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Mindestanforderunge n an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose Prof. Dr.med. Hans-Ludwig Kröber Institut für Forensische Psychiatrie der Charité – Universitätsmedizin Berlin www.forensik-berlin.de

Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

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Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose. Prof. Dr.med. Hans-Ludwig Kröber Institut für Forensische Psychiatrie der Charité – Universitätsmedizin Berlin www.forensik-berlin.de. Verhaltensvorhersage. - PowerPoint PPT Presentation

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Page 1: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur KriminalprognoseProf. Dr.med. Hans-Ludwig KröberInstitut für Forensische Psychiatrieder Charité – Universitätsmedizin Berlin

www.forensik-berlin.de

Page 2: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

VerhaltensvorhersageGrundsätzlich ist die Vorhersage menschlichen

Verhaltens keineswegs unmöglich: Menschen ändern sich. Aber Menschen bleiben sich auch in wesentlichen Eigenschaften und Verhaltensbereitschaften gleich. Beide Aussagen sind richtig. Unser ganzes Alltagsleben baut darauf, daß die uns umgebenden Menschen im wesentlichen gleich bleiben, daß der Ehepartner, der Arbeitskollege, daß die Bekannten im Verein sich auch morgen so verhalten werden, wie wir es von ihnen kennen und erwarten. Wäre das künftige Verhalten anderer nur unter hohem Risiko vorhersagbar, wir würden jeden Tag mit jenem Bangen aufstehen, das solche Menschen kennen, bei denen ein Familienangehöriger krankheitsbedingt unkalkulierbar geworden ist.

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VerhaltensvorhersageAndererseits wissen wir und registrieren

wir, daß Menschen sich verändern. Diese Veränderungsprozesse erfolgen in aller Regel langsam, in Kindheit und Jugend rascher und manchmal stürmischer. Späterhin erfolgen deutliche Änderungen in Verhalten, Einstellungen, Lebensweise nicht ganz selten als Folge von biographischen Krisen oder, häufiger, als Folge gewandelter Anforderungen.

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Rechtliche Vorgaben

... verantwortet werden kann zu erproben, ob (§ 57, 57a StGB)

... erwartet werden kann, daß (§ 67d StGB)der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs/Maßregelvollzugs keine

Straftaten mehr begehen wird

Bei der Entscheidung sind namentlich zu berücksichtigen - die Persönlichkeit des Verurteilten, - sein Vorleben, - die Umstände seiner Tat, - sein Verhalten im Vollzug, - seine Lebensverhältnisse und - die Wirkungen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind.

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BVerfG 5. Febr. 2004 (2 BvR 2029/01) Nach sachverständiger Beratung hat der Richter eine eigenständige

Prognoseentscheidung zu treffen, bei der er dem ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen hat. Diese Kontrolle hat sich nicht nur auf das Prognoseergebnis, sondern auch auf die Qualität der gesamten Prognosestellung zu beziehen. Dabei müssen die Gutachter die für die Begutachtung maßgeblichen Einzelkriterien regelmäßig in einem sorgfältigen Verfahren erheben, das die Auswertung des Aktenmaterials, die eingehende Untersuchung des Probanden und die schriftliche Aufzeichnung des Gesprächsinhalts und des psychischen Befundes umfaßt und dessen Ergebnisse von einem Facharzt mit psychiatrischer Ausbildung und Erfahrung gewichtet und in einen Gesamtzusammenhang eingestellt werden (vgl. Kröber, NStZ 1999, S. 593 <594 ff.>; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl., S. 247).

Page 6: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

BVerfG 5. Febr. 2004 (2 BvR 2029/01)

Bevor der Richter das Prognoseergebnis aufgrund eigener Wertungen kritisch hinterfragen kann, hat er zu überprüfen, ob das Gutachten bestimmten Mindeststandards genügt. So muß die Begutachtung insbesondere nachvollziehbar und transparent sein. Der Gutachter muß Anknüpfungs- und Befundtatsachen klar und vollständig darstellen, seine Untersuchungsmethoden erläutern und seine Hypothesen offenlegen (vgl. im einzelnen BGHSt 45, 164 <178 f.>). Auf dieser Grundlage hat er eine Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten zu treffen, die das Gericht in die Lage versetzt, die Rechtsfrage des § 67d Abs. 3 StGB eigenverantwortlich zu beantworten.

Page 7: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

BVerfG 5. Febr. 2004 (2 BvR 2029/01)Neben dem Gebot der Transparenz gilt für das psychiatrische

Prognosegutachten das Gebot hinreichend breiter Prognosebasis. Um dem Gericht eine Gesamtwürdigung von Tat und Täter (vgl. § 66

Abs. 1 Nr. 3 StGB) zu ermöglichen, muß das Gutachten verschiedene Hauptbereiche aus dem Lebenslängs- und –querschnitt des Verurteilten betrachten.

Zu fordern ist insbesondere eine Auseinandersetzung mit dem Anlaßdelikt, der prädeliktischen Persönlichkeit, der postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung sowie dem sozialen Empfangsraum des Täter. Darüber hinaus hat der Gutachter bei Vorbereitung der - nach langjährigem Freiheitsentzug zu treffenden - Entscheidung gemäß § 67d Abs. 3 StGB besonderes Augenmerk auf die Frage zu richten, wie sich der Verurteilte bei etwaigen Vollzugslockerungen verhält. Denn gerade das Verhalten anläßlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für künftige Legalbewährung des Verurteilten dar.“

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Methodische Aspekte psychiatrischer Begutachtung im Strafrecht

Typisierend(nomothetisch)

Psychiatrische Diagnose (Zuordnung zu einem überindividuell bekannten Syndrom)

Forensische Typisierung (Betrüger, Dealer, Verkehrsrowdy, Kindesmißbraucher, Skinhead, Bankräuber)

Verlaufstypisierung (jugendlicher Intensivtäter, Späteinsteiger, Berufskrimineller, Verwahrlosungstäter)

Modell Kleiderkammer: Paßt !

Individualisierend(idiographisch)

(Wer und wie war Albert Speer?)

Eine möglichst exakte, möglichst viele Informationen erfassende und

auf ihren wesentlichen Gehalt konzentrierende (Ockham)

Beschreibung der individuellen Funktionsweise eines Menschen

(sein Skript, seine inneren Bewegungsgesetze, Grundeinstellungen, für ihn typischen Muster)

Modell: Maßanzug

Page 9: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Grundfragen des kriminalprognostischen Gutachtens1. Worin bestand die zur Tat führende – die in den

Taten zutage getretene - Gefährlichkeit?Einerseits: überdauernde, persönlichkeitseigene FaktorenAndererseits: eher vorübergehende, situative Faktoren

Mehrgleisigkeit der Diagnostik:Delinquenzrisiko durch psychische Störungen, sexuelle Devianz

Delinquenzrisiko durch Gewohnheit, Lebensstil, bewußte Entscheidung etc

Page 10: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Grundfragen des kriminalprognostischen Gutachtens2. Was hat sich seit der Tat an dem Täter geändert,

Wodurch, woran wird das sichtbar? Wie stabil sind diese Änderungen?Was hat sich nicht geändert?

3. Hat sich speziell an psychischen Risikofaktoren etwas geändert?

4. Beeinflussen die Veränderungen das Risiko erneuter Straftaten, oder sind sie dafür bedeutungslos?

Page 11: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Grundfragen des kriminalprognostischen Gutachtens5. Wie ist die soziale Einbindung des

Probanden, wie wäre seine soziale Lage nach der Entlassung? (Arbeit, Wohnen, Schulden, Beziehungen)

6. Welche Vorschläge gibt es zur weiteren Vollzugsgestaltung und die Zeit danach? Sind diese abgestimmt auf die realen Möglichkeiten? Sind sie geeignet zur Minderung des Delinquenzrisikos? Sind sie erforderlich?

Page 12: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Disposition zur Begehung erheblicher Straftaten - Was ist das?

Der Proband ist bereits mehrfach als Straftäter ermittelt worden; er ist bereits mehrfach verurteilt worden. Er hat bereits mehrfach Strafen verbüßt. All das hat bei ihm keine Verhaltensänderung bewirkt.

Der Proband lebt im Einklang mit seinen Taten oder ist von ihnen unbeeindruckt oder hält sie für unvermeidlich.

Der Proband sieht keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Taten und Haftzeiten.

Kurzum: Der Proband hat – zumeist in Kindheit und Jugend – stabile dissoziale Kognitionen und Einstellungen erworben.

Page 13: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Juristische Fragestellung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung an den psychiatrischen Gutachter Besteht ein erhöhtes Risiko, daß er wieder

ernstlich straffällig wird? Besteht bei dem Beschuldigten eine bleibende

Disposition zur Begehung erheblicher Straftaten? Gefährlichkeit?

Besteht vielleicht (auch) eine psychische Erkrankung, schwere Persönlichkeitsstörung, sexuelle Deviation?

Ist irgendeine der Erkenntnisse über seine Gefährlichkeit neu?

Page 14: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Basale Fragen der Kriminalprognose 1. Worin bestand die zur Tat führende Gefährlichkeit?

Einerseits: überdauernde, persönlichkeitseigene FaktorenAndererseits: eher vorübergehende, situative FaktorenMehrgleisigkeit der Diagnostik:

Delinquenzrisiko durch psychische StörungenDelinquenzrisiko durch Gewohnheit, Lebensstil, bewußte Entscheidung etc

2. Was hat sich seit der Tat an dem Täter geändert? Wodurch, woran wird das sichtbar? Wie stabil sind diese Änderungen?Was hat sich nicht geändert?

3. Hat sich speziell an psychischen Risikofaktoren etwas geändert? 4. Beeinflussen die Veränderungen das Risiko erneuter Straftaten, oder sind sie

dafür bedeutungslos? 5. Wie ist die soziale Einbindung des Probanden, wie wäre seine soziale Lage

nach der Entlassung? (Arbeit, Wohnen, Schulden, Beziehungen) 6. Welche Interventionen könnten all dies ändern?

Page 15: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (1)

1. Beauftragung des Sachverständigen durch wen (Behörde, StVK, StA, Anstalt)? Mitteilung der vom Gutachter zu beantwortenden

Fragen, Zusendung der Akten: VH, GPA, (Sachakten) Anforderung weiterer Akten (soweit

vorhanden/erhältlich) durch den Sachverständigen.

Page 16: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (2)

2. Aktenstudium durch den Gutachter Auswertung des Akteninhalts (VH, Ermittlungsakten, Anstaltsakten,

Krankenhausakten) im Hinblick auf die kriminalprognostischen Fragestellungen, insbes.:

- Lebens- und Delinquenzgeschichte (Frühdelinquenz, erste abgeurteilte Straftat, weiterer Delinquenzverlauf, Haftgeschichte sowie Integrationsgrad/-formen in Freiheit, Rückfallgeschwindigkeit, Intensitätsveränderungen, Konstanz/Veränderlichkeit des Tatbildes),

- Diagnostik- und Therapiegeschichte (päd., psychol., medizin. Befunde in der Kindheit und hernach, frühere Begutachtungen (Befunde!), frühere Behandlungen

- frühere Stellungnahmen des Probanden zu seinen Taten, zu sich selbst, zu wichtigen Bezugspersonen, seiner Lebensgeschichte etc. (z.B. in früheren Beschuldigtenvernehmungen)

Page 17: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (3)

Weiter 2. Aktenstudium durch den Gutachter

Besondere Aufmerksamkeit für den Vollzugsverlauf und „Nova“, für neue Erkenntnisse, inhaltlich (nicht nur nomenklatorisch) neue Befunde.

Wiedergewinnung verlorengegangener Informationen (Korrektur biographischer Legenden)

Schriftliche Zusammenfassung des beurteilungsrelevanten Akteninhalts

Page 18: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (4)

3. Untersuchung des Beschuldigten In der Regel an mindestens 2 Terminen, je nach Schwierigkeitsgrad

ca. 4-7 Stunden. Spätestens das letzte ausführliche Gespräch in Kenntnis aller

Aktenteile. Eher passives Ertragen der primären Selbstdarstellung,

selbstgewählte Ahnungslosigkeit. Gezieltes Nachfragen in einem weiteren Teil unter Offenbarung eigenen Wissens. Nach der systematischen Befragung unbedingt auch ein "freier Teil" des unstrukturierten, konfrontativen, kreativen Gesprächs.

Page 19: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.1.4 Mehrdimensionale Untersuchung– Entwicklung und gegenwärtiges Bild der Persönlichkeit– Krankheits- und Störungsanamnese - Analyse der Delinquenzgeschichte und des Tatbildes

Unter „mehrdimensionaler Untersuchung“ ist zu verstehen, daß themenbezogen drei elementare Bereiche exploriert werden: Person – Krankheit – Delinquenz. Eine Reduktion auf nur zwei oder eines dieser Themen macht das Gutachten insuffizient. Die drei Bereiche sind im individuellen Lebensverlauf zeitlich und sachlich verzahnt, was im Gespräch oft ein chronologisches Vorgehen nahe legt.

Wenn die Prognosebegutachtung die erste forensische Begutachtung des Probanden ist, sollte man sich hinsichtlich der zu erhebenden Informationen an den „Mindestanforderungen für die Schuldfähigkeitsbegutachtung“ orientieren. Dies betrifft insbesondere die delikt- und diagnosenspezifische Exploration.

Page 20: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.1.5 Umfassende Erhebung der relevanten Informationen(Herkunftsfamilie, Ersatzfamilie, Kindheit, Schule/Ausbildung/Beruf, finanzielle Situation, Erkrankungen [allgemein/ psychiatrisch], Suchtmittel, Sexualität,

Partnerschaften, Freizeitgestaltung, Lebenszeit-Delinquenz [evtl. Benennung spezifischer

Tatphänomene wie Progredienz, Gewaltbereitschaft, Tatmotive etc.],

ggf. Vollzugs- und Therapieverlauf, soziale Bezüge, Lebenseinstellungen, Selbsteinschätzung,

Umgang mit Konflikten, Zukunftsperspektive. Ausführliche Exploration insbesondere in Bezug auf die

Lebenszeitdelinquenz [Delikteinsicht, Opferempathie, Veränderungsprozesse seit letztem Delikt, Einschätzung von zukünftigen Risiken und deren Management])

Page 21: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.1.5 Umfassende Erhebung der relevanten Informationen - Fortsetzung Erörterung von faktischen Diskrepanzen mit dem Probanden Überprüfung der Stimmigkeit der gesammelten Informationen Ansprechen von Widersprüchen zwischen Exploration und

Akteninhalt Da der Proband rechtskräftig abgeurteilt ist, kann und muß der

Sachverständige von den Urteilsfeststellungen ausgehen und darf den Probanden mit den zugrunde liegenden Sachverhalten konfrontieren, ohne dass er sich damit dem Vorwurf der Befangenheit aussetzt. Einzelne Sachverhalte, insbesondere zur Delinquenzgeschichte, müssen gezielt erfragt werden, was Aktenkenntnis des Sachverständigen voraussetzt. Wenn der Proband Angaben macht, die deutlich von früheren Einlassungen oder von relevanten Akteninformationen abweichen, so sind diese Diskrepanzen anzusprechen. Wie die Probanden darauf reagieren, ist ein weiterer wichtiger Teil der Informationsgewinnung.

Page 22: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.1.6 Beobachtung des Verhaltens während der Exploration, psychischer Befund, ausführliche Persönlichkeitsbeschreibung

Unverzichtbar im Gutachten ist eine ausführliche und anschauliche Beschreibung des psychischen Ist-Zustandes des Probanden. Der Sachverständige soll das Interaktions-verhalten, die Selbstdarstellungsweisen, die emotionalen Reaktionsweisen, den Denkstil des Probanden in der Untersuchungssituation wahrnehmen, beschreiben und (persönlichkeits-)diagnostisch zuordnen. Es ist also wichtig, sich bald nach den Gesprächen nochmals alle Wahrnehmungen zu vergegenwärtigen und sie sprachlich zu fassen. Bei einem zweiten Untersuchungsgespräch können erste Eindrücke überprüft und eventuell korrigiert werden. Der „Psychische Befund“ ist durch die Wiedergabe testpsychologischer Ergebnisse nicht ersetzbar.

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Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (5)

4. Schriftliche Zusammenfassung der Gesprächsinhalte5. Erarbeitung einer Beschreibung des Auftretens, der

psychischen Verfassung des Beschuldigten und seines Verhaltens in der Interaktion ("psychischer Befund"); ggf. ergänzt um testpsychologische Befunde in einem gesonderten Abschnitt

6. Erörterung der Gutachtenfrage anhand von Akteninformationen, Gesprächsergebnissen, psychischen Befund und wissenschaftlichem Hintergrundwissen ("Beurteilung").

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Gesichtspunkte im Untersuchungsgespräch

Authentizität, emotionale Konturierung, Anbiederung, Unterwerfung, Theatralik

Reaktion auf diesbezügliche Änderungsbemühungen Wahrnehmung und Einbeziehung des Gesprächspartners Aktuelles Nachdenken statt Abspulen von Erlerntem, Offenheit oder

Zielgerichtetheit Übereinstimmung oder Abweichung von früheren Aussagen,

Aussagemustern, wiederkehrende Redemuster Externalisieren, Internalisieren oder Differenzieren Beschreibung der signifikanten Anderen im Lebensverlauf Wahrnehmung typischer eigener Verhaltensmuster eigene Gefühle und körperliche Sensationen, Möglichkeiten

konstruktiver Verbalisierung Selbstvertrauen, Optimismus, Verantwortungsübernahme,

Frustrationstoleranz

Page 25: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.1.7 Überprüfung des Vorhandenseins empirisch gesicherter, kriminologischer und psychiatrischer Risikovariablen, ggf. unter Anwendung geeigneter standardisierter Prognoseinstrumente

Die Informationen aus Aktenstudium und Exploration werden erfaßt und partiell bewertet mit erfahrungs-wissenschaftlich fundierten, standardisierten Instrumenten zur Risikoeinschätzung. Diese Instrumente sind zunächst hilfreiche Checklisten um zu prüfen, ob die Exploration all jene Bereiche erfaßt hat, die in vielen Fällen kriminologisch relevant sind. Sie erfassen besonders wichtige und besonders häufige Risikofaktoren. Ein Ende der Entwicklung neuer standardisierter Verfahren ist nicht abzusehen. Insofern ist die Festlegung auf ein bestimmtes Verfahren weder sinnvoll noch notwendig.

Page 26: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.1.7 Überprüfung des Vorhandenseins empirisch gesicherter, kriminologischer und psychiatrischer Risikovariablen, ggf. unter Anwendung geeigneter standardisierter Prognoseinstrumente

Wird ein solches Verfahren (z.B. HCR-20, PCL-R etc.) genutzt, muß der Sachverständige darin ausgebildet und imstande sein, dieses auch kompetent anzu-wenden. Erforderlich ist, daß der Sachverständige ein korrektes, den Operationalisierungen entsprechendes Verständnis der Items und der Skalierung hat. Prognoseinstrumente ersetzen die hermeneutische oder hypothesengeleitete Individualprognose nicht, helfen aber, empirisches Wissen für die Prognose nutzbar zu machen und den internationalen Prognosestandard einzuhalten.

Page 27: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.1.8 Indikationsgeleitete Durchführung testpsychologischer Diagnostik unter Beachtung der Validitätsprobleme, die sich aus der forensischen Situation ergebenIndikationsgeleitete Durchführung geeigneter anderer Zusatzuntersuchungen

Testpsychologische Untersuchungen können, wenn sie Antworten auf nachvollziehbare Fragen liefern, nützlich sein, ebenso die Zweitsicht des Probanden durch einen Psychologen. Für Prognosegutachten sind die Eignung und die Validität psychologischer Tests von besonderer Bedeutung und müssen im Gutachten dargelegt werden. Entscheidende, gar objektive Hinweise zur Prognose sind aus testpsychologischen Aktualbefunden nicht ableitbar, insbesondere nicht durch den Abgleich mit testpsychologischen Befunddaten aus dem Erkenntnisverfahren, bei dem sich der Proband in einer ganz anderen psychischen Situation befand.

Andere Zusatzuntersuchungen, z.B. mit bildgebenden Verfahren, sind sehr selten erforderlich.

Page 28: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.2 Diagnose und Differentialdiagnose

Die Erhebung der Informationen wird abgeschlossen mit der Benennung einer möglichst genauen Diagnose (orientiert gegenwärtig an ICD-10 oder DSM-IV-TR), sofern ein forensisch-psychiatrisch zu beschreibender Sachverhalt vorliegt. An dieser Stelle sind sogleich auch differentialdiagnostische Optionen zu benennen. Die eingehende Diskussion der Diagnose und der ihr zugrunde liegenden Sachverhalte sowie der Differentialdiagnose erfolgt dann hier oder im Rahmen der Beurteilung.

Page 29: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.3.1 Konkretisierung der Gutachtensfrage aus sachverständiger Sicht, z.B. Rückfall nach Entlassung, Mißbrauch einer Lockerung

Zu Beginn der gutachterlichen Schlußfolgerungen („Zusammenfassung und Beurteilung“) ist es sinnvoll, den Kern des Begutachtungsauftrags nochmals zu benennen und die dafür wichtigen Gesichtspunkte zu konkretisieren. Sicherlich macht es einen Unterschied, ob es um Entlassung oder aber Lockerungen geht, ob um die Begehung neuer Straftaten oder Flucht. Es gibt je nach Fragestellung und Fallgestaltung (Deliktsart, psychische Krankheit, Alter etc.) mehr oder weniger umfangreiche erfahrungswissenschaftliche Kriterien. Allemal aber geht es dann im ersten Schritt darum, aus der Rekonstruktion der Vorgeschichte die basale Problematik des Probanden zu analysieren.

Page 30: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.3.2 Analyse der individuellen Delinquenz, ihrer Hintergründe und Ursachen (Verhaltensmuster, Einstellungen, Werthaltungen, Motivationen)

Anhand der gewonnenen Erkenntnisse ist als erste Teilaufgabe die Frage zu klären, worin bei dieser Person ihre „in den Taten zutage getretene Gefährlichkeit“ besteht, was bei dieser Person die allgemeinen und besonderen Gründe ihrer Straffälligkeit sind. Es geht dabei um die Erfassung der verhaltenswirksamen Einstellungen, Werthaltungen, Motive, Intentionen sowie eingeschliffener Verhaltensmuster.

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II.3.2 Analyse der individuellen Delinquenz, ihrer Hintergründe und Ursachen (Verhaltensmuster, Einstellungen, Werthaltungen, Motivationen)

Ausgangspunkt jeder Prognose ist es, die bisherige delinquente Entwicklung dieses Menschen nachzuzeichnen und aufzuklären. Dies umfaßt die Rekonstruktion von Biographie und Delinquenzgeschichte und ggf. Krankheitsgeschichte, von Tatablauf und Tathintergründen des Anlaßdelikts sowie weiterer bedeutsamer Taten. Auf diese Weise soll eine ganz individuelle Theorie generiert werden, aus welchen Gründen gerade diese Person bislang straffällig geworden ist, was ggf. ihre Straffälligkeit aufrechterhalten und ausgeweitet hat.

Page 32: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Die „großen Vier“ der Rückfälligkeit (Andrews u. Bonta 1998, The psychology of criminal conduct; Cincinnati)

(1) Lange Vorgeschichte antisozialen und delinquenten Verhaltens,

(2) Ausgeprägte Merkmale der antisozialen Persönlichkeit,

(3) das Ausmaß antisozialer Kognitionen und Einstellungen sowie

(4) ein antisoziales Umfeld . ((5)) Und außerdem noch diverse andere Täter.

Page 33: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

II.3.3 Mehrdimensionale biografisch fundierte Analyse unter Berücksichtigung der individuellen Risikofaktoren

a. deliktspezifischb. krankheits- oder störungsspezifisch c. persönlichkeitsspezifisch

Aufgrund der der Analyse dieser drei Dimensionen soll vor dem Hintergrund empirischen Wissens eine individuelle Theorie generiert werden, wodurch die Straffälligkeit diese Person bislang gefördert wurde. Es geht um die persönlichen und situativen Bedingungsfaktoren der Straftaten und ihre zeitliche Stabilität. Dabei können die situativen Faktoren hochspezifisch und unwiederholbar oder aber überdauernd oder allgegenwärtig sein. Es ist also nicht nur zu erörtern, worin die in den bisherigen Taten zutage getretene Gefährlichkeit dieser Persönlichkeit bestanden hat, sondern auch, wie stabil und dauerhaft die der Rückfallgefahr zugrunde liegenden Faktoren sind. Hierzu bedarf es der Darlegung der empirischen Erkenntnis über die jeweiligen Risikofaktoren.

Page 34: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Standardisierte Instrumente?Anhaltspunkte und grobe Risikoeinschätzungen liefern

dazu die standardisierten Instrumente (siehe II.1.7). Unter Bezugnahme auf deren Ergebnisse oder auch das kriminologische und forensisch-psychiatrische Erfahrungswissen ist eine grobe Zuordnung des Falles zu Risikogruppen möglich (in der Regel in Form einer Dreiteilung: hohes – mittleres - niedriges Risiko).

Auf dieser Ebene klärbar sind am ehesten Fälle mit gruppenstatistisch belegtem sehr hohem oder sehr niedrigem Risiko. Entscheidend ist aber die Rekonstruktion der Gefährlichkeit und des Rückfallrisikos im Einzelfall, das von dem der Bezugsgruppe erheblich abweichen kann.

Page 35: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Weitere Erörterung in der Beurteilung

II.3.4Abgleich mit dem empirischen Wissen über das Rückfallrisiko möglichst vergleichbarer Tätergruppen (Aufzeigen von Überstimmungen und Unterschieden)

II.3.5Darstellung der Persönlichkeitsentwicklung des Probanden seit der Anlasstat unter besonderer Berücksichtigung der Risikofaktoren, der protektiven Faktoren, des Behandlungsverlaufs und der Angemessenheit (Geeignetheit) der angewandten therapeutischen Verfahren

Page 36: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Weitere Erörterung in der Beurteilung

II.3.6Auseinandersetzung mit Vorgutachten II.3.7. Prognostische Einschätzung des

künftigen Verhaltens und des Rückfallrisikos bzw. des Lockerungsmissbrauchs unter besonderer Berücksichtigung des sozialen Empfangsraums, der Steuerungsmöglichkeiten in der Nachsorge und der zu erwartenden belastenden und stabilisierenden Faktoren (z.B. Arbeit, Partnerschaft)

II.3.8Eingrenzung der Umstände, für welche die Prognose gelten soll und Aufzeigen der Maßnahmen, durch welche die Prognose abgesichert oder verbessert werden kann (Risikomanagement)

Page 37: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Welche Straftäter werden wiederholt rückfällig? Stark dissozial geprägte Personen, häufig mit

„polytroper“ Delinquenz (Eigentums-, Gewalt-, Sexual- und Verkehrsdelinquenz)

Menschen mit hohen Punktwerten in der Psychopathy-Checklist PCL (Hare)

Manche Betrüger und Hochstapler Viele stabil Pädosexuelle, sofern sie bereits mehrfach

straffällig geworden sind Berufskriminelle (berufsmäßige Einbrecher,

Drogenhändler, Zuhälter, Killer)

Page 38: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Bei welchen Deliktformen werden die Rückfallraten überschätzt? Sexualstraftäter Brandstifter

- Wohl weil es Serientäter gibt (Serientäter ist etwas anderes als Rückfälligkeit)

– wohl weil es Einzelfälle und Untergruppen mit sehr hoher Rückfälligkeit gibt

- ohnehin: „den“ Sexualstraftäter gibt es nicht.

Page 39: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Einige Rückfälligkeitsfaktoren

anhaltende psychische Krankheit krankheitsbedingte oder normalpsychologisch

bedingte Noncompliance fehlende therapeutische Unterstützung

nach Entlassung fehlende tagesstrukturierende Einbindung

nach Entlassung fehlende soziale Einbindung nach

Entlassung (Arbeit, Wohnen, enge Beziehungen, lockere Beziehungen, Freizeitgestaltung)

Page 40: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Einige Rückfälligkeitsfaktoren - Impulsivität (rasche Rückfälligkeit, situative

Verführbarkeit, evtl. Reizbarkeit, Substanzmißbrauch etc) - fehlende Fremdwertgefühle (Gemütsarmut,

fehlende Bindungsfähigkeit, hochgradige Egozentrik, Empathiemangel etc

- Haß und Sadismus (Straf- und Rachebedürfnisse, fehlendes Selbsterleben in Normalsituationen etc.)

- Berufskriminalität (gewählte kriminelle Laufbahn, ausschließlich kriminelle Sozialerfahrungen, Lebensstil)

- stabile ichsyntone sexuelle Devianz - Gefährdung durch Substanzmißbrauch - und manch anderes

Page 41: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Einige „klassische“ Risikofaktoren Geringes Alter bei Delinquenzbeginn Geringes Alter bei erster Gewalttat Instabile Paarbeziehungen Probleme im Arbeitsbereich Substanzmißbrauch Niedrige Intelligenz Psychische Krankheit Persönlichkeitsstörung Sexuelle Deviation Störung des Sozialverhaltens bereits in der Kindheit Frühere Verstöße gegen Auflagen, Bewährungswiderruf Erhöhte Werte in der Psychopathie-Checkliste (PCL) Stets sehr rasche Rückfälligkeit Nicht einmal in Haft Fähigkeit zur Anpassung, etc. pp.

Page 42: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Leitsymptome „progredienter psychopathologischer Entwicklungen“ (E. Schorsch) I. Beobachtbare Verhaltensebene

1. Symptomhäufung2. Ausgestaltung der Symptominszenierung3. Intensitätsschwankungen des Symptoms4. Lockerung/Verlust der personalen Einbindung

II. Explorierbare Ebene qualitativen Erlebens5. Zunehmende Okkupierung des Erlebens durch das Symptom6. Verlust der reparativen Stabilisierungsfunktion des Symptoms7. Vitalisierte Dekompensationszeichen

III. Interpretative Ebene8. Herabsetzung der Schwelle für die Symptomauslösung9. Einengung der Realitätswahrnehmung auf Reizqualitäten des Symptoms10. Angewiesensein auf das Symptom als „Rettungsanker“

Page 43: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Bei wem ist ein hohes Risiko recht zuverlässig feststellbar? Täter mit langer, intensiver, polytroper

Vorgeschichte die – bei möglicherweise guter

Formalanpassung - belehrungsresistent sind (mehrfach bestraft, stets rückfällig)

und auf hohe PCL-Werte kommen. Auch Täter, die ihre eigene Rückfälligkeit

prognostizieren.

Page 44: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Bei wem ist das Risiko schwer einschätzbar? Bei jungen Tätern mit üblichen Taten. Bei spät (als Erwachsener) beginnenden Tätern mit

wenigen und nur einer – schweren - Tat. Auch und gerade wenn diese Tat partiell eingebettet

erscheint in eine Persönlichkeitsproblematik. Die Persönlichkeitsproblematik kann auf

Auflösbarkeit der kriminellen Disposition, aber auch auf deren Persistenz verweisen.

Page 45: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Wer hat wahrscheinlich auch ein hohes Rückfallrisiko? Jugendliche und Heranwachsende, die bereits sehr jung qualifizierte sexuelle Gewaltdelikte begangen

haben.

Qualifiziert heißt:

Vorphantasiert, vorüberlegt, vorbereitet, mit Werkzeugen (Fesseln, Waffen, Masken, Penetrationsutensilien), längerdauernd, …

Page 46: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Was tun mit Menschen mit hohem Rückfallrisiko? Prüfen, ob etwas getan werden kann, was getan

werden kann, wo das getan werden kann. Keine a priori insuffizienten „Therapien“, keine

niederfrequenten Pseudotherapien für die Optik Keine risikosteigernden Therapien, kein

therapeutisches Kamikaze So früh wie möglich, so illusionslos wie möglich Jemanden notfalls irgendwann so lassen, wie er sein

will – die Sicherungsverwahrung akzeptieren.

Page 47: Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

LiteraturVeranstaltungenFortbildungsseminare

unter

www.forensik-berlin.de