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• fflWITiWMIWi" IWi'MliM
Philosophische Arbeitenherausgegeben von
Hermann Cohen und Paul Natorpin Berlin in Marburg
'VII. Band I.Heft
Heraklit und Parmenides
von
H. SlonimskyDr. phil.
Gießen 1912
Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker)
Digitized by the Internet Archive
in 2011 witii funding from
University of Toronto
littp://www.arcli ive.org/details/lieraklitundparmeOOslon
Heraklit und Parmenides
von
K Slonimsky
Dr. phil.
Gießen 1912
Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker)
Philosophische Arbeitenherausgegeben von
Hermann Cohen und Paul Natorpin Marburg in Marburg
VII. Band I.Heft
B
5ls-
LiBRAKi724173
UNIVERSITY OF TORONTO
1. Methodologisches zur Einleitung.
Die Anfänge hellenischer Philosophie sind uns in einemso trümmerhaften Zustande überliefert, und was uns davonbewahrt worden ist, bewegt sich in einer der Eindeutigkeit soermangelnden Sprache, daß man sich billig nicht verwundernsollte, wenn sowohl autochthone Doxographie als auch moderneGeschichtsschreibung überall die abweichendsten Darstellungenaufweisen. Wenn jedoch bei Darlegung gerade der wichtigsten
Lehrmeinungen die widersprechendsten Ansichten gegen ein-
ander auftreten, so stutzt doch der begreifende Verstand undist ganz ratlos; denn man will durchaus wissen, und zum Wissengehört doch zuvörderst durchgängige Übereinstimmung, wenig-stens aber eine Annäherung dazu. Herrscht nun Willkür hier,
und muß es dabei sein Bewenden haben .^ oder ist eine wirkliche
Geschichte doch möglich, und wenn dies, so auf welche Weise?Solche Fragen muß sich wohl der vorlegen, der es unternimmt,dieses Kapitel der Geschichte der Philosophie von neuem zubeleuchten, und wenigstens dem Entwürfe nach einige Sicher-heit anstrebt. So ergibt sich ganz aus der Natur der Sacheheraus die Forderung, sich Klarheit darüber zu verschaffen, waseigentlich Natur und Bedingungen einer Geschichte der Philo-
sophie sind, und wie diese möglich sei.
Es Hegt nun im Begriffe eines geschichtHchen Problemsüberhaupt, welches es auch sei, daß die Geschichte die Sacheals Ausgangspunkt voraussetzt, die Sache aber erst durch ihre
Geschichte dem Verständnis erschlossen wird. Auf diese eigen-tümliche Schwierigkeit, die es scheinbar allem Forschen verwehrt,
irgendwo festen Fuß zu fassen, stoßen wir auch bei der Be-sinnung auf das philosophiegeschichtliche Problem. Es stellt
sich heraus, daß, wie einerseits das historische Verständnisirgendeines philosophischen Problems nur durch die Orientie-
rung, die die sachliche Sicherheit erteilt, möglich wird, soandrerseits das sachUche Verständnis eben desselben Problems
2 H. Slonimsky, [2
durch dessen Geschichte bedingt wird. Zur Sache kommt manvermittelst der Wegweisung, die uns die Geschichte der Sache
erteilt ; zur Ermittelung ihrer Geschichte muß jedoch die Sache
schon vorhanden sein, um als unersetzliche Grundlage dienen
zu können. „Wer die Geschichte der Philosophie vorträgt, mußdie Philosophie besitzen, um die einzelnen Facta,^ welche ihr an-
gehören, aussondern zu können, und wer die Philosophie besitzen
will, muß sie historisch verstehen," sagt schon Schleiermacher
(Gesch. d. Philos., herausgegeben von Ritter, p. 15), der damit
eine Schwierigkeit aufdeckt, die in der Natur unseres Geschäftes
gelegen ist, und über welche einige methodische Klarheit zu
erlangen unumgängliche Notwendigkeit ist.
Ob und inwiefern das Verständnis und die Festigung
der philosophischen Sache ein Eingehen auf deren Geschichte
erheischt, ist eine Frage, über welche so lange Streit herrschen
wird, als noch Einigkeit in der Philosophie selbst nicht erzielt
worden. Daß aber nur die kritische Philosophie allein eine
Geschichte der Philosophie sowohl fordert als ermöglicht, wollen
wir hier kurz darlegen. Die kritische Philosophie entdeckt den
Begriff des Denkens, präzisiert den Begriff der Wissenschaft.
Diese Entdeckung, diese Präzisierung besteht nun in dem Nach-
weis, daß das Denken, das wissenschaftliche Denken, von aller
Zeit unabhängig ist, daß es das einzig Objektive und Allgemein-
gültige darstellt. Vom wissenschaftlichen Denken kann es also
eine Geschichte geben, weil die Philosophie sein einheit-
liches Quellengebiet, also seinen Zusammenhang über alle
Zeiten hinweg aufdeckt. Philosophie ist eben die Erklärung
seines „stetigen Ganges". Wenn nun die Philosophie selbst
sich als die Philosophie der Wissenschaft präzisiert, dann
erschließt und ermöglicht sie sich ebenfalls eine Geschichte.
Denn dann ist ihr Problemgebiet ebenfalls ein einheitHches,
zusammenhängendes und stetiges. Eine solche Philosophie weist
also über sich selbst hinaus, ergibt als eines ihrer Resultate
den Begriff einer perennis philosophia. So wird die kri-
tische Philosophie ihre sachliche Aufgabe als ihr von ihrer
Geschichte dargeboten und aufgegeben bestätigen. Denn
allgemein und einheithch ist das Grundproblem der Wissenschaft,
nämlich der Naturgegenstand (sofern es sich zunächst um theo-
retische Erkenntnis handelt); einheitlich und über alle Zeiten
hinweg zusammenhängend muß also auch die Begründung dieses
Zusammenhangs aller Wissenschaft sein. Indem so die Philo-
sophie aus eigenen Mitteln die Bedeutsamkeit der Geschichte
3]Heraklit und Parmenides.
der Philosophie beleuchtet, fühlt sie sich doch ihrerseits dieser
von ihr selbst aufgedeckten Denkkontinuität unentrinnbar an-
gehörig. Und dieser Solidarität mit allem früheren Denken froh,
in ihm Verwandtes, ja sich selbst entdeckend, saugt das Denkenaus der Geschichte des Denkens Anregung und Nahrung, umselbst dieselbe Bestimmung am Kommenden zu erfüllen, ebenso
wie der Stamm sein Leben aus den Wurzeln saugt, um es
weiter hinauf in die Äste zu leiten.
Daß aber das Verständnis der Geschichte der Philosophie
ohne Klarheit in der Philosophie selbst unmöglich sei, darüber,
sollte man meinen, müßte allerorten ausdrückliche und metho-
dische Einigkeit herrschen. Denn wie sollte man die Geschichte
von etwas schreiben wollen, ohne dieses Etwas selbst unver-
rückbar fest in Händen zu haben.!* Wie soll ich die Verwand-lungen des Etwas im Laufe der Zeit wieder erkennen, wennich es selbst nicht kenne ? Wie soll ich seine „einzelnen Facta
aussondern" können, wenn es selbst nicht streng definiert ist?
Oder aber, wenn man nur eine ungefähre Vorstellung von diesem
Etwas hat, und eben zum Behufe seiner Befestigung und Klar-
legung an die Geschichte herantritt, so müßte doch die Über-
legung Halt gebieten, daß man leicht die Geschichte von etwas
ganz anderem ermitteln, und sich so obendrein der ursprüng-
liche Begriff verschieben könnte. — So selbstverständlich nun diese
Erwägungen auf den ersten Blick scheinen, so sind Spuren ihrer
Fruchtbarkeit in den bisherigen Versuchen einer Geschichte der
Philosophie doch meistens nicht zu entdecken; und zwar aus
dem einfachen Grunde, weil ihre Selbstverständlichkeit nur dann
einleuchtet, wenn man ausdrücklich auf sie hingeführt wird, das
heißt aber, wenn man sich auf Methode überhaupt besinnt.
Die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zur Ge-
schichte der Philosophie ist nun gleichbedeutend mit der Frage
nach der Möglichkeit der Geschichte der Philosophie. Undda, wo man am Dasein eines Objekts (in diesem Falle: der
Geschichte der Philosophie) nie gezweifelt hat, konnte manallerdings nicht zur Frage nach seiner Möglichkeit kommen.Uns ist der angeführte Leitgedanke deswegen eine Selbstver-
ständlichkeit, weil uns die Erkenntnis von der klärenden unddisponierenden, d. h. konstituierenden Wirkungskraft einer metho-dischen Grundlegung erwachsen ist aus der Erkenntnis der Be-
deutsamkeit des kritischen Idealismus überhaupt, und seines
,Hauptmittels, der transzendentalen Methode, insbesondere. Solange man sich nicht Klarheit verschafft hatte über das Ver-
4 H. Slonimsky, \a
hältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, überdie konstituierende Bedeutung des Denkens für alles Sein,
so lange kam man auch nicht auf die Frage nach der Mög-lichkeit historischen Wissens. Uns, die wir dieses Ergebnisdes reifen Systems vor Augen haben, vertieft sich nun der Sinnder scheinbar populären Forderung des Voraufgehens der Philo-
sophie vor deren Geschichte zur Erkenntnis, daß dadurchdas einzige methodische Mittel gewonnen wird, dieGeschichte der Philosophie allererst möglich zumachen. Es löst sich uns also das Problem vom gegenseitigen
Verhältnis von Philosophie und Geschichte der Philosophie da-hin, daß die Philosophie selbst, wie sie einerseits alle frühere
Philosophie als integrierenden Teil ihrer selbst erweist, so auchdie Mittel an die Hand gibt, alle frühere Philosophie zu ver-
stehen, sie in ein System des Wissens zu begreifen.
Soll also die Geschichte der Philosophie überhaupt ein
Wissensobjekt darstellen, so darf sie nicht als fertig gegebenerGegenstand angesehen werden, den es nur abzukonterfeien gälte
um ihn zu besitzen, sondern lediglich als Problem, als ein auf-
gegebenes X, welches es gilt zur Bestimmung zu bringen, auf-
zubauen, aus dem Denken heraus zu erzeugen. Die Ungeheuer-lichkeit dieser Forderung ist längst als nüchternste Einsicht,
als selbsverständlichstes, feststehendstes Ergebnis kritischen
Philosophierens erkannt worden. Hier scheiden sich die Wege.DieNaivetät will vom fertigen Objekte belehrt werden; die
Kritik hat erkannt, daß das Objekt Objekt des Denkens ist.
An dieser tiefsten Erkenntnis ist nicht zu deuteln, nicht zu
rütteln. Wenn also dies Eine feststeht, daß alle Erkenntnis, JiL,,
Grundlagen gegründet ist, die von uns selbst zugrunde gelegt
worden sind, so ist auch klar, daß, wofern geschichtliche Er-
kenntnis möglich werden soll_, die Geschichte erst in von unsselbst gelegten Fundamenten wird entstehen können.
Diesen Gedanken, den Grundgedanken und die ewig be-
freiende Tat des kritischen Idealismus, näher darzulegen undabzuleiten, ist hier nicht unsere Aufgabe ; er ist der wesentliche
Gehalt der Logik, und als solcher Sache der sachlichen Dar-stellung; hier können wir ihn nur voraussetzen, uns seiner als
unserer Hypothesis bedienen. Wir können uns umsomehr der
Darlegung dieser Erkenntnis an diesem Orte enthoben fühlen,
als der Gedankengehalt des Philosophen, den wir in dieser Arbeit
vornehmlich betrachten wollen, und dessen geschichtliche Dar-
stellung erst durch diese unsere transzendentale Erkenntnis
tl Heraklit und Parmenides.5
möglich wird, sich eben mit dieser Erkenntnis im wesentlichen
deckt. In der Tat ist eine methodologische Vorerinnerung von
der aufbauenden Kraft transzendentaler Grundlegung bei demVater der transzendentalen Logik am meisten am Platze.
Allerdings ist man an die transzendentale Denkungsart bei
dem Naturgegenstande mehr gewöhnt als bei dem Gegenstande
der Geschichte. Jedoch kann die Methode nicht bloß von einemObjekte, sondern sie muß von dem Objekte gelten. Ist das
Naturobjekt nicht starr, gegeben, von uns unabhängig, sondern
vom Denken erschaffen, von unserer Erkenntnis im tiefsten
Sinne abhängig: dann wird ebenso und erst recht das Geschichts-
objekt, wofern es überhaupt Objekt sein soll, vom Denkenkonstruiert werden müssen. Daß sich dabei die einzelnen Bau-
steine werden unterscheiden müssen, folgt selbstverständlich aus
der Verschiedenheit der Objekte : die Grundmethode aber mußdieselbe sein. Hier stützen wir uns auf unsere allgemeinste
transzendentale Erkenntnis. Wir können schlechtweg nicht
anders verfahren als durch das Verfahren der Grundlegung.
Dies ist ja unsere unverlierbare Erkenntnis, daß alles Erkennen,
bewußt oder unbewußt, mythologisch, naiv oder kritisch, gar
nicht anders als nach dieser Methode vor sich gehen kann; daß
alles^einj dessen Wissenschaft_wir_anstreben, ein Erzeugnis der
intellektuellen Bedingungen darstellt, die wir selbst hinein- undzugrunde legen. Und wenn in unserer Bearbeitung der Geschichte
wir die zulänglichen Bedingungen nicht getroffen haben, wennalso wir schief konstruiert haben und unser Gebäude wankt, so
ist damit noch mit nichten gesagt, daß die Forderung eines Fun-
damentes überhaupt falsch sei. Auf diese Forderung allein
kommt es an; auf diese, die Idee, nicht auf irgendwelche
bestimmte Ideen. Die Ausführung mag mißglückt sein; aber
auch die beste Ausführung wird durch fortschreitende Vertiefung
der Grundlegung abgelöst und vertieft. Es muß nur immer der
Versuch mit einer bestimmten, übrigens ersetzbaren Idee gewagtwerden. Die Gefahr eines starren, willkürlichen Dogmatismuswird somit von vornherein methodisch beseitigt. Die zugrunde
liegende Idee ist die Grundlegung, welche jedesmal die Ge-schichte der Philosophie ermöglicht, indem sie ihr zugrunde liegt;
aber diese Idee selbst ist notwendigerweise eine fortschreitende,
eine sich vertiefende. So kann die jedesmalige Geschichts-
beurteilung nie als absolute gelten wollen; der jedesmalige
Standpunkt der Geschichtsbeurteilung muß zwar als absolut,
gleichsam zeitlos auftreten, denn er will ja das Zeitliche be-
6 H. Slonimsky, [5
gründen; aber er ist selbst zeitlich, historisch bedingt. In derZeit, mit der fortschreitenden Erkenntnis, wird der eine Stand-punkt durch einen tieferen, besser fundierten ersetzt. Und je
tiefer die zugrunde liegende Idee, desto haltbarer wird dasGebäude der Geschichte erstehen.
Daß also eine Grundlegung überhaupt, hier wie überall, der
unentbehrliche Anfang ist, darüber belehrt uns zur Genüge unsere
Logik. Was soll uns aber als Grundlegung dienen.? Jedenfalls
kann nur unsere Logik unserer Geschichte der Logik als Grund-legung dienen. Denn wovon sonst soll unsere Geschichte Ge-schichte sein? Und wie soll ein beliebiges geschichtliches Denk-system anders gemessen werden, als an dem Denksystem, welchesanderweitig als wahr begründet worden ist? Der streng defi-
nierte Begriff der zugrunde liegenden Logik definiertalso zugleich Umfang und Inhalt ihrer Geschichte; dennsie ist Maßstab des Wertvollen, d. h. desjenigen, was dadurch zur
Würde des Geschichtlichen erhoben wird ; sie wählt und scheidet
aus, sie ist die Wünschelrute, welche das ihr voraufgehende Ver-wandte, das sie Erzeugende entdeckt; so entsteht Einheit undstrengste Zusammengehörigkeit innerhalb der verschiedenen ge-
schichtlichen Erscheinungen, eben vermöge der wurzelhaften Ein-
heit des zugrunde liegenden Systems der Logik.
So viel zur Rechtfertigung der Methodik des folgenden
Igeschichtlichen Versuchs. Der Schein der Willkür, der einer
• „subjektiven " Grundlegung anhaftet, kann uns nunmehr nicht
j
schrecken, da wir wissen, daß die wahre Subjektivität vielmehr
: die alleinige Quelle aller Objektivität ist. Djese scheinbare
Schranke liegt demgemäß aller, auch der sichersten Wissen-
;Schaft zugrunde, und wird überwunden, sobald sie durchschaut
[ wir?!. Und als Zuversicht und Bestärkung unserer Auffassungmag uns das methodische Bewußtsein dienen, daß wir nur Be-
dingtes Hefern können. Denn wir stellen nicht ein Dogma,nicht ein abgeschlossenes System historischen Wissens auf,
sondern -lediglich eine Methode, und zwar eine solche, wonachdie Geschichte, weil ewige Aufgabe, niemals wird erschöpfend
dargestellt werden können. So ist jedes historische Systemschon zufolge dem es ermöglichenden Begriff nur provisorisch:
es weist über sich selbst hinaus. Das Objekt der Geschichte ist
eben ein unendlich bestimmbares X, und je tiefer die vorauf-
gehende rein logische Einsicht sich gestaltet, desto reichhaltiger
wird sich eine Geschichte der Logik aufbauen und erschließen
lassen.
7]Heraklit und Parmenides.
2. Heraklit.
Im Mittelpunkt der ganzen vorsokratischen philosophischen
Reflexion, an sachlicher Bedeutsamkeit und an geschichtlicher
Fruchtbarkeit alles Andere überragend, steht das eleatische
Gedankensystem. Bedeutsamkeit und wurzelhafte Fruchtbarkeit
erlangt diese eleatische Philosophie, sie wird dieser Philosophie
beigelegt, weil sie sich als Ursprung derjenigen Art zu philoso-
phieren kundtut und erschließt, die im Laufe der Jahrhunderte,
von Piaton über Descartes und Leibniz zu Kant, sich als die
wahrhafte und die wissenschaftliche Art bewährt hat. Und der
immer wieder erneute geschichtliche Rückgang auf die Eleaten
wird von diesem sachlichen, systematischen Interesse geleitet
und genährt.
Die eleatische Philosophie ist jedoch nicht wie eine Minerva
aus einem Jupiterhaupt entsprungen. Ihr ist erstens positiv
durch die Pythagoreer vorgearbeitet worden; und andererseits
war der unmittelbare Anlaß zu ihrem Entstehen und vor allem
zu ihrer Ausbildung die Reaktion und die Polemik gegen eine
andere, ihr entgegengesetzte Art des Denkens, die ihr unmittel-
bar voranging. So wird erst aus den Eleaten heraus Heraklit
geschichtlich begreiflich: ein Beispiel dafür, wie allein die sach-
liche Leitung eine wirkliche geschichthche Kontinuität entstehen
läßt.
HerakHt seinerseits bedeutet die Vollendung und zugleich
die Überwindung desjenigen Gedankens, der von seinen mile-
sischen Vorgängern als Grundergebnis ihres wissenschaftlich-
philosophischen Nachdenkens gemeinsam aufgestellt wordenwar. Die Väter naturwissenschaftlicher Reflexion, Thaies, Ana-ximander, Anaximenes, wandten sich alle im Grunde an dasselbe
Problem, und ersannen alle im Grunde dieselbe Lösung. Ihr
gemeinsames Problem war das Werden, ihre gemeinsame Lösungdas Ding. Die Natur und ihr Werden, das (pveoüai der q)voig,
die Vielheit der Dinge und ihr Woher, mit einem Worte die
8 H. Slonimsky, Tg
Veränderung, — dies war es, was eine Erklärung forderte ; die
Rückführung aller Dinge auf ein Grundding, die Substanzia-
lisierung dieses bevorzugten Dinges zum dauernden Substra-
tum aller Veränderung, die bloß die Kette der Verwandlungenund Abwandlungen des Grunddings bedeutete, — dies sollte
die geforderte Erklärung abgeben. Zwar dachte sich Anaxi-mander sein Prinzip als unsinnliche Masse; dennoch wurde es
dem sinnlichen Stoff analog konzipiert, und vor allem auch so
verstanden.
Heraklits philosophisches Verdienst bestand nun darin, daßer (um es gleich vorwegzunehmen) den Dingbegriff einer ver-
nichtenden Kritik unterzog, und zugleich zur Konzeption desBegriffs einer allgemeinen Gesetzlichkeit als einzig zulässigen
Prinzips einer Naturauffassung fortschritt. Dieser Schritt scheint
an sich ein ungeheuerer und prinzipieller zu sein, und war es
auch ; dennoch war der Erfolg seiner Gedanken verwirrend undzweideutig, weil sie mit inneren Schwierigkeiten behaftet undvon Halbheiten nicht frei waren. Die Vorzüge nun und die
Mängel seiner philosophischen Aufstellungen wollen wir jetzt in
einiger Ausführlichkeit darzulegen versuchen.
Wir sagten, Heraklit habe die milesische Lösung des all-
gemeinen Naturproblems zu seinem Problem gemacht. In der
Tat war es der naive Versuch der Milesier, zum ersten Maleeine Substanz vermittelst eines der sinnfälligen Stoffe zu fun-
dieren, an welchem Heraklits Denken sich entzündete. DerDingbegriff wird hier zum ersten Male zerstört; es w'ird aus-
drücklich auf das Denken Bezug genommen: und an Stelle des
Dinges tritt ^ als Prinzip ein geistiges, ein gedankliches Schema.So versteht es sjch , warum Heraklit zum ersten Kritiker der
Sinne und des Beitra£s der Sinne zur Erkenntnis werden mußte
;
so versteht es sich auch andererseits, warum Heraklit sich als
den eigentlichen Urheber der Philosophie betrachtet, warum er
seine Philosopheme mit solchem Selbstbewußtsein verkündet.
Wie kam es aber, daß das scheinbar so feste Ding so gar
nicht standhalten konnte.? daß Heraklit daran Anstoß nehmen,und es auch vernichten konnte? Thaies hatte Wasser gesagt,
Anaximenes Luft, — daraus entständen die Dinge, davon seien
sie bloße Abwandlungen; Anaximander hatte tiefsinniger dasäneioov ersonnen, — daraus sollten die Dinge nun hervorgehen,
ebendarein sollten sie letzten Endes auch zurückwandeln. Wiekam es nun, daß HerakUt überhaupt die ganze Sachlage um-stülpte, indem er gar nicht danach fragte, welches Ding es sein
9]Heraklit und Parmenides.
könnte, wovon alle anderen Dinge in ihrer bunten Mannigfaltig-
keit Modi wären? Denn die ganze milesische Problemstellung
schloß jedenfalls eine irgendwie milesisch geartete Antwort schon
notwendig in sich: „fragt" man erst nach einer Dingsubstanz, so
wird man schon auch eine ausfindig machen. Wie kam es
nun, daß Heraklit diese Problemstellung beseitigte, und so zu
einer ganz neuen Art von Lösung kommen mußte? — Es kam,
wie es in Dingen des Geistes, kraft der einzigen Denkkontinui-
tät, immer kommt: indem Heraklit den milesischen Gedanken-
gang einfach weiter und zu Ende dachte, entsprang das Neue
aus dem Alten ganz von selbst.
Versuchen wir nun den Milesiern ihrerseits gerecht zu wer-
den und erinnern wir uns der Erwägungen und Überlegungen,
aus denen heraus sie sowohl zu ihrer Problemstellung als auch
zu ihrer Lösung vermutlich gelangt sind. Was ist eigentHch
das beherrschende Bedürfnis, das der Geist angesichts der
Natur empfindet, sobald er zur Besinnung erwacht? Es ist doch
wohl Ordnung angesichts der Regellosigkeit. Die Natur, wie
sie uns unsere Sinne vorspiegeln, ist eine unaufhörliche Folge
von unendlichen, in bunter und tönender Pracht und Fülle sich
planlos aneinander schmiegenden Erscheinungen. Indem der
Geist sich diesen gegenüber befindet, kann er zu der Beruhi-
gung, die man Verstehen nennt, nur dadurch kommen, daß er
selbsttätig in das Getriebe der Erscheinungen eingreift, daß er,
wie man richtig sagt, sie zurechtlegt, daß er sie zum Ver-
ständnis bringt. Das Bedürfnis, welches der Geist empfindet,
kann man mit verschiedenen Namen belegen : Ordnung, Einheit,
Bestand, Sein, — das sind die gleichbedeutenden Sammelnamenfür das Eine, wodurch nicht weniger tätiges Mittel als ange-
strebtes Resultat ausgedrückt wird. Die Natur soll zum Ver-
ständnis gebracht, es soll eine Wissenschaft von ihr erlangt
werden; d. h. sie soll durch Ordnung und Einheit bewältigt
werden, sie soll mit Bestand und festem Sein belehnt werden.
Das einfachste Mittel nun, das sich dem eben erwachten
theoretischen Verstand darbietet, um dieses Sein zu ermöglichen,
ist eben die Postulierung eines bei allem Wechsel und Werdenimmer Seienden. Dies,_jiere_rste_ ordnende Begriff^^dessen sich
der wissenschaftliche Geist bedient hat, ist der Subsjanzbegriff
in seiner primitivsten Gestalt. Ein Stoff, dessen Auszeichnung
zu dieser Würde aus anderen Gründen hergeleitet wird, wird
jals Grundstoff, ja eigentlich als einziger Stoff angenommen.Und nun wird mit einem Schlage das Chaos durch eine Regel
10 H. Slonimsky, [iq
erklärt. Die Grundfrage nach der Verschiedenheit der Dingewird durch den Begriff der Veränderung (allerdings in mytho-logischer Fassung) aufgehellt: all die verschiedenen Dinge sind
nur die Veränderungen des einen wirklichen Dinges, — sind
bloß die Arten, die Verkleidungen, die proteusartigen Zuständedes einen Grundstoffs. Es ist derselbige Grundstoff, der immerzubloß anders wird; und in der Verkettung der verschiedenen For-
men dieses Andersseins besteht der Prozeß der Natur. — Abernicht bloß wird dieses erste Grundproblem aufgeklärt, sondernes wird, vermöge der angenommenen Lösung, auch überdies
die Zeit als das ordnende Schema für den Ablauf der werden-den Erscheinungen dunkel gefühlt, und ebenso der Raum für
ihre Lagerung.
Dieses erste Ergebnis wissenschaftlich -philosophischer Be-
mühung lag nun dem Heraklit vor, und zwar in drei bestimmtenSpezifikationen. Es mag nun so vor sich gegangen sein, daßschon dieser geschichtliche Bestand, nämlich das Vorhandenseindreier verschiedener Bestimmungen derselben Lösungsart, denHeraklit an der ganzen, allen dreien gemeinsamen Problem-
stellung irre gemacht hat. Aber dieser Geschichtsbestand ver-
mittelte ganz von selbst die Kritik des milesischen Standpunktes
von allgemein sachlichen Gesichtspunkten aus. Man sagt,
Wasser sei der Ursprung aller Dinge; man sagt aber auch, daßdie Luft es sei; und ferner auch, daß das Prinzip gar eine un-
bestimmte stoffliche Masse sei. Wie soll hier und überhaupt
entschieden werden.? gibt es überhaupt Gründe, welche nötigen,
einen Stoff vor allen anderen auszuzeichnen.'^ oder ist es nicht
vielmehr möglich, Gründe genug für jeden erdenklichen Stoff,
es sei Wasser, Erde, Luft, Feuer oder was sonst , ausfindig zu
machen.? Und so, indem alle Stoffe gegeneinander gleich gelten
müssen, ist es nicht gleichgültig, welchen man auszeichnet? underweist sich nicht eben dadurch — dies ist der entscheidende
Schluß, den HerakUt zieht — die ganze Stoffnachfrage über-
haupt als sinnlos.?
Zu solchen Erwägungen führt ohne weiteres das Gedanken-ergebnis der Milesier, aber auch noch weiter. Wenn es un-
statthaft ist, irgendein Ding zum Grundding zu erheben, wennes also demgemäß gar keinen Sinn hat, überhaupt nach einemDinge zu fragen, was bleibt dann von dem ganzen milesischen
System übrig.? Offenbar doch nur ein bloßes Verhältniszwischen nunmehr herabgewürdigten Dingen. Alle Dinge ohneAusnahme sind gleichgeltend, gleichgültig; keines verstattet dem
Il] Heraklit und Parmenides. II
andern den Vorzug : also heben sich alle gegenseitig, wasden Seinswert betrifft, völlig auf. Es gibt also keine
Dinge, es gibt in Wahrheit nur ein Werden von sogenanntemDing zu Ding.
""
Aber auch noch von einer anderen, spezielleren Seite aus
mochte Heraklit zu diesem Ergebnis, dem Grundstein seines Ge-dankenbaus, gelangt sein. Schon bei den IVülesiern, vornehmlich
aber bei den zwei letzten, wird ein Begriff in Anwendung gebracht,
um den Prozeß des Werdens selbst zu erläutern; — es ist dies
der Begriff des Gegensatzes . Dieser Begriff ist vitalistischen
Ursprungs; es liegt einer frühen Abstraktion nichts näher, als
ihn von den einfachen rhythmischen Bewegungen des organischen
und kosmischen Lebens (wie z. B. Ein- und Ausatmen, Lebenund Tod, Tag und Nacht, Winter und Sommer usw.) abzulesen
und sich seiner als eines Erklärungsschemas zu bedienen. Sotreten bei Anaximander die Gegensätze aus dem äneiQov heraus
durch bloße Bewegungen , bei Anaximenes durch Verdichtung
und Verdünnung des Grundstoffes Luft ; und als aus einerJVer-
kettung von Gegensätzen bestehend wird der Kreislauf der
Natur gedacht.
Diesen Gedanken rezipiert nun Heraklit ; indem__erjhn aber^
ausbaut, d. h. einfach bis zu seinen Konsequenzen, weiter denkt,
gelangt er — dies ist das Bezeichnende für Heraklit — zu
einer Vernichtung des Fundaments des Systems, aus dem er
entlehnt war. So wird aus diesem alten Begriff des Gegen-satzes das wirksamste Mittel zur Entwertung der alten, aller-
dings primitiven Fassung des Substanzbegriffs, wofür er dochfrüher selbst Ableitung und Stütze war. Man braucht bloß denGegensatzgedanken näher ins Auge zu fassen, und — was bei
Heraklits ohnehin aufs Paradoxe angelegter Natur um so schärfer
vor sich ging — ihri^wirkHcJi auszudenken, da erweist sich so-
fort die Unmöglichkeit, irgendein Ding in seiner. Identität.., fest-
zuhalten. Wenn der Naturprozeß wirklich aus einer Verkettungvon ineinander umschlagenden^Jji.egensätzen besteht — unddas soll er, jetzt erst recht — , dann ist es ganz ungereimt, vombleibenden Sein, yon_ d^r_&abstanzialitäLJrger^
reden. Denn wenn wir ein Seiendes zu haben vermeinen, ist
es schon in seinen Gegensatz umgeschlagen, und wenn wir nachihm in der neuen Gestalt haschen, ist es wieder umgeschlagen.Denn eigentlich ist das Ding nie, sondern wird nur immerzu.Von seienden Dingen dürfte also gar nicht die_Rede sein: als
einzig Wirkliches und Seiendes kann nur das Umschlagen selbst
12 H. Slonimsky, [12
angesehen werden. So wird aus der Kritik des DingbegrifFs
nunmehr ein zugespitztes Dogma: die Indifferenz der Gegen-sätze wird so weit gefaßt, daß sie, die sogenannten Dinge, als
bloß willkürliche Annahmen sich nun bescheiden müssen mit
der einzigen Aufgabe, den allein wirklichen Gang des Werdensum so besser zu akzentuieren.
Dieser Gedanke nun ist auf diese Weise bekanntlich zur
Grundanschauung Heraklits geworden; in mannigfachen Varia-
tionen bildet er das Grundthema seines Buches. „Die Dinge",
heißt es in seiner Bildersprache, „leben gegenseitig ihren Tod,
und sterben gegenseitig ihr Leben" (Fr. 62 ^j: t,ü)VTEg xbv exeivwv
'&avarov, röv de ixeivcov ßiov Te&veoneg)', so „lebt Feuer der
Erde Tod, Luft den des Feuers, Wasser lebt der Luft Tod,
und Erde den des Wassers" (Fr. 76, vgl. auch Fr. 126). Sogar
eine rein theoretische Fassung wird diesem neuen Gesichtspunkt
zuteil, was bei Heraklit besonders hoch zu bewerten ist : rdös yaQ
juerajieoövTa exeTvo. eoxl, xäxETva jidXiv fXEzaTieoövra ravra (Fr. 88).
„Wenn Dieses umgeschlagen ist, ist es Jenes, und Jenes
wiederum, wenn es umgeschlagen, Dieses." So wird das Ding,
indem es sowohl „lebt" wie „stirbt", ist wie nicht ist, auf-
gehoben; und als allein wirklich und gültig wird nun dieses
Sein -Nichtsein selbst, dieser reine Prozeß des Werdens hin-
gest ellt. Es gibt also — so können wir mit Piaton diesen
ersten Gedankengang Heraklits zusammenfassen — nur Be-
wegung, kein bleibendes Ding: ndvra x^Q^^ ^^'' ovöev juevei
(Cratyl. 402A); oder noch treffender: niemals ist eigentlich irgend
etwas, sondern immer nur wird es. — son juev yaQ ovöetiot ovÖev,
äel de yiyvExai (Theaet. 152D).
Bei dieser ersten Konzeption eines allgemeinen Werdensist nun Heraklit nicht stehen geblieben. Diese war allerdings
seine entscheidende, prinzipielle Gedankentat. Denn man be-
denke bloß, welch ein ungeheurer Schritt es war, da wo alle
Welt das Prinzip nur im Handgreiflichen, Stofflichen findea zu
können glaubte, von allem Sinnfälligen abzusehen, und etwas
rein Ausgedachtes, ein rein gedankliches Schema, wie es doch^
der neue Flußbegriff war, als Prinzip aufzustellen. Heraklit
schritt nun folgerichtig weiter zur Fortführung seines neuen
Gedankens, zu seiner Bannung und Befestigung vermittelst des
^) Die Fragmente werden durchweg nach der Dielsschen Zählung
angeführt.
1^1 Heraktit und Parmenides. I^
ebenfalls neuen, von ihm entdeckten Begriffs der Gesetzlich-
keit. Diesen zweiten und krönenden Gedankengang Heraklits
wollen wir nun ebenfalls in aller Kürze hier anzudeuten ver-
suchen.
Der neue Gedanke ist der Gesetzesgedanke. Heraklit be-
zeichnet diesen Gedanken, in den drei .verschiedenen Stufen,
die er bei ihm durchläuft, mit den Terminis justqov, Xoyog undtö oocpov. Woher so plötzlich dieser neue, wahrhaft weltgeschicht-
liche Begriff.'' Der Ursprung kann nur ein zweifacher sein:
erst.e_n5_. die Konsequenz aus dem eigenen ^ einmal eingenom-
menen Standpunkt; zweitens pythagoreischer Einfluß. Wenneinmal die entscheidende Tat geschehen war, das Prinzip nicht
in Dingen, sondern jenseits der Sinne, im Denken zu suchen,
was lag näher, als das neue gedankliche Schema, nämlich den
Flußbegriff, durch fernere gedankliche Bestimmungen zu gliedern,
und dann den allgemeinen Schluß zu ziehen, die Natur gehorche
überhaupt nur dem Xoyog} Dazu kam noch der Einfluß des
Pythagoras entscheidend hinzu. Diesen hat er gekannt (Fr. 40, 129),
und obwohl er die neue Mathesis gründlich verachtet und als
bloße Polymathie verschrieen hat, so hat er doch den Grund-
gedanken der neuen Lehre, nämlich die im Geistigen fundierte
Gesetzlichkeit der Naturvorgänge, sich zunutze gemacht, undden Begriffsausdruck fieiQov von ihr entlehnt.^)
') Wir nehmen eine direkte Beeinflussung Heraklits durch Pytha-
goras deswegen an, weil der Ausdruck i^iexqov, den Heraklit des öfteren
verwendet, auf jeden Fall ein pythagoreischer ist. Der Gesetzesgedanke
jedoch, der mit diesem Worte ausgedrückt werden soll, ist allerdings
schon bei Anaximander angedeutet; und wenn man bei der entschiedenen
Abneigung, die Heraklit gegen Pythagoras bekundet, eine unmittelbare Ab-hängigkeit des ersteren vom letzteren doch für unwahrscheinlich halten
sollte, so könnte m?n eine gemeinsame aber .voneinander unabhängigeAnlehnung beider an Anaximander annehmen^^ Das Gesetzesmotiv ist in
der Tat bei diesem schon wirksam. Nicht nur hat er als erster eine geo-metrische Konstruktion des Kosmos versucht (wie uns Diog. II, 1 be-
richtet, (XEorfviE rijv ytjv xsXodai xevtqov xä^iv EJisxovoav ovoav orpaiQOEtSfj),
sondern er hat nach den einzigen von ihm erhaltenen Worten (bei Sim-
plic, zitiert bei Diels p. 13 Nr. 9) gelehrt, daß Entstehen und Vergehender Dinge xaia x6 XQ^(^'^ geschehe. Fast dasselbe hat Heraklit Fr. 80:
yivöfiEva Jiävta xar' eqiv aal XQ^(i^l^^va (wo Diels j^ec/jv als Emendation vor-
schlägt). Ja, das ganze heraklitische Motiv von der rhythmischen Gliede-
rung des Werdens ist vielleicht bei Anaximander schon vorbereitet; diesem^wickelt sich nämlich der Werdeprozeß xaia Tyv xov xQÖvov xd^iv ab.
Andrerseits hat Anaximander sicherlich auch auf Pythagoras befruchtendgewirkt. So könnte man ihn als gemeinsamen Ausgangspunkt für beide
14 H. Slonimsky, mi^
Nichts beharrt, alles fließt; einzig dieses Fließen alleinldas
Werden selbst, ist das Dauernde, das Wahrhafte. Das WtHen
aber geht vor sich durch das Zusammenspielen, durchidie
gegenseitige Ablösung und stete Ausgleichung der Gegenslze.
Nun soll diese Ausgleichung eine streng rhythmi:jhe
sein; das Verhältnis, wonach die Gegensätze in|n-
ander umschlagen, wird für alles Werden als das glelhe
statuiert. Die Gegensätze müssen einander quantitativ |nd
qualitativ genau entsprechen, vom Ein- und Ausatmen biskur
Weltentstehung und Weltverbrennung. Während so alles ftßt
und nichts festzubannen ist, so ist dieses Fließen selbst dich
eine strenge Bestimmung eindeutig geordnet. Diesen neien
Verhältnisbegriff bezeichnet Heraklit mit dem pythagoreiscien
Terminus juergov, Maß . Es ist die erste Form, wohl auchllie
einzige Anwendung seines allgemeinen Gesetzesbegriffs, bo
sagt er (Fr. 31) vom Feuer, aus dem die Gegensätze herlr-
quellen und in das sie letztlich verschmelzen , daß es sich,|ls
Meer ergießt xal juexQeETai eig röv avxbv Xoyov öxoiog jiqö
f}v r) yeveo&ai yrj — „und erhält sein Maß nach demse]||n
Gesetz, wie es galt, bevor es Erde ward". Den ganzen Naprozeß beschreibt er ausdrücklich als das nach Maßen SEntzünden und nach Maßen Erlöschen des Urfeuers {Vr.
xöojuov Tovde röv avxbv ändvxcov . . . nvQ deiCcoov änxojuevov jusia
xal äjiooßevvvjuevov juexga). Dieses Gesetz gilt natürlich ir
alles Werden, obwohl unter den Fragmenten nur noch eini|il
vom Maßeinhalten der werdenden Dinge die Rede ist. „le
Sonne wird (nämlich: in ihrem täglichen Entzünden und V-löschen) ihre Maße (jueiga) nicht überschreiten, — ansört
werden sie die Erinyen ausfindig machen!" (Fr. 94.)
Dieses juexgov nun deutet auf einen zugrunde Uegendk
Xöyog: diese eine geoffenbarte Wirksamkeit einer Gesetzlichk;
deutet auf eine allgemeine, letzte, alles — die Welt der Nat'
sowie die Welt des Menschen — umfassende Gesetzlichke
„Das Weltgesetz ist wahr^) und alles geschieht nach dies^
ansetzen, wenn auch Heraklit den Ausdruck iuhgov direkt von Pythago
entlehnt haben mag.^) Ob man «oVro? dei zu verbinden hat, oder ob dsi sich auf d^vvsi
bezieht, ist eine Frage, auf die schon Arist. (Rhet. III 5, 1407 b) aufmerksa
macht. Das dsl findet genügende Erklärung durch das folgende xal jiq6o&s%
dxovnai xal dxovaavreg ro ttqcotov; und iovtog ist, wie Natorp (Forschungen 105
an Beispielen aus Herodot (so töv iovra Xöyov Xeysiv) nachweist, ggriechisch für: wahr, wirklich sein.
jc] Heraklit und Parmenides. 15
Gesetz", heißt es am Anfang seines Buches (rov de Xoyov rovö'
iovrog . . . yivofxevcov yoiQ Jtdvroov x.axa. xov Xöyov rövde, Fr. l);
und durch das ganze Buch hindurch und durch das ganze
Denken HerakUts ist dieser Gedanke der beherrschende. Dieses
Weltgesetz wird als die Gottheit hingestellt, in der sich alle die
Gegensätze vereinen (Fr. 6^), in der als in. der letzten Harmoniesie sich versöhnen (Fr. 102). Es ist die unsichtbare Urharmonie,
die hinter den Sinnendingen liegt (Fr. 54); es ist die letzte
Einheit (Fr. 10, 50). Es ist das ^vvov (Fr. 2, 89) , das allen
Gemeinsame, d. h. in unserer Sprache: das Objektive. Dieser
neue Begriff des G e m einsamen ist wohl das wichtigste der
Attribute, welche dem Logos beigelegt werden. Wir werdenspäter sehen, wie derselbe Begriff den erkennenden Verstandcharakterisieren soll, und so als Vermittelung der Korrelation
zwischen Erkennen und Natur dient. Zunächst jedoch kommtes ihm darauf an, durch ihn den Logos als das Objektive dar-
zustellen. „Obwohl das Weltgesetz allen gemein ist, leben dochdie meisten so, als ob sie eine Privatvernunft hätten", ruft
Heraklit aus, um diese Objektivität gegen subjektive Willkür
desto besser zu kontrastieren (rov Xoyov de eövrog ^vvov Cwovoiv
Ol nollol (hg iö'iav e'xovieg (pQ6vf]oiv, Fr. 2; vgl. auch Fr. 50, woder objektive 2.6yog vom geschriebenen Worte Heraklits unter-
schieden wird). Es ist schließlich das Alleinweise {sv rö oocpov
juovvov Fr. 32, £v rö oocpov Fr. 41, 00990?' Fr. 108); es heißt auchVernunft {yvcojW}]) und lenkt alles und jedes (Fr. 41).
Diese letzte und höchste Weisheit, diesen Xoyog,dieses oocpov zu erkennen, ist nun, nach Heraklit,alleinige und vornehmste Aufgabe der Phirösophie.„In einem besteht die Weisheit, die Vernunft zu erkennen, als
welche alles und jedes zu lenken weiß" {eJvai yäg ev rö 00-
<p6v, emoraodat yvc6ju?]v, örh] ExvßeQvrjoe Jidvra öid Jidvrcov, Fr. 41).
Dieser Spruch ist für das Verständnis Heraklits fundamental:dadurch unterscheidet er sich am tiefsten von seinen Vor-gängern, damit leitet er als erster die wirkliche und eigentlich
philosophische Forschung ein. Der naive Geist hatte sich
mit seinen Sinnenzeugnissen begnügt; die Milesier hatten wissen-
schaftliche Einzelforschungen getrieben: Hejaklit ist bestrebt^
eine letzte^ allumfassende, reine Gesetzlichkeit zu ergründen.Wie ist nun diese letzte Einsicht zu erlangen? Gewiß
nicht durch die Sinne. Denn sie sind bekanntlich schlechte
Zeugen, es sei denn daß sie von unbarbarischen, d. h. philoso-
phischen Seelen geleitet werden (Fr. 107, dazu die ErläuterungCohen und Natorp, Philosophische Arbeiten VlI 2
l6 H. Slonimsky, fjö
des Sextus VII, 126, der uns das Fragment überliefert). Manmuß zum Logos zurückgreifen, der jedem in höherem oderminderem Maße aus dem Gesamtlogos zuteil geworden ist.
Ist die Philosophie nun auf dem Wege der Milesier zu er-
langen? Nein. Denn so trefflich und wertvoll wie die Astrono-
mie des Thaies und die Physik Anaximanders, die Geschichts-
und Völkerkunde des Hekataios und die Mathematik des
Pythagoras alle auch sein mögen, — diese Männer bleiben
doch alle im Halben stecken, denn sie erheben sich nicht zu
einer einheitlichen, allumfassenden Weltbetrachtung. Die Mile-
sier trieben Naturforschung; er, Heraklit, strebt die Philosophie
an. TioXv^aMrj voov ov diddoxei (Fr. 40): Einzelwissen ist nochdurchaus nicht letztes, vereinheitlichendes Denken. Allerdings
müssen „philosophische Männer" „gar vieler Dinge kundig sein"
(Fr. 35); aber zu der Polymathie muß erst der voog, das neue„Denken" hinzukommen, um die Philosophie zu ermöglichen.
Diese Einheit der Zusammenfassung, dieses „Denken", wo-durch der Xöyog, das 00990^ erlangt werden kann, liegt also
nicht in den Einzeldingen der Sinnenzeugnisse, aber auch nicht
in den Einzelgegenständen der Naturforscher: es liegt allein im_
Imiem des Menschen . „Mich selbst", ruft Heraklit stolz aus,
„habe ich erforscht" (Fr. loi), aber auch „allen Menschen ist
es gegeben, sich selbst zu erkennen und danach ihr Denkeneinzurichten" (Fr. 1 16). „Das Denken ist allen gemeinsam"(^^vvov eoTi näoi x6 (pQovesiv, Fr. 113; vgl. auch Fr. 114, wo der
voog geradezu mit dem ^vvbv Ttdvxoiv identifiziert wird). Und ver-
mittelst dieses „Gemeinsamen", durch das Erforschen, Erkennen,
Denken {dH^tiodai, yivcßoxEiv, (pQoveTv, voeiv), ist der Logos zu er-
schließen. Aus dem Innern des Menschen, diesem allen Gemein-
samen, ist das Sein der Natur, eben dadurch und nur dadurch allen
gemeinsam, verständlich zu machen. Diese Korrelationssetzung
zwischen dem denkenden Ich und allem objektiven Sein ist das
Neue und Wertvolle an Heraklit; denn es ist das eigentlich
Philosophische, das wirklich hier zum ersten Male in die Erschei-
nung tritt. _
Den objektiven Xoyog der Natur bezeichnet Heraklit bedeut-
samerweise als rb oocpov, das Weise, die Weisheit: er deutet_
damit die Gleichartigkeit an, die zwischen des Menschen Er-
kennen und dem Sein der Natur obwaltet. Der Xöyog ist allem
^vvöv, auch der Mensch ist dessen teilhaftig; so darf der vomMenschen erkannte Xöyog fügUch ao99ov heißen: das Weise ist
nunmehr die Weisheit. Aber die Weisheit des Weisen, die
17] Heraklit und Parmenides. 17
Erkenntnis des Logos, besteht merkwürdigerweise nur in demEinen Satze, d aJ5__es jein__Weises gibt,_daß eine allgemeineGesetzlichkeit durch alles Sein obwaltet._JTerakiit begnügt^sTchmit dieser obersten allgemeinen Erkenntnis; denn wenn wir vomeinzigen Rhythmusgesetz absehen, so führt er gar nicht_aus —und darauf käme es doch eigentlich an —r wie das Weltgesetzsich entfaltet. Wir wissen nur, daß es das Letzte, die Gottheitist; daß es die Versöhnung aller Gegensätze ist; daß es hinter denSinnendingen als letzte Harmonie verborgen liegt (Fr. 54), kurzdaß es jenseits aller Erfahrung Hegt, und doch offenbar imallggmeinsten Sinne aller jErfahrung zugrunde liegt.. DieserTraiiszendenz, oder vielmehr Transzendentalität seines einzigen,
und letzten Prinzips hat Heraklit auch _ bestimmten Ausdruckverliehen; es heißt in seiner Sprache „etwas von allem Abge-sondertes": öxöocov Xoyovg ijxovoa^ ovöelg äq^ixveirai ig xovxo,
Sore yivcooxeiv oti oocpov eort Jidvicov xexfOQtofxevov (Fr. 108).
Dies ist wohl der krönende Stein in Heraklits Gedanken-bau: „Keiner von allen, deren Worte ich vernommen, gelangtdazu zu erkennen, daß das oo(p6v etwas von allem Abgesonder-tes ist." Was will eigentlich damit gesagt sein.?" Nun: wirwissen, daß dieses Weise mit der Weisheit zusammenfällt, daßes im näoi ^vvov, nämlich im Denken des „Ich selbst" (e^uscovzov)
entdeckt wird. Und dennoch soll diese Weisheit jenseits aller
Erfahrung liegen.? Es ist bei alledem nicht schwer zu erraten,
was Heraklit hier dunkel zum Ausdruck bringen will. Einletztes Prinzip, das von allem abgesondert ist und dennochallem zugrunde liegt, ist die erste Andeutung eines Begriffs,
welcher später dazu bestimmt war, der Grundbegriff aller wis-senschaftlichen Philosophie zu werden: rniL_^ser_ dunkelnAhnung des a priori beschließt Herakl it sein_Sys_t_em. Undder heraklitische Ausdruck findet Verwendung bei dem großenBegründer des a priori. Piaton gebraucht denselben Terminusfür denselben Gedanken, der natürlich bei ihm in ungleichreiferer, in kritischer Fassung auftritt. Die Ideen sind xexco-Qtojueva (so Rep. 524B); diese Abgesondertheit ist aber dieReinheit der Grundlegungen auf, die sich die Erfahrung aufbaut.
Das^lierakliüsche xe^Qto/Lievov ist somit ein unmittelbarer Vor-bii£k_auf_^die_ platonische Idee.
" ~
Nach der positiven Darlegung der Thesen Heraklits wollenwir zum Versuch übergehen, dieselben einer Würdigung undKritik vom sachlichen Standpunkte aus zu unterziehen. —
l8 H. Slonimsky, ["jg
Die einfachste Überlegung über Wesen und Art unserer
Erkenntnis und über ihr Verhältnis zu ihrem Objekte belehrt
uns, daß ihr einziges Ziel, von den triebhaftesten Anfängen an
bis zur höchsten Wissenschaftlichkeit hinauf, einzig und allein
die Feststellung eines Seins ist. Dieses Urbestreben spiegelt
sich schon in den Rudimenten der Sprache. Das verbale Sub-stantivum, das Substantive Verbum: Sein ist Ausdruck für
niedrigste und höchste Realität, für Realität schlechtweg. Die
Realitätsverleihung liegt in der einfachen Prädikation dieses
Verbums, und als Hilfsverbum verleiht es Realität anderen
Verba; und keine feierlichere Realität konnte sich der alte
Gott bezeugen als die, da er sich Sein beilegt.
Das natürliche, vorwissenschaftliche Erkennen glaubt auch
ein Sein zu haben, ein Sein in den Dingen, und zwar glaubt es
dieses Seins der Dinge habhaft zu sein, weil uns die Dinge
durch die bloße Anschauung gegeben zu sein scheinen, in aller
Sicherheit und in aller Festigkeit. Die wissenschaftliche Re-flexion, wie sie in Hellas begann, unterschied sich von diesem
Standpunkt nur insofern, als sie den Seinswert und den Seins-
anspruch aller Dinge auf ein einziges Ding als auf deren Ur-
sprung zurückleitete , und vermittelst dieser Substanzialisierung
des einen Dings die Einheit der Natur feststellte. Darin bestand
ihre Wissenschaftlichkeit, darin ihr ungeheurer Fortschritt über
das natürliche Erkennen hinaus. Denn sie'verwandte ein Denkenauf die Natur, und das Denken ist schlechtweg vereinheitlichend.
Dennoch blieb der ersten Wissenschaft und dem vorwissen-
schaftlichen Bewußtsein das Eine gemein, daß Sein und Realität
der Dinge noch weiterhin als durch die Sinne gegeben unddurch sie hinlänglich gesichert gedacht wurden. Ja, dies war
so selbstverständlich, daß der Tatbestand nicht einmal zum Be-
wußtsein kam.
Diese Vorerinnerungen sollen uns das Verdienst Heraklits
desto besser würdigen lehren. Indem er das eingefleischte,
mit den tiefsten und zähesten Wurzeln eingebettete Vorurteil
vom Sein der Dinge durch ihre bloße sinnliche Gegebenheit
ausrottete, vollbrachte er einen Fortschritt, wie es der war, da
seine Vorgänger die Natur vereinheitlichten und als erste eine
Wissenschaft schufen. Denn als er gegen die Gegebenheits-
aussagen der natürlichen Anschauung sein: Nichts ist gegeben.
Es ist nichts gegeben, entgegenstellte, redete er dem wissen-
schaftlichen, dem philosophischen Denlcen das Wort. Mit dieser
Einsicht fän^t alle wahre Wissenschaft, allo rhilosophie an. Und
jgl Heraklit und Parmenides. jg
im Bewußtsein des grundlegenden Charakters dieser Einsicht
mochte wohl Heraklit sich als den ersten Philosophen fühlen.
In der Tat zeugt es schon von einem sehr vorgerückten
Stadium theoretischer Reflexion, wenn man der sinnlichen An-
schauung so unerbittlich und gründlich den Krieg erklärt, uman deren Stelle ein gedankliches Schema zu setzen. Denn was
könnte vertrauenswürdiger erscheinen als die so bestimmten
Berichte, die uns unsere Augen vom Dasein der Dinge erstatten?
Erst die eingehende Prüfung beginnt an der Festigkeit des
Dinges zu rütteln, und vollends wird das Ding vernichtet und
in ein System von Beziehungen aufgelöst durch das wissen-
schaftliche Denken. So fängt es Heraklit in der Antike an, so
Descartes in der Neuzeit. Das sinnliche Stück Wachs zer-
schmilzt unter dem Kreuzfeuer des kritischen Verhörs; es ver-
schwindet, es hält nicht stand. Aber da, wo man so leichthin
auf das scheinbar Sicherste verzichtet, wo man an der sinn-
lichen Anschauung so ganz und gar nicht sein Genüge haben
zu können meint, da muß es etwas Anderes, Sichereres undMächtigeres geben, worauf man vertraut. In der Tat ist es die
Besinnung auf einen anderen Faktor der Erkenntnis, nämlich
auf das Denken, welche zu der Kritik der Sinnenzeugnisse
hintreibt. Es mögen uns die Sinne vergehen, denn in der Er-
kenntnis ist das Denken souverän: — dies ist der treibende
Gedankengang sowohl bei Descartes als bei Heraklit.
Hierin liegt die tiefe Berechtigung der Kritik, die Heraklit
am Beitrag der Sinne zur Erkenntnis übt. Schlechte Zeugen sind
uns Augen und Ohren, verkündet er als erster; denn da, wosie Sein vorspiegeln, entdeckt das Denken nur Fließen, Werden,Prozeß. Das ist eben Sinn und Bedeutsamkeit der herakliti-
schen Kritik der Sinnlichkeit, daß sie nicht vereinzelt und un-
vermittelt als ein obiter dictum auftritt, sondern im Zusammen-hang der Fragen nach einem echten Sein. Der Geschichtsbestand
ist höchst instruktiv: wo zum ersten Male die Erkenntnis der
einzigartigen Kraft des Denkens für die Erfassung der Natur
rücksichtslos und unzweifelhaft auftaucht, wo der Logos zumersten Male in die Schranken tritt, da entsteht auch zum ersten
Male die Verwerfung der Prioritätsrechte der Sinne. In denFragen nach der gegenseitigen Mächtigkeit, nach den gegen-
seitigen Gerechtsamen von Sinnlichkeit und Denken in bezugauf die Ergründung eines Seins, wird dieses Richterurteil gefällt.
Aber auch nicht einseitig. Denn keineswegs sollen uns die Sinne
vergehen; im Gegenteil: „Alles, was man durch Sehen und Hören
20 H. Slonimsky, [20
lernen kann" {öooov öipig dxoi] jud'&i]oig, Fr. 55), ist dem Philo-
sophen höchst willkommen; nur darf dabei die Seele nicht eine
barbarische sein (Fr. 107), denn bei allem Dienste der Sinnedarf nur sie, die Seele, urteilen und entscheiden. Barbarisch
ist eben die Seele, die sich den Sinnen unterwirft, die die Sprache,
die Aussagen der Sinne nicht richtig verstehen und auffassen
kann. Deswegen hat auch der Terminus vöog (Fr. 40, 1 14)einen präzisen, systematischen Sinn; es ist eben die Bezeichnungder Souveränität des zusammenfassenden Denkens gegenüberaller Sinnlichkeit und gegenüber bloßer Polymathie.
Die sinnliche Anschauung teilt uns ein Sein mit. Dieses
Sein soll nicht als Sein gelten dürfen. Denn das Denken ist
mit diesem Sein nicht zufrieden ; das Denken will es durch ein
echteres, sichereres, stichhaltigeres, kurz denkgemäßes Seinersetzen. Dies ist doch offenbar der gedankliche Hebel bei der
Einleitung der antiken wie bei der der neueren Philosophie. Des-cartes löst das Sein des Stückes Wachs in Nichts auf. Er schreitet
aber folgerichtig weiter, um das Versprechen seines Anfangs zu
erfüllen. Er reduziert das Stück Wachs auf den Raum, den es
einnahm, und die Anschauungsgeometrie, in der der Raumbesteht, reduziert er weiter auf seine neue reine Denkgeometrie.In diesem Denken erlangt es feste, unerschütterliche Grundlagen;
es wird dadurch zu einem Gegenstand objektiviert und an seinemSein ist nun nicht mehr zu rütteln: es hat jetzt ein denkge-mäßes Sein, und wird „mit eisernen und stählernen Gründen"festgehalten. Heraklit beginnt auf gleiche Weise: er löst die
Sinnendinge vollständig auf, denn das Denken entdeckt, daßsie kein wahres Sein darstellen. Also soll doch dieses Sein
durch ein wahreres Sein ersetzt werden, — das ist ja das Ver-sprechen, welches die Auflösung enthält. Hält er nun dieses
Versprechen ? Was ist das Analoge im heraklitischen Denkenzum wahren Sein, welches Descartes aufrichtete.''
Diese Frage, und die Antwort auf diese Frage, enthüllt
mit einem Schlage die großen Schwierigkeiten, in welche die
heraklitische Philosophie verwickelt ist. Der Prinzipien gibt es
bei Heraklit, wie wir wissen, zwei, nämlich den Satz vom Wer-den und den Begriff des Logos. Prinzipien sind schlechtweg
Seinsprinzipien; wenn dies bei dem ersten nicht sofort ein-
leuchtet, so mag man bedenken, daß es zweiseitig gedacht
werden kann: neben dem negativen, vorbereitenden und kri-
tischen Element , welches es enthält , muß auch ein positives
Seinsmotiv angenommen v.erden. i\Ian redet sicherlich im Sinne
2il Heraklit und Parmenides. 21
Heraklits, wenn man den Satz vom Werden mindestens zugleich
auch als ein Seinsprinzip auffaßt. ,Das .W.er.dea...S£di_aLs£L_ak_
Prinzip der seienden Dinge gelten . Zwar entwertet es zunächst
diese övra, d. h. die oVra sind nichtseiend in bezug auf das Werden;aber gerade deswegen kann das Werden, dieses Nichtsein, erst
recht Prinzip der sogenannten Seienden sein. In WirkUchkeit
wäre also das sogenannte Nichtsein, nämlich das Werden, ein
echtes und wahres Sein, und das sogenannte Sein der Dinge
in bezug auf ihr Prinzip nichtseiend. Denn aus dem Werden,gleichsam als die Knoten- und Bauchpunkte der hin- und her-
eilenden Wellenlinien des Werdens, ballen sich als momentane,vorübergehende Illusionen die Dinge zusammen. Ungefähr so
hat sich Heraklit das Entstehen der Dinge aus dem Gegensatz-
prozeß des Werdens gedacht. Nehmen wir also demgemäßversuchsweise an, daß der Satz vom Werden, nicht wie es all-
gemein aufgefaßt wird, einfach die Leugnung des Seins zu
bedeuten hätte , sondern primär für Heraklit als Prinzip des
Seins zu gelten hat.
Die Hinfälligkeit aber dieser für Heraklit günstigsten Auf-
fassung leuchtet sofort ein, wenn man sich klarmacht, was Hera-
klit unter Sein verstanden hat. Nun wissen wir, daß das Wer-den als Prinzip höchstens für ein unterminiertes Sein gedacht
wurde, daß also Heraklit eigentlich nie über den gemeinenBegriff des Seins hinausgekommen ist. Andrerseits aber ist
die^ Auffassung vom aufbauenden, also vom Seinswext des
Werdens nur dann aufrcchtzuhalten , wenn Heraklit sein
Werden als ein Werden für ein echtes, stichhaltiges Sein ge-
dacht hätte; dieses Sein wäre dann im Denken oidrjQoTg xal
ddajuavTivoig Xoyoig so zu begründen, daß es eine Korrelation
mit dem Werden bildete, dergestalt, daß das Sein die klärenden
und ordnenden Grundlagen für das Werden abgäbe, das_Wer-.
den dagegen zum Einhalten eines regelmäßigen Schritts durch
die Befehle des Seins gezwungen würde, und so in dieser Korre-
lation Sein und Werden zusammen den Gegenstand ^er Naturwirklich darstellen^ würden. Aber gerade diese Seins-
grund lagen zu errichten hat'' Heraklit versäumt; — ja,
das auflösende Element in seinem Prinzip verfährt so gründlich,
daß es das Positive darin gänzlich verdrängt : Heraklit hat nicht
nur kein wahres Sein als Unterlage für sein Werden, erdacht,
sondern das Werden verbiet et ^e^^ im Überschwange der
Opposition zu den oVra, irgendwelches Sein aufzustellen. Durchdiese Vermengung von övra und ovoia, wie wir in der Termi-
22 H. Slonimsky, 22
nologie einer späteren Denkweise sagen können, wobei mit derVernichtung der öna zugleich auch jede ovoia unmöglich sein
soll, verbleibt das Prinzip des Werdens vorherrschend und bloß
negativ. Weil also ein Sein nicht erdacht^worden war, um das
Werden zu ordnen, mußte das eben dadurch nicht zur Klarheit
gediehene Werden seinerseits jedes Sein angreifen und nicht
aufkommen lassen. Das Werden blieb so in der Luft hängen.
So sehr also sind gesunde und hinfällige Motive im hera-
klitischen Denken verknüpft, daß es nicht gelingen will, das
Seinsbestreben, welches doch ursprünglich mindestens mit gedachtwurde, selbständig aufzustellen. Das Werden, das ursprünglich
ein wahres gedankliches Sein den övra gegenüber darstellen sollte,
gestaltet sich weiterhin zur einfachen Leugnung alles Seins, d. h.
zur eigenen Aufhebung seines ursprünglichen Motivs. Und so
blieb und wirkte es einseitig negativ.
Wie das Merkwürdige vor sich gehen konnte, daß auf der
Suche nach einem Sein man nicht zum Nichtsein als zur Quelle
eines Seins, sondern zur reinen Negation, zum Nichtsein alles
Seins gelangte, ist schon oben angedeutet worden. Es wardie Überspannung einer notwendigen Vorbereitungsarbeit. Ein-
leitung aller Wissenschaft und aller wissenschaftlichen Philo-
sophie ist die Abwehr der Sinnendinge, die Klarlegung des
Bodens für Fundamente. Das war ja Heraklits unvergleich-
liches Verdienst. Weil er aber mit dieser Ausgrabung so sehr
beschäftigt, weil er von ihrer Wichtigkeit so durchdrungen war,
so konnte es kommen, daß er diese Arbeit als das einzig
Wichtige beim ganzen Geschäft des Bauens anzusehen sich all-
mählich gewöhnte. Die ersten Anfänge in der Geschichte des
wissenschaftlichen Geistes sind eben einseitig und lapidar. Manhat genug und übergenug mit einem Vordersatz; ein neuer
Genius muß seine ganze Kraft darauf verwenden, den Nachsatzzu ersinnen.
Es kann an dieser Stelle sofort eingewendet werden, daßHeraklit neben der Leugnung alles Seins doch eben auch denLogos entdeckt hat, und daß dieser gewaltige Begriff doch sehr
wohl für die Errichtung eines Seins gesorgt haben dürfte. Da-gegen mag es vorläufig schon genügen auf eines hinzuweisen,
nämlich auf die bloße Dualität der Prinzipien bei Heraklit, d. h.
ayLdig_Neliej:ire-gentschaft des Prinzips des Werdens neben deraljein seinsollenden Regierung des Logos; — .auf_die Dualität
der Prinzipien und auf ihre Gleichberechtigung, d. h. auf die
Tatsache^ daß der Logos es nicht vermocht hai^t, das Werden
23] Heraklit und Parmenides. 23
zu unterjochen und so ein seiendes Werden aus ihm zu ge-
stalten._ Vom einzigen Ansatz seitens des Logos, das Wer-den vermittelst der Rhythmusbestimmung zu regeln, wollen wir
im Moment absehen.
Kehren wir nun zur Betrachtung der ersten der ThesenHeraklits zurück, und sehen wir zu, was sie eigentlich in sich
birgt. Zuerst eine Erwägung prinzipiellster Art. Heraklit be-
gann damit, das sinnliche Dasein aufzulösen, und glaubte in
seinem Eifer zu dem Schlüsse kommen zu müssen, alles Sein
schlechtweg zu leugnen, und dieses Resultat allein als einzig
haltbares hinzustellen. Einziger Bestand wäre also das Nicht-
sein, das unaufhörliche Werden der Dinge. Das Werden als
Prinzip ist aber eine einfache Verwechslung von Problem undLösung. Dejjin_während es ewige Aufgabe i.st, ans Nichtsein
^^ilL_.^lL-^^ll^.^^"j--I^l^t6t Heraklits Lösung und Losung: das
Nichtsein selbst [sj einziges Sein. Grundproblem aller Ngfiir-
erkenntnis ist die Veränderung; für Heraklit aber ist die Ver-änderung Grundgesetz. Dies ist der allgemeinste und funda-
mentalste Ausdruck für die verhängnisvollen Folgen, die aus
der Annahme eines seinslosen Werdens entspringen.
Aber auch zu der näheren Beleuchtung dieser Folgen mußfortgeschritten werden, wenn anders die starre Replik des Parme-nides soll verstanden werden können, nicht minder aber auch der
schUeßliche Austrag der heraklitisch-parmenideischen Giganto-
machie bei Piaton. Die Problemgestaltung, wie sie hier vor-
liegt, kann kurz und bündig gefaßt werden. Was heißt es, das
Sein aus dem Naturprozeß verbannen und den ausschließlichen
Nachdruck auf den Prozeß allein verlegen? Es heißt nichtsande res, als den Prozeß selbst unbegreiflich, d. h. u n-
mögli ch machen und aufheben. Denn legt man nicht ein
konstantes, sich erhaltendes Etwas zugrunde, wovon sollen danndie Veränderungen Veränderungen sein.? Dieses konstante Etwasheiße nun Materie, Energie oder wie es wolle, die Forderungbleibt unumstößlich bestehen: daß es da sei und daß es beharre;
dann, aber auch nur dann, wird das Werden selbst verständlich
als der Prozeß der Gestaltungen und Formveränderungen dieses
Etwas. Das Werden ist ja schon dem Begriffe nach der In-
begriff der Bestimmungen der Substanz. Heraklits große Ein-
seitigkeit aber wagt es, das Werden aufrecHtfialten zu wollenohne die Basis der aufrechthaltenden Substanz. „Zwar könnteman einen Augenblick versucht sein, sein Feuer als einen Grund-stoff anzusprechen, somit als eine, wenn auch primitive Sub-
24 ^- Slonimsky, r24
Stanzkonzeption. Dennoch ist bekannt, daß das Feuer aus-
gezeichnet wurde nicht um ein Sein, sondern gerade um das
Nichtsein selbst desto besser darzustellen, d. h. als konkretes
Syrnbgl des Werdens zu dienca;_iind wenn noch irgendein"
Zweifel über das Fehlen eines Seins in diesem System bestehen
sollte, so wird er zerstreut, wenn man sich bloß daran erinnert,
daß im heraklitischen Denken der Satz vom Werden allein als
souveränes Prinzip unumschränkt herrscht. ^)
Die Grundform des Werdens ist die Bewegung; die imSein enthaltene Grundforderung läßt sich auf die Beharrungreduzieren. Nun ist es gleichfalls unmöglich die Bewegung zu
definieren, sie also entstehen zu lassen, ohne die Grundlage der
Beharrung. Zwar hegt der reine Begriff der Bewegung außer-
halb des Gebietes der heraklitischen Reflexion ; aber auch sein
zentraler Begriff des Werdens ist noch nicht zur sprachlichen
Fixierung gediehen: dennoch sind es zweifellos diese beiden
Begriffe, mit denen er hauptsächlich operiert. Und ein Eingehen
auf die Bew'egung ist schon deswegen geboten, weil Heraklits
großer Widersacher die heraklitische Antithese von Werdenund Sein auf die von Bewegung und Beharrung reduzierte, umsie so in größerer Klarheit analysieren zu können. Die Be-
wegung ohne Beharrung statuieren zu wollen, ist ein so wider-
spruchsvolles Beginnen, daß man umgekehrt vielmehr die Be-
wegung als eine Art von Beharrung nachweisen kann. Das war
^) Der einzige mir bekannte Versuch, Heraklit die Substanz zu vindi-
zieren, ist neuerdings von B. Bauch (Das Substanzproblem in der griech.
Philos., Heidelb. 1910) gemacht worden. Seine Argumentation läuft darauf
hinaus, den Fluß selbst, den Wechsel als solchen als das Beharrliche dar-
zustellen. Dies aber scheint mir nichts anderes als eine einfache petitio
phncipii zu sein. So sagt er z.B. p. 35: ,,Heraklit leugnet so wenig das
Sein, daß er es vielmehr in den ewigen JWechsel, der ihm ja selbeFls t,
als ewig setzt." Ich vermag beim besten Willen hierin nichts anderes
als eine Subreption der Begriffe zu sehen. Eine viel glücklichere Be-
gründung seiner These findet sich pp. 36 f., wo Bauch die Maßbe-stimmung als das Beharrliche im Wechsel anführt. Was nun diesen
Gedanken betrifft, so müssen wir auf unsere Auseinandersetzung mit ihmim Laufe der Arbeit selbst verweisen und es dabei bewenden lassen. —Gewiß hat Heraklit durch seine großartige Einseitigkeit das Problem der
Substanz aufgeworfen und geradezu formuliert, wie Bauch ausführt (p. 25);
aber nicht, weil er es irgendwie_positiv i^tlTisi, scHulern gerade weil er es
aufs bestimmteste und kühnste beiseite j^rschnbuii hat. Im übrigen scheint
es mir, daß der zentrale Kern der gesamten griechischen Philosophie,
nämlich die Fundamentierung der Logik, die in Parmenides und in Piaton
entsteht, nur dann historisch verständlich wird, wenn es sich mit Heraklit
so verhält, wie wir es versucht haben darzustellen.
25] Heraklit und Parmenides. 25
der parmenideische Gedankengang; dieser ist also komplemen-
tär zu dem des Heraklit. Die Bewegung ist die reine räum-
lich-zeitliche Veränderung. Soll nun eine Bewegung entstehen
können, so muß erstens das sich bewegende Etwas als iden-
tisches beharren ; es muß zweitens jeder Punkt des durchlaufenen
Raumes beharren, um jedem gleichfalls als 'beharrend gedach-
ten Zeitpunkte eindeutig zugeordnet werden zu können; es
muß somit der Raum als ganzer und die Zeit als ganze eben-
falls beharren. Es beharrt also in der Bewegung schlechtweg
alles; allerdings ist das beharrende Gebilde ein bewegtes:
dennoch ist es klar, daß ohne die Beharrung es überhaupt keine
Bewegung geben könnte. Somit ist die beharrungslose Be-
wegung ein Unding.
Es führt also die heraklitische These vom Werden ohne
Sein zur Aufhebung des Werdens selbst, zur völligen Anarchie.
Dieses Ergebnis, diese Einsicht forderte zur Korrektur auf; diese
isT^ann^uch]_durc^einer Gründlichkeit, welche ihn zu der entgegengesetzten Ein-
seitigkeit hingerissen hat . Es hieß nun: Sein ohne Werden .
Wenn aber gleich Sein und Werden nur in strengster Korrelation
als fruchtbar sich erweisen können, so ist doch der Seitisstand:
punkt sozusagen i)l'im§.Cx_ii^L_:des_ Werdenj dag^egen sekundär^
Deswegen ist die parrnenideische Einseitigkeit logisch gerecht-
fertigter als die Heraklits. Denn Sein findet im Denken statt,
Sein ist das Sein der Gebilde und Erzeugnisse des Denkens;
Werden dagegen findet in der Natur statt, Werden ist der all-
gemeine Ausdruck für das Naturproblem. In das Netz der
seienden Gebilde des Denkens fangen wir das rastlose Werdender Natur ein. Wenn also festfundierte Seinsgrundlagen in
Bereitschaft stehen, so kann man ruhig abwarten, bis sie in
Wirksamkeit treten — wenn anders eine solche Wirksamkeit
schließlich erfolgen soll; dagegen kann man den umgekehrten
Gang vom Werden zum Sein schwerlich machen. Das Sein lür
sich ist schon ein gutes Stück Weg zum Sein; das Werden für
sich ist nicht einmal Werden, sondern Nichts.
Aus dieser letzteren Einsicht, aus der Einsicht, daß ein
Werden ohne Sein zur Anarchie, zur völligen Aufhebung der
Möglichkeit irgendeiner Erkenntnis führt, erklärt sich die ganze
Wucht, das ganze Pathos der parmenideischen Polemik. Natur-
erkenntnis und Natur stehen in einer unlöslichen, sich gegen-
seitig bedingenden Einheitskorrelation. Wie wir sie erkennen,
danach ist die Natur; und wie wir sie ursprünglich konstruiert
26 H;. Slonimsky, [26-
haben, danach ist auch unsere Erkenntnis von ihr. jst nun nachHeraklit alles in der Natur im Flusse; gibt es nach ihm nichts
in ihr^ was auf Bestand Anspruch erheben könnte, dann ist
natürlich auch nichts Allgemeingültiges in ihr zu erkennen, dannist jede Allgemeingültigkeit beanspruchende Aussage unmöglich.
.' FJat man von vornherein Sein aus der Natur verbannt, so..J_st
ij natürlich auch Wahrheit dahin. Denn nunmehr kann nur das.hödistens als Wahrheit gelten, was uns unsere Sinne Wechseln-|des,_und Flatterndes mitteilen, — nur das, was hie et nunc als
jwahr genommen wird. Die Wahrheit reduziert sich, ^uf etwasindividuell-momentanes ; d.h. alleinige Wahrheit ist nunmehr
,Wahrnehmung. So begibt sich das Tragische im Heraklitis-
mus: daß bei aller anfänglichen Kritik der Sinnlichkeit, bei
allem Predigen des Logos, nur eine sinnliche Erkenntnis sich
behaupten läßt. Die Konsequenzen aus der Sinneskritik wareneben nicht gezogen worden, der Logos nicht angewandt undverwertet.
Dieses schlichte Resultat des Heraklitismus , daß nämlichnunmehr von irgendwelcher Bestimmtheit, von irgendwelcher
Erkenntnis gar keine Rede sein könnte, — dieses war es, wasParmenides dumpf und bitter empfand, und was zu bekämpfener sich berufen fühlte. Die verbissene hamletische Disjunktion
:
Sein oder Nichtsein erklärt sich nur aus der erschreckendenAussicht, daß wir nichts sollen wissen können. Denn das warja der unmittelbare Schluß, der aus Heraklits Buch zu ziehen
war. Nichts verhält sich gleich, sondern während wir es aus-
sprechen, wird es sogleich ein anderes. Wenn aber nichts mitsich selbst identisch ist, wenn ferner keine mit sich selbst iden-
tische Bestimmung festgehalten werden kann, dann ist es natür-
lich unmöglich, irgend etwas von irgend etwas auszusagen.
Nichts ist zu erkennen, denn nichts ist.
Nicht einmal das Falsche ist im Heraklitismus möglich.
Denn das echte Falsche ist nur durch die Möglichkeit der Wahr-heit möglich. Denn nur wo eine Identität statuiert worden ist,
kann ihr widersprochen werden: wo aber kein Sein ist, da kannes auch natürlich nicht geleugnet werden. Deswegen entsteht
der Satz vom Widerspruch erst bei Parmenides an und mit demSatze der Identität. Heraklits Werden aber stellt sich als wederein Sein, noch (weil eben dieses fehlt) als ein Nichtsein heraus,
sondern als ein unfaßbares Gemisch von beiden, ein seiendes
Nichtsein, wo sowohl dem Sein als dem Nichtsein das Rückgrat
fehlt. Im Flusse der ineinander taumelnden Gegensätze gibt
27] Heraklit und Parmenides. 2/
es keinen zugrunde liegenden Träger des Werdens, deswegen
kann er nur sagen, Sein und Nichtsein sind dasselbe; Parmenides
aber übersetzt dies: Dasselbe ist und ist nicht, um aus diesem
Widerspruch zugleich die Identität fest zu schmieden und zu ver-
ankern; — wie ja auch Heraklit, sobald er etwas zum Subjekteiner Aussage macht, von seinem eigenen Sprachgebrauch Lügen
gestraft wird. jioTajucb yäg ovx eoriv ejiißfjvai dlg rcp avrcp (Fr. 91)
heißt es bei ihm, denn jiorajuoToi roloiv avxoioiv ejußatvovoiv erega
xal erega vdara emggeX (Fr. 12): nun mögen die Wasserteilchen
andere geworden sein, der Fluß „selbst" aber, der Begriff des
Flusses bleibt, und den hat er ja im ko avico, in zoToiv
avxoToiv, und den kann ihm auch kein Strom wegschwemmen.So entsteht Parmenides aus Heraklit: die Aufhebung der
Erkenntnis führt zum Widerspruch ihrer Stabilierung. Genauderselbe Kampf spielt sich ein Jahrhundert später zwischen
Piaton und der Sophistik ab. Und tatsächlich gingen alle die
gegen eine Erkenntnis gerichteten Bestrebungen des Protagoras
und des Aristipp sowie ihrer Schüler ausdrücklich auf Heraklit
zurück. Denn der HerakUtismus ergibt als schlichte Konse-
quenz den Protagoreismus : „der Fluß aller Dinge erklärt die
grenzenlose Relativität aller Vorstellungen, welche der Satz des
Protagoras ausspricht" (Natorp, Forschungen, p. 20).
Heraklit hat den Logos gelehrt. Das Bewußtsein davon
mag uns sehr wohl in unserer Darstellung halt gebieten. Alles
Sein hat er geleugnet — dies steht fest; Parmenides kann
sich gar nicht genugtun in seinem Eifer gegen diese Doktrin,
und Piaton ebenfalls nicht gegen dieselbe Doktrin bei den
Herakliteern seiner Zeit: diese zwei wären schlechterdings
nicht zu verstehen, wenn es sich nicht um Heraklits Lehre so
verhielte, wie wir es darzustellen versucht haben. Und den-
noch hat Heraklit den Logos erfunden. Und der Logos tritt
bei ihm nicht etwa lallend auf, sondern in voller, selbst-
bewußter Gestalt. Er bedeutet bei ihm dreierlei. Er_bedeutet_
erstens das einzelne Gesetz (freilich hat er bloß ei n einzi ges).
Er bedeutet ferner das ^Iittelj_jvoduj-ch _Ge^etze^^ erschlossen
werden, nämlich das Denken, den Verstand. Und schließlich
b ejdeutet er den Inbegriff aller Gesetzlichkeit und aller Wahr-
heit, also das Seiende schlechthin, was er Gottheit nennt, oder
Endharmonie, oder einfach t6 oocpov. Wie in aller Welt reimen
sich nun diese beiden Lehren zusammen? — diese Leugnungalles Seins und diese Postulierung alles Seins? Denn beide
Lehren hat er gelehrt, beide mit unverkennbarem Nachdruck
28 H. Slonimsky, [28
vertreten. Wahrlich, von allen Rätseln, die uns dieser Mannaus Ephesos aufgegeben hat, ist dieses das dunkelste.
Indes, bevor wir das Verhältnis der beiden Lehren zuein-
ander zu beleuchten versuchen, wird es ratsam sein, zunächst
die Lehre vom Logos für sich zu betrachten. Erinnern wir
uns kurz an das oben schon Ausgeführte. Alles ist Werden;das Werden aber besteht im Ausgleich der Gegensätze; dieser
Ausgleich nun ist für alles Geschehen ein gleicher, er geht vor
sich nach einem unveränderlichen juergov; das juergov ist nunseinerseits die Wirkung des allgemeinen, zugrunde liegenden
Logos: also regelt der Logos auf diese Weise das Werden.Wie ist der Logos zu erkennen.^ Nicht durch die Sinne; nicht
in den Einzelwissenschaften; ihn zu erkennen ist Aufgabe der
Philosophie. Er wird im Denken erschlossen, im vereinheit-
lichenden Denken, welches Jiäoi ^vvöv ist. Damit aber kommenwir zu einem Begriff, welcher für das Verständnis des Logosund der ganzen heraklitischen Philosophie grundlegend ist.
Sehen wir uns nun etwas in den Fragmenten um, um Auf-
schluß über diesen Begriff zu erreichen. Der Logos, heißt es
(Fr. 2), ist das „G emeinsame ", wiewohl die meisten so leben,
als ob sie eine Privateinsicht hätten (rov loyov de eövrog ivvov^(oovotv Ol JioXXol cbg tdiav eyovreg (pgovrjoiv)
; das heißt dochwohl, der Logos, das Weltgesetz ist etwas Objektives, stellt
das objektive Sein der Natur dar. Wissen muß man, heißt es
ferner (Fr. 80), daß der Krieg das „Gemeinsame" ist (eldevac
öe xQh ^ov noXeiuiov eovxa ^vv6v)\ der Krieg ist nun bekanntlich
der Hauptterminus zur Bezeichnung des Gegensatzausgleichs,
also des Prozesses, durch den der Kosmos entsteht. Schließlich
heißt es bei ihm (Fr. 89): was den Schlafenden der Kosmosauch sein mag, den Wachenden ist er einig und gemeinsam{roig lyQtjyoQooiv eva xal xoivov xoojuov eivai). Wir sehen also,
daß überall, wo das objektive Sein der Natur zum Ausdruckgebracht werden soll, der Begriff ^vvov in Anwendung gebracht
wird.
Aber das diesen objektiven Logos erkennende Denken ist
auch ein ^vvov. ^vvöv Ion jiäoi rb cpQovEEiv (Fr. 113): das Denkenist etwas allen „Gemeinsames". „Wenn man mit Verstand
reden will, muß man sich wappnen mit diesem allen Gemein-samen . .
.": der voog heißt also ausdrücklich x6 ^vvov navTCOv
(Fr. 114). — Im Begriffe ^wov also tritt offenbar das Bestreben
zutage, die Einheit der für das naive Bewußtsein auseinander
liegenden Welten des Objekts und des Subjekts zum Ausdruck
29] Heraklit und Parmenides. 29
zu bringen. Er_adrd gemeinsam für die beiden Welten vonDenken und Sein verwandt, offenbar mjt der Ah7irht,_p.ine7;F:rfi-
heit_vermittelst Korrelation zwischen beiden zu stiften, und er
bedeutet^ auch demgemäß: das._S.eiende , das Wahrhafte. Dies
also ist der Mste,. grandiose yersuchj eine Wechselbeziehungzwischen Denken und Sein herzustellen.
Allerdings wird derphiTösöpHis'che We'rt dieses Gedankens,wie alles Großen bei Heraklit, getrübt durch seine mythologische
Fassung. Es war tiefsinnig und wahrhaft philosophisch, denzweigestaltigen Logos, den der Natur und den der Menschen-seele, in einem beiden gemeinsamen „^vvov" zu vereinigen; aber
der Logos im ejlucovxov erkennt den Logos der Natur nur auf
dem Wege der materiellen Berührung. Nicht rein, nicht geistig,
nicht theoretisch findet die Wechselwirkung zwischen Denkenund Sein statt; sondern die feurige Seele atmet den feurigen
Naturlogos ein — denn sowohl Natur als Seele sind logos-
begabtes Feuer — und auf diese Weise findet eine communiozwischen beiden statt.
Den Beweis hierfür zu erbringen ist nicht schwer. Daß der
Logos in feuriger Gestalt durch die ganze Natur verbreitet ist,
ist eine bekannte heraklitische These und erhellt aus mehrerender Fragmente, rd de ndvxa oiaxiCei Kegawog (Fr. 64), über-
liefert uns Hippolyt aus dem Buche Heraklits und erläuternd
fügt er hinzu: xegawov rb jivq Xeycov rd atcoviov; und fortfahrend:
keyei de xal (pgöv ifiov tovxo elvai ro jivq xai Tfjg dioix/joecog
rcov öXmv ahiov. Der Kosmos ist ja bekanntlich jivq äeiCcoov
(Fr. 30), und der Prozeß, wodurch er besteht, ist nichts anderes
als ein wechselweiser Umsatz aller Dinge gegen das Feuer unddes Feuers gegen alle Dinge (Fr. 90).
Aber auch des Menschen Seele ist feuerartig. Die weiseste
und beste Seele ist ja trockenes Feuerlicht (avyt] ^rjQrj, Fr. II 8);
die Seelen dünsten aus dem Feuchten empor (Fr. 12), nämUchals Feuer, denn bekanntlich ist es Tod für die Seelen, zu Wasserzu werden (Fr. 36, jy, 117). „Der Seele Grenzen kannst dunicht ausfinden und ob du jegliche Straße abschrittest, so tiefen
Grund hat sie" {ovxco ßadvv Xoyov eiei, Fr. 45); und zwar ausfolgendem Grunde: „Dem Feuer als Allprinzip ist die Seelewesensgleich. Wie sie aus ihm kommt, kehrt sie dahin zurück.
Sie ist mit ihrem Wesen, ihrem Gesetz {löyog^ in dem Urprinzip
am tiefsten gewurzelt. Ihre Grenzen also reichen bis an die
Grenzen des Alls." (Diels, Sonderausg. des H., Anmerk. zudiesem Fr.)
50 H. Slonimsky, Fjo
Aber die klarste und genaueste Schilderung der herakli-
tischen Gedanken vom Verhältnis der Seele zur Natur ist, un-
beschadet der späten Terminologie, die er gebraucht, im Be-
richte des Sextus enthalten. „Diese göttliche Vernunft {ß^eiov
2.6yov), wenn wir sie durch Einatmung an uns ziehen, bewirkt
nach Heraklit, daß wir vernünftig {voeqoi) werden, und so sind
wir im Schlafe vergeßlich, im Wachen dagegen wiederum ver-
standesvoll (ejuq)Qoveg). Denn da im Schlafe die Empfindungs-
öffnungen geschlossen sind, so ist der in uns wohnende Ver-
stand (vovg) abgeschieden vom Zusammenhang mit der Um-gebung (t6 jisQiExov); es bleibt nur der Zusammenhang durch
Einatmung gewahrt, gleichsam durch eine Art Wurzel; und so
verliert der Körper, da er abgetrennt ist, die Gedächtniskraft,
die er früher hatte. Im wachen Zustande dagegen, wo der
Mensch durch seine Empfindungsöffnungen wie gleichsam durch
Fenster hinausblickt und so mit der Umgebung {neQieyov) wieder
in Verbindung tritt, zieht er die logische Kraft in sich hinein."
(Sextus VII, 129 sq.)
Das Verhältnis also von Denken und Sein wird grob
materiell gedacht. Dennoch bleibt der Gedanke ein großer, ein
wahrhaft philosophischer. Denn es wird zum erstenmal erkannt,
"VvAldaß Denken und Sein verwandt sind, daß sie letzten Endes,
V «aller naiven Anschauung zum Trotze, eine Einheit bilden. Der'Logos im Sein, der Logos in der Seele: es ist ein und derselbe
Logos. Sie stehen in notwendiger, einheitlicher Korrelation zu-
einander derart, daß der eine den anderen ergründet, dieser
aber nur durch jenen zur Ergründung kommen kann.
Kehren wir nunmehr zu unserer früheren Frage zurück.
Welche Beziehung besteht zwischen dieser Logoslehrc und
dem Satze vom Werden? Eine Korrelation zwischen Seele und
Natur behauptet Heraklit — doch hoffentlich zur Begründung
eines Seins, zur Ergründung einer Wissenschaft. Aber das
Werden ist doch so gefaßt, daß alles Sein und alle Erkenntnis
auf immer unmöglich sind! Der Widerspruch ist nicht zu über-
brücken. Die beiden Lehren schließen sich gegenseitig aus.
Der_Logos ist ein illusorisches_ Postulat, denn es wird ihm
dm-ch die Lehre vom Werden nicht weniger als der Boden unter
den Füßen weggezogen.
Den reinen Begriff vom Werden erfaßt zu haben, war aller-
dings eine mächtige philosophische Tat. Und die Regelung
durch das juergov schien auch ein Sein, eine Gesetzlichkeit zu
sichern. Aber, sonderbar wie es klingt, das juergov selbst diente
/\W
3l] Heraklit und Parmenides. 31
nur dazu, das Werden in seiner Seinslosigkeit zu bekräftigen.
Das juhgov war bloß die Rhythmisierung des reinen Prozesses
;
ein BeharrHches blieb nach wie vor völlig ausgeschlossen. DennHeraklit hat das Werden als Gesetz schlechthin hingestellt, so-
zusagen als seiendes Werden, statt es als Problem zu ergreifen,
d. h. ihm die Seinsgrundlagen wirklich unterzulegen, und so es
selbst allererst möglich zu machen. Dies war der verhängnis-
volle Irrtum. Es ist sicherlich kein Werden ohne Substanz zu
denken, wie ihm ja im Grunde Parmenides bald vorwerfen wird
:
aber Heraklits Werden ist gerade so gefaßt, daß es alle
Substanz, vielmehr ihre Elemente: die Identität und die Be-
harrung, gänzlich entwurzelt. Dies aber sind die Bedingungenaller Wahrheit und alles Seins, die primären Elemente des
Logischen: wenn diese dahin sind, was hat der Logos im Logoszu suchen? Ist nicht vielmehr angesichts dessen der Logos ein
Spottname?So machte der erste schlechte Gedanke den zweiten guten
Gedanken völlig illusorisch. Der Logos blieb ein Postulat imleersten Sinne, eine bloße Forderung. Von einem Weltgesetz,
von der Gesetzlichkeit der Natur kann man reden, wenn manwirklich Gesetze in die Natur hineingelegt hat. Hat sich nundie Natur aus einzelnen Gesetzen aufbauen lassen, so kann manmit Fug und Recht sagen, der Logos im Menschen sei auchLogos der Natur, die Natur sei logisch. Wenn man aber die
Möglichkeit aller Gesetzlichkeit aufgehoben hat, wie sollte dadie Gesetzesforderung ernst genommen werden?
Diese sachliche Unaufrichtigkeit hat sich geschichtlich ge-
rächt. Von den beiden Grundthesen Heraklits verschwindet die
mit solcher Nachdrücklichkeit verkündete Lehre vom Logosgänzlich aus der philosophischen Diskussion; als spezifisch
heraklitische Lehre tritt sie erst ganz spät wieder auf, und zwarin theologischer Gewandung bei den Stoikern. Dagegen blieb
die andere Lehre vom Werden allein unmittelbar wirksam. VonHeraklit dem Logoslehrer hört man vorerst gar nichts; dagegensehr wohl von Heraklit und den Herakliteern als Qeovreg, wie sie
Piaton spöttisch bezeichnet (Theaet. 181 A). Parmenides, derden Terminus kaum nennt, ist der wahre Vater des Logos.
Cohen und Natorp, Philosophische Arbeiten VII
^2 H. Slonimsky, [^2
3. Parmenides.
Parmenides kam auf den „Gegensatz zwischen dem Ein-
zusehenden und dem Erscheinenden" (Schleiermacher, Einl. zumTheät., Piatons W W. IL i. 125). Heraldits philosophische Be-
trachtungen hatten sich hauptsächlich auf das äußere Spiel der
Erscheinungen erstreckt, auf die Welt des Werdens gerichtet;
er hatte es aber versäumt, die nötigen logischen, rein gedank-
lichen Grundlagen für diese Welt zu errichten, und so ergaben
sich Widersprüche. Das sinnfällige Werden der Erscheinungen
läßt sich durchaus nicht halten, läßt sich auf keine Weise be-
greifen, ohne substantielle Fundamente im Denken. Es läßt
sich nicht begreifen, d.h. es ergibt Widersprüche; also ist diese
Welt des Werdens unmöglich: mit diesem folgenschweren Schluß
leitet Parmenides sein Denken ein. Was heißt Widerspruch?
Das, wovon die Aussage geht, kann nicht sein. Warum.!* Es
ist nicht denkgemäß. Also hat das Denken zu entscheiden über
das Wahre und das Seiende. Dies ist der Schluß des Par-
menides. So, auf diese Weise, dämmert zum ersten Male die
souveräne Bedeutung des Denkens für das Sein der Natur auf.
Was fortan also Anspruch auf Geltung, auf Sein machen will,
muß vom Denken legitimiert werden. Das Denken tritt so in
der genauen Präzision seiner Mittel und Funktionen als neu
entdecktes Organon auf. Einzige Entscheidungsquelle für alles
Sein sind nunmehr nur die Gebote des Denkens, und mögendie Sinne noch so sehr Zeugnis dagegen ablegen. Die über-
legene und legitimere Kraft des Denkens für dieses Amt ist
ja eben entdeckt worden. Allerdings wird das Sein, wie es das
Denken entwirft, gänzlich verschieden sein von dem, welches
den Sinnen erscheint. Deswegen soll ein Unterschied an Seins-
wert statuiert werden: nur die Weh des Denkens darf Anspruch
auf Sein, Wahrheit, Wirklichkeit erheben; die Welt der Sinne
ist dagegen ein Sein niederer Ordnung, im Vergleich mit jener
eigentlich ein Nichtseiendes.
33] Heraklit und Parmenides. 33
Heraklit hatte freilich, neben manchen recht beachtens-werten Ansätzen zur Präzisierung des Denkens, als erster auchden Logos als oberstes Gesamtprinzip verkündet. Wenn aberder Logos die Bürgschaft für das Sein zu bedeuten hat, wenn er
die Quelle für GesetzHchkeit und Wissenschaft darstellt, dannführt ihn Heraklit zu Unrecht im Munde. . Die bittere Gegner-schaft, die zwischen diesen beiden Großen obwalten mußte, läßt
sich aus einon tiefgehenden Unterschiede in der ganzenBewußtseinsrichtung ableiten; so, und hauptsächlich, in derAuffassung des Logos. Denn schließlich gilt es bei Heraklit
nicht, Gesetze zu entdecken, sondern einem großartigen Schau-spiel beizuwohnen. „Ein spielender Knabe ist die Zeit, hin
und her die Brettsteine setzend: die Regierung führt ein Knabe!"(Fr. 52.) Sein Interesse ist gar nicht auf ein Sein gerichtet;
es ist die re'n poetische, die typisch ästhetische Stellungnahmezur Natur als zu einer ewigen, bunten ödög ävco xazco (Fr. 60).
Weil aber die schöne Rhapsodie auch als nüchterne Erkenntnisgelten w'U, oder wenigstens weil es diese verdrängt und derenStelle einnimmt, muß ihn Parmenides ernstlich angreifen. Ernimmt ihn auch — etwas pedantisch, aber zum Glück für die
wissenschaftliche Philosophie — beim Worte; und in den dürren,
rauhen Versen, die er der reichen, poetischen Prosa des Anderngegenüberstellt, gehe er nicht auf ein Spiel, sondern auf ein
Sein aus, und der Logos ist bei ihm nicht ein Choregos, son-
dern das w'ssenschaflUcbe Denken.Aber schon vorher hatte der unvergleichlich reiche Genius
von Hellas in einem anderen Denker die Vorbereitung getroffen
für diejenige Art des Philosophierens, wie es Parmenides be-
treiben wollte. Xenophanes arbeitet dem Parmenides in denzwei Grundbegriffen vor, die klarzulegen und zu erarbeiten dasHauptverdienst der eleatischen Schule ausmacht. Er ergründetein Sein, und in solcher Ergründung verweist er auf das Denkenals das einzig zulässige Mittel dafür. Sein Seinsbestrebennimmt seinen Ausgang in einem sittlichen Bedürfnis, findet aberseinen höchsten Ausdruck in rein kosmisch -wissenschaftlichenErwägungen. Er geht zunächst aus vom Kampfe gegen die dassittliche Gefühl verletzende Volksreligion, gegen die Vielheit
ihrer Götter und gegen ihr schändliches Treiben. „Alles wasbei Menschen Schimpf und Schande ist, haben Homer undHesiod den Göttern angehängt: Stehlen und Ehebrechen und'sich gegenseitig Betrügen" (Fr. 11). Dagegen empört sich unseresittHche Vernunft ; sie verlangt nach einer beharrenden Gewähr
24 H. Slonimsky, ["34
der Sittlichkeit. Solche Götter können diese Gewähr nicht
leisten; noch auch solche, die man überhaupt sich irgendwie
ausmalt. Denn ein jedes Volk hat seinen eigenen Gott, schafft
ihn sich nach dem eigenen Ebenbilde. „Die Athiopen behaupten,
ihre Götter seien schwarz und stumpfnasig; die Thraker dagegen,
blauäugig und rothaarig" (Fr. 16). Und wenn gar Ochsen, Löwenund Rosse malen könnten, so gäbe es noch roßähnliche undochsenähnliche Göttergestalten (Fr. 15). Solche Göttergebilde
heben sich gegenseitig auf, erweisen gegenseitig ihre Nichtig-
keit. Einzig sei der Gott und ewig seiend; er wird nicht ge-
malt, sondern notwendig erdacht; in ihm allein kann die un-
erschütterliche Bürgschaft für die Sittlichkeit zu finden sein.
„Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der größte,
weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich, noch an Gedanken"(Fr. 23). — „Es meinen zwar die Sterblichen, die Götter würdengeboren und hätten Gewand und Stimme und Gestalt wie sie"
(Fr. 14); aber „man frevelt ebensosehr, eine Geburt der Götter
anzunehmen, wie sie sterben zu lassen: denn in beiden Fällen
würde ihnen kein Sein zukommen" (Arist. Rhet. II 23. 1399b).
Also ungeworden ist die Gottheit ebensosehr wie unvergänglich;
sie liegt ewig als Sein zugrunde. Weder Gestalt noch irgend-
welche andere sinnliche Eigenschaften hat sie; sie kann nur rein
im Denken erschaut werden. Das große Denkmittel aber, wo-
durch Xenophanes die Gottheit ergründete, war die Einheit.
Das ewige Sein wurde durch den Hebel der Einheit zuwege
gebracht: indem die vielen gewordenen, also auch vergänglichen
und so sich gegenseitig aufhebenden Götter verschwanden,
vertiefte sich der eine ungewordene, also auch unvergängliche
Gott zu zeitlosem Bestände. Durch das gedankUche Mittel der
Einheit wird wahres Sein erlangt : der Drang nach Einheit ver-
wirklicht den Drang nach Sein. Dies aber, der Grundgedanke
des Xenophanes, findet seine Aufhellung in den weiteren Ge-
dankengängen des Philosophen.
Was ist diese neue, einige Gottheit? Aristoteles gibt uns
darüber in einem merkwürdigen Satze Aufschluß. „Indem er
auf das ganze Weltgebäude hinblickte, sagte er, diese Einheit
sei der Gott" (Metaph. 1 5. 986b). Die Vereinheitlichung geht
also voraus; in der Einheit, die die vielen Dinge bilden, in dem-
jenigen, worin die vielen Dinge eine Einheit bilden, entsteht die
Substanz. „Das eleatische Volk bei uns," berichtet Piaton
(Soph. 242D), „von Xenophanes an und noch früher her be-
ginnend, stellt es in seinen Dichtungen so dar, daß das, was
2c] Heraklit und Parmenides. 3^
man Alles nennt, nur Eines sei" {d)g evög övrog rcov ndvxcov
xaXovjusvcov). Damit wird allererst ein Sein gestiftet, ein Sein
der Einheit. Dieses eine Sein des Kosmos heiße nun Gott.
Gott und Kosmos sind also vertauschbare Begriffe in
dem höheren, gemeinsamen Begriff des Seins.
Das Sein nun, das sowohl Natur als Gott heißen mag, ist
nicht etwas Sinnfälliges, sondern kann nur durch das Denkenerreicht werden. Ebensosehr wie in einem früheren Stadium
seines Denkens der Gott den sinnlichen Dingen hienieden nicht
ähneln durfte, so darf jetzt, da der Gott mit dem Sein des
Kosmos identifiziert wird, dieses Sein nicht in der Sinnlichkeit
gesucht werden, denn es ist reines Gebilde des Denkens. Eswird vom Einheitsdenken ermöglicht, und erhält auch all seine
anderen Bestimmungen vom Denken. Der erste Entwurf von
Gott—Kosmos— Sein, den wir bei Xenophanes antreffen, trägt
schon echt eleatisches Gepräge
:
alel 6' ev ravxcp juijuvei xivovjuevog ovÖev
ovde jueteQxso^ai juiv imTzgenei aXXoxE älh] (Fr. 26).
„Stets im Selbigen verharrt er, sich nirgend bewegend; und
es geziemt ihm nicht, bald hierhin bald dorthin zu wandern."
Dies wird vom Gotte ausgesagt; aber gemeint ist das Sein des
Kosmos. Denn das Sein des Kosmos ist das Sein Gottes: „auf
das ganze Weltgebäude hinblickend, sagte er, diese Einheit sei
der Gott." — Hiermit nun rückt schon Xenophanes in die nächste
Nähe des Parmenides, und zwar in zwiefacher Hinsicht. Zu-
nächst sind die Mittel, wodurch das Sein entworfen wird, näm-lich Identität und Beharrung, genau diejenigen, womit Parme-nides hauptsächlich operiert. Und dann ganz allgemein wird
das Sein so gefaßt, daß aller Nachdruck auf die rein gedank-
lichen, gesetzlichen Bestimmungen gelegt wird, während die
Welt der Erscheinungen mit ihrer ewigen Veränderung, zu der
eine Brücke zu schlagen gerade diese gedanklichen Bestimmungendie einzigen Mittel bieten, schroff abgelehnt wird. Dies aber
ist ein allgemein eleatischer Zug. —Kehren wir nunmehr zu Parmenides zurück. Es sind drei
Probleme, mit denen er sich einzig beschäftigt und von denensein ganzes Denken erfüllt ist. Diese drei Probleme nach ihrer
Entstehung und nach ihrer inneren, sachlichen Bedeutsamkeitzu untersuchen, macht das geschichtliche Problem des Parme-nides aus. Erstens, das Sein: wie kam er auf das Problem des
Seins und was hat er darunter verstanden? Zweitens, das
36 H. Slonimsky, ["25
Denken: wie stieß er auf das Denken, und was hatte es ihmzu bedeuten? Drittens, das Verhältnis von Denken zu Sein:
wie ist das Rätselwort von der Identität dieser beiden zu ver-
stehen ?
Dem Leser des parmenideischen Lehrgedichts muß es auf-
fallen, daß beinahe noch mehr wie alle Ereiferung um ein Sein
die Vehemenz des Dichterwortes sich gegen das Nichtsein richtet.
Er scheint nicht müde werden zu können, davor zu warnen, es
zu bekämpfen und auszurotten. Vor der vermeintlichen odög
dit^joiog des Nichtseins wird nicht minder als dreimal feierlich
und formelhaft gewarnt (i, 33; 6, 3 ; 7, 2); das Nichtsein wird
als unerforschbar, unerkennbar, unaussprechbar gebrandmarkt
(4, 6— 8); es sei schlechtweg nichtig (ovh sotiv 6, 2); es könneniemals erwiesen werden (7, i); als undenkbar und namenlos(avoijrov, dvcovvjuov 8, 17) muß es gänzlich beiseite gelassen
werden. Kommt man unvermittelt zu Parmenides von der
früheren Philosophie her, so muß dieser Eifer befremden. Denndas /u^]dev, jui] elvai, jui] eöv ist nicht nur ein ßegriff von äußer-
ster Abstraktheit, sondern er tritt hier bei Parmenides überhaupt
zum ersten Male auf: und doch sieht er offenbar in ihm denleibhaftigen, um jeden Preis zu vernichtenden Feind. Woherdieser neue Begriff.? Und warum diese Ereiferung gegen einen
scheinbar selbstgeschaffenen Gegner?Indes wird ein bloßer Rückblick auf Heraklit den Stand
der Dinge erklären. Der neue Terminus ist offenbar die par-
menideische Übersetzung des Zentralbegriffs der heiaklitischen
odög öi'Qiqoiog. Das Werden, wie es Heraklit gefaßt und gelehrt
hatte , ergab als einzige Konsequenz seine Selbstaufhebung.
Warum? Nun, weil Werden ohne vorherige Identität und Be-
harrung unfaßbar ist, denn es ist der Übergang von einem
scheinbaren Sein in ein scheinbares Anderssein, wobei weder
das eine noch das andere Stadium als wirklich seiend an-
genommen werden kann und soll: dieses hcraklitische Werdenist ja so gefaßt, daß es seinem Begriffe nach alle Identität undBeharrung, also alles Sein schlechthin, geradezu ausschließt.
Parmenides legt nun die Ingredienzen dieses heraklitischen Be-
griffs bloß. Werden ist die Gleichsetzung von Sein und Nicht-
sein; aber die Identität von Sein und Nichtsein ist die Auf-
hebung des Seins, weil die Aufhebung der Identität; Werdenals das einzig Seiende proklamieren heißt also, das Nichtseiende
als das Seiende behaupten. Er macht Ernst mit Heraklit,
er nimmt ihn nicht so sehr beim Wort wie beim Gedanken;
27] Heraklit und Parmenides. 37
denn in der Tat ist die Analyse des heraklitischen Gedankens
der einzige Ausgangspunkt zur erfolgreichen Bekämpfung und
Korrektur des Heraklit. Die Welt des Werdens also, die
Heraklit entwarf im Glauben, damit das wahre Sein der Natur
zu reproduzieren, erweist sich nun als eine kühne Phantasie:
eine solche Welt ist unmöglich, ist nicht, ist nichtseiend.
Warum? Werden heißt eben nicht sein. „Darum hat die Ge-
rechtigkeit Werden und Vergehen {yeveo'&ai, öXlvod^ai) nicht aus
ihren Banden freigegeben, sondern sie hält sie fest"
(8, 13— 15). Aber aus dieser Entdeckung des Nichtseins ent-
springt der neue Begriff des Seins. In der Entlarvung des
Werdens als eines Nichtseins, in der fast instinktiven Gegen-
wehr gegen dieses Nichtsein, entdeckt sich und ersteht
der andere, tiefere, dieser ganzen Entlarvung und Befehdung
zugrunde liegende Begriff des Seins, in der ganzen Klarheit
seiner Rechte, seiner Forderungen und seiner Bedeutsamkeit.
Ein Nichtsein lehrt da Heraklit: auf ein Sein kommt es an!
Die Schritte, die das Denken auf dieser tiefsten, zentral-
sten Stufe seiner Funktion tut, sind unlöslich miteinander ver-
knüpft; die j^eschichtliche Aufgabe aber verlangt die saubere
Sonderung und Auseinanderhaltung. Wir wenden uns zu der
Kehrseite des eben dargelegten Gedankenganges bei Parmenides,
die um so eher gesondert zu betrachten ist, als tatsächlich hier
bei Parmenides, zum ersten Mal in der Geschichte der wissen-
schaftlichen Vernunft, diejenigen Erkenntnisfunktionen, die natur-
gemäß in ungeschiedenster Einheit vor sich gehen, gesondert
und nacheinander zum Bewußtsein kommen und zum ersten
Mal als besondere Stufen erkannt werden. — Das heraklitische
Werden ist nichtseiend. Warum denn.? In dieser Frage, die
sich Parmenides gestellt hat, hat sich das Denken zum ersten
Male selbst entdeckt. Was ist es eigentlich, das mich zwingt,
dieses Werden zu verwerfen.?' Es ist mein Denken, mein not-
wendiges, mein mich zwingendes Denken. Dieses Denken sagt,
daß dieses Werden undenkbar ist; deswegen ist es unmöglich,
ist es nichtseiend; denn jetzt weiß ich, daß ich ein Denkenhabe, und was ich am Denken habe. Das Seiende wird sich
wohl fügen müssen. — Das Nichtsein ist „ein gänzlich un-
erforschbarer Pfad" (4, 6). Warum.? „Weil du das Nichtseiende
weder erkennen kannst — das ist ja eben nicht auszuführen —noch überhaupt was davon sagen kannst":
ovTE yäg äv yvoi-qg xo ys fxi] ebv {pv yaQ ävvoxov)
ovxe qpQaouig (4, 7— 8).
-5g H. Slonimsky, [38
„Das Sein des Nichtseienden kann unmöglich erzwungen
werden", d. h. zwingend bewiesen werden (7, i). Aus demUnerkennbaren, Unbeweisbaren ist also das Bewußtsein des Er-
kennens, des Beweisens entstanden. Ebenso wie das Sein, das
Problem des Seins und die Forderung des Seins aus dem er-
kannten Nichtsein hervorging, so entstand das Denken aus demUndenkbaren. Die Erkenntnis des Gesetzes vom Widerspruch,
dieses „Denkgesetzes der Unwahrheit" (Cohen), hat die Einsicht
in die Aufgaben und in die Machtmittel des Wahrheitdenkens
eingeleitet.
Von der formalen Logik her sind wir gewöhnt, die beiden
Sätze vom Widerspruch und von der Identität als äquivalent,
als ungefähr gleichviel besagend zu betrachten. Das Gesetz
vom Widerspruch wird als das bloß formale, negative Kriterium
der Wahrheit angesehen; „identische" Sätze werden als ana-
lytische gekennzeichnet, deren Prinzip nun das Gesetz vomWiderspruch darstellen soll. Die geschichtliche Einsicht aber,
daß die beiden Gesetze streng gesondert voneinander zur Ent-
deckung gelangt sind, vermittelt auch den tieferen logischen
Sinn, der diesen beiden Grundgesetzen eigentlich innewohnt.
Der Satz vom Widerspruch mag zunächst für Parmenides eine
bloß formale Bedeutung gehabt haben — das bloße Bewußt-
sein des Widerspruchs; und der Satz von der Identität magzunächst die bloße Widerspruchslosigkeit, die bloß formale
Übereinstimmung mit sich selbst besagt haben. Dies war aber
nur die Einleitung zum parmenideischen Denken. Denn die
Einsicht in den Widerspruch des Heraklit vertiefte sich als-
bald zur Einsicht, daß hier überhaupt die Möglichkeit einer
Erkenntnis geleugnet ward; und die bloß formale Überein-
stimmung der Identität, deren Aufstellung gleich auf den er-
kannten Widerspruch erfolgte, gewann sofort die unvergleich-
lich tiefere Bedeutung der Erzeugung eines Seins überhaupt.
Die Identität bei Parmenides besagt eigentlich den einheitlichen
Ursprung des Seins aus dem Denken ; es ist der erste Ausdruck
für den ursprünglichen synthetischen Aktus des Denkens, aus
dem ein Sein allererst hervorgeht. So ringt sich Parmenides
von der bloßen Polemik gegen Heraklit los, und entwirft nun
seine eigene Aufgabe, die fortan die ewige Aufgabe der Philo-
sophie sein wird: das Problem des Seins zum Problem der
Erkenntnis zu machen, das Sein unter dem Gesichtspunkte des
Denkens zu bestimmen.
Wenn wir nun versuchen, den parmenideischen Begriff des
2gl Heraklit und Parmenides. 3g
Seins genauer festzustellen, so ist sofort zu bemerken, daß sich
zwei Fassungen von diesem Begriff bei dem Philosophen unter-
scheiden lassen. Die eine, die frühere und reinere Fassung ist
unter dem Eindruck und der Vorherrschaft des neu entdeckten
Denkens entstanden; während in der späteren das Sein sich
gleichsam veranschaulicht, verbildlicht, und der früheren rein
gefaßten Konzeption des Denkens einige Gewalt antut. Ver-
gegenwärtigen wir uns wieder die Anfänge des parmeni-
deischen Philosophierens. Das Werden war, wie wir gesehen
haben, der Ausgangspunkt. Das Werden war da nicht nur
an und für sich die Aufhebung des Seins, indem es Sein und
Nichtsein vereinigte, sondern ließ überhaupt keinen Raum für
ein Sein übrig. Das Werden also hob sich selbst auf. Die
Möglichkeit einer Erkenntnis war damit ganz und gar aufge-
hoben. Hier setzte Parmenides ein. Alles Denken, alles frühere
Philosophieren hatte sich um die Ergründung von Gesetzlichkeit,
um die Erlangung einer Erkenntnis bemüht; und nun entstand
plötzlich die Drohung des Nichtwissenkönnens. Der Wider-
spruch dagegen führte zur Stabilierung des Wissens. Es waralso die Frage nach der Möglichkeit einer Erkenntnis,welche die eigentlich treibende Kraft in der Polemikgegen Heraklit war. Nun gilt es, Wissen zu erlangen, Gesetz-
lichkeiten zu ergründen. Gesetzmäßigkeit ist aber nur imDenken zu erreichen ; denn das Denken hat sich als dasjenige
erwiesen, was über alles Sein und Nichtsein zu entscheiden hat.
Das Reich der Gesetzlichkeit wird also ein Reich des Denkenssein müssen; denn nur dem Denken ist ein solches Reich zu-
gänglich. Dieses Reich soll nun die wahre Welt des Seins
heißen. Das Sein also wird durchaus unter den Gesichtspunkt
des Denkens gestellt. Nicht so sehr um den Kosmos handelt
es sich vorerst wie um das Denken des Kosmos. Und so ist
das Sein in diesem Stadium des parmenideischen Denkens dasreine Ideal eines Erkenntnisgegenstandes. Weil er mit
der Unmöglichkeit der Erkenntnis sich am Anfang auseinander-
setzen mußte, so war das Sein, das er als Gegenwurf entgegen-stellte, der bloße Reflex der Rechte der Erkenntnis. Von derFrage nach einer Erkenntnis also ausgehend, und dann die For-derungen und Bedingungen einer Erkenntnis ausfindig machend,gelangt Parmenides dazu, den Inbegriff dieser Bestimmungen,den ideellen Gegenstand, der diese Forderungen aufnimmt undilmen genügt, als das Sein zu benennen. Tatsächlich besteht
das Sein, wie es in großen Zügen am Anfang und im Laufe des
40 H. Slonimsky, [40
Fr. 8 entworfen wird, aus den reinsten und elementarsten, po-
pulär gesprochen: aus den abstraktesten Bestimmungen, nämlich
aus Einheit, Identität, Beharrung und Kontinuität. So ist dasIdeal einer Wissenschaft d?s treibende Motiv bei derAufstellung des Seins. „Sie sind nicht nur die Urheber
des Gesetzes vom Widerspruch", sagt Cohen von den Eleaten,
„sondern des Gesetzes überhaupt nach seiner Möglichkeit. Dennwenn in der Erscheinungen Flucht den ruhenden Pol zu suchen,
die ewige Aufgabe des Forschens ist, so haben die Eleaten in
ihrem Einen Sein den Gedanken jener Aufgabe entworfen:
das ob allem Werden Seiende, das in aller Veränderung Be-
harrliche, der vielen verschiedenen Bewegungen Eines Sein undWesen als den einzigen Gegenstand des Denkens fest-
gestellt" (Piatons Ideenlehre und die Mathematik S. 2).
Von diesem Punkte aus ist die geforderte Identität von
Denken und Sein verständUch. Nicht etwa psychologisch ist
diese zu deuten; etwa so, daß sich Parmenides bewußt wäre,
Erscheinung und Bewußtsein der Erscheinung sei eines und das-
selbe ; eine solche Erwägung ist spät. Bei Parmenides hat die
Identitätssetzung von Denken und Sein, wie sich uns eben er-
wiesen hat, einen rein logischen, sachlichen Sinn. Wenn Sein
ein reiner Gegenstand des Denkens ist, wenn Sein aus keinen
anderen Bestinunungen als denen des Denkens besteht, ja aus
ihnen überhaupt zu allererst entsteht; wenn andrerseits das
Denken erst an der Bestimmung des Seins zum Denken wird,
wenn das Denken gar nichts anderes ist als der Inbegriff der
Bestimmungen des Seins: dann ist die Identifizierung von Sein
und Denken durchaus begreiflich und gerechtfertigt. Das Denkenbringt das Sein aus sich hervor, ebenso wie das Sein das Denken,
indem das Denken am Sein entsteht. Es sind Abstraktionen
eines ursprünglich Einheitlichen. Im gedachten Gegenstand —im Sein, welches Denken ist, im Denken, welches Sein ist — ist
Sein und Denken durchaus dasselbe. Sie entstehen aneinander
und bestehen in ungeschiedener Einheit.
Das rb yaQ avrö voeiv eoriv te xal elvai ist also die primi-
tive, die erste Fassung des Gedankens der transzendentalen
Deduktion. Diese besagt die Bczogenheit des Denkens auf den
objektiven Gegenstand und besteht in dem Nachweis, daß das
Denken Ursprung dieses Gegenstandes ist. Wir glauben, daß
dieser Nachweis für Parmenides sich aus dem Obigen ergibt.
Ihm war auf jeden Fall Ursprung des Seins, wie er es zuerst
konzipierte, nicht irgendwelches Sein, sondern ausdrücklich und
4l] Heraklit und Parmenides. 4I
ausgesprochenermaßen das Denken, welches er eigens dazu er-
findet, und dessen Terminus er in wiederholten Wendungenpräzisiert, wie wir weiter unten nc)ch darlegen wollen. Die
Identitätsfassung bietet allerdings insofern Schwierigkeiten, als
sie die Möglichkeit offen läßt, den Gedanken mit dem Ausdruckdes Parmenides umzudrehen, und das Denken aus dem Sein
abzuleiten, also Parmenides zum Materialisten zu machen. Esliegt zwar die Vermutung nabe, daß die zugespitzte Fassung
der Identität gerade darin ihren Grund hat, daß Parmenides, in
bewußter Verschanzung gegen allen Pleraklitismus, das Denkenpräzisieren wollte als etwas, das in unlöslicher Korrelationsbe-
ziehung zum Sein steht, das Sein zum Ziel hat: identisch sind
Denken und Sein, denn nur das sei Denken, was zugleich Sein
ist, Sein erzeugt. Aber Zeller deutet den parmenideischen
Spruch dahin, daß das Denken eine Art des Seins darstellt,
sintemalen es nur Sein gibt (P 561. 166). Nun ist dies ent-
weder dogmatisch-metaphysisch oder aber grob materialistisch
zu verstehen. Drs erstere triift nun ganz gewiß inchi; auf
PariTienides zu; das zweite dagegen findet sich zwar im Lehr-
gedicht des Parmenides vor, aber im zweiten Teile desselben,
nachdem der Philosoph seinen jiioxbv loyov fjde votyia äjuq)lg
dXt]{}eit]g zu Ende geführt hat. Dort hängt der voog allerdings
von der „Mischung der vielfach irrenden Organe" ab (16, i—2).
Nun ist dieser zweite Teil zugestandenermaßen unparmenideisch
(8, 50—52); es ist, wie Diels (in dem Zeller gewidmeten Auf-
satz „Über die ältesten Philosophenschulen der Griechen") wahr-
scheinlich gemacht hat, bloß eine typische Zusammenfassungaller bisherigen Physik, die mit den Mitteln der eigentlichen
Philosophie des Parmenides aufzulösen ist; es kann aber auf
jeden Fall in keiner Weise gegen den ersten Teil irgendwie ins
Gewicht fallen.
Sehen wir nunmehr genauer zu, wie der Begriff des Denkensbei Parmenides sich allmählich gestaltet hat. Dem Leser des
Gedichtes, der unmittelbar von der früheren Philosophie her-
kommt, wird es wiederum auch hier auffallen, in wie starkem
Maße und wie geläufig Parmenides sich allgemein auf das
Denken beruft. Während die Früheren vollständig im Objekte
aufgehen, scheint Parmenides als der voll ausgerüstete Logikermit einem Schlage dazustehen. Alles Fragen nach Sein und'Nichtsein wird ausdrücklich vom Urteil des Denkens abhängig
gemacht. So ergeht in dem formelhaften Entscheidungsvers
von den beiden allein möglichen odol di^tjoiog der Ruf an das
42 H. Slonimsky, [42
v6i]jiia, das eben hier die Entscheidung zu fällen, ja den rich-
tigen Weg zu wählen hat. Daß Parmenides den Weg zum Sein
als Weg der Forschung bezeichnet, ist für seine Denkungsartäußerst lehrreich. Und die parmenideische ööog wird später
folgerichtig zur platonischen juei^odog. ^) — So ferner soll gegenalles Sinnenzeugnis, gegen Zunge und ziellosen Blick und brau-
sendes Gehör, in Fragen des Seins und Nichtseins allein der
Logos entscheiden {xQivai de loyco noXvdr^Qiv ekey^ov I, 35— 37).
Es ist interessant hierbei zu bemerken, daß dies der einzige
Gebrauch ist vom Terminus Xoyog in der Bedeutung von Ver-
stand, der überhaupt bei Parmenides anzutreffen ist. Er scheint
eine Verwechslung mit dem viel ungenaueren Logos des Heraklit
vermeiden zu wollen; er zieht auf jeden Fall das voeiv , vofjoai,
vörjjiia, vorjtöv als das Präzisere, das weniger Zweideutige vor. —So weiter: „Ich will dir sagen, welche Wege der Forschungallein denkbar sind" (eiol vofjoat 4, 2). Der Gebrauch der Be-
griffe des Denkbaren und des Undenkbaren ist häufig bei ihmund tief bezeichnend; das Schicksal alles Seins wird je nach der
Denkbarkeit unwiderruflich entschieden. „Ich werde dir nicht
gestatten, den Ursprung des Seins aus dem Nichtsein zu sagen
noch zu denken. Denn es ist unsagbar und undenkbar {ovda
vot-jTov), wie das Sein nicht sein könnte" (8, 7—9). Alles Sein
und Nichtsein hängt von einer xgioig, einer Prüfung ab. All die,
denen Sein und Nichtsein für dasselbe gilt (olg rö neXeiv te xal
ovx elvai ravxov vevöjuiorai 6, 8), nämlich Heraklit und seine
Gefolgschaft, erweisen sich dadurch eben als ay.Qira (pvXa (6, 7),
als urteilslose Gesellen, denn sie haben sich nicht von dem Ur-
teil, von der xgioig leiten lassen. Es wird also geurteilt , undzwar notwendigerweise (xexQirai ö' ovv wojteq ävdyxr]), das Sein
als seiend {djore jieXeiv) und als wahrhaft {ezrjivfiov) zu be-
trachten, das Nichtsein aber als unsagbar und undenkbar {av6i]Tov)
zu verwerfen (8, 16— 18). — „Die Kraft der Überzeugungkann niemals einräumen, es könne aus Nichtseiendem etwas
anderes als Nichtseiendes entstehen" (8, 12— 13). Dieser bild-
Hche Ausdruck moriog loxvg will offenbar nichts anderes als die
schlichte Denknotwendigkeit besagen^); in genau demselben Sinn
^) Vgl. die interessante Zusammenstellung bei Diels, Parm. Lehrged.,
Berl. 1897, S. 47, über diese Termini bei den verschiedenen Schriftstellern.
^) Der Ausdruck ist vielleicht auch von Demokrit verwendet worden.So berichtet Sextus (VII 135) vom Inhalt der demokriteischen Schrift
Kgaivriygia, es sei eine Untersuchung gewesen, ob man den Wahr-nehmungen TÖ xQazog rrjs marscog zuschreiben dürfe. Dieses xquios, diese
42] Heraküt und Parmenides. 43
wird der Terminus ävdyxr} (8, 16. 30) gebraucht. — Das Nicht-
sein ist gänzHch unerforschbar (jiavajtevd^ea 4, 6), denn du kannst
es nicht erkennen {ovrs yag äv yvoirjg 4, 7), und zwar deswegen,
weil Sein und Denken dasselbe ist (5), — nur ein Seiendes hat
das Denken zum Ziel: ist etwas undenkbar, so ist es eben da-
durch nichtseiend.
Wenn aber das Denken zunächst bloß negativ gebraucht
wird zur Vernichtung des Nichtseienden als des Undenkbaren,
so vertieft sich alsbald das Denken in die positive Arbeit der
Erzeugung eines Seienden. Es steht zwar nirgends bei Parme-
nides geschrieben, daß das Denken diese Aufgabe hat, daß das
Denken ein Sein erzeugen soll; aber, was mehr besagt, es ge-
schieht. Wenn wir, auf Grund der Analyse dieses Tatbestandes
fußend, für Parmenides den schUchten transzendentalen Ge-
danken reklamieren, so kann uns dies nicht als willkürliches
Hineinlegen und Konstruieren vorgeworfen werden, da im Gegen-
teil wir ihn uns nur auf diese Weise verständlich machen können,
ihn dadurch also zu einer geschichtlichen Erscheinung allererst
erheben.
„Notwendig ist dies zu sagen und zu denken: das Seiende
ist." X9V ^o leyeiv xe voeTv t eov ejujusvai (6, l). Parmenides
sucht ein Sein aufzustellen. Unter Sein versteht er ein Systemstrenger Gesetzmäßigkeit. Für diese geht er auf das Denkenzurück. Denn die Bestimmungen, aus denen allein das Sein
besteht, wie etwa : äyevtjzov, ävcbXe^Qov, ovXov, juovvoyeveg, dtQEjueg,
dzeXeorov, ev, GvvEieq, dxivrjrov, raviöv r' iv ravrcp (8, 3. 4.6. 26. 29),
hat er wahrlich nicht handgreiflich vorgefunden. Die eine
Seinssetzung {eöv efifievai), die „notwendig zu denken ist", hat
nun bei Parmenides keine andere Bedeutung als die des In-
begriffs, oder vielmehr der inneren Verflochtenheit der Grund-setzungen des Denkens; die Grundfaktoren des Seins lassen
sich aus ihr herausschälen; damit erweist sich das Denken als
synthetisch, als Ursprungsdenken.
„Anfangen läßt sich, wo man nur will; kraft des ursprüng-
hchen Zusammenhangs aller schöpferischen Faktoren des Denkenswürde man gleich zwingend von jedem richtig getroffenen Punktezu den anderen kontinuierlich übergehen können" (Natorp,
Grundlagen S. 23). Dieser ursprüngliche Zusammenhang ist die
innerliche Einheit der Erkenntnis, die sich in der Einheit des
toxi? sind Vorläufer des aacpalk, das Piaton mit seiner Hypothesis anstrebte
(Phaedo 10 1 D).
44 H. Slonimsky,[^44
Seins wiederfindet. Die Einheit des Seins ist die Einheit des
Systems des Seins, die Einheit der vollendeten und durch-
gängigen Gesetzmäßigkeit des Alls. Das eov e/i/ievai ist der
summarische Ausdruck des Parmenides für diese Einheit des
Zusatnmenhangs. An ihm können die Grundelemente des
Denkens, die die Grundfaktoren des Seins sind, nachgewiesenwerden, weil sie in ihm enthalten sind.
Zuerst besagt es die Einheit der Quantität. An der Handdieser Einheit war zuerst von Xenophanes die Begründung des
Seins des Alls versuche worden. In Einheit zusammengefaßtfing der Kosmos an zu sem — in dem, worin es Einheit war.
Parmenides nimmt den Begriff an und erläuteri ihn. Das „Sem",das, was als seiend zu gelten hat, ist es, weil es ein ev (8, 6)
ist. Für die Einheit hat er auch andere Ausdiücke, so ovXov,
jiiovvoyEveg (8, 4). Das Sein ist „ganz", „eingeboren" („geboren"
ist dabei naLÜrl'ch Bild). Die Einheit des Seins ist also eine
Einheit der A^'heit, eine Einheit der innerlichen Zusammen-fassung. Aber die quantitative Einheit genügt nicht allein zur
Seinsgründung. Er, der mU dem Denken operiert und die
Prinzipien des Denkens als die Elemente des Seins hinstellt,
ist sich v^^oi'l bewußt, daß Denken, Denkgebilde nicht nurEinheit ist, sordern auch Identität, und nichi nur Identität,
sondern auch Beharrung. Von dem Anschauungsgebiet der
Größe geht er über zu einem noch reineren Denken. Die Er-
härtung" zu größe'-e*- Se'nhaftigkeit des Seins, drs vermöge der
Einheit isL, erfolgi durch die Identität. Noch seiender als das
Sein der Einheit ist dac Sein, das als ravrov r. ev ravrö rs /uevov
(8, 29) gedacM wird, „als Selbiges im Selbigen verha -rend".
Die V/andUmgen, die dieser Zentrc^begriff im Denken des Por-
men'des da;c^"'macht, sind von groß^r-n geschichtlichem Interesse.
Zuerst wird die falsche Identität von Sein und Nichtsein ent-
deckt, und damit das Denken ; dann wird das Denken als Iden-
tität entdeckt; diese Identität wird auf das Sein übertragen;
und darauf die Identität von Denken und Sein gesetzt. — Wasaber die Identität von der Seite des Denkens ist, das ist die
Beharrung von der Seite des Seins. Die Identität gebiert die
Beharrung. Unerschütterlich ist das Herz der Wahrheit{aTQejueg I, 29), unveränderlich sich gleichbleibend, unerschütter-
Hch ist auch das Sein {aTge/ieg 8, 4). Und mit der Beharrung
wird das Sein erst eigentlich objektiviert. Einheit ist nicht nur
Einheit, sondern auch Identität und Beharrung; Identität besagt
außer Identität noch Einheit und Beharrung dazu. Es drücken
45] Heraklit und Parmenides. ac
sich alle Denknotwendigkeiten in jeder einzelnen aus; dennochhat jede einzelne die Aufgabe, von den verschiedenen Funktionen,in die sich das ursprünglich einheitliche Denken differenziert,
eine spezifische Funktion zum nachdrücklichen Ausdruck zubringen. Einheit und Identität verbürgen wohl Sein, die Be-harrung aber ist die eigentliche Kategorie der Substanz. Des-wegen „als Selbiges im Selbigen verharrend, ndit es in sichselbst und verhc'rrt da auf diese Weise standhaft":
ravTOv T ev jamw je juevov y.a^' eavro re xeixai
Xovrcog ejujieöov av^i jueveo (8, 29—30).
„Denn die starke Notwendigkeit {xQaregi] ävayxrj ist das Bild
für die Denknotwendigkeit) hält es in den Banden der Schranke,die es rings umzirkt" (8, 30—31).
Beharrung ist also das Sein. Beharrung aber hat Parme-nides als mit Veränderlichkeit und Beweglichkeit unverträglich
gedacht. Starr ist das Sein. „Unbeweglich {äxivrixov) ist es
in den Schranken gewaltiger Bande ohne Anfang und Ende,da Entstehen und Vergehen (yeveoig xal öh'&gog) weit verschlagen
sind, wohin sie wahre Überzeugung verstieß" (8, 26—28). Eswird zwar zunächst nur das Entstehen und Vergehen der Sub-stanz selbst geleugnet, um so das zeitlos Substanzielle zu ver-
tiefen und erhärten. So heißt es vom Sein: ojg r.yevyrov eöv
xal ävcbkE'&Qov ioriv (8, 3), — „weil es ungeworden '"st, so ist
es auch unvergänglich". Und ferner: „Wie könnte es einstmals
entstanden sein? Denn entstand es, so ist es nicht, und eben-sowenig, wenn es einmal in Zukunft entstehen sollte. So ist
Entstehen verlöscht und Vergehen verschollen" (8, 19—21). DasEntstehen und Vergehen von der Substanz zu leugnen, ist nunselbstverständlich und klar; aber Parmenides leugnet a'le Ver-änderung überhaupt — alle Veränderung, alle Verschieden-
heit und alle Vielheit. Damit sind wir vor ein sehr schwieriges
Problem gestellt: wie ist das Verhältnis zwischen der wahrenWelt des Seins und der tatsächlichen Welt der entstehenden
und vergehenden Erscheinungen bei Parmenides zu bestimmen?Daß er sich der bunten Welt der Sinne wohl bewußt war
und sich ihrer erfreute, bedarf wohl kaum der lächelnden Ver-sicherung. Wenn er also eine unsichtbare, eine erdachte Weltdes Seins aufstellte, so geschah es, wie wir zur Genüge sahen,
um der Wahrheit willen. Dennoch: nur Einheit, Identität undBeharrung gelten zu lassen, Vielheit, Verschiedenheit und Be-
wegung dagegen zu verbannen — dies ist eine Zuspitzung, die
Aß H. Slonimsky, [46
nur in einem polemischen Motiv ihre Erklärung finden kann,
oder aber in der Einsicht, daß die Wahrheit sich wirklich in
den ersten drei grundlegenden Kategorien völlig auswirkt.
Vielleicht gehen wir nicht fehl, wenn wir annehmen, daß
die scharfe Zuspitzung aus der Gegnerschaft zu Heraklit ent-
sprang. Hier galt es nun, unnachgiebig und einseitig an den
Grundlagen festzuhalten, wenn überhaupt ein Sein je sollte ent-
stehen können. Das Sein ist Einheit und läßt keine Vielheit
zu; das heißt: die Einheit ist die primäre und schlechthin un-
entbehrliche Grundlage; hat man sie, so ist man wenigstens des
Fundamentes versichert; und soll je eine Vielheit entstehen
können, so muß die Einheit zugrunde liegen. Einheit ist wich-
tiger als Vielheit, denn sie ist Grundlage. Also ist Einheit das
allein Seiende. So ferner: das Sein ist Identität mit Ausschluß
aller Verschiedenheit. Das ist der Ausdruck für das Bewußt-
sein, daß die Identität die Grundlage abgibt für alle Unter-
scheidbarkeit. Soll einmal die wahre Unterscheidung vor sich
gehen können, so muß die Identität in unerschütterlicher Festig-
keit zugrunde liegen. Vorerst, um das Sein sicherzustellen gegen
Angriffe von der Art Heraklits, sei das Sein ausschließlich als
identisches Sein gefaßt. Und so schließlich mit der Beharrung.
Durch die Veränderung und Bewegung des Heraklit war das
Sein überhaupt in Frage gestellt worden. Um dieses für alle
Zukunft unmöglich zu machen, sei das Sein nur Beharrung.
Beharrung ist Grundlage für alle Veränderung, und so das
Wichtige, das einzig Seiende daran. Parmenides ist eben überall
um das Primäre besorgt, und vernichtet in bewußter Absicht
alles, was dieses bedrohen könnte.
Will man aber dem Parmenides eine überlegte Bevorzugung
gewisser Kategorien vor gewissen anderen nicht zuschreiben, so
mag man bedenken, daß ihn doch andrerseits sehr wohl die
Ahnung geleitet haben kann, daß er mit seinen drei Grund-
setzungen wirklich alles Nötige und Wesentliche erfüllt hatte.
Der Gedankengang wäre dabei folgender. Nicht auf die vielen
Einheiten der Sinnenwelt kommt es an, sondern auf die Ein-
heit; nicht auf die verschiedenen Identitäten, sondern auf die
Identität; nicht auf die Veränderungen der Substanz, sondern
auf die Substanz selbst. Das Bewußtsein, daß in den Funda-
menten auch das Wesentliche alles Weiteren, ja alles Weitere
selbst enthalten ist, hat seine Richtigkeit. Der Begriff des Seins
wird nun als der Inbegriff der fundamentalen Gesetze der vor
uns liegenden Natur gedacht. Alles in dieser Natur ist in
^7] Heraklit und Parmenides. ^n
durchgängiger Veränderung begriffen; aber ihr Wesen, ihre
Wahrheit ist das Eine, identische, beharrende Sein.
Oder aber war ihm die Veränderung wirklich undenkbar?Nimmt man diesen Begriff in seiner populären Fassung, nämlich
als das Werden eines Etwas aus einem andern von diesem ver-
schiedenen Etwas, so ist er in der Tat undenkbar. Schon der
Beginn der Wissenschaft enthielt die latente Kritik dieses so
gefaßten Begriffs. Denn das wissenschaftliche Denken verein-
heitlicht den Kosmos, schließt also ein absolutes Entstehen undVergehen aus. Daß Etwas aus etwas Anderem wird, ist un-
möglich, denn sie sind beide im Grunde dasselbe. So hat es
das Denken erkannt. Bei Parmenides nun ist das Denkendurchaus maßgebend für die Bestimmungen des Seins. DasDenken ist nun seiner ganzen Natur nach die Setzung von ein-
heitlicher, beharrender Identität. Das Sein also, wie es das
Denken in Wahrheit setzt, ist beharrend. Wirkliche Veränderungist ausgeschlossen, denn sie ist unfaßbar; sofern es möglich ist,
sie zu denken, ist sie damit und dadurch Beharrung. DennDenkbestimmungen sind schlechthin Beharrungsbestimmungen.— Dies mag nun sehr wohl der leitende Gedankengang bei
Parmenides gewesen sein; aber wir müssen uns bei diesen all-
gemeinen Überlegungen bescheiden. Es kann uns genügen,
den Grundgedanken des ganzen parmenideischen Philosophierens,
wie er aus unserer Untersuchung hervorgeht, festzustellen: daßdas Sein keine andere Begründung als die des Denkens hat;
daß das Denken kein anderes Ziel hat als die Begründungeines Seins.
An einer früheren Stelle schon haben wir antizipierend
hervorgehoben, daß der Begriff des Seins bei Parmenides in
zwei bestimmten und zwar widerstreitenden Fassungen vorliegt.
In der ersten, reineren Fassung ist das Sein nämlich nichts an-
deres als der Inbegriff der Bestimmungen des Denkens, also
reines Erzeugnis des Denkens; in der zweiten, abschließenden
dagegen erscheint es als etwas Anschauliches, BildHches —der reine Begriff des Seins scheint plötzlich in eine letzte Ding-lichke.it, in ein Substratum alles Körperlichen, in ein plenumcontinuum umgeschlagen zu sein. Der ersteren Fassung wegenwird Parmenides als Urvater des Idealismus immerdar gelten
müssen, denn an und mit diesem Gedankengang hat er dasGrundthema aller Philosophie zur Sprache gebracht, nämlich die
Korrelation von Denken und Sein. Die zweite Formulierungdagegen scheint im Zusammenhange seines grundsätzlichen
Cohen und Natorp, Philosophische Arbeiten VII 4
48 H. Slonimsky, [48
Denkens zunächst ganz unbegreiflich zu sein. In der Tat mußer derentwegen im Vergleich zu Demokrit, der ja doch sein
Schüler war, beinahe als Materialist erscheinen; wie ja auch
Demokrit, um eine Korrektur und eine Vertiefung der elea-
tischen Philosophie vorzunehmen, gerade an diesem Punkte an-
setzen mußte.
Es geht nun nicht an, eine solche Trübung des Grund-
gedankens des Parmenides einfach unvermittelt hinzunehmen;
und ich glaube, daß die scheinbare Inkonsequenz sehr wohl aus
seinem innersten Gedankengang sich erklären läßt. Zunächst
aber müssen wir uns nach der urkundlichen Fassung dieser
zweiten Phase des Seinsgedankens umsehen.
Das Sein, das vorher das reine System der Gesetzmäßig-
keit darstellte, wird also jetzt als das kontinuierliche Substratum
alles Körperlichen gedacht. „Du kannst nicht das Seiende vomZusammenhalt {Eyßodai) des Seienden abtrennen, weder so daß
es sich in seinem Gefüge überall gänzlich auflockere, noch so
daß es sich zusammenballe" (2, 2—4). „Unteilbar {ovde öiai-
Qerov) ist es, weil es ganz gleichartig ist. Und es gibt nirgend
etwa ein stärkeres Sein, das seinen Zusammenhang (ovvexeo'&ai)
hindern könnte, noch ein geringeres; es ist vielmehr ganz von
Seiendem erfüllt {jrav d' sjutiIeöv eonv eovrog). Darum ist es
auch ganz zusammenhängend {^vveyjc:); denn ein Seiendes stößt
dicht an das Andere {iov ydg sovti TieMCei)" (8, 22—25). Mansieht, der eigentliche Grundbegriff dieser ganzen Seinskonzeption
ist der „Zusammenhalt". Und daß dieser so bedeutsame
Begriff des Zusammenhangs, der Kontinuität, erst hier, bei der
Bestimmung des Seins, zu starker Betonung und zu nachdrück-
licher Verwendung gelangt, ist sehr bemerkenswert. Zw^ar wird
er von Parmenides auch schon an einer sehr wächtigen, der
früheren Stufe seines Denkens angehörigen Stelle verwendet, und
zwar um nichts Geringeres auszudrücken als den innerUchen,
notwendigen Zusammenhang des über die Relationen der Zeit
hinausgehobenen reinen Systems der Gesetzmäßigkeit. Er sagt
nämlich vom Sein: ol'<5£ .tot' yv ovo' e'orai, ejiei vvv eonv öjliov
näv, Ev, avvEXEg (8, 5— 6): „Es, das Sein, w^ar nie und wird
nicht sein, weil es allzusammen nur jetzt ist, eins, zusammen-
hängend." Dennoch wird der Begriff der Kontinuität erdacht,
nicht so sehr zur Bestimmung des Denkens, als vielmehr zu der
der Einheit des Seins. Wäre das erstere geschehen, dann wäre
damit die Starrheit des parmenideischen Denkens von vorn-
herein überwunden, und die Vertiefung, die später durch Demo-
/j.q1 Heraklit und Parmenides. 40
krit und Piaton erfolgte, im Keime vorweggenommen. Der Zu-sammenhalt der Begriffe hätte die Einsicht in die Bezogenheit
der Begriffe aufeinander, damit aber die Erkenntnis ihrer Be-weglichkeit und Lebendigkeit erschlossen, wodurch ferner die
ganze Konzeption des Seins sich ungleich vertieft hätte. Soaber verblieb der Begriff der Synechie bei der Anschaulichkeit,
und er besagt eben die gleichförmige Stetigkeit, das lückenlose
Ausgefülltsein des zugrunde liegenden Körperlichen, als welchesdas Sein jetzt gedacht wird. Die Synechie wird also in ihrer
Anwendung auf das Sein als reine Materie im Sinne vom Nicht-
vorhandensein eines leeren Raums verstanden. Darauf deutet
der Begriff der Unteilbarkeit {ovde diaiQSTOv 8, 22). Es wirdalso jetzt, getreu dem Anschaulichkeitsmotiv dieser ganzen Denk-stufe, der leere Raum als das eigentlich Nichtseiendebetrachtet. „Es (nämlich das Sein) darf ja nicht da und dortetwa größer oder schwächer sein; denn da gibt es weder ein
Nichts (ov TEov), das eine Vereinigung aufhöbe, noch kannein Seiendes irgendwie hier mehr, dort weniger vorhanden sein
als das Seiende" (8, 44—48). Zum leeren Räume, zum ov xeov
ist also jetzt das Nichtsein geworden. Was früher ein reiner
Hilfsbegriff des Denkens war, nämHch der Widerspruch, dasUndenkbare, das ist jetzt der trennende Raum, — denn ebendies gilt jetzt als das Undenkbare.
Und damit kehren wir zu unserer Frage nach dem Ursprungdieser ganzen Denkweise zurück. Nun aber stellt sich diese als
keineswegs neu und fremd heraus, sondern als die bloße Um-kehrung der früheren, uns bekannten Denkweise des Parmenides.Denn wenn in der letzteren die Korrelation von Denken undSein entsteht, derart daß das Denken für das Sein bestimmendist, so bleibt die Korrelation auch hier in unverminderter Gel-tung bestehen, nur daß die Betonung diesmal auf das Sein ver-
legt wird. Das Sein — das ist noch immer dasjenige, wasdenknotwendig ist; aber warum gerade das starre Kontinuumals das Denknotwendige und deswegen als das Seiende zugelten hat, das hängt mit dem ersten, einzigen und tiefsten
Gedanken des Parmenides zusammen, nämlich: Denken ist Be-harrung, das Unbeharrende ist das Undenkbare; deswegen ist
ein Sein nur im Denken zu ergründen, deswegen aber auchist dieses Sein das schlechthin Beharrende.
Die Unbegreiflichkeit des Werdens, die Undenkbarkeit derBewegung: mit diesem Gedanken fängt Parmenides an und mitdiesem schließt er. Am heraklitischen Werden entdeckt er den
CO H. Slonimsky, fco
Widerspruch, weil ihm nur ein Beharrendes denkbar ist.
Man sieht leicht, wie seine zwei Grundbegriffe, Denken undSein, und deren Verhältnis zueinander, sich aus diesem Grund-
motiv ergeben. Weil ihm nur ein Beharrendes denkbar ist, undferner weil ihm das Denken nur Beharrendes zu erzeugen ver-
mag, deswegen zeichnet er das Beharrende als das „Seiende"
aus, und als Bürgschaft für dieses Seiende zeichnet er gleicher-
maßen das Denken aus. Was ihn an Heraklit abgeschreckt
haben muß, war die Verschwommenheit, ja schließlich die völ-
lige Verwischung aller Erkenntnis, die sich ergab, wenn man das
Werden, dieses stete Nichtsein, zugrunde legte. Um überhaupt
etwas Festes zu haben, hielt er sich an dem Festen des Be-
griffsinhalts, nämlich an dem Statischen, Identischen, Beharrenden,
Unbeweglichen des Begriffes. Deswegen eben war ihm Werdenund alle Bewegung widerspruchsvoll und unbegreiflich; oder
vielleicht, weil ihm als Erstes die Bewegung undenkbar war, kamihm der Gedanke, daß nur ein Beharrendes denkbar sei. Die
Motive bedingen und fordern sich gegenseitig, so daß es sich
schließlich gleichbleibt, welches das zeitlich erste gewesen sein
mag.Wie tiefsinnig Zenon die Argumente gegen die Verständ-
lichkeit der Bewegung gefaßt hat, ist genugsam bekannt. Bei
Parmenides ist dieses Motiv, wenn auch nicht positiv hervor-
gekehrt wie bei Zenon, so doch von Anfang an in aller Stärke
als Grundmotiv vorhanden und überall latent wirksam. Die
Bewegung muß den Eleaten geradezu als das Rätsel aller Rätsel,
als der Widerspruch schlechthin erschienen sein. Die Bewegung
:
das ist ein fortwährendes Nichtsein, ein nie zu fassendes Ver-
fließen, das schlechthin Unbegreifliche ; denn will man es irgend
fassen, begreifen, zum Sein bringen, so hat man es dadurch —aufgehoben. Die Bewegung auszurechnen: damit war für das
Verständnis der Bewegung selbst noch nichts getan. So blieben
ihnen Bewegung und Denken geradezu disparate , heterogene
Faktoren. Denn die Bewegung ist offenbar nicht durch Still-
stände, Stillstellungen irgend zu verstehen; und das Denken,
das den Eleaten allein zur Verfügung stand, war ja eben nichts
anderes als das isolierende, stillstellende Begriffsdenken. So
mußte ihnen wohl Werden und Bewegung als das Unbegriff-
liche vorkommen, d. h. aber für sie als das Unmögliche, das
Nichtige. Worin aber die Schwierigkeif bestand, und warumBewegung und Denken als schlechthin disparat erscheinen
mußten, das hat sich nunmehr herausgestellt als einfache Folge
ti~\ Heraklit und Parmenides. cj
des eleatisch gefaßten Denkens. Und der Fortschritt über
die Eleaten hinaus wird, wie wir sehen werden, darin be-
stehen, daß dieses starre, diskrete BegriiTsdenken durch ein
tieferes Denken, durch einen tiefer gefaßten Begriff des Denkensersetzt wird.
Auf jeden Fall: ihrem Denken mußte alles Sein gemäßsein. Da aber ihr Denken nur Beharrendes zu denken ver-
mochte, so mußte das Sein beharrend sein. D. h. weil die Be-
wegung undenkbar war (oder vielmehr, wie Piaton später sagen
wird, weil ihr Denken unbeweglich war), darum mußte das Sein
unbev;eglich sein. Das Sein ist also die bloße Objektivierung
des Unbeweglichkeitscharakters des Denkens, also das objekti-
vierte Unbewegliche selbst, mithin das Starre an sich. DieKorrelation von Denken und Sein führt also zu einemdinghaften Sein! So ist das Sein dinglich; dennoch bewährtsich die idealische Kraft der großen Korrelation darin, daß das
Sein trotz alledem mit keinen sinnfälligen Prädikaten zu be-
legen ist. Es ist nämlich der hypostasierte InbegriiT sämtlicher
Merkmale des Begriffs; im Unbeweglichen stecken sie alle.
Und der eigentliche Sinn der Synechie, die ja hier erst richtig
zur Verwendung gelangt, ist der, daß durch den „Zusammen-halt" der Dinglichkeitscharakter des Seins gewahrt bleibt dadurch,
daß alle Bewegung ausgeschlossen wird — alle Bewegung, aber
auch das Leere als Voraussetzung für die Bewegung. Das ist
die Leistung der Kontinuität,- nämlich die Ausschaltung des
leeren Raumes. Denn nunmehr als Voraussetzung für das Nicht-
sein der Bewegung und als Aufhebung des Seins des Starren,
ist das Leere doppelt nichtseiend. So wird der Begriff des
Nichtseins ganz speziell auf den leeren Raum beschränkt.
So klingt der gewaltige parmenideische Gedanke in ein
armes Anschaulichkeitsmotiv aus. Das Denken ist bestimmendfür das Sein; aber das Denken bestimmt dieses Sein letzten
Endes als das Beharrende und Starre. So konnte man leicht
in das Anschauliche weiter abirren, und schließlich als alleiniges
Sein das „Volle" betrachten, als Nichtsein das Leere. Es hat
wohl etwas Verlockendes, das Sein durch das Bildliche derRuhe und der Beharrung sich vorzustellen. Aber der eigent-
liche Grund der ganzen Abirrung lag in der eleatischen Fassungdes Denkens selbst, welches ja das Sein ursprüngUch als ebenstarr und beharrend faßte. Für dieses Denken war alles Ge-dachte, alles Denknotwendige nur Beharrendes. Den Grundsolcher Bestimmung des Seins haben wir versucht aufzudecken.
C2 H. Slonimsky, [c2
Das eleatische Denken selbst war starr, unbeweglich, isolierend,
diskret; gemäß ihrer Grundformel entstand nun das eleatische
Sein als genaue Spiegelung ihres Denkens. Und als direkte
Folge hiervon kam schließlich hinzu, daß nur was sich voll undruhend anschauen ließ — man hätte beinahe: denken ließ
gesagt, wenn nicht Parmenides gerade hierbei das von ihmselbst entdeckte Denken borniert und entwertet hätte — als
Denkerzeugnis galt.
ti] Heraklit und Parmenides. 53
4. Die Fortwirkung der eleatischen Philosophie
bei Demokrit.
Als Parmenides und sein Erläuterer Zenon vom Schauplatz
abtreten, bietet die Philosophie einen merkwürdigen Anblick dar.
Wie eigentümlich mußte es den philosophisch Forschenden an-
muten, die Zügel da aufzunehmen, wo sie Parmenides hatte fallen
lassen. Die ganze sichtbare Welt sei null und nichtig, sei nicht-
seiend! Da dies das letzte Wort nicht eines Unverantwortlichen
war, sondern eines Denkers, der gerade in tiefgründigster Ant-
wort darauf Rede steht, so wird gleich von vornherein der Sinn
in die richtige, die philosophische Denkrichtung eingestellt. DasUnerhörte dieser Konsequenzen, die Unerschrockenheit und Un-
erbittlichkeit, mit der sie verfolgt und verfochten werden, leitet
auf die Voraussetzungen hin. Es muß doch etwas Einziges undGewaltiges sein, das solche Ungeheuerlichkeit zu stützen sich
verbürgt. So wird die Betrachtung gleich auf das „Denken",
auf das parmenideische Denken hingelenkt. Diesem Denken ist
nach Prüfung solche Souveränität zuerkannt, zuerteilt worden.
Will man erkennen, so hat dieses sich als einziges Werkzeugherausgestellt. Und weil, wenn anders man erkennen will, das
Denken die letzte, ja die einzige Entscheidungsinstanz darstellt,
über welche hinaus Berufung einzulegen unstatthaft ist, darumkonnte man es wagen, solche Konsequenzen, und welche auchimmer, auf sich zu nehmen. Diese herrliche Denktapferkeit hat
ihren erklärten Grund in der erkannten Macht der Waffe.
Die Kluft, die Parmenides hier in solcher Schroffheit
zwischen der Welt des Denkens und der Welt der Sinne auf-
gähnen läßt, hat klassische Bedeutung gewonnen. Als später
die Begriffe und Motive ihre Namen erhalten, heißen diese beiden
Welten xonog voi]z6g und zojiog alodrjxog, mundus intelligibilis
und mundus sensibilis. Die Philosophie ist das Ringen nach, einem Verhältnis zwischen diesen beiden Welten. Der Streit,
das Widerspiel, die Vermittlung, die fortgesetzte Auseinander-
c_| H. Slonimsky, [e^
Setzung nach all den Variationen, die das Festlegen dieses Ver-hältnisses jeweilig zulässig oder erforderlich macht, — das ist
der eigentliche Lebenskern der Philosophie. Parmenides kommtzu einer Unvermitteltheit und läßt es dabei in naiver Genialität
bewenden. Aber Demokrit und Piaton , die das große Themaaufnehmen und auf Parmenides fußen, sehen sich gezwungen,
die größere Aufgabe in Angriff zu nehmen. Setzt man denTheätet als die erste der fundamentalen Untersuchungen Piatons
an, so zieht sich von dieser Schrift über den Phädon und denStaat bis zu den abschließenden Erörterungen im Parmenides
und im Sophisten die Auseinandersetzung zwischen den Ideen
und den Erscheinungen als ein einziger, immer wieder auf-
genommener Faden durch alle Schriften hindurch. Und waswir auch sonst aus den kümmerlichen Bruchstücken, die uns
vom demokriteischen Gebäude herübergerettet sind, nicht gew'ahr-
werden mögen, so ist dieses Eine doch klar: das treibende
Motiv seiner ganzen Philosophie ist das Bestreben, solche koyot
zu finden, um mit Aristoteles zu reden, oTriveg Jigög zt]v al'o&rjocv
öjuo^oyovjUEva Xeyovreg ovx dvaiQi]oovotv ovxe yevsoiv ovte cp&oqäv
ovxe xivrjoiv xal rö jtXrj^og tcüv övtcov (de gen. et corr. 325 a 23).
Die Welt der Erscheinungen sollte verständlich gemacht wer-
den: es mußten solche Xoyoi erdacht werden, daß sie „allgemein
Zugestandenes in bezug auf die Wahrnehmung bestätigen, undWerden, Vergehen, Bewegung und die Vielheit der Dinge nicht
aufheben". Die gleiche Aufgabe bei beiden großen Fort-
setzern des Parmenides führt, bei aller Verschiedenheit der Aus-
führung, zu einem Resultat, welches, bei aller Verschiedenheit
der Fassung, doch im Grunde dasselbe ist: das von Parmenides
entdeckte Denken mußte so gefaßt und so vertieft werden, daßdadurch die Erscheinungswelt ermöglicht wurde.
Die Erscheinungswelt zu ermöglichen, rä (paivöjLieva öiaocp^eiv,
— das war also das leitende Motiv der demokriteischen Philo-
sophie. Um nun dieses wirkUch zu bewerkstelligen , bedurfte
es erst recht des parmenideischen Anfangs. Die Rettung der
Erscheinungen lag allein in den Händen des Denkens. Daherist der parmenideische Anfang der unersetzliche Anfang der
Philosophie. Nicht was ich sehe und höre ist das Sein, sondern
was ich denke. Im Denken allein ist das Sein zu finden, zu
ergründen. So hatte Parmenides gelehrt. Und so weit folgt
ihm auch Demokrit. Was ich sehe und höre ist ein ov bloß
vöjuq). Im Denken allein ist das wahre Sein dieses vöjucp öv
zu ergründen; und es heiße eben hef] öv. Aber gleich hier
cc] Heraklit und Parmenides. 55
verzweigen sich die Wege. Während nämlich Parmenides im
Laufe seiner Untersuchung zu einem neuen, einem ausschließUch
auf das Denken bezogenen, einem das Sein der Natur aus-
schließenden Begriff des Seins kommt, so trachtet Demokrit
unverwandt danach, das Denken im steten Dienst des Natur-
seins zu erhalten. Nur in einem solchen Dienstverhältnis des
Denkens zum Sein der sensiblen Welt scheint ihm die parme-
deische Korrelation von Denken und Sein irgendwelche Be-
deutung zu haben. Diese Stellung Demokrits erklärt sich
aus seinem ausschlaggebenden naturwissenschaftlichen Interesse.
Parmenides hatte gelehrt : nicht was ich sehe und höre, ist das
Sein, sondern was ich denke ; was ich sehe und höre, ist nicht
das Sein, weil es das Bewegliche, die Bewegung ist; diese aber
ist unbegreiflich, weil unbegrifflich; was ich denke, ist das Sein,
weil ich Beharrung denke; Sein ist das Beharrende; Sein ist das
Unbewegliche; das Bewegliche, die Bewegung ist nicht das Sein,
weil es das Undenkbare ist. Für Parmenides, den Logiker, ist
also das Interesse des Denkens das allein Entscheidende undZwingende, und jede sonstige Instanz ist ihm daneben ganz
bedeutungslos. Für Demokrit aber, dem es um eine Natur-
wissenschaft , allerdings um eine logisch gesicherte , um jeden
Preis zu tun ist, ist die Natur und deren Hauptproblem, die
Bewegung, das Zwingende, und diesem muß sich das Denkenfügen. Das Denken und dessen Eigenprobleme bilden für ihn
nicht, wie für Parmenides, das Hauptinteresse, sondern es be-
sitzt für ihn das Denken nur den mittelbaren Wert als (aller-
dings unumgängliches) Mittel zur Begründung der Bewegungund der Wahrnehmungsqualitäten. Hat ein angebliches Denkendie Bewegung nicht zu rechtfertigen vermocht, so besteht der
Anspruch der Bewegung auf solche Rechtfertigung gebieterisch
fort. Die Welt der Erscheinungen vermag insofern für sich zu
bestehen, während die einzige Rechtfertigung des Denkens in
der von ihm vollbrachten Rechtfertigung dieser Welt der Sinne
liegt.
W^erfen wir nur einen kurzen Blick auf sein Lehrgebäude,
wobei wir uns vorzüglich an die erkenntniskritische Seite davonhalten wollen.^) Gemäß der echten philosophischen Tradition,
die in Parmenides ihre klassische Ausprägung gefunden hatte,
^) Das richtige Verständnis für Demokrit hat als erster angebahntCohen, Piatons Ideenlehre und die Math.; ausgeführt und begründethat es Natorp in seinem schönen und wichtigen Aufsatz ForschungenS. 164— 208.
cß H. Slonirasky, frg
fängt er damit an, daß er die Wahrnehmung als Erkenntnisquelle
ablehnt, aber — und hier ist es, wo er über seinen Lehrer hinaus-
geht — nur um die Wahrnehmungsqualitäten und die Bewegungauf diese Weise um so besser zu begründen. Die wahrnehmbareWelt als das Problem wird als Quelle der Lösung abgelehnt;
aber der begründende Verstand wird auf die Realisierung dieser
sensiblen Welt restringiert. Es werden die zwei Erkenntnisarten,
die verstandesmäßige und die sinnliche, obwohl streng ge-
schieden und an Erkenntniswert scharf unterschieden, dochgleich von vornherein zueinander in Beziehung gesetzt. Sextus
berichtet uns nämlich (VII 139, Diels Fr. 11), Demokrit habewörtlich gesagt: „Es gibt zwei Formen der Erkenntnis {yvd)/bi7]g
idem), die eine eine echte (yvijoh]), die andere eine unechte{oxoTtt-j). Zur unechten gehören Gesicht, Gehör, Geruch, Ge-schmack, Getast. Die andere aber ist die echte Form, voll-
ständig von dieser geschieden (äjioxEy.Qijitevi])." Und er erteilt
der echten Erkenntnis den Vorzug, weil man zu ihr greifen muß,„wenn die unechte nicht weiter sehen oder hören oder riechen
oder schmecken oder tasten kann, sondern man ins Feinere
gehen muß". Dieselbe Bezogenheit aufeinander bei aller Unter-
scheidung voneinander liegt auch dem berühmten Gegensatzpaarvöjiicp — aref] zugrunde. „Scheinbar ist Farbe, scheinbar das
Süße, scheinbar das Bittere; in Wahrheit aber sind nur Atomeund Leeres" {vojuco XQoir}, vöjuq) ylvKv, vöjuco tiixqöv, irefj d'
ärofxa xal xevov , Fr. 125 und 9). Aber die Wahrheit ist die
Wahrheit der Erscheinung. Aus Unterschieden in der Gestalt
und in der Zusammensetzung der wahrhaft seienden Atome ent-
stehen die Unterschiede der Wahrnehmungen; und ferner aus
dem Zusammenwirken der Atome und des Leeren entsteht die
Bewegung. So wird die ganze bewegte Natur, sowohl das
Scheinbare, als auch das Erscheinende, durch die Voraussetzung
von den gedachten ärojua xal xevöv erklärt. Ganz besonders
an dem Begriff des xevov beweist er den Fortschritt, den er
über die Eleaten hinaus gemacht zu haben glaubt. Das xevöv
ist das ausgeartete eleatische /nt] uv; da, wo der eleatische Be-
griff vom identisch -beharrenden Sein zu einem unbeweglichen
Etwas erstarrt, bedeutet das //?) öv, als das Leere, als das Nicht-
Etwas, das bloße juijöev, das Nichts. Demokrit nimmt den also
verbannten Begriff in Ehren wieder auf. Im Übermut ruft er
den Eleaten zu, das Ichts sei nicht mehr als das Nichts {juij
[xällov tö dev 7] ro i^i]dhv elvai, Fr. 156); denn das Nichts, als
die ermöglichende Voraussetzung der Bewegung, ist eine ebenso
57] Heraklit und Parmenides. t'j
notwendige Annahme als das parmenideische Ichts, und nur imVerein vermögen sie die erscheinende Natur zu erklären. Eridentifiziert also auf diese Weise das eleatische ^>) ov mit seinemjisvov; und das xevov als „nichtseiende" Grundlage alles Seins
ist gerade dadurch wahrhaft seiend, evef] öv. So gewinnt der
Terminus jui] öv einen erhöhten erkenntniskritischen Sinn. Dasiref] Öv, die ärojua sowohl als das xevov sind keine övra, indemsie der Wahrnehmung entrückt sind, und dennoch, und ge-
rade in diesem Entrücktsein die Grundlage der wahrnehmbarenWelt bilden; deswegen werden sie ja als hefj ausgezeichnet.
Dieser Gedankengang ist der bezeichnende, der charakteristische
für Demokrit. Denn auf solche Begründung, solche Realisierung
der sensiblen Welt vermittelst des Denkens kommt ihm alles
an. Darum wendet er sich auch gegen seine Lehrmeister, die
Eleaten, die das Denken und nur das Denken gelten lassen
wollen; an den „Tatsachen" vorbeigehen zu wollen, heißt für
ihn, an den Tatsachen scheitern. So ist ein Ausspruch, denuns Galen aufbewahrt hat, für die doppelseitige Besonnenheit
seiner Denkweise äußerst lehrreich. Nämlich gerade an der
Stelle, wo er sich über die „^aivöjuEva" abfällig äußert, läßt er
die Sinne gegen den Verstand auftreten, um in einem Satz vonüberlegener Ironie seinen ganzen Standpunkt, nämlich den er-
weiterten und berichtigten Eleatismus gegenüber dem unvoll-
kommenen zu offenbaren: rdXaiva cpQiqv, jiag' fjfxecov laßovoardg Tiioxeig fj^ueag xaiaßdlXeig ; Jircojud toi to xardßh]jua (Fr. 125).
„Armseliger Verstand, deine Beglaubigungen, deine Bewährungs-beweise nimmst du von uns, und uns willst du besiegen? DeinSieg ist dein Fall!" Was Demokrit andeuten will, ergibt sich
ohne weiteres aus dem dargelegten Zusammenhang: hat einmalder Verstand die Welt der Sinne beseitigt, so hat er ebendamit seine eigene Lebensberechtigung vertan, wenn allerdings
auch andrerseits die Erscheinungen die Würde der Beglaubigungund der Legitimierung, ihren Grund und ihre Stütze einzig undallein von dem Verstände erhalten.
Von hier aus läßt sich der ganze prinzipielle Unterschiedzwischen der Auffassung des Denkens bei Demokrit und derbei Parmenides ersehen. Für Parmenides ist das einmal ent-
deckte Denken etwas Fertiges und Unabänderliches, weil schlecht-
hin Souveränes: hat z. B. einmal die Erscheinungswelt sich
dadurch nicht fassen lassen, so ist sie eben damit endgültig
'gerichtet. Für Demokrit dagegen ist das Problem das ursprüng-Hch Bestimmende, das Denken hat sich je nach den Erforder-
58 H.Slonimsky, Trg
nissen des Problems einzurichten: so ist das Denken etwasFlüssiges und Unerschöpfliches. Das ist im Kern die Korrektur,die Demokrit an dem parmenideischen Begriff des Denkensvorgenommen hat; und die Philosophie, besonders diejenige, diesich an der Wissenschaft orientiert, hat ihm darin recht gegeben.Das Denken ist nicht das starre, unabänderliche, ein für allemalfertige identisch beharrende, isolierte Begriffsdenken des Par-menides; sondern es hat sich stets, je nach Maßgabe der Pro-bleme, zur Erzeugung und zur Entdeckung zu bringen. DasProblem stellt an das Denken die Aufforderung, eine Begründungausfindig zu machen. So darf es sich nicht als fertig und un-verbesserlich anstellen, sondern muß stets auf der Hut bleiben,
nicht starr und unzulänglich zu werden: es muß das Erforder-liche aus dem eigenen Schacht stets hervorholen können, undso seine begründende Kraft unermüdlich bewähren.
Indessen darf uns diese verständliche, einleuchtende undgewiß erforderliche Korrektur, die Demokrit der Lehre seines
Meisters hat angedeihen lassen, über die tiefere und ewigephilosophische Bedeutsamkeit der parmenideischen Philosophienicht hinwegtäuschen. Was man auch gegen diese einwendenmag, einzuwenden sich sofort gedrungen fühlt, gegen ihre aufkeine Vermittelung sich einlassende Abgeschlossenheit, ihre er-
trotzte Einseitigkeit — man fühlt dennoch, wenn man bei ihr
verweilt, daß gerade diese ihae Merkmale die Gewähr für einentiefen, ihre äußerliche Paradoxie rechtfertigenden Sinn bildendürften. In der Tat erweist sich ein Sieg, wie der Demokrits,so sehr er notwendig war und so sehr auch er mit wirklich
philosophischen Waffen erfochten wurde, dennoch als etwaswohlfeil. Parmenides hat es seinen Gegnern, zumal denen, die
den Kern seiner Lehre annahmen, wahrUch nicht schwer ge-
macht: sollte er selbst wirklich nicht gewußt haben, welcheBlößen er sich gab? Und sollte es nicht geschehen sein imBewußtsein eines unerschütterlichen Gehaltes, der seiner Lehretief zugrunde lag, und dessentwegen diese Blößen ruhig undwillig mit in den Kauf genommen wurden.?'
Versuchen wir das Verhältnis zwischen Parmenides undDemokrit daraufhin näher zu bestimmen. Parmenides hat vomDenken aus das Sein der Dinge verworfen; Demokrit dagegensah sich vom Sein der Dinge gezwungen, das Denken in seiner
vermeintlichen Souveränität zu beschränken, unterzuordnen undauf jeden Fall dienstbar zu machen. Worin also ist Demokritüber Parmenides hinausgegangen.? Darin, daß er eine rationale
59] Heraklit und Parmenides. cg
Naturwissenschaft aufbaute. Aber war dies denn etwas vonGrund auf Neues? Im Gegenteil: daß die erscheinende Naturaus gewissen gedachten Elementen sich ergibt, hatten schon die
Früheren fast alle durch den Versuch dargetan. Gewiß hat dies
Demokrit solider und durchdachter vollführt, aber mit unddurch Parmenides hatte sich überhaupt die ganzeProblemstellung tatsächlich verschoben und vertieft:
jetzt handelte es sich gar nicht mehr um die Wissen-schaft, sondern um die Philosophie. Nicht aus welchenirgend zu erdenkenden Seinsfaktoren das Sein der Natur sich
ergibt, war länger die Frage; sondern das Verhältnis selbstvom Sein des Denkens zum Sein der Dinge bildete nunmehrdas tiefere Problem. Die erstere Frage ist die Frage der
Wissenschaft, die letztere dagegen die der Philosophie; diese
fragt, ob und wie Wissenschaft möglich sei, die Wissenschaftaber setzt diese Möglichkeit stillschweigend voraus. So kommtes, daß Demokrit, indem er durch seine wohlfundierte Wissen-schaft den Parmenides scheinbar siegreich überwindet, tatsäch-
lich das viel tiefer liegende Problem des Parmenides unberührtvoraussetzt und ignoriert. Insofern stellt das Verhältnis Demo-krits zu Parmenides das Verhältnis der Naturwissenschaft zur
Philosophie dar. Und den Unterschied dieser beiden Stand-punkte, ihren gegenseitigen Wert, ihre beiderseitigen Begriffe
von Denken, Sein und Erkenntnis kann man an den LehrenDemokrits und Parmenides' entwickeln. Eine kurze Beleuchtungdieses Sachverhalts wird vielleicht die geschichtliche Bedeutsam-keit der beiden Denker näher ans Licht rücken.
Dem Demokrit mußte die berühmte parmenideische Kor-relation von Denken und Sein als leere Tautologie erscheinen.
Denken und Sein sind dasselbe, weil Sein bei Parmenides derDenkgegenstand ist, und der Denkgegenstand das rein Gedachteist. Denken und das Gedachte sind also dasselbe: darauf läuft
die ganze Lehre des Parmenides hinaus. Aber für die Er-kenntnis der Natur ist damit doch, vAe es scheint, ganz undgar nichts getan. Wie mußte dem naturforschenden Demokritdiese Philosophie vorkommen? Ein SeinsbegriiT, der nur ein
Sein für sich, nicht ein Sein für das vorgespiegelte Sein derDinge darstellte; eine Wahrheit und ein Denken, die beziehungs-los für sich bestanden, und nicht ein Denken für das wirklichzu Bedenkende und eine Wahrheit des an sich noch nicht
,Wahren: es mußte ihm doch dies alles wohl wie eine bizarre
Absonderlichkeit der Laune erscheinen. Er, der sich wirklich
6o H. Slonimsky, |^5o
mit der Natur befaßte, mußte sich als der wahre Vollstrecker
der bei Parmenides bloß geforderten Korrelation von Denkenund Sein fühlen. Denken war für ihn das Erdenken der Grund-lagen für die Natur; Sein waren eben die vom Denken entdeckten
und sich als wahr bewährenden Faktoren der Natur ; und Wahr-heit, Erkenntnis nicht das bloße Übereinstimmen mit sich selbst,
sondern eben das Übereinstimmen des als wahr Angenommenenmit den Wahrnehmungen. Es gilt eben über das reine Denkenhinauszukommen, könnte er dem Parmenides zugerufen haben.
Es gilt, den wirklichen Gegenstand zu erfassen; es gilt, mit
einem Wort, eine Wissenschaft der Natur. Wird denn die
sensible Welt als das Problem je verstummen, und wenn sie
in aller Ewigkeit totgesagt wird ? Welchen Sinn hätte „das
wahre Sein", wenn es nicht wahr und seiend wäre für das Un-wahre, das Nichtseiende eben der problematischen Welt der
Sinne? Es heißt eben wahr und seiend, weil es den notwen-digen Bezug auf das, dessen wahrseiende Grundlage es ist, in
sich von vornherein enthält.
Gegen solche Ausführungen kann sich die Lehre des Par-
menides nur damit rechtfertigen, daß so gewiß auch die demo-kriteische Problemstellung die weitere und breitere Aufgabe der
Erkenntnis treffend umreißt, sie dennoch das dieser voraus-
Hegende Problem, welches alle Forschung und alle Wissenschaft
selbst problematisch macht, unberührt und unerörtert läßt. Dies
aber ist das eigentlich philosophische Problem. Nicht als obdie Lehre des Parmenides selbst dieses Problem in aller Deut-
lichkeit zur FormuUerung gebracht hätte: dafür befand sich das
Denken noch in einem viel zu undüTerenzierten Zustand. Aberder ganzen Gestaltung dieser Lehre hegt dieses Problem zu-
grunde, und nur so läßt sie sich eigenthch begreifen. DaßParmenides das Denken erdachte und daraufhin die Welt der
Erscheinungen als des Gedachtwerdens unfähig, als dem Denkennicht gemäß hinstellte, bedeutet tatsächlich und eigentlich fol-
gendes: alleinige Quelle aller Gesetzmäßigkeit, mithin aller Er-
kenntnis ist das Denken; es ist aber erst ein zweiter
Schritt, eine gesonderte Frage, ob auch der Gegen-stand, etwa die Natur, der Gesetzmäßigkeit desDenkens teilhaftig ist. Dies ist das Problem, das mit der
eleatischen Leugnung der Naturgesetzlichkeit plötzlich aufgewor-
fen wird. Die Frage, ob und wann die Natur gesetzmäßig und
erkennbar sei, bildet erst eine zweite Etappe, nämlich die For-
schung, in der man bei der Natur anfragt, ob sie sich diesem
öl] Heraklit und Parmenides. 5l
und diesem Denken fügen will. An dieser von Parmenides voll-
brachten Sonderung der Etappen entsteht das philosophische
Problem. Man darf nicht einwenden, daß das Denken, womitParmenides seine Prüfung der Natur auf ihre Gesetzmäßigkeit
hin (nämlich an ihrem Hauptproblem, der Bewegung) vor-
genommen hat, ein allzu primitives war: dadurch wird das
Resultat nicht im mindesten beeinträchtigt. .Im Gegenteil: der
Unzulänglichkeit seines Denkens, nach der eine Naturwissenschaft
sich als unmögUch erwies, ist es eigentlich zu verdanken, daß
er, der Weisung dieses seines Denkens kühn folgend, tatsächlich
dazu kam, das philosophische Problem von der Möglichkeit einer
Wissenschaft ans Tageslicht zu fördern. Es bleibt sein philo-
sophisches, sein transzendentales Verdienst, daß er die Fragengesondert hat. Er hat durch die Tat das Problem aufgeworfen,
und hat durch seine rigoros -negative Fassung diesem ProblemNachdruck verliehen: ob und wie und inwieweit die Naturdenkgemäß sei.
Demokrit hat dieses Problem übergangen. Aber Piaton
der eingefleischter Parmenideer war, hat im Grunde bloß eine
einzige Frage : was denn eigentlich Wissenschaft sei ; und in
Ermangelung einer systematischen Naturwissenschaft verrät er
bis zuletzt die Tendenz, die Natur in bezug auf Gesetzmäßigkeit
und Erkennbarkeit kaum gelten zu lassen, dagegen, in erkenntnis-
kritischer Wertschätzung, die Ideen als alleinige Erkenntnis
hochzuhalten. Etwas von der überragenden Unendlichkeit des
Denkens , wovon eine etwaige Wissenschaft von der Naturallenfalls einen Spezialfall bildet, muß diesen beiden, Piaton
und Parmenides, eingeleuchtet und sie geleitet haben. Kann es
dann wundernehmen, daß da, wo die Denkgemäßheit der Naturan einer faktischen, anerkannten Naturwissenschaft sich nicht
demonstrieren ließ, ein Parmenides sich allein an das reine
Denken für alle Gesetzmäßigkeit und alle Erkenntnis hielt.? Hierwar jedenfalls Sein und Gesetzmäßigkeit, in der Fülle des Den-kens, in der auftauchenden Mathematik; hier brauchte man auchnicht über sich selbst hinauszugehen, um sich der Wahrheit zuvergewissern. So war es ein Schritt zur Philosophie, eine philo-
sophische Leistung eminentester Art, von den naiven Natur-erklärungsversuchen abzustehen und einmal kühn die Natur-gesetzlichkeit zu leugnen: denn damit wurde die von der Wissen-schaft naiv angenommene Bezogenheit der Denkgesetzlichkeit
auf die Natur in Frage gestellt, und sie mußte in Frage gestellt
werden, wenn sie einmal ernstlich begründet werden sollte. —
62 H. Slonimsky, Heraklit und Parmenides. [62
Wie nun die eleatische Philosophie auf Piaton gewirkt hat,
ist geradezu das Problem der Geschichte der platonischen Philo-
sophie selber. Der Einfluß dieser Philosophie auf Piaton ist
von Anfang bis zu Ende ein durchgreifender gewesen; sein
ganzer Entwicklungsgang ist eine einzige Auseinandersetzungmit ihr. Die Eröffnungsschrift seiner akademischen Laufbahn,der Phaedrus, ist noch vollständig eleatisch in der verzückten
Auseinanderhaltung von Sein und Werden, von Ideen und Sinn-
lichkeit: das letzte große Dokument seines theoretischen Philo-
sophierens, der Philebus, erweist das Werden als ein Werdenzum Sein, das Sein als ein gewordenes Sein. Piaton hat die
ganze Energie seiner lebenslangen Denkarbeit darauf verwendet,
das ursprüngliche eleatische Motiv in seiner eigenen Geistes-
anlage zu vertiefen und zu überwinden; aber immer bleibt beidenDenkern, sowohl Piaton als Parmenides, dieses Eine gemeinsam,— daß sie sich nicht so sehr um das Sein als vielmehr um dasWissen vom Sein und um die Grundlagen dieses Wissens ge-
kümmert haben. Wenn nun, trotz tiefster theoretischer Be-gründung des Gegenteils, der Piatonismus dennoch mit demalten eleatischen Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit in
die geschichtliche Erscheinung tritt, so war der Grund kein
theoretischer; sondern es war das alles überstrahlende ethischeInteresse, welches das Übergewicht der Vernunft über alle Sinn-
lichkeit stabil gemacht hatte.
Weimar. — Hof -Buchdruckerei.
Philosophische Arbeiten
I.Band Der kritischc Idealismus und die
I.Heft Philosophie des „gesunden Menschenverstandes"
VIII, 35 S. von Dr. Ernst Cassirer .M
I. Band Beiträge zur Geschichte der Idee. Teil I: Philon und Ploti
von Dr. Gustav Falter .^ \
Der Gottesbegriff bei Leibnizvon Dr. Albert Görland ./f
2. Heft V, 66 S.
I. Band3.Heft VI,, 138 S.
I. Band4 . Heft
IV, .,5 s.
II. Band1. Heft 32 S.
II. Band
Das Problem der Empfindung
I. Die Empfindung und das Bewußtsein
von Dr. Johannes Paulsen M 2J
Über Mathematikvon Prof. Dr. Max Simon Ji
Aristoteles und Kant2. Heft bezüglich der Idee der theoretischen Erkenntnis untersucht:
VI, 503 S. von Dr. Albert Görland Jt i6|
iii.Band Platos LoglK des Seins
X, 512 S. von Dr. Nicolai Hartmann M 15]
iv.Band Des ProKlus Diadochus philosophische AnfangsgründeiHeft der Mathematik
II, 57 S. von Dr. Nicolai Hartmann M 2.|
iv.Band Die Dispositiou der Aristotelischen Prinzipien2. Heft IV, 102 S. von Dr. Wladyslaw Tatarkiewicz Ji 3.
iv.Band Wilhelm von Humboldts Forschungen über ÄsthetikS.Heft jY i^^ s. von Dr. Hans aus der Fuente Ji ^.
vi.Band Die Methode der Erkenntnis bei Descartes und Leibniz1. Heft
j Hälfte : Historische Einleitung. Descartes' Methodeder klaren und deutlichen Erkenntnis
IV, 192 S. von Dr. Heinz Heimsoeth Ji 5.
Als weitere Hefte werden sich anschließen: Dr. O. Buek: Faraday.
Dr. E. Cassirer: Der Begriff der Erfahrung im System der kritischen Philosophie.
Prof. Dr. H.Cohen: Grundfragen des Idealismus. — Dr. A. Görland: Die Prinzipie^
der Kombinatorik als reiner Erkenntnis im Dienste des Begriffs der Erfahrung.
Die Möglichkeit der Ethik. — Prof. Dr. P. Natorp: Krit. Auseinandersetzungen 2
Logik und zur Psychologie. — Dr. J. Paulsen: Das Problem der Empfindung. II.
Weimar. — Hof -Buchdruckerei.
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Slonimsky, HenryHerakilt und Parraenideso