10
MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002 MEDIZIN 17 DIE ENTWICKLUNG DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN DENKRICHTUNG IN DER PSYCHIATRIE Psychiatrie ist die Lehre von den Ursachen, Symptomen und Behandlungsmöglichkeiten krankhafter Erscheinungsformen unserer Psyche. Ihre Ausrichtung auf psychopathologische Phä- nomene unterscheidet sie nach traditionellen Vorstellungen von der Psychologie, die sich dem normalen Seelenleben widmet, und von der Neu- rologie, die sich mit gut definierten Erkrankun- gen der „Neurone“, d. h. mit organischen Störun- gen des Nervensystems, befasst. Die Trennung von Neurologie und Psychiatrie – beide Fächer waren lange Zeit als „Nervenheil- kunde“ vereint – erfolgte unter anderem auch deshalb, weil unter dem dominierenden Einfluss dualistischer Vorstellungen die Meinung weit verbreitet war, dass den Erkrankungen der „Seele“ weder körperliche Ursachen noch erfolg- versprechende somatische Diagnose- und Behandlungsmethoden zugeordnet werden könnten. In der Tat konnten bis 1976, als es erstmals zweifelsfrei gelang, mittels Computer- tomographie diskrete Hirnstrukturanomalien bei schizophrenen Patienten aufzufinden, keinerlei allgemein anerkannte neurobiologische Substrate der grossen psychischen Krankheits- gruppen wie Schizophrenien, depressive und manische Erkrankungen, Angst- und Zwangs- krankheiten, Sucht und Persönlichkeitsstörun- gen nachgewiesen werden. Vor diesem Hintergrund wird die weite Verbrei- tung tiefenpsychologischer Sichtweisen ein- schließlich deren Diagnose und Behandlungsver- fahren, insbesondere der Psychoanalyse, verständ- lich, die in dualistischer Tradition ausschließlich von einem immateriellen Bedingungsgefüge seeli- scher Störungen ausgingen, wenngleich die Psy- choanalyse auch vielfach wegen fehlender Empi- rie sowie wegen spekulativer, dogmatischer und scheinplausibler Lehrinhalte kritisiert wurde. Noch bis in die erste Hälfte des vergangenen Jahr- hunderts wurde von der so genannten „romanti- schen Psychiatrie“ die Auffassung vertreten, dass psychische Erkrankungen die Folge eines laster- haften und sündigen Lebenswandels seien, der zwangsläufig in die geistige Umnachtung führen müsse, oder aber ein Werk des Teufels, dem nur mittels Austreibung beizukommen sei. Als Bei- spiel hierfür wurde die progressive Paralyse, das ist das Spätstadium der Syphilis mit Befall des Gehirns und geistigem Abbau, aufgeführt. Vielen der Betroffenen war ein „lasterhafter“ Lebens- wandel nachweisbar. Erst nach der Entdeckung typischer hirnpathologischer Veränderungenen und später auch des Erregers erkannte man soma- tische Ursachen der progressiven Paralyse an. Die Folgen der moralisierenden Psychiatrie waren für psychisch Kranke desolat: Anstelle von Behandlung und Zuwendung waren gefäng- nisähnliche Maßnahmen mit Entfernung von der Gesellschaft in entlegene Großanstalten die übli- che Umgangsweise mit Geisteskranken (Abb. 1 und Abb. 2). Viele der noch heute existierenden psychiatrischen Großkliniken in abgelegenen ländlichen Bereichen wurden vor mehr als hun- dert Jahren aus einer derartigen Mentalität heraus gegründet. PSYCHIATRIE AUS NATURWISSENSCHAFTLICHER SICHT Bernhard Bogerts Bei der Suche nach den Ursachen psychischer Erkrankungen dominierten bis zum Beginn des 20. Jahr- hunderts dualistische Vorstellungen, wonach „geistige Umnachtung“ oder „Wahnsinn“ aus der Sicht moralisierender Theorien häufig als Folge sittlichen Fehlverhaltens angesehen wurde oder aber gänzlich unerklärbar erschien. Die Entdeckung der hirnorganischen Substrate der motorischen Aphasie (Sprach- unfähigkeit) und des Stirnhirnsyndroms, das mit einem Verlust differenzierter Persönlichkeitsmerkmale einhergeht, sowie die Beschreibung der hirnpathologischen Grundlagen der Alzheimer-Krankheit und der progressiven Paralyse führten etwa ab 1900 zu einer zunehmenden Akzeptanz hirnbiologischer Sichtwei- sen psychischer Störungen. Seit Einführung des ersten Antipsychotikums im Jahre 1952 und des ersten Antidepressivums im Jahre 1957 haben sich die Behandlungsmöglickeiten fast aller psychiatrischen Krankheitsbilder ganz erheblich verbessert. In den letzten zwanzig Jahren konnten hirnbiologische Korre- late schizophrener Erkrankungen nachgewiesen werden, die die Pathophysiologie dieser bislang rätselhaf- ten Erkrankung verständlicher machen. In der Therapie aller psychischer Störungen werden die besten Erfolge dann erreicht, wenn hirnbiologische und psychotherapeutische Methoden integrativ angewandt werden. Aus klinisch-praktischer Sicht ist davon auszugehen, dass beides an letztlich identischen intra- zerebralen/innerpsychischen Mechanismen wirksam ist.

MAGDEBURGER W PSYCHIATRIE AUS … · spiel hierfür wurde die progressive Paralyse, das ist das Spätstadium der Syphilis mit Befall des Gehirns und geistigem Abbau, aufgeführt

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002 MEDIZIN

    17

    DIE ENTWICKLUNG DER NATURWISSENSCHAFTLICHENDENKRICHTUNG IN DER PSYCHIATRIE

    Psychiatrie ist die Lehre von den Ursachen,Symptomen und Behandlungsmöglichkeitenkrankhafter Erscheinungsformen unserer Psyche.Ihre Ausrichtung auf psychopathologische Phä-nomene unterscheidet sie nach traditionellenVorstellungen von der Psychologie, die sich demnormalen Seelenleben widmet, und von der Neu-rologie, die sich mit gut definierten Erkrankun-gen der „Neurone“, d. h. mit organischen Störun-gen des Nervensystems, befasst.

    Die Trennung von Neurologie und Psychiatrie –beide Fächer waren lange Zeit als „Nervenheil-kunde“ vereint – erfolgte unter anderem auchdeshalb, weil unter dem dominierenden Einflussdualistischer Vorstellungen die Meinung weitverbreitet war, dass den Erkrankungen der„Seele“ weder körperliche Ursachen noch erfolg-versprechende somatische Diagnose- undBehandlungsmethoden zugeordnet werdenkönnten. In der Tat konnten bis 1976, als eserstmals zweifelsfrei gelang, mittels Computer-tomographie diskrete Hirnstrukturanomalienbei schizophrenen Patienten aufzufinden,keinerlei allgemein anerkannte neurobiologischeSubstrate der grossen psychischen Krankheits-gruppen wie Schizophrenien, depressive undmanische Erkrankungen, Angst- und Zwangs-krankheiten, Sucht und Persönlichkeitsstörun-gen nachgewiesen werden.

    Vor diesem Hintergrund wird die weite Verbrei-tung tiefenpsychologischer Sichtweisen ein-schließlich deren Diagnose und Behandlungsver-

    fahren, insbesondere der Psychoanalyse, verständ-lich, die in dualistischer Tradition ausschließlichvon einem immateriellen Bedingungsgefüge seeli-scher Störungen ausgingen, wenngleich die Psy-choanalyse auch vielfach wegen fehlender Empi-rie sowie wegen spekulativer, dogmatischer undscheinplausibler Lehrinhalte kritisiert wurde.

    Noch bis in die erste Hälfte des vergangenen Jahr-hunderts wurde von der so genannten „romanti-schen Psychiatrie“ die Auffassung vertreten, dasspsychische Erkrankungen die Folge eines laster-haften und sündigen Lebenswandels seien, derzwangsläufig in die geistige Umnachtung führenmüsse, oder aber ein Werk des Teufels, dem nurmittels Austreibung beizukommen sei. Als Bei-spiel hierfür wurde die progressive Paralyse, dasist das Spätstadium der Syphilis mit Befall desGehirns und geistigem Abbau, aufgeführt. Vielender Betroffenen war ein „lasterhafter“ Lebens-wandel nachweisbar. Erst nach der Entdeckungtypischer hirnpathologischer Veränderungenenund später auch des Erregers erkannte man soma-tische Ursachen der progressiven Paralyse an.

    Die Folgen der moralisierenden Psychiatrie warenfür psychisch Kranke desolat: Anstelle vonBehandlung und Zuwendung waren gefäng-nisähnliche Maßnahmen mit Entfernung von derGesellschaft in entlegene Großanstalten die übli-che Umgangsweise mit Geisteskranken (Abb. 1und Abb. 2). Viele der noch heute existierendenpsychiatrischen Großkliniken in abgelegenenländlichen Bereichen wurden vor mehr als hun-dert Jahren aus einer derartigen Mentalität herausgegründet.

    PSYCHIATRIE AUSNATURWISSENSCHAFTLICHER SICHTBernhard Bogerts

    Bei der Suche nach den Ursachen psychischer Erkrankungen dominierten bis zum Beginn des 20. Jahr-hunderts dualistische Vorstellungen, wonach „geistige Umnachtung“ oder „Wahnsinn“ aus der Sichtmoralisierender Theorien häufig als Folge sittlichen Fehlverhaltens angesehen wurde oder aber gänzlichunerklärbar erschien. Die Entdeckung der hirnorganischen Substrate der motorischen Aphasie (Sprach-unfähigkeit) und des Stirnhirnsyndroms, das mit einem Verlust differenzierter Persönlichkeitsmerkmaleeinhergeht, sowie die Beschreibung der hirnpathologischen Grundlagen der Alzheimer-Krankheit und derprogressiven Paralyse führten etwa ab 1900 zu einer zunehmenden Akzeptanz hirnbiologischer Sichtwei-sen psychischer Störungen. Seit Einführung des ersten Antipsychotikums im Jahre 1952 und des erstenAntidepressivums im Jahre 1957 haben sich die Behandlungsmöglickeiten fast aller psychiatrischenKrankheitsbilder ganz erheblich verbessert. In den letzten zwanzig Jahren konnten hirnbiologische Korre-late schizophrener Erkrankungen nachgewiesen werden, die die Pathophysiologie dieser bislang rätselhaf-ten Erkrankung verständlicher machen. In der Therapie aller psychischer Störungen werden die bestenErfolge dann erreicht, wenn hirnbiologische und psychotherapeutische Methoden integrativ angewandtwerden. Aus klinisch-praktischer Sicht ist davon auszugehen, dass beides an letztlich identischen intra-zerebralen/innerpsychischen Mechanismen wirksam ist.

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002MEDIZIN

    18

    Die Vorstellung, dass psychische Erkrankun-gen, die stets den Kern unserer Persönlichkeitund damit unseres Selbstverständnisses treffen,auf naturwissenschaftliche Sichtweisen reduziertwerden könnten, erscheint noch heute vielenproblematisch oder wird nicht selten als Katego-rienfehler angesehen. Die Frage nach derBeschaffenheit unserer Seele und dem Wesenunseres Geistes ist nicht nur ein zentralesThema der Philosophie, sondern auch der Psy-chiatrie, die sich täglich praktisch mit denpathologischen Dimensionen des Problemskonfrontiert sieht.

    Einige psychiatrierelevante Positionen zum Leib-Seele-Problem seien hier kurz in Erinnerung geru-fen: Demokrit (470-360 v. Chr.) nahm an, dass wiealles Stoffliche auch die Seele aus Atomen bestünde;die Seele insofern etwas sehr feines Körperliches sei,das sich nach dem Tode zerstreuen würde. NachPlaton (427-347 v. Chr.) befand sich der Sitz desDenkens im Kopf, der Gefühle im Herzen, derBegierde im Unterleib; die unsterbliche Seele hatteweder Anfang noch Ende und war ihrem Wesen derWeltseele gleich. Aristoteles (384-322 v. Chr.),neben Platon der namhafteste antike Vertreter dua-listischen Denkens, glaubte, dass das Gehirn eineDrüse sei, die lediglich den Nasenschleim produ-ziere. Thomas von Aquin (1225-1274) schrieb, dassdie menschliche Seele unkörperlich, d. h. eine reingeistige, von der Materie unabhängige Substanz sei.Daraus folgerte er ihre Unzerstörbarkeit undUnsterblichkeit. Für Descartes (1596-1650) warenGeist und Denken etwas gänzlich Unräumlichesund Unkörperliches: „Ich kann mir mein Denkenvorstellen, ohne daß ich dazu notwendig das Ausge-dehntsein im Raume hinzudenken müßte“. Er engteden Begriff des Geistes auf das Denken ein und fol-gerte, dass Tiere, die in diesem Sinne nicht denkenkönnen, reine Automaten seien. Nach seiner Auffas-sung bestand zwischen Seele und Materie eine

    Wechselwirkung, die ihr anatomisches Substrat inder Zirbeldrüse, einem in der Mitte des Gehirns lie-genden unpaarigen Organ, habe. Die Interaktionzwischen Psychischem und Körperlichem beimMenschen erklärte Descartes damit, dass die Zir-beldrüse Informationen von den Sinnesorganenerhalte und über kleine Schläuche Muskulatur undBewegung aktiviere. Für Spinoza (1632-1677)waren Körper und Seele zwei Seiten ein und des-selben Wesens; es sei möglich und notwendig, diemenschlichen Triebe und Leidenschaften mit kühlermathematischer Sachlichkeit zu analysieren.Menschliches Handeln folge den gleichen ehernenGesetzen wie die Naturgesetze; für den Begriff Wil-lensfreiheit bestand bei Spinoza kein Raum. SeineAufassung findet sich in weitem Umfang in dermodernen Neurobiologie und Hirnforschnung wie-der, auch wenn hier dualistische Theorien durchausweiter vertreten werden /1/. Leibniz (1646-1716)lehrte, dass Psychisches und Physisches zwargetrennt seien, aber durch eine göttlich vorgegebene„prästabilisierte Harmonie“ parallel laufen.

    Tradierte abendländische Denkformen, die voneiner Trennung geistiger und materieller Ebe-nen ausgehen, haben sich bislang in psychiatri-scher Diagnostik und Therapie nicht als sehrhilfreich erwiesen. Relative einfache chemischeSubstanzen wie Psychopharmaka oder auchDrogen können profunde Effekte auf seelischerEbene verursachen, umgekehrt können durchpsychotherapeutische Verfahren körperlicheVorgänge beeinflusst werden. In der Therapiealler psychischen Störungen werden die bestenErfolge dann erreicht, wenn sowohl psychothe-rapeutische als auch somatische (z. B. pharma-kotherapeutische) Maßnahmen integrativ ange-wendet werden. Aus klinisch-praktischer Sichtist davon auszugehen, dass beides an letztlichidentischen intrazerebralen/innerpsychischenMechanismen wirksam ist.

    Abb. 1Psychiatrische Frauenstation um 1900: Psychisch Kranke wurden untergefängnisähnlichen Bedingungen aufbewahrt.

    Abb. 2Psychiatrische Männerstation um 1900: Patienten mit progressiver Para-lyse (einer damals sehr häufigen Erkrankung, Befall des Gehirns im Spät-stadium der Syphilis).Vor Entdeckung des Erregers wurde ein moralischverwerflicher Lebensstil als eigentliche Ursache der Erkrankung angese-hen. Die Patienten zeigten oft eine Psychopathologie mit Größenwahn.

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002 MEDIZIN

    19

    DIE ENTDECKUNG„HIRNORGANISCHER PSYCHOSYNDROME“

    Zwei neuere Zugangsweisen zum Leib-Seele-Problem entwickelten sich erst gegen Ende des 19.Jahrhunderts: die Neurowissenschaften und diePsychiatrie. Wichtige Daten zur Geschichte beiderDisziplinen sind in der Übersicht rechts zusam-mengefasst.

    Bahnbrechende Ereignisse für Psychiatrie undHirnforschung waren Ende des letzten Jahrhun-derts die Beschreibung von Störungen höherer gei-stiger und somit typisch menschlicher Leistungennach bestimmten Hirnläsionen. Zwei berühmteFallberichte führten zu einer Revision des in derPsychiatrie bis dahin überwiegenden dualistischenDenkens. Der bekannte französische NeurochirurgBroca beschrieb 1861 einen Patienten, der Jahrevor seinem Tod plötzlich die Fähigkeit zu Sprechenverloren hatte, sonst aber keine Auffälligkeiten auf-wies. Bei der Obduktion fand er eine umschrie-bene, durch einen Schlaganfall bedingte Schädi-gung des linken Stirnhirns. Broca folgerte, dass andieser Stelle des Gehirns ein organisches Substratdes Sprachvermögens zu lokalisieren sei. Nachfol-gende Untersuchungen bestätigten Brocas Vermu-tung vielfach und zeigten, dass eine typischmenschliche höhere geistige Leistung, nämlich dasSprechen, an die Funktion eines in der linkenHirnhälfte lokalisierbaren Areals gebunden ist.

    Der zweite Fall wurde 1868 von dem amerikani-schen Arzt Harlow berichtet: Bei dem PatientenPhineas Gage trat, nachdem eine Eisenstange seinStirnhirn zerstört hatte, eine eigenartige Persön-lichkeitsveränderung ein. Obwohl er keine Intel-ligenzdefizite aufzuweisen schien und keine neu-rologischen Störungen in Form einer Beeinträch-tigung von Bewegungsabläufen oder Sinneswahr-nehmungen hatte, wurde er distanz- und hem-mungslos, hielt sich nicht mehr an gesellschaftli-che Normen, zu planerischem und vorausschau-endem Denken war er nicht mehr in der Lage.Harlow beschrieb mit dem Fall Gage zum erstenMal ein Stirnhirnsyndrom, dessen Hauptsympto-matik in einer Entdifferenzierung der höherenPersönlichkeitsmerkmale ohne Einbuße der ein-fachen Intelligenzleistungen besteht.

    Mit der Beschreibung der motorischen Aphasiedurch Broca und des Stirnhirnsyndroms durchHarlow wurde klar, dass für typisch menschlichehöhere geistige Leistungen eine intakte Funktionbestimmter hirnregional lokalisierbarer neurona-ler „Zentren“ Voraussetzung ist.

    Um die Jahrhundertwende (1900) wiesen der Spa-nier Cajal, der Italiener Golgi und der DeutscheNissl nach, dass die Nervenzelle mit ihren Fortsät-zen, das Neuron, als kleinste Funktionseinheit desGehirns anzusehen sind. Gleichzeitig entdeckteAlzheimer die neuropathologischen Substrate derprogressiven Paralyse (Spätstadium der Syphilismit psychischem Abbau), der Epilepsien und derHirnabbauprozesse im Alter. Wenig später wurden

    6.-4. Jh. v. Chr.

    4. Jh. v. Chr.

    8. Jh. n. Chr.

    1504-1507

    1662

    Ende 18. Jh.

    1822

    1861

    1868

    1867

    1874

    Jahrhundertwende

    1929

    1949

    1952

    1965

    1970

    1975

    ca. seit 1980

    ca. seit 1990

    Vorsokratiker:– Demokrit: Denken und Empfinden haben eine materielle Grundlage– Hippokrates: Epilepsien und Psychosen sind Folgen einer Gehirnirritation

    Aristoteles: Herz ist Sitz von Verstand und Empfindung, Gehirn ist Kühlorgen, sondert Nasenschleim ab.

    Galen: Entdeckung der Hirnkammern

    Anatomie Leonardo da Vinci’s

    Descartes: Zirbeldrüse vermittelt zwischen Geist und Körper

    – Gall: Phrenologie und Kranioskopie (Zuschreibung von normalen und abnormen psychischen Eigenschaften zu bestimmten Schädelformen)

    – Flourens: Hirn-Holisten (Hirn ist homogenes Organ ohne Aufgabenteilung) vs. Hirn-Regionalisten

    – Seelenheilkunde: Somatiker vs. Psychiker

    Bayle: Beschreibung der progressiven Paralyse

    Broca: Fall Leborgne, motorische Aphasie

    Harlow: Fall Phineas Gage, Stirnhirnsyndrom

    Griesinger: Geisteskrankheiten sind Hirnkrankheiten

    Darwin: Körper und Geist sind Produkte einer biologischen Evolution

    – Cajal, Golgi, Nissl: Neuronenlehre (Nobelpreis 1906)– Sherrington: Konzept der Synapse– Alzheimer: Beschreibung der hirnanatomischen Grundlagen der

    Demenzen, Epilepsien, progressiver Paralyse und Psychosen– Freud: Psychoanalyse– Pawlow, Thorndike: klassisches und operantes Konditionieren,

    Grundlagen der Verhaltenstheorie und -therapie

    Berger: Einführung des Elektroenzephalogrammes (EEG)

    Hess: Intrahypothalamische Stimulation (Auslösung elementarer Triebeund Emotionen durch elektrische Reizung tiefer Hirnsstrukturen)

    McLean: Konzept des limbischen Systems;Einführung antipsychotisch wirksamer Psychopharmaka

    Dahlström und Fuxe: Entdeckung der intrazerebralen Transmittersysteme

    Jones und Powel: neuroanatomische Grundlagen der kortikalen Informationsverarbeitung

    Huges und Kosterlitz: Entdeckung der Endorphine (endogene Opiate)

    struktur- und funktionsbildgebende Untersuchungen des Gehirns durchComputertomographie (CT), Kernspintomographie (MRT), Positronemissi-onstomographie (PET) und Single-Photon-Emissionstomographie (SPET)

    Funktionskernspintomographie (fMRT) und Magnetenzephalographie (MEG)

    Daten zur Geschichte der Hirnforschung und Psychiatrie

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002MEDIZIN

    20

    Zur historischen Entwicklung von Hirnfor-schung und Psychiatrie siehe auch die tabellari-sche Zusammenfassung.

    BEDEUTUNG DER PSYCHOPHARMAKA1952 wurde per Zufall entdeckt, dass die Sub-

    stanz Chlorpromazin, die damals als Anästhetikumausprobiert wurde, antipsychotisch wirksam war,d. h. Wahn und Halluzinationen bei schizophre-nen Patienten mildern konnte. Ebenfalls durchZufall wurde 1957 das erste antidepressiv wirk-same Medikament (Imipramin), das als Antialler-giemittel getestet wurde, gefunden. Obwohl diehirnphysiologischen Mechanismen dieser anfangsnoch nebenwirkungsreichen und nur schwachwirksamen Psychopharmaka damals noch nichtverstanden wurden, konnte durch ständige Varia-tion der Molekülstruktur die Wirksamkeit so ver-bessert werden, dass sich die Therapieerfolge beiakut erkrankten schizophrenen und depressivenPatienten sowie die Prophylaxe von Rückfällen ineinem bis dahin nicht für möglich gehaltenen Aus-maß verbesserten. Durch die Einführung dermodernen Psychopharmaka konnte seit ungefähr1960 in Europa und den USA die Belegung derpsychiatrischen Großkliniken um 80 Prozent (!),also auf ein Fünftel der Ausgangszahlen reduziertwerden. Erkrankungen, die bis dahin weitgehendunbeeinflussbar waren und chronifiziertejahrzentelange Verlaufsformen annahmen, konn-ten bei mehr als drei Viertel der Betroffenen geheiltoder deutlich gebessert werden.

    Heute können in Kombination mit wirksamenpsychotherapeutischen und soziotherapeutischenMaßnahmen durch Antipsychotika oder Antide-pressiva• 70 bis 80 Prozent der früher als unheilbar gel-

    tenden Erkrankungen aus dem schizophrenenFormenkreis,

    • 80 bis 90 Prozent depressiver Syndrome oderder bipolaren manisch-depressiven Erkrankun-gen,

    • ca. 80 Prozent der Angsterkrankungen und • ca. 60 Prozent der Zwangssyndromesehr wirksam behandelt werden.

    Man geht heute davon aus, dass die genanntenPsychopharmaka über eine Aktivierung oderHemmung der verschiedenen neuronalen Über-trägerstoffe im Gehirn wirken. Sie sind entgegeneinem weit verbreiteten Vorurteil nicht suchter-zeugend (Ausnahme Tranquillizer!) und könnensomit über viele Jahre ohne irgendwelche Abhän-gigkeitserscheinungen eingenommen werden.Kürzlich wurde bekannt, dass Antidepressiva dieHirnplastizität anregen; d. h. sie stimulieren dasWachstum von Nervenzellelementen, wie Den-driten und Synapsen /2/.

    INTERAKTION VON VERHALTEN, NEUROBIOLOGIEUND UMWELT

    In der neurobiologisch ausgerichteten Psychia-trie dominieren derzeit reduktionistische For-schungsstrategien, mit deren Hilfe versucht wird,

    die hirnpathologischen Substrate der Parkinson’-schen Krankheit (Schüttellähmung) und der Cho-rea (Veitstanz) beschrieben. Zuvor war die Auffas-sung weit verbreitet, dass die genannten Erkran-kungen durch rein psychische Ursachen erklärtwerden könnten, wobei oft im Rahmen moralisch-theologisierender Schuldzuweisungen früheres sitt-liches Fehlverhalten als Ursache angesehen wurde.

    Durch die folgende hirnpathologische Forschungsowie durch die neueren funktionsbildgebendenVerfahren (Positronemissionstomographie, Funk-tionskernspintomographie, Magnetenzephalogra-phie, EEG-Mapping) konnte eindrucksvollbewiesen werden, dass die Funktion höherer psy-chischer Leistungen von der Aktivierung regionallokalisierbarer Nervenzellverbände abhängt.Dabei arbeiten diese Zentren nicht isoliert, son-dern sind als wichtige Knotenpunkte eines ausge-dehnteren neuronalen Netzwerkes anzusehen.Damit ist die Auffassung Descartes’ widerlegt,dass eine räumlich-zeitliche Ausdehnung geistigerProzesse unvorstellbar sei.

    Dass die Berücksichtigung der Hirnphysiologiein den Theoriegebäuden der großen Psychothera-pieschulen zugunsten tiefenpsychologischer, ver-haltenstheoretischer Aspekte bislang vernachläs-sigt wurde, hat ebenfalls überwiegend historischeGründe. Die bedeutendsten Psychotherapiearten,die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapiebasieren auf Theorien und tierexperimentellenBefunden aus der Zeit um die Jahrhundertwende(Freud, 1856-1939; Pawlow, 1897: klassischesKonditionieren, bedingte Reflexe; Thorndike1911: operantes Konditionieren, Verhaltensände-rung durch Belohnung und Bestrafung). Bahn-brechende Erkenntnisse über die emotionsrele-vanten Hirnareale, die den bis dahin dominieren-den Leib-Seele-Dualismus in Bedrängnis brach-ten, kamen erst einige Jahrzehnte später. SolcheEtappen der Hirnforschung waren: • Hess (1949) entdeckte, dass elementare Triebe

    und Emotionen durch direkte elektrische Sti-mulation des Zwischenhirns mittels implantier-ter Elektroden hervorgerufen werden können.

    • McLean erkannte 1952 die Bedeutung des lim-bischen Systems für die neuronale Modulationder Gefühle und Emotionen.

    • Die intrazerebralen neuronalen ÜberträgerstoffeDopamin, Noradrenalin und Serotonin, die dieAngriffspunkte von Psychopharmaka und Dro-gen sind, wurden erstmals 1964 von Dahlströmund Fuxe im Gehirn lokalisiert.

    • Die hirnanatomischen Bahnen, die die Grund-lagen der kortikalen Informationsverarbeitungund -bewertung und somit der neuronalenIntegration und Assoziation aller Sinnesein-drücke darstellen, wurden 1970 von Jones undPowell beschrieben.

    • Bildgebende Verfahren, mit denen die struktu-relle und funktionelle Situation im normalenund krankhaften Gehirn direkt sichtbargemacht werden kann, stehen erst seit ca. zwan-zig Jahren zur Verfügung.

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002 MEDIZIN

    21

    krankhaftes Verhalten und Empfinden durchErforschung der zugrunde liegenden neurobiolo-gischen Mechanismen verständlich zu machenund damit letztlich auf naturwissenschaftlicheGesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Wissen-schaftstheoretisch gesehen basieren diese reduk-tionistischen Forschungsstrategien auf der Auffas-sung, dass Psychopathologie ein Epiphänomeneiner primär gestörten Hirnbiologie ist.

    Bei hirnorganischen Psychosyndromen wiez. B. Hirnabbauprozessen, Hirntumoren oderVerletzungen, Intoxikationen (Alkohol) oderDrogeneinflüssen wirft diese Sichtweise keinebesonderen Verständnisprobleme auf. AuchBerichte über replizierbare neurobiologischeBefunde bei Schizophrenien und affektivenStörungen sprechen dafür, dass die gestörte Inter-aktion zwischen Individuum und Umwelt beiwichtigen psychiatrischen Krankheitsgruppendurch eine primär gestörte Hirnbiologie verur-sacht wird und bei hinreichend genauer Kenntnisder Hirnphysiologie dadurch besser verständlichwird.

    Während der reduktionistische Forschungsansatzbei der Erforschung hirnorganischer Psychosyn-drome und der so genannten endogenen Psycho-sen durch die Einführung neuer Methoden derNeurobiologie und der bildgebenden Verfahren inden letzten beiden Dekaden einen ungeahntenAufschwung nahm, blieb sowohl bei biologischorientierten Psychiatern wie auch bei Tiefenpsy-chologen weitgehend unbeachtet, dass es auch eineKausalität in umgekehrter Richtung gibt: Jedessich normal entwickelnde und funktionierendeGehirn reagiert plastisch mit nachhaltigen Struk-tur- und Funktionsänderungen auf Umweltein-flüsse. Durch ein pathogenes psychosozialesUmfeld kann auch ein primär gesundes Gehirn inseiner Neurobiologie krankhaft verändert werden.

    Die neurowissenschaftliche Grundlagenfor-schung zeigt überzeugend, dass Kausalitäten inbeiden Richtungen möglich sind: von der hirn-biologischen Ebene hin zur höheren psychologi-schen Ebene (aufwärts-Kausalität) und umge-kehrt von der psychosozialen Ebene zur darunterliegenden neurobiologischen Ebene (abwärts-Kausalität). Abnormes Verhalten kann nicht nurdurch eine primär gestörte Hirnbiologie verur-sacht werden; auch umgekehrt – das zeigen dieUntersuchungen zur Hirnplastizität eindrucks-voll – kann eine abnorme Reizkonstellation derUmwelt eine nachhaltige Störung der normalenHirnentwicklung in struktureller und funktionel-ler Hinsicht haben. Beispiele für abwärts-Kausa-lität sind der positronemissionstomographischeNachweis einer veränderten regionalen Hirn-durchblutung bei experimentell induziertenStimmungen /3/ wie auch das Auftreten von teil-weise irreversiblen Schädigungen von Hirnstruk-tur und -funktion nach sensorischer Deprivationinsbesondere in frühen Phasen der nachgeburt-lichen Hirnentwicklung. Zahlreiche diesbezüg-liche Studien konnten nachweisen, dass die Ent-

    wicklung von Hirnstruktur und -funktion nichtnur von genetischen vorgegebenen Faktorenabhängt, sondern auch von frühen Umweltein-flüssen wesentlich mitbestimmt wird /4/.

    Überträgt man diese Befunde zur Hirnplastizität,die in den letzten 20 Jahren vor allem durch eineumfangreiche Deprivationsforschung erhobenwurden, auf die emotionale und kognitive Ent-wicklung des Menschen, dann ist zu folgern, dasseine unzureichende positive emotionale Zuwen-dung in sensiblen frühkindlichen Entwicklungs-phasen zu einer irreversiblen strukturellen undfunktionellen Schädigung auch derjenigen Hirn-zentren führt, in denen die neuronalen Generato-ren psychischen Wohlbefindens liegen. Umge-kehrt ist zu folgern, dass durch ein Überwiegendepressogener und angstauslösender Situationenin emotional prägenden kindlichen Lebensphasendie dafür zuständigen Hirnzentren „trainiert“und später besonders aktiv werden.

    Nach den Ergebnissen der Deprivationsfor-schung ist nach Abschluss der sensiblen Phasenwegen der dann stark eingeschränkten Plastizitätder betroffen Hirnsysteme therapeutisch einevollständige Wiederherstellung der normalenFunktion nicht mehr erreichbar. Die Untersu-chungen an Säuglingen und Kleinkindern, die inschlecht geführten Heimen aufwuchsen, zeigen,dass lebenslange Verhaltensdefizite verbundenmit emotionalen Störungen bestehen bleiben, diein hohem Maße therapierestistent sind /5/. Hierliegen auf humanpsychologischer Ebene die Ana-loga zu den Ergebnissen der tierexperimentellenDeprivationsforschung. Patienten, die nach mas-siven frühkindlichen negativen Einflüssen späterkaum noch therapeutisch beeinflussbar sind, sindallen Psychiatern und Psychotherapeuten hinrei-chend bekannt.

    HIRNBIOLOGISCH AUSGERICHTETE PSYCHIATRIEAM BEISPIEL DER SCHIZOPHRENIEFORSCHUNG

    Erkrankungen aus dem schizophrenen For-menkreis gehören nach wie vor zu den problema-tischsten psychischen Störungen. Die Patientenleiden nicht nur an Sinnestäuschungen und wahn-haften Realitätsverkennungen, sondern auch aneiner inhaltlichen und formalen Desorganisationder gedanklichen Abläufe sowie an einem breitenSpektrum emotionaler Probleme. Ungefähr einProzent der Bevölkerung sind betroffen (inDeutschland ca. 800 000 Patienten). Unbehan-delt kommt es bei ca. 80 Prozent der Betroffenenzu langjährigen und rezidivierenden Krankheits-verläufen mit wiederholten Klinikbehandlungen.Die jährlichen Behandlungs- und Folgekosten(Arbeitsunfähigkeit, Berentung) sind mit ca. 5Milliarden Euro vergleichbar den großen Volks-krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkran-kungen. Die Erkrankung beginnt in der Regel imjungen Erwachsenenalter und führt bei der Mehr-zahl der Patienten nicht nur zu beruflichen undprivaten Katastrophen, sondern auch zu einererheblichen Belastung der Angehörigen. Etwa 15

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002MEDIZIN

    22

    lung neuer wirksamerer antipsychotischer Medi-kamente beitrug. Neben dem seit langembekannten Einfluss genetischer Faktoren (Erkran-kungshäufigkeit bei eineiigen Zwillingen beträgtetwa 50 Prozent, dagegen nur ca. 1 Prozent in derAllgemeinbevölkerung), konnten subtile hirnbio-logische Korrelate schizophrener Erkrankungennachgewiesen werden. Hierzu gehören:• eine mäßiggradige Erweiterung der inneren

    Hirnkammern (Hirnventrikel) um ca. 20 Pro-zent (Abb. 3), was auf einen Substanzverlustdes umgebenden Hirngewebes hinweist;

    • eine geringe, regional akzentuierte Erweiterungder äußeren Hirnflüssigkeitsräume im Schlä-fenhirn- und Stirnhirnbereich, was auf eineReduktion der dort liegenden Hirnrinde rück-schließen lässt (Abb. 4);

    • eine Reduktion des Volumens der Hippokam-pusformation und des benachbarten Kortex umca. 10 Prozent (Abb. 5) – diese Volumenmin-derung zeigt einen Verlust neuronalen Gewe-bes in diesen zentralen Schlüsselstrukturen deslimbischen Systems an;

    • eine Verkleinerung (um ca. 10 Prozent) derwichtigsten Struktur des Zwischenhirns, desThalamus, der auch als Tor zum Bewusstseinbezeichnet wird;

    • eine aufgehobene strukturelle und funktionelleAsymmetrie der beiden Hirnhälften, d. h. dienormalerweise vorhandene geringgradige ana-tomische Ungleichheit und die Aufgabentei-lung zwischen beiden Hemisphären fehlt(Abb. 7 und Abb. 8);

    • eine gestörte Anordnung zellulärer Schichten(Zytoarchitektur) in der Rinde des Stirnhirnsund limbischen Kortex.

    Oft wurde eingewandt, dass die genannten neu-ropathologischen Abweichungen wie Erweiterun-gen der Hirnkammern und limbische Substanz-defizite als eine Folge der langjährigen Behand-lung mit Psychopharmaka oder als sekundäreKrankheitseffekte, z. B. ernährungsbedingt, ange-sehen werden könnten. In keiner der zahlreichenbisherigen Gehirnuntersuchungen mit struktur-bildgebenden Verfahren (Computertomographie,Kernspintomographie) noch durch postmortaldurchgeführte Analysen des Nervenzellgewebesvon Schizophrenen konnte bislang ein Zusam-menhang zwischen Dosis oder Dauer der Phar-makabehandlung und den Strukturveränderun-gen in den betroffenen Hirnregionen gesehenwerden.

    Die meisten Forscher, die sich mit den neurobio-logischen Grundlagen schizophrener Erkrankun-gen befassen, sind sich mittlerweile darüber einig,dass die hirnbiologischen Veränderungen sehrwahrscheinlich auf eine frühe (d. h. prä- oderperinatale) Hirnentwicklungsstörung zurückzu-führen sind. Hierfür spricht, dass Gewebsreaktio-nen, wie sie für später auftretende organischeHirnerkrankungen typisch sind, im HirngewebeSchizophrener nicht zu finden sind. Die Entwick-lung der normalen zellulären Architektur der

    Prozent der Patienten töten sich in den ersten 10Krankheitsjahren, fast 50 Prozent unternehmeneinen oder mehrere Suizidversuche.

    FORTSCHRITTE IN DER URSACHEN- UNDTHERAPIEFORSCHUNG:

    Bei den Schizophrenien und den Gemüts-krankheiten (depressive Sydrome, manisch-depressive Erkrankung) dominierte lange Zeit dieMeinung, dass neuropathologische Substratenicht existierten. Die neuere Forschung konnteaber sowohl durch morphometrisch-statistischeVerfahren zur Vermessung von Hirnstrukturenund neuronaler Einzelkomponenten sowie durchneuere gewebechemische Untersuchungen anGehirnen verstorbener Patienten als auch in vivomit struktur- und funktionsbildgebenden Verfah-ren nachweisen, dass bei vielen dieser Patientenkrankhafte Veränderungen in bestimmten Hirn-regionen vorhanden sind. Das Ausmaß derbeschriebenen makroskopischen oder mikroskopi-schen Veränderungen reicht jedoch an das, waswir von bekannten hirnorganischen Syndromenwie z. B. Alzheimer-Krankheit, Hirngefäßerkran-kungen, Morbus Parkinson oder Chorea kennen,nicht heran; die Hirnveränderungen bei schizo-phrenen Erkrankungen sind inhomogen (d. h. Artund Lage differiert) und oft bedarf es aufwendigerstatistischer Verfahren, um Gruppendifferenzenzu psychisch gesunden Vergleichsfällen zu sichern.Es liegt hier somit eine ganz andere Qualität hirn-pathologischer Veränderungen vor als wir sie vonneurologischen Krankheiten, bei denen in derRegel deutliche Gewebsläsionen erkennbar sind,oder von Hirnabbauprozessen (z. B. Morbus Alz-heimer) her kennen. Hinzu kommt, dass das kli-nische Bild schizophrener Erkrankungen sehruneinheitlich und im Verlauf recht variabel istund zudem komplexe psychische Prozesse betrof-fen sind; allein deshalb können keine einfachenund uniformen biologischen Substrate, wie sie fürdie meisten Erkrankungen aus dem Gebiet derNeurologie oder für viele andere körperlicheKrankheiten typisch sind, erwartet werden.

    Bis zur Erstbeschreibung hirnbiologischer Ursa-chen waren psychoanalytische Theorien zur Schi-zophrenieentstehung sehr populär: Man nahm andass durch eine überprotektive Mutter oder einedoppeldeutige intrafamiliäre Kommunikation,die dem Kind zwar einerseits positive verbale Mit-teilungen gebe, andererseits durch das Verhaltenaber Ablehnung signalisieren würde, dem Kindgar nichts anderes übrig bliebe, als eine „Bewusst-seinsspaltung“ zu entwickeln. Diese Theorienkonnten empirisch nie belegt werden. Überfür-sorgliche Mütter sind tatsächlich häufiger bei sol-chen Patienten anzutreffen; das mütterliche Ver-halten ist aber eine Reaktion auf die Erkrankungdes Kindes, nicht deren Ursache.

    In den letzten 20 Jahren konnten bedeutsameFortschritte in der Aufklärung der hirnbiologi-schen Abweichungen von Schizophrenen erreichtwerden, was auch zu einer gezielteren Entwick-

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002 MEDIZIN

    23

    Abb. 3a) Kernspintomogramm eines psychisch gesunden

    Probandenb) Kernspintomogramm eines 25-jährigen schizophre-

    nen Patienten mit einer Erweiterung der inneren seit-lichen Hirnkammer (Pfeil)

    c) 22-jähriger Patient mit einer Erweiterung der 3. (mitt-leren) Hirnkammer (Pfeil)

    d) Patient mit einer Reduktion des Kortex im Scheitel-hirnbereich

    Abb. 4Kortikale Substanzreduktion bei einer schizophrenen Patientinlinks: Computertomogramm – Erweiterung des äußeren Hirnflüssigkeitsraumes (dunkel) imBereich des Stirnhirns und rechten Schläfenhirnsrechts: Kernspintomogramm des Stirnhirns und Schläfenhirns der gleichen Patientin

    Abb. 5Postmortem-Präparate eines Normalgehirns (A und B)und von zwei Schizophrenie-Gehirnen auf gleicheranatomischer Ebene (C und D). Das linke untere Bildzeigt eine einseitige Verkleinerung (Hypoplasie) desHippokampus und des anliegenden Kortex; dasrechte untere Bild eine zweiseitige hochgradige Hypoplasie (= angeborene Minderanlage) des Hippo-kampus.

    Abb. 6Didaktisch vereinfachte und stark schematisierte Darstellung der anatomischen Stationender zerebralen Informationsverarbeitung.Informationen aller Sinnesmodalitäten gelangen zunächst über die Sinnesbahnen in dieprimär sensorischen Kortexareale (rot; 1a: Hörrinde, 1b: Sehrinde, 1c: Körperfühlrinde). Vondort erfolgt eine weitere kaskadenförmige Verarbeitung zunächst über die unimodalen, d. h.nur eine Sinnesmodalität verarbeitenden, Assoziationsareale (die um die primären Arealeherum angeordnet sind [grün; 2a bis 2c]). Informationen aus den unimodalen Arealen kon-vergieren in den polymodalen, mehrere Sinnesmodalitäten integrierenden Assoziationsarea-len, deren wichtigstes das vordere Stirnhirn ist (3). Diese höhreren Assoziationsareale proji-zieren zu den limbischen Schlüsselstrukturen (Hippokampus, Mandelkern), die im medialenSchläfenlappen liegen (blau; 4). Letztere beeinflussen die Aktivität des Zwischenhirns (5 =Hypothalamus), in dem neuronale Generatoren archaischer Triebe lokalisiert wurden. Vonhier werden wiederum die vegetativen sympathischen und parasympathischen Zentren imverlängerten Rückenmark (6) gesteuert. Die Pfeile im kortikalen Bereich stellen lange undkurze Assoziationsbahnen dar. Durch den Fasertrakt zwischen 5 und 6 wird die Verbindungzwischen höherer Hirnaktivität und peripher-vegetativem Nervensystem und damit den kör-perlichen Reaktionen auf unsere Hirnaktivität hergestellt. Störungen im höheren Assoziations-kortex (3), limibischen System (4) und Zwischenhirn (5) können ebenso wie eine gestörteAugenabteilung zwischen beiden Hirnhälften mit psychischen Störungen einhergehen.

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002MEDIZIN

    24

    Hirnrinde wie auch die der Asymmetrie derHirnhälften findet vor der Geburt statt; Abwei-chungen weisen somit auf pränatale Fehlentwick-lungen hin. Die hirnstrukturellen Befunde sinddeshalb als frühe entweder genetisch bedingteoder durch pathogene Umwelteinflüsse erwor-bene Vulnerabilitätsfaktoren anzusehen, die zurspäteren Erkrankung disponieren.

    Die früh angelegten Hirnanomalien könnennicht den typischen Krankheitsverlauf erklären,der gekennzeichnet ist durch immer wiederkeh-rendes Ausbrechen von psychotischen Sympto-men, gefolgt von Besserung und dann wiedererneut auftretenden Krankheitsphasen. Bei vorge-gebener hirnbiologischer Vulnerabilität wird derKrankheitsverlauf durch unspezifische biografi-sche Stressoren beeinflusst. Solche Stressfaktorenkönnen sein: Überlastung in Studium oder Beruf,situative Umstellungen wie Umzug oder Berufs-wechsel, insbesondere aber auch ein emotionalbelastender und aggressiver intrafamiliärer Kom-munikationsstil. Hervorzuheben ist, dass durchsolche Stressfaktoren allein eine schizophrenePsychose nicht verursacht werden kann, Vorraus-setzung ist eine vorbestehende hirnbiologischbegründbare Vulnerabilität.

    Da überfordernden belastenden sozialen undintrafamiliären Einflüssen eine wichtige, denKrankheitsverlauf modulierende Rolle zukommt,sind neben einer biologischen Therapie mitantipsychotisch wirksamen Pharmaka stets psy-chotherapeutische Maßnahmen in Form von Psy-choedukation (Anleitung zur Vermeidung vonStressoren) sowie Familientherapie notwendig.Insbesondere limbischen Struktur- und Funkti-

    onsstörungen wurde eine zentrale Rolle in derPathophysiologie der Erkrankung zugesprochen.Durch eine Störung limbischer Hirnareale, deneneine Schlüsselrolle in der neuronalen Modulationhöherer kognitiver und emotionaler Prozessezukommt, kann ein breites Spektrum schizophre-ner Symptome besser verständlich gemacht wer-den. Ein Kriterium bei der Entwicklung der neuenantipsychotisch wirksamen Substanzen wurde des-halb darin gesehen, dass die pharmakologischenNeuentwicklungen möglichst selektiv im limbi-schen System angreifen, wobei andere Hirnberei-che, die eher mit den Nebenwirkungen der älterenAntipsychotika in Zusammenhang gebracht wer-den, möglichst unbeeinflusst bleiben.

    BEDEUTUNG DES LIMBISCHEN SYSTEMSFÜR PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN

    Nicht nur in der Neuropathologie und Patho-physiologie von Schizophrenien, sondern auchbei Angsterkrankungen, depressiven und mani-schen Syndromen, Epilepsien hirnorganischbedingten Psychosen, der Alzheimer-Krankheitsowie verschiedenen Gedächtnisstörungen, spieltdas limbische System eine zentrale Rolle. DieStruktur und Funktion des limbischen Systemswurde bereits ausführlich in Heft 1/2000 des Mag-deburger Wissenschaftsjournals im Beitrag von Papeet al. /6/ im Rahmen der Vorstellung des Sonderfor-schungsbereiches 426 dargestellt.

    Wichtige psychiatrierelevante Aspekte sind nach-stehend knapp zusammengefasst. Die Bedeutungdes limbischen Systems für psychische Störungenlässt sich am besten durch Veranschaulichung sei-ner zentralen Stellung in der Verarbeitung undAuswertung von Umweltinformationen durch dasGehirn erklären. In Abbildung 6 ist didaktischstark vereinfachend und schematisierend die Ein-ordnung des limbischen Systems (Areal 4 inAbb. 6) in die zeitliche und räumliche Abfolge derzerebralen Informationsverarbeitung dargestellt.

    Eine wichtige Aufgabe der limbischen Schlüssel-strukturen, die innen im Schläfenhirn liegen(Hippokampus, Mandelkern) ist die Ausfilterungunwichtiger Informationen, das so genannte„sensory gating“, indem sie in Zusammenarbeitmit dem vorgeschalteten Assoziationskortex(Areal 3 in Abb. 6) und durch Vergleich vergan-gener mit der gegenwärtigen Erfahrung die einge-hende Umweltinformation auf deren emotionaleRelevanz hin bewerten. Was emotional bedeut-sam ist, beeinflusst weiter die Hirnaktivität, wasredundant ist wird gelöscht.

    Außerdem stimulieren oder hemmen dieselbenzentralen limbischen Strukturen über mehrereBahnen die Aktivitäten des Hypothalamus(Areal 5 in Abb. 6), in dem die neuronalen Gene-ratoren der phylogenetisch alten Trieb- und Emo-tionalsphäre liegen. Da dieser phylogenetisch älte-ste Hirnteil in der gesamten aufsteigenden Wir-beltierreihe bis hin zum Menschen in Strukturund Funktion eine erstaunliche Konstanz auf-

    Abb. 7Schematische Darstellung

    eines Computertomogrammes(CT) einer gesunden Person

    (oben) und eines Schizophre-nen (unten). Normalerweise ist

    das rechte Stirnhirn etwasgrößer als das linke und das

    linke Hinterhauptgehirn größerals das rechte. Diese Struktur-asymmetrie des Gehirns ist beidem schizophrenen Patienten

    aufgehoben.

    Abb. 8Gestörte funktionelle Asymmetrie bei Schizophrenen: (Funktionskernspintomographie, Pro-sodie-Paradigma)Aktivierungsmuster durch Frequenzmodulation von Tönen bei einem gesunden Probanden(links) und einem schizophrenen Patienten (rechts). Im Vergleich zum gesunden Probanden istbeim schizophrenen Patienten die Aktivierung des Hörkortex (rote und gelbe Farbe) nichtzugunsten der rechten Hemisphäre lateralisiert. Neben einer aufgehobenen Strukturasymmetrieist eine fehlende funktionelle Asymmetrie (Aufgabenteilung der Hemisphären) bei Schizophre-nen häufig anzutreffen. Im Bereich des limbischen Kortex (posteriores Cingulum) wird durch dieblaue Farbe im Normalgehirn eine Deaktivierung angezeigt. Diese fehlt bei schizophrenen Pati-enten (rechts), was als Hinweis auf eine gestörte neuronale Inhibition interpretiert werden kann.

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002 MEDIZIN

    25

    chen Amnesien oder psychotische (schizophre-nieähnliche) Symptome. Komplette bilaterale Aus-fälle des Hippokampus heben die Erinnerungs-fähigkeit für neu eintretende Ereignisse auf, dieÜberführung des Kurzzeitgedächtnisses in dasLangzeitgedächtnis ist dann nicht mehr möglich.Beidseitige Läsionen des Mandelkerns verursachendas Klüver-Bucy Syndrom. Dieses ist gekennzeich-net durch die Unfähigkeit einer adäquaten emotio-nalen Einstufung des sensorisch Wahrgenomme-nen, was auch als Seelenblindheit bezeichnet wird,oft verbunden mit Hypersexualität und vermin-derter Aggressivität /8/.

    Geringgradigere Läsionen limbischer Strukturen,z. B. Anfangsstadien von Tumoren und Infekten,gehen oft mit einer schizophrenieähnlichenSymptomatik einher. In den Frühstadien werdensolche Erkrankungen limbischer und damit inenger Verbindung stehender Regionen des Schlä-fenhirns oder Stirnhirns oft als Schizophrenieoder als emotionale Psychose fehldiagnostiziert.

    STÖRUNGEN DER NORMALEN STRUKTUR- UNDFUNKTIONSASYMMETRIE DES GEHIRNS

    Neben einer subtilen Erweiterung der innerenund äußeren Liquorräume, Strukturdefekten inlimbischen Arealen sowie in bestimmten Berei-chen des Zwischenhirns (Thalamus) gilt bei Schi-zophrenen als weitere Kategorie von Hirnstruk-turveränderungen eine aufgehobene Asymmetriedes Kortex als etabliert (Abb. 7). Rechts-links-Ungleichheiten in Struktur und Funktion weisenim Normalgehirn insbesondere die sprachrele-vanten Hirnregionen auf; diskrete Struktur-asymmetrien bestehen aber auch zwischen rech-tem und linken Stirnhirn (rechts > links) und denhinteren Hirnhäften (links > rechts). Diese nor-malen Strukturasymmetrien sind bei Schizophre-nen weitgehend aufgehoben. Da sich die zerebraleAsymmetrie vor der Geburt entwickelt, ist letzterBefund wie auch beschriebene Anomalien in derArchitektur bestimmter Schichten der Hirnrinde,die sich pränatal entwickeln, als klares Indiz füreine frühe Hirnentwicklungsstörung zu werten.Hierzu passt, dass es keine Korrelation zwischenlimbischen Strukturveränderungen und Krank-heitsdauer gibt; die Veränderungen sind nichtprogressiv, wie dies bei Hirnabbauerkrankungender Fall ist, sondern frühe Fehlanlagen.

    Während Sprachproduktion und -perzeptionvorwiegend eine Aufgabe linkshemispherischerSprachzentren sind, sind Sprachintonation undModulation der Stimme, woraus emotionaleKomponenten sprachlicher Mitteilungen (Proso-die) hervorgehen sowie die Wahrnehmung desmelodischen Sprachgehaltes normalerweise eineFunktion rechtshemispherischer Sprachzentren.In Zusammenarbeit zwischen der MagdeburgerPsychiatrischen Universitätsklinik und dem Leib-niz-Institut für Neurobiologie konnte mittelsFunktionskernspintomographie gezeigt werden,dass bei Schizophrenen die normale funktionelleAsymmetrie bei Anwendung eines Prosodie-

    weist, wurde er auch als „Reptilhirn“ bezeichnet.Elementare Triebe wie Aggression, Flucht, Sexual-verhalten, die in diesem Hirnbereich auch durchdirekte elektrische Stimulierung aktivierbar sind(Hess, 1949), werden physiologischerweise durchNervenbahnen von limbischen Schlüsselstruktu-ren wie Amygdala und Hippokampus, mitgesteu-ert und zwar in Abhängigkeit von Informationen,die letztere Strukturen vom Assoziationskortexbekommen. Der Kortex selbst kann die archai-schen, unsere Triebe generierenden Aktivitätendes Hypothalamus nicht direkt beeinflussen, dadirekte Bahnen vom Kortex zu diesem phylogene-tisch sehr alten Teil des Zwischenhirns fehlen. DieHirnrinde als das Substrat höherer kognitiver Vor-gänge ist deshalb auf die Vermittlung des limbi-schen Systems angewiesen, um die Aktivitätenunseres „Reptilgehirns“ zu kontrollieren. Störun-gen des limbischen Systems resultieren deshalb aufpsychopathologischer Ebene in einer Desintegra-tion von Kognition und Emotion. Dies ist ein kli-nisches Phänomen, das man bei vielen psychiatri-schen Erkrankungen antrifft.

    Der Hypothalamus reguliert seinerseits überlange, absteigende vegetative Bahnen alle peri-pher-vegetativen Reaktionen, die durch das sym-pathische oder parasympathische Nervensystemaktiviert werden, wie z. B. Blutdruck, Haut-durchblutung, Pulsfrequenz, Magen-Darm-Motilität, Schweißabsonderung.

    Damit ist die Kette der sensorischen Informations-verarbeitung vom Sinnesorgan über kortikale Asso-ziation und Integration, limbische Bewertung undVermittlung, Aktivierung oder Hemmung des„Reptilgehirnes“ bis hin zur peripheren körperli-chen Reaktion vollständig (schematische Zusam-menfassung in Abbildung 6). Die Kopplung zwi-schen psychischen und somatischen Reaktionenwird damit naturwissenschaftlich verständlich.

    Denkstörungen, abnorme Realitätsinterpretation,krankhafte Störungen der Affekte sowie die psy-chosetypische Dissoziation zwischen Kognitionund Emotion lassen sich aus der Desintegrationund Störung der Interaktion zwischen Aktivitätender höheren Kortexorgane, des limbischenSystems und des phylogenetisch alten Hirnstam-mes herleiten /7/.

    ZUORDNUNG NEUROLOGISCHER ODERPSYCHIATRISCHER SYMPTOMATIK ZUBESTIMMTEN HIRNREGIONEN UND -SYSTEMEN

    Während Läsionen primär sensorischer odermotorischer Hirnareale oder des extrapyramidalmotorischen Systems mit Symptomen einherge-hen, die in das Gebiet der Neurologie fallen, verur-sachen Störungen des höheren Assoziationskortexund des limbischen Systems klinische Bilder, dieeher dem Bereich der psychiatrischen Symptoma-tologie zugerechnet werden. Pathologische Pro-zesse in den wichtigsten limbischen Strukturen desmittleren Schläfenhirns (Hippokampus, Kortexneben dem Hippokampus, Mandelkern) verursa-

    Literatur/1/ Eccles JC (1973) The

    Understanding of the Brain.McGraw-Hill, New York

    /2/ Duman RS, Malberg J,Thome J. (1999) Neuralplasticity to stress and ant-idepressant treatment. BiolPsychiatry 46: 1181-91

    /3/ Prado JV, Prado PJ, RaichleME (1993) Neural correla-tes of self-induced dyspho-ria. Am J Psychiatry 150:713-719

    /4/ Braun K, Bogerts B. Erfah-rungsgesteuerte neuronalePlastizität : Bedeutung fürPathogenes und Therapiepsychischer Erkrankungen.Nervenarzt 72, 3-10 (2001).

    /5/Spitz RA (1965) Erkrankun-gen des Kleinkindes durchden Entzug affektiverZufuhr. In Spitz RA: VomSäugling zum Kleinkind.Klett Stuttgart, pp 279-295

    /6/ Pape HC, Bogerts B,Schwegler H. (2000) Son-derforschungsbereich 426„Limbische Strukturen undFunktionen“ im Zentrumdes Gehirns“. MagdeburgerWissenschaftsjournal 1: 3-12

    /7/ Bogerts, B. und Falkai, P.(2000) Neuroanatomischeund neuropathologischeGrundlagen psychischerStörungen. In HelmchenH., Henn F., Lauter H.,Satorius N. (Hrsg.) Psychia-trie der Gegenwart 1; pp277-310

    /8/ Mesulam MM (1986) Pat-terns in behavioral neuroa-natomy: association areas,the limbic system, andhemispheric specialization.In: Mesulam MM (Hrsg)Principles of behavioral neu-rology. Davis, Philadelphia,pp 1-70

  • MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 1/2002MEDIZIN

    26

    nahen Paradigmas (Frequenzmodulation vonTönen), aufgehoben ist (Abb. 8)

    Strukturveränderungen in höheren kortikalenAssoziationsarealen sowie die aufgehobene Struk-turasymmetrie des Großhirns konnten bislangnur bei Schizophrenen, nicht aber bei Gemütser-krankungen und neurotischen Patienten gefun-den werden. Es scheint hier also eine Krankheits-spezifität vorzuliegen.

    UNTERSUCHUNGEN ZU DEN URSACHEN NEURO-BIOLOGISCHER VERÄNDERUNGEN SCHIZOPHRENER

    Während die Mehrzahl der neuropathologi-schen Befunde sowie der Untersuchungen mitstrukturbildgebenden Verfahren dafür spricht,dass die Erweiterungen der inneren Hirnkam-mern und die limbischen Strukturdefekte Schizo-phrener statischer Natur – d. h. nicht progressiv –sind, weisen einige Untersuchungen, die einenZusammenhang zwischen kortikaler Substanzver-minderung und Krankheitsdauer fanden, aufeinen zusätzlichen, möglicherweise erst im frühenErwachsenenalter auftretenden Krankheitspro-zess in der Assoziationsrinde des Stirn- und Schlä-fenhirns hin.

    Solche sekundären kortikalen Prozesse wie auchUntersuchungen bestimmter neuronaler Subpo-pulationen mit neuen histochemischen Techni-ken sind Gegenstand feingeweblicher Untersu-chungen an Gehirnen verstorbener Patienten, dieim Forschungslabor der psychiatrischen Univer-sitätsklinik durchgeführt werden.

    Da aber zumindest die subkortikalen Verände-rungen statisch zu sein scheinen, können sieweder den variablen Krankheitsverlauf noch dentypischen Beginn der klinischen Symptomatik imfrühen Erwachsenenalter erklären. Sie sind des-halb als Vulnerabilitätsfaktoren zu betrachten, diezusammen mit anderen Faktoren (psychosoziale,

    biochemische, unspezifische Stressoren) Voraus-setzung zum Entstehen der Erkrankung sind.Ohne solche vorbestehenden hirnbiologisch defi-nierbaren Vulnerabilitätsfaktoren kann sich keineschizophrene Psychose entwickeln, auch nicht beistärksten psychosozialen Stressoren. Letzere kön-nen aber den Krankheitsverlauf bei den betroffe-nen Patienten beeinflussen.

    Gänzlich unbekannt ist, welche anderen, nicht-morphologischen biologischen Faktoren (z. B.alters- und stressabhängige) den Krankheitsver-lauf der durch eine strukturelle Vorschädigungvulnerabel gewordenen Gehirne psychotischerPatienten bestimmen. Gelänge in dieser Frage einDurchbruch, dann könnte die therapeutischeSituation noch weiter verbessert werden.

    Die zukünftige hirnbiologisch ausgerichtete Psy-chiatrie wird einerseits auf eine intensive Koope-ration mit der neurobiologischen Grundlagen-forschung angewiesen sein, um die zellulärenund molekularen Korrelate der makroskopischnachweisbaren Substanzdefizite und die darausresultierende Pathophysiologie näher zu definie-ren. Solche Forschungsarbeiten werden bereitsan der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg in Zusam-menarbeit zwischen psychiatrischer Klinik undneurowissenschaftlichen Instituten durchge-führt. Andererseits sind von der klinischen Psy-chiatrie mit Hilfe der neuesten bildgebendenTechnologien – ähnlich dem oben dargestelltenfunktionskernspintomographisch untersuchtenProsodieparadigma – diagnostische Verfahrenzu entwickeln, mit denen Art und Ausmaß derbei psychischen Erkrankungen vorliegendenHirnfunktionsstörungen erkannt werden kön-nen, um damit eine objektivierbare Funktions-diagnostik psychiatrierelevanter Hirnsysteme zuermöglichen. Magdeburg bietet hierzu idealeVoraussetzungen.

    Prof. Dr. Bernhard Bogerts,geboren 1948, Medizinstudium an den Universitäten Köln und Düsseldorf; 1976 Promotion an derUniversität Düsseldorf zur Thematik plastischer Hirnveränderungen nach sensorischer Deprivation.1976–1978 Arzt im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Schleswig, 1981–1982, NeurologieMarien-Hospital Düsseldorf; 1978–1984 wissenschaftlicher Assistent am C. u. O. Vogt-Institut für

    Hirnforschung der Universität Düsseldorf. 1984–1994 Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Düsseldorf;1988 Habilitation an der Universität Düsseldorf zum Thema hirnstruktureller Veränderungen bei Schizophrenen.1989–1990 Department of Psychiatric Research, Long Island Jewish Medical Center, Einstein College, New York. SeitFebruar 1994 Ordinarius für Psychiatrie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; seitdem Sprecher des BMBF-NBL2-Neuroverbundprojektes „Exogene und endogene Störungen des ZNS“. Februar 1998 Ablehnung des Rufes aufden Lehrstuhl „Psychiatrie“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Auszeichnungen: Kurt-Schnei-der Preis 1984; Scottish Rite Schizophrenia Grant 1989; Stanley Foundation Research Awards 1992, 1996, 1999; Krae-pelin-Preis 1998. Forschungsschwerpunkt: hirnstrukturelle Grundlagen von schizophrenen und affektiven Psychosen.