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John Cage (1912–1992) Living Room Music | 2. Story (1940) Text: Gertrude Stein „The World Is Round“ once upon a time the world was round and you could go on it around and around »Knowing how to play instruments is fine, but knowing how to make music only belongs to the truly great.« »If you celebrate it, it s art, if you don t, it isn t.« ʼ ʼ ʼ »Jeder Augenblick zeigt, was geschieht.« JOHN CAGE Traditionelles Musizieren ist hier nicht erwünscht. Der zweite Satz, den wir zur Auf- führung bringen, ist für zwar für vier Stimmen geschrieben und verarbeitet einen Text von Gertrude Stein. Die vier Sprecher tragen den Text aber rhythmisiert spre- chend anstatt singend vor. Die Rhythmen werden dabei ergänzt durch gelegentli- ches Pfeifen des vierten Spielers. Die Living room music ist ein Stück, das Leichtigkeit und gute Laune verbreitet und ganz nebenbei noch die Frage stellt, was wir überhaupt alles als Musik be- zeichnen. Wann fängt sie an, wo hört sie auf? Sind dafür Instrumente oder traditio- nelles Singen erforderlich oder ist Alltag auch schon Musik? John Cage gehörte zu den unermüdlichen und radikalen Erneuerern der Musik des 20. Jahrhunderts. In zahlreichen Kompositionen, Performances, Schriften und Vorträgen hat er immer wieder versucht, den Begriff von Musik zu erweitern und damit unser Wahrnehmen ganz grundsätzlich zu verändern und zu bereichern. Weiterführende Einblicke in die Arbeit dieses großen Künstlers gibt es hier: - Internetseite mit zahlreichen mitgeschnittenen Interviews und Vorträgen von Cage sowie Aufnahmen: http://www.ubu.com/sound/cage.html - Buchtipp: John Cage, Silence übersetzt von Ernst Jandl, Suhrkamp-Verlag.

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John Cage (1912–1992)

Living Room Music | 2. Story (1940)

Text: Gertrude Stein „The World Is Round“

once upon a time

the world was round

and you could go on it

around and around

»Knowing how to play instruments is fine, but knowing how to make music only

belongs to the truly great.«

»If you celebrate it, it s art, if you don t, it isn t.«ʼ ʼ ʼ

»Jeder Augenblick zeigt, was geschieht.«

JOHN CAGE

Traditionelles Musizieren ist hier nicht erwünscht. Der zweite Satz, den wir zur Auf-

führung bringen, ist für zwar für vier Stimmen geschrieben und verarbeitet einen

Text von Gertrude Stein. Die vier Sprecher tragen den Text aber rhythmisiert spre-

chend anstatt singend vor. Die Rhythmen werden dabei ergänzt durch gelegentli-

ches Pfeifen des vierten Spielers.

Die Living room music ist ein Stück, das Leichtigkeit und gute Laune verbreitet

und ganz nebenbei noch die Frage stellt, was wir überhaupt alles als Musik be-

zeichnen. Wann fängt sie an, wo hört sie auf? Sind dafür Instrumente oder traditio-

nelles Singen erforderlich oder ist Alltag auch schon Musik?

John Cage gehörte zu den unermüdlichen und radikalen Erneuerern der Musik

des 20. Jahrhunderts. In zahlreichen Kompositionen, Performances, Schriften und

Vorträgen hat er immer wieder versucht, den Begriff von Musik zu erweitern und

damit unser Wahrnehmen ganz grundsätzlich zu verändern und zu bereichern.

Weiterführende Einblicke in die Arbeit dieses großen Künstlers gibt es hier:

- Internetseite mit zahlreichen mitgeschnittenen Interviews und Vorträgen von

Cage sowie Aufnahmen: http://www.ubu.com/sound/cage.html

- Buchtipp: John Cage, Silence übersetzt von Ernst Jandl, Suhrkamp-Verlag.

Ralph Vaughan Williams (1872–1958)

Silence and music (1952)Text: Ursula Wood

Silence, come first silence.

I see a sleeping swan, wings closed

and drifting where the water leads,

a winter moon, a grove where shadows dream,

a hand outstretched to gather hollow reeds.

The four winds in their litanies

can tell all of earth's stories as they weep and cry,

the sea names all the treasure of her tides,

the birds rejoice between the earth and sky.

Voices of grief and from the heart of joy;

so near to comprehension do we stand

that wind and sea and all of winged delight

lie in the octaves of man's voice and hand

and music wakes from silence, where it slept.

Stille, zuerst kommt Stille.

Ich sehe einen schlafenden Schwan mit geschlossenen Flügeln

und dahintreibend, wohin ihn das Wasser trägt,

einen Wintermond, einen Hain, wo Schatten träumen,

eine Hand, ausgestreckt, hohles Schilfgras zu pflücken.

Die vier Winde können in ihren Litaneien

alle Geschichten der Welt durch ihr Weinen und Rufen erzählen,

das Meer gibt all die Kostbarkeiten seiner Gezeiten preis,

die Vögel frohlocken zwischen Erde und Himmel.

Stimmen der Betrübnis und aus einem freuderfüllten Herzen;

so nahe stehen wir an der Erkenntnis,

dass Wind und Meer und die gesamte beflügelte Freude

in den Oktaven der menschlichen Stimme und Hand liegen

und Musik aus der Stille erwacht, in der sie schlief.

»In the next world, I shan t be doing music, with all the striving and disappointʼ -

ments. I shall be being it.«

RALPH VAUGHAN WILLIAMS

Stille, zuerst kommt Stille. Das sind die Anfangsworte des von Ralph Vaughan Wil-

liams vertonten Gedichts seiner zweiten Ehefrau Ursula Wood. In der Komposition

geht es um das Zusammenspiel von Stille und Musik. Kann man Stille kompo-

nieren? John Cage würde sagen, absolute Stille ist für den Menschen nicht erfahr-

bar, denn selbst in einem schalltoten Raum hört man immer noch die Geräusche

des eigenen Körpers, den Herzschlag, seinen Magen oder einen Tinnitus. Auch im

Gedicht von Ursula Wood ist nicht von völliger Stille die Rede, sondern von der le-

bendigen Stille der Natur, in der die Musik zwar noch schlummert, aber doch

schon enthalten ist und woraus sie sich entfalten kann. Es handelt sich also, wenn

wir von Stille sprechen, immer um ein Gefühl von Stille. Diese Empfindung wieder-

um ist für die Wahrnehmung von Musik essentiell, man denke nur an die häufigen

Momente der Stille nach dem Verklingen des letzten Tones oder die konzentrierte

Stille, aus der heraus ein Werk beginnt. Große Musiker haben immer wieder be-

tont, dass Musik ohne Stille undenkbar sei und sie somit immer zur Musik gehöre;

ob aufgeschrieben in Form von Pausen oder nicht, ist dabei nicht entscheidend.

Silence and music des bereits 80jährigen Vaughan Williams entstand 1952 zu

Ehren der Krönung von Elisabeth II. zur Britischen Königin. Hierfür hatten zehn be-

kannte Komponisten des Landes eine Sammlung von neuen Chorkompositionen,

«A garland for the Queen», zusammengestellt, die am Tag der Krönung uraufge-

führt wurden. Den Beitrag von Vaughan Williams würde man nach dem ersten

Hören zunächst wohl eher im 19. Jahrhundert verorten. Die noch weitgehend tra-

ditioneller Harmonik folgende, auf Wohlklang ausgerichtete Klangsprache des

Stücks, wie auch das zugrundeliegende Gedicht mit seiner Vorstellung einer um-

fassenden Einheit und Bedeutung von Natur und Kultur, enthält viel von den Ge-

danken und Idealen der musikalischen und literarischen Romantik. Silence and

music ist ein schönes Beispiel dafür, dass es beim Hören eigentlich nicht darauf

ankommt, ob man ein Werk nun mit Etiketten wie modern oder traditionell versieht,

entscheidend ist, dass Interesse geweckt und Anteilnahme bewirkt wird. Wir fin-

den, das tut dieses romantische Stück von 1952 in besonderem Maße.

Mia Schmidt (*1952)

Matière (2014)

Text: Wolfgang Hilbig „Matière de la poésie“(2001)

Das Meer verhüllt von Licht: verhüllt von Helligkeit …

im Sinn von Licht: ein Lilienweiß um nichts zu sein

als Weiß der Lilien – und Meer um nichts als Meer

zu sein und ohne Maß: und Mond-Abwesenheit –

welch Leuchten das seine lange Überfahrt antritt

und jedes Land vergisst auf nichts bedacht als Ewigkeit -

das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit.

Aus: Wolfgang Hilbig, Werke Band 1: Gedichte, © S. Fischer Verlag GmbH, 2008

© Mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Muss man (Neue) Musik überhaupt erklären?

Musik sollte zuallererst gehört werden, möglichst unvoreingenommen. In der Mu-

sik der letzten 60 Jahre ist es üblich geworden, mit der Erklärung auch ein Deu-

tungsschema mitzuliefern. Das Hören so zu lenken, halte ich nur begrenzt für sinn-

voll.

Eine Erklärung kann zu einem tieferen Verständnis führen: der Struktur, des kompo-

sitorischen Handwerkes; der Art und Weise, wie über das Handwerkliche hinaus,

aber mit diesem, weiterführende inhaltliche Gedanken dargestellt sind. Das gilt für

die Musik aller Epochen.

Haben Sie beim Komponieren ein konkretes Publikum vor Augen?

Das ist unterschiedlich. Wenn ich zum Beispiel für Kinder schreibe, habe ich eher

Kinder im Auge. Das Fachpublikum der Neue-Musik-Szene versuche ich in der Re-

gel auszublenden, das würde mich gedanklich zu stark einengen.

Ich habe allerdings immer wieder Interpret(inn)en im Sinn. Bei Matière hatte ich an

einen guten Chor gedacht, aus dem Laienbereich oder semiprofessionell, der

auch die Musik der Gegenwart pflegt, aber nicht ausschließlich.

Muss das Publikum vorbereitet sein, um Ihr Stück zu verstehen?

Nur dann, wenn es auf einer eher rationalen Ebene das Stück verstehen möchte

(siehe Punkt 1). Es kann aber auch nur Freude oder Interesse an der akustischen

Wahrnehmung haben und den damit auftauchenden Empfindungen.

Wie kam die Idee zustande, genau dieses Gedicht zu vertonen?

Zunächst mal ganz banal: es hat mir gefallen. Ich sah ein ruhiges Meer im Licht-

schimmer vor mir, bei dessen Anblick sich die Zeit vergessen lässt. Und dann war

der Gedanke der Ewigkeit, das Licht, das »seine lange Überfahrt antritt« – eine

Überfahrt in ein anderes Reich.

Eine Chorkomposition schien mir für meine Gedanken viel passender zu sein als

eine einzelne Gesangsstimme, eine solche höchstens mit Kammerensemble oder

Orchester.

Was kann die Musik, was der Text allein nicht kann?

In dieser Komposition bleibt die Musik nahe am Text, die Harmonik und auch die

Zeitgestaltung. Jedoch fügt die Musik neue Farben hinzu, neue Klangräume, neue

Schwingungen.

Zum Verständnis seiner selbst braucht das Gedicht die Musik nicht, vice versa. So

habe ich zum Beispiel die Harmonik in Anbetracht des Gedichts entwickelt, aber

mit ihr ließe sich auch losgelöst von dem Gedicht weiterarbeiten, ich würde sie

dann leicht farblich und vierteltönig modifizieren, mit der gleichen oder einer an-

deren Zeitgestaltung.

Bei der Vertonung eines Gedichtes können sich die beiden Kunstformen ergän-

zen, ein Rhythmus, ein Gedanke, eine Stimmung, Wortmalerei kann verstärkt oder

verunklart werden, je nach der Intention der Komposition.

Es könnte auch gefragt werden, was ein Gedicht aufgreifen würde, wenn es zu

einer bereits existierenden Musik geschrieben würde. Hinzufügen würde es

sprachliche Laute, Phoneme, Worte, eventuell eine Konkretion.

Mia Schmidt im Interview, 3. Oktober 2015

Josquin Desprez (†1521)

Nymphes des bois. Déploration sur la mort d’OckeghemText: Jean Molinet

Nymphes des bois deesses des

fontaines

Chantres expers de toutes nations

Changez voz voix fort cleres et

haultaines

En cris tranchanz et lamentations

Car dattropoz les molestations

Vostre Okeghem par sa rigueur

attrappe

Le vray tresor de musique et

chief d’oeuvre

Qui de tropos desormais plus

neschappe

Dont doumage’ est que la terre

le coeuvre.

Acoutrez vous d’abitz de dueil

Iosquin brumel pirchon compere

Et plorez grosses larmes de œil

Perdu avez vostre bon pere

Requiescat in pace Amen.

Requiem aeternam

Dona eis Domine

Et lux perpetua

Luceat eis.

Requiescat in pace.

Amen.

Nymphen der Walder, Gottinnen der

Quellen,

Kundige Sanger aller Nationen,

Verwandelt euren klaren und schonen

Gesang

In grelle Schreie und Klagen.

Denn die furchterliche Atropos*

Hat euren Ockeghem mit ihrer

Grausamkeit in die Falle gelockt,

Den wahrhaften Schatzmeister der

Musik, ein Meisterwerk,

Welcher dem Dahinscheiden nun nicht

mehr entkommt.

Es ist ein Ungluck, dass Erde ihn

nun bedeckt.

Legt an eure Trauergewandung,

Josquin, Brumel, Pirchon, Compere,

Und vergießt Fluten von Tranen;

Verloren habt ihr euren lieben Vater.

Moge er ruhen in Frieden. Amen.

Herr, gib ihnen

Die ewige Ruhe

Und das ewige Licht

Leuchte ihnen.

Moge er ruhen in Frieden.

Amen.

Übersetzung: Hilla Maria Heintz

*Eine der drei Moiren in der griechischen Mythologie. Ihre Aufgabe war es,

den Lebensfaden zu zerschneiden.

»Josquin ist der noten meister, die habens müssen machen, wie er wolt; die

anderen Sangmeister müssens machen, wie es die noten haben wöllen.«

MARTIN LUTHER

Josquin Dezprez hat schon zu Lebzeiten geschafft, was vielen Komponisten erst

post mortem gelungen ist: Er war ein hoch angesehener, europaweit erfolgrei-

cher Komponist und hatte Spitzenjobs beim Papst, dem französischen König und

an den kulturell bedeutsamen Höfen von Mailand und Ferrara inne. Er war die

zentrale Komponistenpersönlichkeit des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts,

prägend für seine Zeitgenossen und die nachfolgenden Generationen und noch

heute können wir uns dem andauernden Fließen dieser Musik, die jegliches Zeit-

gefühl außer Kraft zu setzen scheint, nur schwer entziehen.

Nymphes des bois ist ein ergreifender Trauergesang auf seinen Komponisten-

kollegen und wahrscheinlich auch Lehrer Johannes Ockeghem, der 1497 verstor-

ben ist. Das Stück hat einen lateinischen und einen französischen Text, die parallel

gesungen werden. Lateinisch ist der vom zweiten Tenor vorgetragene gregoria-

nische Choral «Requiem aeternam», bis heute Bestandteil jeder katholischen Toten-

messe. Die anderen vier Stimmen singen einen nichtliturgischen französischen

Trauertext von Jean Molinet. Auch kompositorisch ist die Motette zweigeteilt: Wäh-

rend der erste Teil eine wundervolle Hommage an den älteren kontrapunktischen

Stil des verstorbenen Ockeghem ist, ändert sich im zweiten Teil die Satztechnik:

Das polyphone Geflecht kommt zum Ende und die Stimmen werden in einem für

die damalige Zeit zeitgenössischeren homophonen Stil fortgeführt. Bezeichnen-

derweise ist es genau die Stelle, an der die Komponisten einer neuen Generation

im Text erwähnt werden: Josquin, Brumel, Pirchon (=Pierre de la Rue), Compere.

Sie werden aufgefordert, über den verstorbenen Meister zu trauern. Josquin

macht mit diesem Stilwechsel aber auch selbstbewusst deutlich: Er und seine Kolle-

gen werden kompositorisch ihre eigenen neuen Wege gehen. Dazu passt auch,

dass er den gregorianischen Choral «Requiem aeternam», der nach damaligem

Verständnis das direkt vom heiligen Geist den Menschen übermittelte und eigent-

lich unantastbare Wort Gottes war, aus ästhetischen Gründen einfach in eine an-

dere Tonart transponiert.

Clemens K. Thomas (*1992)

7 botanische Kanons, ein Herbarium | Vergiß mein nicht

(Überarbeitete Fassung 2014/2015)

»Ich bin Botaniker-Sohn – ein wichtiges biographisches Detail, will ich meinen!

Mein Vater ist Biologe und hält nicht viel von Neuer Musik. Man kann das Stück also

auch als Versöhnungsangebot deuten.«

CLEMENS K. THOMAS

Der vollständige Zyklus 7 botanische Kanons, ein Herbarium ist geschrieben

für Vokalquartett und zwei Schauspieler.

Entstanden 2014, ausschnittsweise uraufgeführt von der SCHOLA Heidelberg.

Unzufriedenheit des Komponisten und das Gefühl, dass etwas fehlen würde.

2015: Von sieben Kanons wurden 4 entsorgt (Biotonne, natürlich!) und fünf neu

geschrieben, außerdem ein Dialog von zwei Schauspielern ergänzt, da die

Kanons nicht so alleine stehen sollten.

Zum Inhalt des Zyklus:

Herr Klatschmohn hat Frau Binse ein Herbarium, eine Sammlung getrockneter Feld-

und Wiesenblumen, mitgebracht. Zwischen Stiefmütterchen-, Wegerich- und

Veilchen-Kanons möchte er ihr eine Geschichte erzählen, doch sie hat andere

Assoziationen zu den Blümchen. Mit Klatsch (Quatsch?) und Binsenweisheiten

vermengt sich Lustiges, Groteskes und … Tiefsinn.

Vergiß mein nicht ist das letzte Stück des Zyklus, ein Thema mit vier Variationen.

Der Text: Vergißmeinnicht. Vergiß mein. Vergiß mein nicht. Vergiß mein – nicht! Der

Gegensatz des Erinnerns und des Vergessens ist in diesem Blümchen vereint.

Erste vollständige Aufführung der überarbeiteten Fassung:

Mittwoch, 17. Februar 2016 | 20 Uhr | SÜDUFER (E-Werk) Freiburg

Cornelius Cardew (1936–1981)

The Great Learning | Paragraph 7Text: Konfuzius „Das große Lernen“

If the root be in confusion nothing will be well governed.

The solid cannot be swept away as trivial and nor can trash be

established as solid it just does not happen.

Mistake not cliff for morass and treacherous bramble.

Übersetzung: Ezra Pound

»A Composer who hears sounds will try to find a notation for sounds. One who

has ideas will find one that expresses his ideas, leaving their interpretation free, in

confidence that his ideas have been accurately and concisely notated.«

»I m convinced that when a group of people get together and sing theʼ

Internationale this is a more complex, more subtle, a stronger and more musical

experience than the whole of the avant-garde put together.«

CORNELIUS CARDEW

Paragraph 7 kann jeder von Ihnen interpretieren. Sie benötigen lediglich eine

Gruppe Gleichgesinnter, um es gemeinsam zu erarbeiten – ob es sich dabei um

musikalisch völlig Unerfahrene oder ausgebildete Musiker handelt, spielt keine

Rolle. Cornelius Cardew wollte eine andere Musik schreiben, keine Musik für

virtuose, hochspezialisierte Musiker. Er setzt auf das musikalische Potential und die

Gestaltungskraft jedes Einzelnen, ohne irgendeine musikalische Bildung voraus-

zusetzen. Dadurch entsteht eine neue Konzertsituation, denn die sonst allgemein

übliche hierarchische Unterteilung in aktive Interpreten einerseits und ein passiv

lauschendes Publikum andererseits wird hier aufgehoben. Bei Cardews zwischen

1968 und 1971 entstandenem Stück könnten beide Gruppen einfach ihre Rollen

tauschen, sich vermischen oder alle gemeinsam das Werk aufführen.

Trotzdem ist The great Learning kein beliebiges Stück. Auch wenn es keine

einzige festgelegte Note enthält und bei jeder Aufführung anders klingt, sind seine

Form und der Verlauf klar festgelegt (siehe Partitur und Aufführungsanleitung auf

der Rückseite). Der Text der Komposition basiert auf der Einleitung zu «Das große

Lernen (Daxue)», einer grundlegenden Schrift des Konfuzianismus. Cardew

verknüpft diesen Text mit verschiedenen leicht ausführbaren musikalischen

Aktionen, die den Interpreten Freiräume für individuelles Gestalten lassen. So

entsteht mit einfachen Mitteln eine Musik von großer Wirkung, die über das rein

Musikalische hinaus mit einer Fülle von außermusikalischen Ideen, bis hin zur

Utopie einer hierarchiefreien Gesellschaft angereichert ist. Es gibt viele Werke, die

angesichts solcher ideeller Lasten zerbrechen – The great Learning scheint

dadurch erst richtig zu erblühen.

Cornelius Cardew hat Mitte der 1970er Jahre kompositorisch eine radikale Kehrt-

wende vollzogen: Bis dahin war er ein wichtiger Protagonist der musikalischen

Avantgarde, war Assistent von Karlheinz Stockhausen, arbeitete mit John Cage

zusammen und trat mit eigenen Kompositionen an die Öffentlichkeit. Seit den 70er

Jahren begann er verstärkt politisch zu arbeiten, wurde glühender Marxist und

Anhänger Maos, gründete die kommunistische Partei Englands und schrieb von

nun an Klavierstücke in einfacher folkloristischer Tradition sowie politische Lieder.

Die Musik stand für ihn von nun an allein im Dienst des Klassenkampfes. Und er ge-

hörte fortan zu den großen kontrovers diskutierten Komponisten des 20. Jahrhun-

derts.