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Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS P.b.b. 02Z031117M, Verlagsort: 3003 Gablitz, Mozartgasse 10 Preis: EUR 10,– Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Journal für www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Homepage: www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Online-Datenbank mit Autoren- und Stichwortsuche Hereditäre Neuropathien: Welcher Test und wann? Auer-Grumbach M Journal für Neurologie Neurochirurgie und Psychiatrie 2014; 15 (4), 198-204

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Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS

P.b.b. 02Z031117M, Verlagsort : 3003 Gablitz, Mozartgasse 10 Preis: EUR 10,–

Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz

Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie

Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems

Journal für

www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr

Homepage:

www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr

Online-Datenbank mit Autoren-

und Stichwortsuche

Hereditäre Neuropathien: Welcher

Test und wann?

Auer-Grumbach M

Journal für Neurologie

Neurochirurgie und Psychiatrie

2014; 15 (4), 198-204

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Hereditäre Neuropathien

Hereditäre Neuropathien: Welcher Test und wann?M. Auer-Grumbach

Einleitung

Hereditäre Neuropathien gehören zu den am häufigsten ver-erbten neurologischen Erkrankungen. Ihre Prävalenz wird mit17–40:100.000 angegeben [1, 2], wonach in Österreich mitbis zu 4000 Betroffenen gerechnet werden kann. Die Verer-bung kann autosomal dominant, autosomal rezessiv oder X-gebunden sein. Nicht selten tritt die Erkrankung jedochaufgrund einer Neumutation sporadisch auf, weshalb eineFamilienanamnese oft fehlt [3–6]. Infolge einer Genmutationkommt es zu einer Störung der Funktion der peripheren Ner-ven, deren Auswirkung sich an den längsten Nerven zeigt,sodass die neurologischen Ausfälle insbesondere die distalenExtremitätenabschnitte betreffen. Je nach zugrunde liegendergenetischer Abweichung sind motorische, sensible und/oderautonome Nerven in unterschiedlichem Ausmaß betroffen.Hieraus ergibt sich das unterschiedliche klinische Erschei-nungsbild mit ausschließlich oder überwiegend motorischenAusfällen (= distale motorische Neuropathie [dHMN]) [7],vorrangig sensiblen (und autonomen) Störungen (HSN,HSAN) [8] oder gemischten Formen (HMSN) [3–6]. Dieklassische HMSN ist auch nach ihren Erstbeschreibern 1886als Charcot-Marie-Tooth- (CMT-) Syndrom bekannt [9].Überlappungen der klinischen Unterformen (dHMN, HSN,HMSN) sind selbst innerhalb einzelner Familien bei gleichergenetischer Ursache möglich [10–13]. Dennoch beruht diederzeitige genetische Klassifikation auf diesen sehr hilfrei-chen, klinisch-elektrophysiologisch definierten Untergrup-pen. Gelegentlich bedingt die Genmutation eine primäre Stö-rung der motorischen Vorderhornzellen im Rückenmark.Hieraus resultieren rein motorische Formen, die der dHMNzugeordnet werden, aber auch als distale SMA bekannt sind[14, 15]. Schließlich kann der Gendefekt auch das erste undzweite Motoneuron betreffen und entsprechend das klinischeBild prägen [11].

Die Bestimmung der motorischen und sensiblen Nerven-leitgeschwindigkeit (NLG) liefert einen entscheidenden Bei-trag zur Abgrenzung der einzelnen Unterformen. Sie darf da-her als Basisuntersuchung vor der genetischen Diagnostiknicht fehlen. Die Elektromyographie (EMG) kann zur Ab-grenzung distaler Myopathien, zur Verlaufsbeurteilung, aberauch zur Einschätzung der Aktualität des Krankheitsverlaufssinnvoll sein. Besteht der Verdacht auf eine Mitbeteiligungdes 1. Motoneurons bzw. der zentralen Leitungsbahnen, istauch die Bestimmung der magnetevozierten und somato-sensorischen Potenziale (MEP, SSEP) hilfreich zur Beantwor-tung dieser Fragestellung.

Die Entschlüsselung der genetischen Ursachen hereditärerNeuropathien in den vergangenen beiden Jahrzehnten hat zurIdentifikation von bisher > 50 verschiedenen Genen geführt(http://www.molgen.ua.ac.be/CMTMutations/). Dennoch bleibtdie zugrunde liegende ursächliche Mutation bei bis zu 50 %der Patienten weiterhin unklar. Durch neue genetische Test-methoden („next-generation sequencing“ [NGS]), die sichauch in der Diagnostik hereditärer Neuropathien bereits be-währt haben [16], ist mit der Identifikation weiterer Gene zurechnen. Die ausgesprochene klinische und genetische Hete-rogenität der hereditären Neuropathien hat die genaue Dia-gnostik zu einer großen Herausforderung im Einzelfall ge-macht.

Ziel dieser Übersichtsarbeit ist es, Richtlinien zu erstellen, dieden möglichst erfolgreichen und gleichzeitig ökonomischendiagnostischen Weg bei hereditären Neuropathien darstellen.Die Erfahrung hat gezeigt, dass – analog zur Einteilung here-ditärer spastischer Spinalparalysen (HSP) [17] – eine Eintei-lung in klassische (reine) und komplizierte Formen (mit Zu-satzsymptomen und mit besonderem Verlauf) sinnvoll ist(Tab. 1).

„Klassische“ hereditäre Neuropathien

(= typisches „CMT-Syndrom“)

„Klassische“ hereditäre Neuropathien kommen am häufigs-ten vor. Der Phänotyp entspricht einer HMSN, wie sie auch

Eingelangt am 11. März 2013; angenommen nach Revision am 10. Juni 2013; Pre-Publishing Online am 24. September 2013Aus der Universitätsklinik für Orthopädie, Medizinische Universität WienKorrespondenzadresse: Univ.-Prof. Dr. med. Michaela Auer-Grumbach, Universi-tätsklinik für Orthopädie, Medizinische Universität Wien, A-1090 Wien, WähringerGürtel 18–20; E-Mail: [email protected]

cated. The classical phenotype comprises distalatrophies and weakness as well as sensory ab-normalities in upper and lower limbs, diminishedor absent tendon reflexes, foot deformities, andgait disturbances. At present, mutations in > 50genes have been described.This overview presents a classification of he-reditary neuropathies and offers guidelines fortarget-oriented, up-to-date genetic diagnosis.J Neurol Neurochir Psychiatr 2014; 15 (4):198–204.

Key words: hereditary neuropathies, Charcot-Marie-Tooth, CMT, gene

Kurzfassung: Hereditäre Neuropathien zählenzu den am häufigsten vererbten neurologischenErkrankungen mit einer Prävalenz von 1:2500.Sie sind klinisch und genetisch sehr heterogen,wodurch die genaue genetische Zuordnung ofterheblich erschwert ist. Der klassische Phänotypumfasst distale Atrophien und Paresen sowiesensible Ausfälle an den oberen und unteren Ex-tremitäten, Abschwächung oder Verlust derMuskeleigenreflexe sowie eine Fußdeformitätund Gangstörung. Derzeit sind Mutationen in> 50 Genen bekannt.Diese Übersichtarbeit stellt eine Klassifikationhereditärer Neuropathien vor und bietet Richt-

linien zur zielgerichteten, aktuellen genetischenDiagnostik.

Schlüsselwörter: hereditäre Neuropathien,Charcot-Marie-Tooth, CMT, Gen

Abstract: Hereditary Neuropathies –Guidelines for Genetic Testing. Hereditaryneuropathies are among the most frequent he-reditary neurological diseases with a prevalenceof 1:2500. They are clinically and geneticallyvery heterogeneous. Therefore, their exact ge-netic classification is often seriously compli-

For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.

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Hereditäre Neuropathien

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aus der Erstbeschreibung von Charcot, Marie und Tooth be-kannt ist; folglich wird sie als CMT-Syndrom bezeichnet [10].Liegt das Vollbild des CMT-Syndroms vor, so handelt es sichum eine Blickdiagnose (Abb. 1). Der Krankheitsbeginn liegtmeist in der ersten oder zweiten Lebensdekade. Es kommtzum Auftreten von symmetrischen distalen Atrophien mitMuskelschwäche. Betroffen sind v. a. die kleinen Hand- undFußmuskeln sowie die Extensoren der Unterschenkel undUnterarme bei völlig oder weitgehend erhaltener Funktionder entsprechenden Flexoren. Bei deutlicher Atrophie der

Unterschenkelextensoren entsteht das typische Bild derStorchenbeine. Eine Fußdeformität – meist Hohlfuß (Pescavus), aber auch andere Abweichungen wie etwa Hammer-zehen oder Plattfuß (Pes planus) sind möglich – liegt fastimmer vor. Der neurologische Untersuchungsbefund zeigthäufig eine Abschwächung oder ein Fehlen der Muskel-eigenreflexe, die Feinmotorik der Hände ist beeinträchtigtund das Gangbild imponiert plump, ist manchmal unsicherund gleicht einem Steppergang. Sensible Ausfälle stehen beider klassischen Form meist im Hintergrund, gelegentlich kla-gen die Betroffenen über neuropathische Schmerzen. DieKoordination ist nicht beeinträchtigt. Krankheitsbeginn undSchweregrad können auch innerhalb der Familie deutlich va-riieren [3–6]. Daher kann es in unklaren Fällen von großemVorteil sein, weitere betroffene Familienmitglieder zu unter-suchen, um den Phänotyp richtig einzuordnen und dadurchden Genotyp zu bestimmen.

Nervenleitgeschwindigkeits- (NLG-) Befund bei

der klassischen HMSN (CMT-Syndrom)Die NLG-Untersuchung unterstützt die Verdachtsdiagnoseeiner HMSN und erlaubt eine weitere Unterteilung in demye-linisierende, axonale und intermediäre Formen. Außerdemhilft sie bei der Abgrenzung gegenüber der dHMN, bei der diesensiblen Potenziale unauffällig bleiben bzw. im fortgeschrit-tenen Stadium nur geringe Abweichungen zeigen.

Anhand des NLG-Befundes erfolgt die weitere Klassifikationder HMSN, welche sich an der motorischen NLG des N.medianus oder N. ulnaris orientiert [1].– CMT1 (HMSN1): demyelinisierende Form (motorische

NLG des N. medianus/N. ulnaris < 38 m/Sek.): Hier findet

Tabelle 1: Einteilung der hereditären Neuropathien nachklinischen und elektrophysiologischen Aspekten

Klassische Formen (HMSN, typisches CMT-Syndrom)*

CMT1 (HMSN1): demyelinisierend (N. medianus/N. ulnaris< 38 m/Sek.)CMT2 (HMSN2): axonal (N. medianus/N. ulnaris > 38 m/Sek.)ICMT (HMSN int): intermediär (N. medianus/N. ulnaris25–45 m/Sek.)

Komplizierte Formen*

Hereditäre Neuropathien mit ZusatzsymptomenHereditäre Neuropathien mit besonderem Verlauf– Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen (HNPP)– Hereditäre neuralgische Amyotrophie (HNA)– Früh beginnende HMSN (early-onset HMSN, Déjerine-Sottas-

Syndrom, DSS, HMSN3)– Spät beginnende HMSN (late-onset HMSN, LOCMT)– Distale motorische Neuropathie (dHMN, dSMA)– Hereditäre sensible (und autonome) Neuropathie (HSN, HSAN)

*Alle Erbgänge sowie sporadische Formen sind möglich

Abbildung 1: Klassischer Phänotyp hereditärer Neuropathien (typisches CMT-Syndrom).

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Hereditäre Neuropathien

man eine deutliche Verlangsamung der motorischen NLG,die meist alle peripheren Nerven gleichermaßen betrifft.Bei einem Großteil der Patienten mit CMT1 findet sicheine Duplikation am Chromosom 17p11.2 – jenem Be-reich, der das für den Aufbau der Myelinscheiden sehrwichtige PMP22-Gen enthält [18].

– CMT2 (HMSN2): axonale Form (motorische NLG des N.medianus/N. ulnaris > 38 m/Sek.), oft Verminderung dermotorischen Amplituden (CMAP) [19].

– ICMT (HMSN-int): intermediäre Form (motorische NLGdes N. medianus/N. ulnaris zwischen 25 und 45 m/Sek.).Nicht selten ist die motorische NLG nicht gleichermaßenan allen Nerven verlangsamt und schwankt auch im Seiten-vergleich [20].

Insbesondere in der genetischen Klassifikation wird auch derBegriff CMT4 (HMSN4) verwendet. Damit fasst man dieautosomal rezessiv vererbten Formen zusammen, wobei dieNLG auch hier entweder im demyelinisierenden, axonalenoder im intermediären Bereich liegen kann [21].

Die Durchführung einer EMG-Untersuchung ist bei der klas-sischen CMT1 nicht unbedingt erforderlich und bringtmeistens keine zusätzlichen Erkenntnisse. Zumindest genügtmeist die Untersuchung eines peripheren, mäßig betroffenenMuskels, um den neurogenen Charakter der Erkrankung zubestätigen. Die EMG-Untersuchung ist aber sinnvoll beiplötzlicher Verschlechterung der Krankheit, bei rasch zuneh-menden Paresen etc., um eine zusätzliche, neu aufgetreteneoder überlagerte Entzündung (z. B. chronisch idiopathischedemyelinisierende Polyneuropathie [CIDP]) zu erkennen. Er-

gibt die Bestimmung der NLG Hinweise für eine ICMT- odereine CMT2-Erkrankung, so wird die Durchführung einerEMG-Untersuchung stets empfohlen, da sie wertvolle diag-nostische Hinweise geben kann, wie etwa bei Vorhandenseinvon Spontanaktivität in Form von neuromyotonen Entladun-gen, die auf eine besondere Verlaufsform hinweisen (sieheTabelle 1, HMSN2 mit Neuromyotonie) [22].

Untersuchungen der somatosensibel evozierten Potenziale(SSEP) und der magnetevozierten Potenziale (MEP) sind beider klassischen HMSN nur zur Abgrenzung einer komplizier-ten Form sinnvoll, wenn auch klinisch der Verdacht auf eineMitbeteiligung der zentralen Leitungsbahnen besteht (per-sönliche Beobachtung).

„Komplizierte“ hereditäre Neuropathien

Hereditäre Neuropathien mit Zusatzsymptomen

Manchmal weisen Patienten neben dem klassischen Phänotypeiner hereditären Neuropathie zusätzliche Symptome – oftLeitsymptome – auf, deren Genese sehr wahrscheinlich auchauf das zugrunde liegende Gen zurückgeführt werden kann.Diese Zusatzsymptome bzw. besonderen Merkmale könnendie Verteilung der Atrophien und Paresen betreffen, aber auchweitere neurologische oder nichtneurologische Abweichun-gen darstellen (Abb. 2). Es empfiehlt sich aus mehreren Grün-den, nach diesen zusätzlichen und besonderen Merkmalen re-gelmäßig zu fragen. Tabelle 2 fasst die wichtigsten bekanntenZusatzsymptome und das zugrunde liegende Gen zusammen.Zusatzsymptome hereditärer Neuropathien– sind oft entscheidende Wegweiser für die zielführende ge-

netische Diagnostik,– dienen der Abgrenzung bzw. dem Ausschluss anderer zu-

sätzlicher Erkrankungen,– ersparen den Patienten oft belastende zusätzliche Untersu-

chungen, wenn sie als Teil der hereditären Polyneuropathieerkannt werden,

– ermöglichen es, manchmal vorbeugende Maßnahmen zutreffen und rechtzeitig eine Therapie einzuleiten, um Kom-plikationen zu verhindern, die sich aus den Zusatzsympto-men ergeben.

Hereditäre Neuropathien mit besonderem Verlauf

Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen (HNPP)Die Abkürzung HNPP steht für „Hereditary Neuropathy withliability to Pressure Palsies“. Die HNPP ist eine relativ häufi-ge, aber besondere Verlaufsform der HMSN. Die Vererbungerfolgt autosomal dominant, jedoch ist auch ein sporadischesAuftreten möglich. Patienten mit HNPP zeigen nicht denklassischen CMT-Phänotyp, manchmal besteht nicht einmaleine Fußdeformität. Die Reflexlage ist allerdings fast immerschwach oder die Muskeleigenreflexe fehlen überhaupt. Ty-pisch sind immer wiederkehrende Parästhesien, aber auchMonoparesen, die oft nach minimaler Belastung durch Druckoder Vibration ausgelöst werden. Nicht nur Radialis- oderPeroneusparesen kommen vor, der gesamte Arm- oder Bein-plexus kann betroffen sein. Weiters wird oft eine Heiserkeitnach längerem Sprechen berichtet und vieles andere mehr.Die Paresen und die sensiblen Ausfälle bilden sich meist in-nerhalb von Tagen bis Wochen wieder zurück. Die NLG-Un-tersuchung zeigt fast immer an allen peripheren Nerven axo-

Abbildung 2: Beginnende Skoliose und Atrophie der Schultergürtelmuskulatur beikomplizierter hereditärer Neuropathie, bedingt durch eine Mutation im TRPV4-Gen(siehe Tabelle 2: komplizierte hereditäre Neuropathie, in diesem Fall liegt derPhänotyp einer dSMA vor).

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nal-demyelinisierende Schädigungszeichen, wobei die NLGan den bekannten Engpassstellen besonders verlangsamt ist[41]. In der Nervenbiopsie zeigen sich bei der HNPP klassi-sche Veränderungen [42]. Die Myelinscheiden sind aufge-schwollen („tomakulös“) mit wurstartigem Aussehen. Daherwird die HNPP auch als „tomakulöse Neuropathie“ bezeich-net. Allerdings ist eine Nervenbiopsie heute nicht mehr alsdiagnostisches Mittel zu wählen, da die korrekte Zuordnungdurch die genetische Untersuchung einfach erfolgen kann.

Die Diagnose der HNPP nimmt eine besondere Stellung ein,da sie eine genaue und richtige Beratung des Patienten ermög-licht. Sie erfolgt durch die genetische Untersuchung durchNachweis einer Deletion im Bereich des PMP22-Gens amChromosom 17p11.2 bzw. selten durch Nachweis von Punkt-mutationen im PMP22-Gen. Folgende Aspekte sind in derAufklärung des Patienten zu berücksichtigen:– Durch richtige Beratung über mögliche Auslöser von Par-

ästhesien und Paresen können diese oft verhindert werden.– Die richtige Berufswahl mit Vermeiden von schweren kör-

perlichen Arbeiten oder monotonen Tätigkeiten ist ent-scheidend, daher frühzeitige Beratung von Jugendlichenund – wenn erforderlich – Unterstützung des Patienten beiVorhaben einer Umschulung.

– Beratung über die notwendige Bekanntgabe der Erkran-kung vor bevorstehenden Narkosen, um Druckparesen zuverhindern.

– Genaue Anamneseerhebung, um differenzialdiagnostischeine CIDP abzugrenzen.

Hereditäre neuralgische Amyotrophie (HNA)Die HNA, auch als hereditäre neuralgische Schulteramyo-trophie bekannt, geht mit meist einseitigen, oft rezidivieren-den schmerzhaften Paresen des Schultergürtels und der Ober-armmuskulatur einher, die sich langsam nach einigen Wochenbis Monaten zurückbilden. Die NLG findet sich meist imNormbereich, nur am betroffenen Plexus zeigen sich axonaleVeränderungen. Leichte Gesichtsdysmorphien, v. a. ein Hy-potelorismus oder Gaumenspalten, können assoziiert sein.Die HNA wird autosomal dominant vererbt. Als Ursache fin-det man Mutationen im SEPT9-Gen [43].

Sehr früh beginnende HMSN (Déjerine-Sottas-Syndrom,DDS, HMSN3, Early-onset CMT, EOCMT)Gelegentlich treten Symptome der Neuropathie schon sehrfrüh auf. Manchmal sind bereits Säuglinge zur Geburt hypo-ton und die motorische Entwicklung verläuft deutlich verzö-gert. Eine schwere Gangstörung und feinmotorische Proble-me, aber auch eine allgemeine Muskelatrophie und -hypo-tonie sind die Folge. Manchmal wird die Gehfähigkeit nie er-langt. Die NLG ist meistens deutlich verlangsamt (oft < 10 m/Sek. bzw. gar nicht bestimmbar). Sie sollte aber im Verlaufkontrolliert werden, da sie in den ersten Lebensjahren auchinfolge eines noch unzureichenden Myelinisierungsgradesverlangsamt sein könnte. Die häufigste Ursache ist einePunktmutation im MPZ- oder im PMP22-Gen, selten wurdenMutationen im EGR2-Gen gefunden. Diese schwere Ver-laufsform der hereditären Neuropathie wird nach den Erst-beschreibern auch als Déjerine-Sottas-Syndrom bezeichnet,in der früheren Klassifikation nach Dyck entspricht sie derHMSN3 [44].

Spät beginnende HMSN (Late-onset CMT, LOCMT)Der Phänotyp entspricht einer HMSN2, die jedoch spät be-ginnt (meist erst nach dem 45. Lebensjahr). Die distalen Pare-sen betreffen vorwiegend die unteren Extremitäten, währenddie Hände meist nicht oder nur gering betroffen sind. Oft wirdals erstes Krankheitszeichen eine Sensibilitätsstörung in denZehen oder auch eine Schwäche der Großzehenheber berich-tet, die dann einen relativ rasch progredienten Verlauf zeigtund zu schwerer Gangstörung bis zur Rollstuhlabhängigkeitnach 5–10 Jahren führen kann. Die oft fehlende Familien-anamnese erschwert die Abgrenzung gegenüber erworbenenNeuropathien. Familien mit autosomal dominanter Vererbungwurden berichtet [45]. Als genetische Ursache konnten Muta-tionen im MPZ- und MFN2-Gen beschrieben werden [46,47]. Für die meisten Familien und Patienten konnte jedochdas ursächlich zugrunde liegende Gen noch nicht identifiziertwerden [45].

Distale, hereditäre motorische Neuropathie (dHMN) und dis-tale spinale Muskelatrophie (dSMA)Zu dieser Gruppe zählen die rein motorischen Formen(dHMN, auch oft als dSMA bezeichnet), die wieder in Abhän-gigkeit von Erbgang, Krankheitsbeginn, Krankheitsverlaufund klinischem Bild in > 10 klinische und genetische Unter-gruppen eingeteilt werden können [7], auf die hier nicht imDetail eingegangen wird. Der häufigste Phänotyp der dHMNentspricht meist einer HMSN2, jedoch fehlen klinisch sensib-le Ausfälle. Auch die sensiblen NLGs sind im Normbereich,können aber bei fortgeschrittener Erkrankung leichte Abwei-chungen aufweisen. Die motorischen NLGs sind manchmalnicht messbar oder es zeigt sich eine axonale Schädigung mitniedrigen motorischen Antwortpotenzialen (CMAP). Je nachgenetischem Subtyp, insbesondere wenn die Schädigung inerster Linie die motorischen Vorderhornzellen betrifft, kanndie motorische NLG auch unauffällig sein (distale SMA [15],persönliche Beobachtung). Die genetischen Ursachen sindkomplex und heterogen. Nicht selten können Mutationen imselben Gen sowohl zu einem HMSN- als auch dHMN-Phänotyp führen [11]. In Österreich, und hier wiederum ins-besondere in der Steiermark, ist die dHMN-V aufgrund einesFounder-Effekts im 17. Jahrhundert sehr häufig. Sie zeigt kli-nische Besonderheiten durch eine asymmetrische Verteilungder Muskelatrophien in den Händen, die oft isoliert den The-nar und M. interosseus dorsalis I betrifft und das erste Krank-heitszeichen darstellt. Häufig bestehen auch Hinweise füreine Mitbeteiligung des 1. Motoneurons mit sehr lebhaftenMuskeleigenreflexen der unteren Extremitäten, Erhöhung desMuskeltonus und auch spastischem Gangbild. Die genetischeUrsache der dHMN-V ist eine Mutation im BSCL2-Gen ander Position N88 oder S90 im Exon 3. Es sollte aus Kosten-gründen bei dieser Verdachtsdiagnose lediglich Exon 3 getes-tet werden, da an anderen Positionen im BSCL2-Gen keineweiteren Mutationen im Zusammenhang mit der dHMN-Vgefunden wurden [48]. Die „Founder-Mutation“ in Österreich,welche auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgeführt wer-den kann, entspricht der N88S-Abweichung [11, 49].

Hereditäre sensible (und autonome) Neuropathie (HSN,HSAN)Hier stehen klinisch und elektrophysiologisch sensible undmanchmal auch autonome Störungen im Vordergrund. In der

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Folge kommt es oft zu Fußulzera mit schweren Infektionen, dieauch Amputationen erforderlich machen (ulzero-mutilierendeNeuropathie) [8]. Jedoch gibt es auch hier nicht selten imPhänotyp Überschneidungen mit der HMSN2, wenn auch mo-torische Nerven stärker betroffen sind [13]. Autonome Störun-gen finden sich ebenso in variabler Ausprägung. Die Vererbungfolgt einem autosomal dominanten oder autosomal rezessivenErbgang. Fünf Hauptgruppen, HSN (HSAN) 1–5, werden jenach Krankheitsbeginn, Phänotyp und Erbgang unterschieden.Bisher sind Mutationen in 13 verschiedenen Genen bekannt.

Aktuelle zielführende genetische Dia-

gnostik hereditärer Neuropathien

Der diagnostische Weg zur Klärung der genetischen Ursachehereditärer Neuropathien hat sich in den vergangenen Jahrenimmer wieder verändert und muss auch weiterhin den ständi-gen Fortschritten laufend angepasst werden. Die hohe geneti-sche Heterogenität hereditärer Neuropathien mit > 50 ver-schiedenen ursächlichen Genen hat die gezielte genetischeDiagnostik zu einer großen Herausforderung gemacht. Einkorrektes und standardisiertes Vorgehen ist nicht nur erforder-lich, um möglichst die richtige Diagnose zu finden, sondernauch aus ökonomischer Sicht bei hohen Preisen der Gentestsunumgänglich.

Bevor eine genetische Untersuchung veranlasst wird, mussder Patient neurologisch und elektrophysiologisch untersuchtwerden. Danach erfolgt die genetische Beratung durch einen

Facharzt (meist Neurologie, Pädiatrie, Orthopädie oder Hu-mangenetik), der auch eine schriftliche Einverständniserklä-rung einholt (entsprechende Formulare können über die Home-page der entsprechenden diagnostischen Labors herunter-geladen werden). Es empfiehlt sich, den Patienten vor derUntersuchung auch stets darüber aufzuklären, dass es nicht injedem Fall möglich ist, die Krankheitsursache genetischgenau zu definieren, da noch viele Ursachen unklar sind. Indiesen Fällen kann dann nach Möglichkeit eine weitereAbklärung im Rahmen eines Forschungsprojektes angebotenwerden. Auch eine Mituntersuchung weiterer betroffener Fa-milienmitglieder kann entscheidend weiterhelfen, den Phäno-typ einzugrenzen.

Für die Auswahl des richtigen Gentests kann ein Algorithmusangewendet werden (Abb. 3). Neben der genauen Erhebungder Anamnese, Familienanamnese und des neurologischenStatus sollte unbedingt gezielt nach eventuellen Zusatz-symptomen (Sehstörung, Hörstörung, Heiserkeit, Haut-veränderungen, Niereninsuffizienz, Herzrhythmusstörung u.a.; siehe Tabelle 2) gefragt werden bzw. es sollten zusätzliche,für hereditäre Neuropathien ungewöhnliche Symptome (wieetwa das Vorhandensein einer proximalen Muskelschwäche,asymmetrische Atrophien und Paresen) unbedingt berück-sichtigt werden. Entsprechend der Zuordnung zum klassi-schen bzw. komplizierten Phänotyp erfolgt dann die geneti-sche Diagnostik wie in Abbildung 3 gezeigt. Dieser ergibtsich aus den Erkenntnissen einiger publizierter Studien [3–6],aber auch aus eigenen Erfahrungen. Grundsätzlich ist festzu-

Abbildung 3: Diagnostischer Algorithmus bei hereditären Neuropathien.Die grün markierten Gene sollten im Rahmen der Routinediagnostik angeboten werden. * Die Testung des GJB1-Gens ist nur dann erforderlich, wenn sich im Familien-stammbaum keine Vererbung der HMSN vom Vater auf den Sohn findet, also bei X-gebundenem Erbgang und auch bei sporadischem Auftreten. Es wird empfohlen, nur beibesonderer Fragestellung (z. B. Differenzialdiagnose gegenüber erworbenen Neuropathien, genetische Beratung bei Kinderwunsch u. ä.) die in blau gezeigten Gene in dieRoutinediagnostik zu inkludieren. Bei negativem Befund wird die Vorstellung des Patienten an einem spezialisierten Zentrum empfohlen.

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halten, dass demyelinisierende Formen wesentlich häufigergenau zugeordnet werden können als intermediäre undaxonale Verlaufsformen [3]. Eine britische Studie zeigt, dassdas Screening der Gene PMP22, GJB1, MPZ und MFN2 in80,4 % der Patienten mit CMT1 und 25,2 % der Patienten mitCMT2 eine genaue genetische Zuordnung erlaubte [6]. DieUntersuchung seltener CMT-Gene sollte derzeit nur bei be-sonderer Fragestellung in der Routinediagnostik erfolgen, dazu erwarten ist, dass durch den Einsatz der neuen Sequenzier-techniken eine wesentlich effektivere und günstigere Dia-gnostik auch für die seltenen Formen hereditärer Neuro-pathien möglich sein wird.

Relevanz für die Praxis

Hereditäre Neuropathien sind häufig. Die genaue geneti-sche Zuordnung bringt viele Vorteile für die Betroffenenund wird zunehmend von den Patienten eingefordert, kannjedoch aufgrund der ausgesprochenen Heterogenität nichtimmer erreicht werden. Die Kenntnis der zugrunde liegen-den genetischen Ursache ist die Voraussetzung für einezielgerichtete Beratung und für die Anwendung zukünfti-ger kausaler Therapien.

Interessenkonflikt

Die Autorin verneint einen Interessenkonflikt.

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Univ.-Prof. Dr. Michaela Auer-GrumbachFachärztin für Neurologie und Psychiatrie. Leiterinder neuromuskulären Fußambulanz an der Univer-sitätsklinik für Orthopädie, Medizinische Universi-tät Wien.Interessenschwerpunkte: Neurogenetik und neuro-muskuläre Erkrankungen.

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