1
EDITORIAL © 2014 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.biuz.de 4/2014 (44) Biol. Unserer Zeit 211 V iele der interessantesten Fragen in der Biologie finden sich an den Schnittstellen zu anderen Disziplinen. So braucht es interdisziplinäre Ansätze, um beispielsweise das menschliche Bewusstsein zu verstehen, Ökosysteme zu modellieren oder neue Therapien für komplexe Krankhei- ten wie Krebs zu finden. Mit steigender Komplexität der Probleme werden multidisziplinär zusammengesetzte Teams immer wichtiger. V iele denken jedoch bei Interdisziplinarität in den Bio- wissenschaften vor allem an Kooperationen mit ande- ren Naturwissenschaftlern. Zum Beispiel daran, dass Che- miker mit Medizinern neue Materialien für Transplantate entwickeln, Physiker mit Biologen immer bessere Mikro- skope entwerfen, oder Mathematiker mit Biochemikern zelluläre Prozesse modellieren. Doch kann man auch über die Grenzen von Natur- und Geisteswissenschaften hinaus Kooperationen etablieren, die für beide Seiten wichtige Erkenntnisse liefern? W ir glauben, dass dies möglich ist. Aus diesem Grund wurde dieses Jahr in Mainz das von der DFG geför- derte Graduiertenkolleg „Life Science und Life Writing: Grenzerfahrungen menschlichen Lebens zwischen bio- medizinischer Erklärung und lebensweltlicher Erfah- rung“ etabliert. A n diesem Kolleg nehmen Wissenschaftler aus verschie- denen Bereichen teil: von Amerikanisten, Historikern und Kulturanthropologen über Medizintheoretiker und -ethiker bis hin zu Psychosomatikern, Pharmazeuten und Molekularbiologen. Ziel ist es, mithilfe von Lebenserzäh- lungen zu erforschen, wie neue Erkenntnisse und techni- sche Möglichkeiten, die durch Fortschritte in der Biome- dizin entstanden sind, Grenzerfahrungen für die betroffe- nen Menschen mit sich gebracht haben. Die Erfahrungen decken das gesamte Spektrum menschlichen Lebens ab: von seiner technisch unterstützten Entstehung durch Fort- schritte der Reproduktionsmedizin bis hin zu seinem En- de unter intensivmedizinischer Begleitung. Die Doktoran- dinnen und Doktoranden des Kollegs untersuchen hier- bei die unterschiedlichsten Erzählformen, von Tagebü- chern über Biographien, Blogs und Selbstzeugnissen bis hin zu mündlichen Erzählungen. Sie versuchen diese im Spannungsfeld zwischen biomedizinischen Fakten und der subjektiven, lebensweltlichen Wahrnehmung der Betroffe- nen zu interpretieren. D abei ist die Komplementarität beider Disziplinberei- che zentral: Der Dialog mit den Geistes- und Kultur- Mit interdisziplinärer Forschung Brücken bauen wissenschaften schärft den Blick der Lebenswissenschaf- ten dafür, wie auch die eigenen Praktiken nie frei von In- terpretationen sind. Darüber hinaus ermöglicht er einen Einblick in die lebensweltlichen Konsequenzen des eige- nen Handelns. Den Geistes- und Kulturwissenschaften hilft der Dialog mit den Medizin- und Lebenswissenschaften, die naturwissenschaftlichen Hintergründe von Grenzerfah- rungen zu verstehen und Lebenserzählungen umfassend interpretieren zu können. S icher ist eine derartige Zusammenarbeit eine Herausfor- derung. Die verschiedenen Disziplinen sprechen nicht nur andere Sprachen, sie gehen zum Teil auch von völlig verschiedenen Grundvoraussetzungen aus und haben an- dere Herangehens- und Denkweisen. Diese „kulturellen“ Unterschiede zwischen den Disziplinen sind vermutlich gravierender als reine „Sprachbarrieren“. Ähnlich wie ein Fremder, der in einem neuen Land relativ schnell die Spra- che erlernen kann, dem viele kulturelle Besonderheiten aber lange verborgen bleiben, verhindern diese kulturel- len Unterschiede die Integration. Diese Integration zwi- schen den Disziplinen zu schaffen, wird Einfühlungsver- mögen, Anstrengung und Geduld benötigen. W arum lohnt es sich trotzdem? Zum einen ist es span- nend, sich mit anderen Disziplinen auseinanderzu- setzen. Zum anderen gibt es aber auch eine handfeste Not- wendigkeit, biomedizinische Entwicklungen frühzeitig mit den Sozial- und Geisteswissenschaften zu verknüpfen. Wie wichtig eine breite Reflektion neuer Erkenntnisse und Ver- fahren der Biowissenschaften ist, haben die Debatten um Gentechnik, embryonale Stammzellen oder das Klonen von Säugetieren in den vergangenen beiden Jahrzehnten gezeigt: Sie haben nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die meisten Wissenschaftler unvorbereitet getroffen. Un- sere Hoffnung ist, dass das Graduiertenkolleg einen Beitrag leisten wird, damit solche Debatten zukünftig weniger polarisiert ablaufen. Darüber hinaus wird das Graduierten- kolleg Wissenschaftler ausbilden, die imstande sind, die divergierenden Sicht- und Denkweisen wieder zusammen- zuführen und den Menschen mit seinen Erfahrungen ganz- heitlich zu betrachten. In unserer hochspezialisierten Welt werden gerade solche Personen wegweisend sein. MITA B ANERJEE UND R ALF DAHM Mita Banerjee ist Pro- fessorin für Amerika- nistik an der Universi- tät Mainz und Co-Spre- cherin des Graduier- tenkollegs „Life Science und Life Writing“; Ralf Dahm ist Mitglied im Graduiertenkolleg und Kurator von Biolo- gie in unserer Zeit. www.unimedizin- mainz.de/medhist/ graduiertenkolleg

Mit interdisziplinärer Forschung Brücken bauen

  • Upload
    ralf

  • View
    224

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Mit interdisziplinärer Forschung Brücken bauen

E D I TO R I A L

© 2014 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.biuz.de 4/2014 (44) Biol. Unserer Zeit 211

Viele der interessantesten Fragen in der Biologie findensich an den Schnittstellen zu anderen Disziplinen. So

braucht es interdisziplinäre Ansätze, um beispielsweise dasmenschliche Bewusstsein zu verstehen, Ökosysteme zumodellieren oder neue Therapien für komplexe Krankhei-ten wie Krebs zu finden. Mit steigender Komplexität derProbleme werden multidisziplinär zusammengesetzteTeams immer wichtiger.

Viele denken jedoch bei Interdisziplinarität in den Bio-wissenschaften vor allem an Kooperationen mit ande-

ren Naturwissenschaftlern. Zum Beispiel daran, dass Che-miker mit Medizinern neue Materialien für Transplantateentwickeln, Physiker mit Biologen immer bessere Mikro-skope entwerfen, oder Mathematiker mit Biochemikernzelluläre Prozesse modellieren. Doch kann man auch überdie Grenzen von Natur- und Geisteswissenschaften hinausKooperationen etablieren, die für beide Seiten wichtigeErkenntnisse liefern?

Wir glauben, dass dies möglich ist. Aus diesem Grundwurde dieses Jahr in Mainz das von der DFG geför-

derte Graduiertenkolleg „Life Science und Life Writing:Grenzerfahrungen menschlichen Lebens zwischen bio-medizinischer Erklärung und lebensweltlicher Erfah-rung“ etabliert.

An diesem Kolleg nehmen Wissenschaftler aus verschie-denen Bereichen teil: von Amerikanisten, Historikern

und Kulturanthropologen über Medizintheoretiker und -ethiker bis hin zu Psychosomatikern, Pharmazeuten undMolekularbiologen. Ziel ist es, mithilfe von Lebenserzäh-lungen zu erforschen, wie neue Erkenntnisse und techni-sche Möglichkeiten, die durch Fortschritte in der Biome-dizin entstanden sind, Grenzerfahrungen für die betroffe-nen Menschen mit sich gebracht haben. Die Erfahrungendecken das gesamte Spektrum menschlichen Lebens ab:von seiner technisch unterstützten Entstehung durch Fort-schritte der Reproduktionsmedizin bis hin zu seinem En-de unter intensivmedizinischer Begleitung. Die Doktoran-dinnen und Doktoranden des Kollegs untersuchen hier-bei die unterschiedlichsten Erzählformen, von Tagebü-chern über Biographien, Blogs und Selbstzeugnissen bishin zu mündlichen Erzählungen. Sie versuchen diese imSpannungsfeld zwischen biomedizinischen Fakten und dersubjektiven, lebensweltlichen Wahrnehmung der Betroffe-nen zu interpretieren.

Dabei ist die Komplementarität beider Disziplinberei-che zentral: Der Dialog mit den Geistes- und Kultur-

Mit interdisziplinärerForschung Brücken bauen

wissenschaften schärft den Blick der Lebenswissenschaf-ten dafür, wie auch die eigenen Praktiken nie frei von In-terpretationen sind. Darüber hinaus ermöglicht er einenEinblick in die lebensweltlichen Konsequenzen des eige-nen Handelns. Den Geistes- und Kulturwissenschaften hilftder Dialog mit den Medizin- und Lebenswissenschaften,die naturwissenschaftlichen Hintergründe von Grenzerfah-rungen zu verstehen und Lebenserzählungen umfassendinterpretieren zu können.

Sicher ist eine derartige Zusammenarbeit eine Herausfor-derung. Die verschiedenen Disziplinen sprechen nicht

nur andere Sprachen, sie gehen zum Teil auch von völligverschiedenen Grundvoraussetzungen aus und haben an-dere Herangehens- und Denkweisen. Diese „kulturellen“Unterschiede zwischen den Disziplinen sind vermutlichgravierender als reine „Sprachbarrieren“. Ähnlich wie einFremder, der in einem neuen Land relativ schnell die Spra-che erlernen kann, dem viele kulturelle Besonderheitenaber lange verborgen bleiben, verhindern diese kulturel-len Unterschiede die Integration. Diese Integration zwi-schen den Disziplinen zu schaffen, wird Einfühlungsver-mögen, Anstrengung und Geduld benötigen.

Warum lohnt es sich trotzdem? Zum einen ist es span-nend, sich mit anderen Disziplinen auseinanderzu-

setzen. Zum anderen gibt es aber auch eine handfeste Not-wendigkeit, biomedizinische Entwicklungen frühzeitig mitden Sozial- und Geisteswissenschaften zu verknüpfen. Wiewichtig eine breite Reflektion neuer Erkenntnisse und Ver-fahren der Biowissenschaften ist, haben die Debatten umGentechnik, embryonale Stammzellen oder das Klonenvon Säugetieren in den vergangenen beiden Jahrzehntengezeigt: Sie haben nicht nur die Gesellschaft, sondern auchdie meisten Wissenschaftler unvorbereitet getroffen. Un-sere Hoffnung ist, dass das Graduiertenkolleg einen Beitragleisten wird, damit solche Debatten zukünftig weniger polarisiert ablaufen. Darüber hinaus wird das Graduierten-kolleg Wissenschaftler ausbilden, die imstande sind, diedivergierenden Sicht- und Denkweisen wieder zusammen-zuführen und den Menschen mit seinen Erfahrungen ganz-heitlich zu betrachten. In unserer hochspezialisierten Weltwerden gerade solche Personen wegweisend sein.

MITA BANERJEE UND RALF DAHM

Mita Banerjee ist Pro-fessorin für Amerika-nistik an der Universi-tät Mainz und Co-Spre-cherin des Graduier-tenkollegs „Life Scienceund Life Writing“; Ralf Dahm ist Mitgliedim Graduiertenkollegund Kurator von Biolo-gie in unserer Zeit.

www.unimedizin-mainz.de/medhist/graduiertenkolleg