CCT

• TatsächlichMedeiros u. Weinreb, 2012– Sinkt die HR auf 1,38 wenn die Ehlers-Korrektur verwendet wird.– Erfasst die CCT-Korrektur nicht den wirklichen / vollen Messfehler der GAT– Die Vorhersage der Konversion ist ähnlich zutreffend, wenn das Originalmodell

– GAT und CCT – verwendet wurde, wie wenn CCT gar nicht, sondern nur CCT-korrigierte IOD-Werte verwendet werden

„...the conclusion that CCT is a true independent risk factor for glaucomais not validated at this time and requires further investigations“.

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Das „Zieldruckprinzip“

The European Glaucoma Society (EGS) guidelinesdefinieren der Zieldruck als• “an estimate of the mean IOP obtained with

treatment that is expected to prevent furtherglaucomatous damage”(2008)

• „the upper limit of the IOP estimated to becompatible with a rate of progression sufficientlyslow to maintain vision-related quality of life in theexpected lifetime of the patient“(2016).

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Das „Zieldruckprinzip“

The American Academy of Ophthalmology definiert Zieldruck als • “a range of IOP adequate to stop progressive

pressure-induced injury”The World Glaucoma Association definiert ihn als • “an estimate of the mean IOP at which the risk of

decreased vision-related quality of life due toglaucoma exceeds the risk of the treatment.”

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Mythos

• Man kann je nach Ausprägungsgrad des bestehenden Glaukomschadens Mittelwerte / Obergrenzen / Wert-Bereiche für den Augendruck angeben, bei deren Nicht-Überschreitung kein / kaum weiteres Fortschreiten zu erwarten ist.

• Für solche Zieldruck-Bestimmung gibt es „evidencebased“ Grundlagen

• Die Senkung in den Normbereich (!) ist nicht „ambitioniert“ (EGS) genug

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Datenlage

Alle Studien, die die Fortschrittsrate in Abhängigkeit vom Druck bestimmen, haben erhebliche Schwächen:

– Keine Erfassung des “echten“ Drucks – GAT– Gänzlich unterschiedliche Kriterien für

• den Druck (Longitudinale individuelle Mittelwerte, horizontale Gruppen-Mittelwerte, Bereiche, obere Grenzwerte, %-Senkung....)

• Das Gesichtsfeld (MD-Mittelwert, CPSD, unterschiedliche Grob-Klassifizierungen; • Die Papille - Beurteilungsunsicherheit

– Keine Kenntnis des Druckverlaufes zwischen den Messungen• Therapie-Compliance – zB OHTS• Studie mit Auslösesensor in der Tropfflasche....

– Unterschiedliche Einbeziehung sonstiger Faktoren• Alter, CCT, Diabetes......• Nur Druck

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Wie wird der richtige Zieldruck bestimmt?

EGS guidelines: 3.2.1.1. Setting the target IOP

„There is little evidence to support any algorithm to set the targetIOP, but data from clinical trials may be used as guide.

As clinical trials have shown that progression occurs in eyes that have an IOP within statistically normal range (< 21 mmHg) ... normal range...no longerregarded as sufficiently ambitious....Target IOP is determined according to stage of disease and starting IOP, treatment goal being a specific IOP or percentage reduction, whichever is lower.

Early glaucoma IOP < 21 mmHg or 20% reduction.... May be sufficientModerate glaucoma IOP < 18 mmH or 30% reduction ... May be requiredAdvanced disease...lower target pressures ... May be neededRefinement according to „other risk factors“, longevity of the patient, burden oftherapy, patient preferences....

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Wie wird der richtige Zieldruck bestimmt?

Canadian perspectives in glaucoma management: settingtarget intraocular pressure range.

Target IOP Workshop participants. Can J Ophthalmol. 2003 Apr;38(3):189-97

There is an abundance of evidence from recent randomized clinicaltrials showing that lowering the IOP is beneficial to the optic nerve andvisual field. Setting and achieving a target IOP range is in keeping withevidence-based medicine. The benefits of reaching this target must beweighed against the risks of the treatment itself. Target IOP is a dynamic concept, needing constant reevaluation. What is lacking are established guidelines for determining thetarget IOP range that can be used in general ophthalmologypractice.

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Empfehlungslage

• Nach Schweregrad der Ausfälle– Stark 10 – 12 mmHg– Mittel 14(15) – 16 (17) mmHg– Gering 18 – 21 mmHg

• Nach Verlaufsbeobachtung:– Bei Progression – niedrigerer Zieldruck

• Also:– Je niedriger der Druck umso besser für den Sehnerv– Wenn man ihn nicht verträglich niedriger kriegt, muß man

im GF-Verlauf schauen ob‘s reicht– Wenn‘s nicht reicht, muss man den Druck niedriger kriegen

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Logos

• AGIS-Kriterium– Kein Fortschreiten des Gesichtsfeldausfalls über 6

Jahre bei Patienten mit IOP ≤ 18mmHg „at every visit“• Mittelwert dieser Gruppe 12 mmHg....

– Augen • mit Druck von ≤ 18 mmHg bei weniger als 50% der

Kontrollvisiten • Durchschnitt > 17,5mmHg ab früh im Verlauf

hatten deutliche Progression der GF-Ausfälle

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Logos:Wie macht man‘s nun sinnvollerweise?

• IOD ≤ 18 mmHg “at every visit“– Messfehler-korrigiert (DCT)– Niedriger wenn verträglich erreichbar angenehm

• Je weiter fortgeschritten, umso mehr anzustreben („Sicherheitspuffer“)

• Wenn nicht erreicht: – Bei/trotz Compliance: Therapie intensivieren/Laser/OP

• Unterhalb von 12-14mmHg fraglich sinnvoll / Risiko!– Bei Non-Compliance:

• Ursache ermitteln – Abhilfe, wenn möglich• Therapie ändern auf weniger Compliance-abhängig -> zB Laser, OP

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Mein Behandlungs(ziel)konzept

• IOD ≤18 mmHg (korrigiert) als grobe Richtlinie– At every visit– Sicherheitspuffer soweit problemlos erreichbar

• Je schwerer der Schaden umso mehr

• Kontrollen – Morphologisch mit OCT (RNFL > GCL (derzeit)) – bis Bodeneffekt– GF (24-2 – bB 10-2!)

• Wenn Druck oder Sehnerv/GF nicht im Bereich/konstant– Ist die Progression gesichert ? (Verlässlichkeitsparameter; Segmentierung) – Ist die Drucksenkung unzureichend? – Wie ist die Compliance? (IOD nur „at visit“ im Bereich?) – Gibt es zusätzliche Ursachen?– Kontrollen intensivieren

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Und natürlich...

Je niedriger der Druck umso besser für den Sehnerv Obergrenze 18 solide begründet, andere „Hausnummern“ nicht

Wenn man ihn nicht verträglich niedriger kriegt, muss man im Verlauf schauen ob‘s reicht

Wenn‘s nicht reicht, muss man den Druck niedriger kriegen (Therapie-Adhärenz, Therapiemodifikation)

So einfach im PrinzipUnd so mühsam oft in der individuellen Realität

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Das Nieder-/Normal-Druck-Glaukom

• „Das NDG ist ein Subtyp des Spektrums / Teil des Kontinuums der Offenwinkelglaukome“– Der Augendruck funktioniert auch hier als schädigender

Pathomechanismus – womöglich durch erhöhte Suszeptibilität

• „NDG ist eine progrediente Optikusneuropathie (mit glaukom-„typischen“ Papillenbefunden und Gesichtsfeldausfällen) bei offenem Kammerwinkel und Druck nie ≥ 21 mmHg“ (gemessen)

• „NDG ist eine Ausnahme in der Glaukom-Familie, bei der der wesentliche Risikofaktor, erhöhter IOD, fehlt“

• .......

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Exkurs: Was ist ein Glaukom?

• „Glaukom“ ist eine progrediente atrophierende Optikus-Neuropathie, die durch eine Höhe des Augendrucks verursacht wird, die mit dem normalen Überleben der Ganglienzellen der Netzhaut und ihren Neuriten nicht vereinbar ist.

• “Normaler“ Augendruck verursacht keine Optikusneuropathie– Als normal ist deshalb ein Augendruckniveau zu definieren, welches

ohne sonstige Schädigungseinflüsse den Sehnerv nicht schädigt– Welcher Augendruck als (noch) normal – also per se – nicht schädigend

einzustufen ist, kann man nur durch riesige Bevölkerungsstudien ermitteln. Ein definitives Grenzniveau ist daraus systematisch niemals zu ermitteln.

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Das Nieder-/Normal-Druck-Glaukom

• Allen Definitionen ist gemeinsam, dass sie progrediente atrophierende Optikusneuropathien, bei denen der IOD im statistischen Normbereich (≥ 21 mmHg) liegt, dennoch dem Glaukomspektrum zuordnen, wenn keine andere offensichtliche Ursache gefunden wird.

• Es wird immer von „glaukomatösen“ oder „glaukomtypischen“ Papillen- und Gesichtsfeldbefunden gesprochen – gleichzeitig gibt es keine Definition, die klar definiert, was die Kriterien dafür sind – alle Gesichtsfeldausfall-Muster sind bei Glaukom beobachtet

worden– Papillenbefunde sind vielfach in Studien auch durch Spezialisten

fehldiagnostiziert worden -

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Mythos

• Den Befunden an Papille und Gesichtsfeld kann man klar die Zuordnung „Glaukom“ entnehmen. – Weil glaukomatöse Befunde „typisch“ sind

• Normaler Druck ist definiert als nie ≥ 21 mmHg gemessen. – Applanatorisch.....!

• Wenn sich in einer Studie ergibt, dass bei einem Teil der Probanden die Senkung des Augendrucks um 30% die Progression verlangsamt (!) beweist dies die pathogenetische Rolle eines Druckes ≤ 21 mmHg– Man muss deshalb in solchen Situationen den Druck jedenfalls um 30%

senken• „Man kann ohnehin nichts anderes tun“ – manchmal hilft die

Drucksenkung – drum ist die Zuordnung zum „Glaukom“ sinnvoll, – auch wenn die eigentliche Ursache woanders liegt und eine Drucksenkung

vielleicht nur zusätzlich nützlich ist, oder nicht entdeckte Hypertonien abfängt....

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Datenlage

• CNTGS – collaborative normal tension glaucoma study(1998): je eine Gruppe 30% Drucksenkung vs. keine Drucksenkung– Maximal erlaubte IOD-Werte bis 24 mmHg– Kein Unterschied im Fortschreiten der Ausfälle– Unterschied nur nach mehrfachen statistischen „Bereinigungen“

• Zensierung bei Auftreten von Katarakt – viel häufiger bei Behandlung

– Keine Korrelation zwischen erzieltem Druckniveau und Fortschreiten– Sowohl Fortschreiten in der behandelten Gruppe, wie kein

Fortschreiten über bis zu 7 Jahren in der unbehandelten Gruppe• Statistisch signifikant häufiger Fortschreiten ohne Drucksenkung• Ausmaß des Fortschreitens in allen Fällen selbst nach Jahren gering

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Datenlage

• LoGTS – low pressure glaucoma treatment study (2005): je eine Gruppe Brimonidin vs. Timolol 0,5%– Maximal erlaubte IOD-Werte ohne Therapie bis 21 mmHg– Mittlere Drucksenkung war für beide Gruppen zu allen

Zeitpunkten, mit und ohne Fortschreiten, gleich, ebenso % Drucksenkung und Anteil Drucksenkung ≥ 20%

– Fortschreiten der Gesichtsfeldausfälle bei Brimonidinsignifikant weniger als bei Timolol

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Datenlage

• Unübersehbare Fülle von Publikationen zum Thema• Repräsentativ die beiden jüngsten von Januar 2020

– „Niederdruckglaukom“ mit Myopie: Ohne Behandlung 10/25% Progression nach 3/5 Jahren.

Han et al. Amer J Ophthal 209(1) 2020

– 102 NTG, IOD ≤ 12 mmHg: Progression wahrscheinlicher bei höheren Schwankungen des IOD und diastolischen RR und Papillenrandblutungen. Progression bei 35% in durchschnittlich 8,7 Jahren

• Baek et al Br J Ophth 104(1) 2020

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Datenlage„glaukomatöse Optikusatrophie“

• Der Pathomechanismus, durch welchen erhöhter Augendruck schließlich die retinalen Ganglienzellen und deren Neuriten schädigt, ist nicht bekannt– Mechanische Schädigung an der lamina cribrosa?– Beeinträchtigung des „okulären Blutflusses“?

• Radiale peripapilläre Kapillaren mit ihren besonderen Eigenschaften?

• Sind die Schädigungen durch hohen Druck pathomechanischdurch eine „gemeinsame Endstrecke“, die auch eine Reihe anderer Ursachen auslösen kann, bedingt?

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Datenlage„glaukomatöse Optikusatrophie“

• Papillenaspekt und Gesichtfeld können Glaukom vortäuschen .- und auch Glaukomspezialisten zu Fehldiagnosen führen...

Neurophthalmological conditionsmimicking glaucomatous opticneuropathy: analysis of themost common causes ofMisdiagnosisDias et al (2017)

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Datenlage

Bei Fällen mit NDG – aber nicht POWG – werden in einer Vielzahl von Studien zusätzliche Risikofaktoren für Optikusschädigung gefunden:• Weibliches Geschlecht, asiatische Herkunft überrepräsentiert

– Korea und Japan bis zu 90% aller „Glaukome“ mit IOD ≤ 21 mmHg!• Geringere zentrale Hornhautdicke (!!!)• Vasospasmen, Migräne, primäre vaskuläre Dysregulation

– Flammer Syndrom, M. Raynaud ... • Arterielle Hypotension („night dipper“...)

– Aber auch gerade kein „night dip“• Obstruktive Schlafapnoe• Intrakranielle Hypotension• Allgemeine beschleunigte Neurodegeneration

– „Altersblasse Papille“• .....?

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DatenlageZusammenfassung

• NDG ist bereits in der Definition “schwammig“ definiert– Nur Druck-Kriterium - Applanatorische Drucke nicht korrigiert– IOD ≤ 21, oder aber im Einzelfall bis 24 mmHg....– „typische“ glaukomatöse Optikusatrophie– Progression???– Keine sonstigen Krankheiten / „Risikofaktoren“ systematisch erfasst

• Drucksenkungs-/Behandlungs-Effekt in den Studienkollektiven statistisch raffiniert vorhanden, aber quantitativ – zumal über die Zeit – gering.– Erhebliche Anteile auch ohne Drucksenkung stabil, auch mit

Drucksenkung progredient– Teilweise fraglich druck-korreliert (LoGTS)

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Logos

• (Über die Norm) Erhöhter Augendruck führt – je höher umso stärker und rascher – auch ohne zusätzliche Einflüsse zwingend zu einer zunehmenden OptikusatrophieDiese wohldefinierte Erkrankung nennt man Glaukom

• Es gibt auch fortschreitende Optikusatrophien, ohne nachweislich (!) erhöhten Augendruck: Durch andere schädigende Einflüsse (vaskulär, isch-/hypoxämisch, primär neurodegenerativ, Liquor-Hypotonie, bisher unbekannt .....)– Bei manchen davon kann durch zusätzliche Drucksenkung – oder die

Maßnahmen dazu – ein günstiger Einfluss auf die Progression erzielt werden

Diese Erkrankungen sind Optikusatrophien anderer Ursache –und haben eine zutreffende Bezeichnung „verdient“

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Logos

• Wenn andere Optikus-schädigende Krankheitsmechanismen diesen im individuellen Fall zusätzlich empfindlicher für zusätzliche Schädigung durch Druck auch im Normbereich machen, so ist dennoch die Grundkrankheit primär, der Druck sekundär– Dass man dennoch im Rahmen des Möglichen auch sekundäre

Schädigungsmechanismen behandelt, ändert daran nichts.

• Für keine der Ursachen von Optikusatrophien sind bestimmte Gesichtsfeldausfälle und Papillenveränderungen so typisch, dass sie zwingend auf die Ursache schließen lassen können.

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Logos

• „Nieder-/Normal-Druck-Glaukom“ sollten wir aus unserer Nomenklatur streichen

• Als Glaukom sollten wir weiter die progrediente Optikusatrophiedurch erhöhten Augendruck bezeichnen– Die kausale Behandlung ist folgerichtig die Drucksenkung in den

Normbereich– Zusätzliche ggf. schädliche Einflüsse wird man, soweit möglich, behandeln

• Fortschreitende Optikusatrophien bei normalem Augendruck sollte man nach ihrer Ursache bezeichnen, ggf. als „nicht bekannter Ursache“ – Die Behandlung sollte, wo und inwieweit möglich, kausal ansetzen– Einer zusätzlichen Drucksenkung, soweit mit vernünftigem Risiko erzielbar,

sollte durchaus ergänzend eine Chance gegeben werden – insbesondere angesichts der grundlegenden Unsicherheit, in wie weit „nie erhöht gemessen“ tatsächlich „nie erhöht gewesen“ beweist....

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Quintessenz (ophth)(„take home message“)

• Die Korrektur der Druckwerte aus Goldmann-Applanations-Tonometrie nach zentraler Hornhautdicke ist obsolet, weil – theoretisch zu erwarten und praktisch erwiesen – hoch fehlerhaft.– Die gegenwärtig beste Korrekturmethode ist die individuelle Gegenmessung mit

der DCT (Pascal)• Das „Zieldruckprinzip“ täuscht eine genaue Bestimmbarkeit ex ante für einen nicht

schädigenden Augendruck vor, die es nicht gibt.– Die simpler pathophysiologischer Logik folgenden Prinzipien von jeher gelten

unverändert: Ob das tatsächliche Druckniveau über die Zeit unterhalb der Schädigungsgrenze liegt, erweist sich im Verlauf – ex post.

• „Nieder-/Normal-Druck-Glaukom“ ist eine Fehlbezeichnung für das ophthalmologische „Gemeinverständnis“:– Sie suggeriert eine wesentliche pathogenetische Rolle des Augendrucks bei dem

„Gemischtwarenladen“ der damit bezeichneten Krankheiten, während bestenfalls eine im Einzelfall mögliche - nachgeordnete - additive Rolle aus der Datenlage hervorgeht.

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Quintessenz (allgemein)(„take home message“)

• Philosophische allgemeine Beweistheorie– Ex deductione– Ex inductione– Ex dilemma (nur Negativbeweis)– Ex auctoritate

• Der Herr Professor hat‘s gesagt / wie wir alle wissen / machen/sagen doch alle...

• „Never take anything for granted“• Man prüfe bei allem, was man tut

– Macht es theoretisch Sinn? (ex deductione)– Gibt es belastbare Daten dafür? (ex inductione)– Habe ich es unkritisch/ungeprüft übernommen (ex auctoritate)?

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...Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit