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WWW.STEIRISCHERHERBST.AT 1. Jahrgang / 37. WOCHE / NR. 1 L iebe Leserin, lieber Leser, was Sie da in Händen halten, ist „Stellt in Frage!“, eine Zeitung herausgegeben als Teil des steirischen herbst’ 18. Entstanden ist sie in einer be- sonderen Zusammenarbeit unseres Bü- ros der Offenen Fragen mit dem Verein JUKUS. Dieses Blatt erscheint sowohl in Deutsch als auch in Türkisch und wird während des gesamten Festivalzeit- raums in unterschiedlichen Institutio- nen des deutsch- und türkischsprachigen Grazer Lebens aufliegen. Unsere Zeitung ist dem literarischen und politischen Schaffen des bedeuten- den Dichters Nâzım Hikmet aus der Tür- kei gewidmet und konzentriert sich vor allem auf sein episches Meisterwerk, die Menschenlandschaften, ein kompro- misslos ehrliches und zugleich radikal emphatisches Bild der Türkei Mitte des 20. Jahrhunderts. Alles beginnt mit einer Zugfahrt. Die Reisenden finden sich dort in einer – durchaus zufälligen, aber auch unbeab- sichtigten – Gemeinschaft wieder, und gleichzeitig tritt dabei ein soziales Pano- rama zutage, das Konflikte, Kontroversen und parallele Realitäten sichtbar werden lässt – auffallend ähnlich jener unserer heutigen Welt. Hikmets Vision der Gesellschaft als „Menschenlandschaften“ hat das dies- jährige Festival mit seinem Schwerpunkt Volksfronten inspiriert und bereichert, was sich in zahlreichen künstlerischen Projekten und Kollaborationen nieder- schlägt. So inszeniert der Choreograf Michiel Vandevelde das erste Buch der Menschenlandschaften im intimen Rah- men des Orpheum Extra. In Zusammen- arbeit mit dem Literaturhaus Graz haben wir die Rapperin und bildende Künstlerin Esra Özmen für eine Lesung eingeladen, die von einem Gespräch zwischen Erhan Altan, Erich Klein, Kerem Öktem und der Künstlerin selbst begleitet wird, darüber was für sie heute „Menschenlandschaf- ten“ bedeuten könnten. Und last, but not least haben wir diese Zeitung produziert, in der wir unterschiedlichste Perspekti- ven auf Nâzım Hikmet und sein Schaffen aufeinandertreffen lassen und in einen breiteren inhaltlichen Zusammenhang stellen wollen. Neben einer Serie von Interviews mit den zuvor genannten Protagonist*innen ha- ben wir auch weitere Künstler*innen, Autor*innen und Denker*innen eingela- den, mitzuwirken: darunter der Cartoo- nist Cem Dinlenmiş aus Istanbul, dessen Comics wir in der Zeitung veröffentli- chen dürfen. Ebenso dabei ist die Histo- rikerin und Anthropologin Ayşe Cavdar, die in ihrem Beitrag einen aufschluss- reichen und zum (Nach-)Denken anre- genden Einblick in die aktuellen Ent- wicklungen der Türkei gibt, sowie die Theatermacherin und Literaturwissen- schafterin Zehra İpşiroğlu, die mehr als relevante Fragen zu Frauenlandschaften aufwirft. Und der Historiker Anton Jä- ger behandelt das brennende Thema des heutigen Populismus. Wir laden Sie außerdem herzlich zu un- serem Zeitungs-Launch am 22. Septem- ber um 16:30 Uhr ein, der in der herbstbar im Postgarage Café im Rahmen des so- genannten „Grieskram“ stattfinden wird. Ayşe Cavdar wird dort als unser ganz spe- zieller Gast anwesend sein. Ebenso wer- den wir dort die Gewinner*innen unseres Fotowettbewerbs küren, den der steirische herbst gemeinsam mit dem Verein JUKUS ausgeschrieben hat und dessen preisge- krönte Fotos Sie in der Publikation sehen können. Diskutieren, lesen und singen Sie doch mit uns! Wir würden uns freuen! Ihre Herausgeber*innen Övül Ö. Durmuşoğlu, Katalin Erdödi, Elke Murlasits, Ali Özbaş AyşE ÇAVDAR Ich frage: „Sind Sie einer aus der Türkei?“ „Nein, ich bin ein Verdammter.“ „Warum sagen Sie das?“ „Das ist eine lange Geschichte.“ Wir tauschen unsere Telefonnummern aus. Am vereinbarten Tag kommt er mit seinem Auto und zeigt mir die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen ist. Wir beginnen unser Gespräch mit der Frage, warum „Verdammter“? Er antwor- tet: „Ich bin nicht von hier, ich bin nicht von dort, ich bin eben ein Verdammter.“ Er sagt, dass er weder in die Stadt, in der er lebt, noch in den Ort, an dem er leben möchte, nämlich in der Türkei, „hinein- passt“. Statt „anpassen“ verwendet er das Wort „hineinpassen“. Sich sicher, dass er mein Interesse ge- weckt hat, fügt er scherzhaft hinzu: „Ich bin ein überzeugter Erdoğaner, nur da- mit alles klar ist …“, und lacht. „Ich habe kein Problem mit Erdoğan, aber wenn du das schon sagst, warum bist du ein über- zeugter Erdoğaner?“, frage ich. Er spricht von der Krise 2001: „Es gibt hier die Bild-Zeitung. Die ist schlecht und niemand nimmt sie ernst. Irgendwo habe ich die Zeitung einmal in die Hand bekommen. In der rechten unteren Ecke steht immer eine kuriose Nachricht. Ich schaute dorthin. Da war eine Nachricht über die Türkische Lira, wie viele Nul- len sie hat und dass jedermann mit der Lira ganz einfach zum Milliardär werden kann. Man hat sich lustig gemacht.“ Er muss meinen fragenden Blick bemerkt haben. „Also, die haben sich über uns lustig gemacht. Das hat meine Ehre ver- letzt, ich war sehr wütend.“ Erdoğan hat das Herz meines Begleiters gewonnen, indem er die Nullen der Lira weggestrichen hat. Ich warf ein, dass das den Wert der Lira nicht beeinflusst hat. „Das ist einerlei, aber sie wirkte nicht mehr so billig.“ Mir war nicht bewusst, dass die Währung eines Landes ein natio- nales Symbol darstellt. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sowohl zeitlich als auch örtlich aus der Ferne betrachtet jedes Ding zu einem Symbol werden kann. Unweigerlich erinnerte ich mich daran, wie wir die Krise 2001 in der Türkei erlebt haben. In einer einzigen Nacht ist unser verdientes Geld wertlos geworden. Darü- berhinaus verloren wir unsere Arbeit und uns blieb nicht einmal die Möglichkeit, dieses wertlose Geld zu verdienen. We- der unsere Ausbildung noch unsere Er- fahrung brachten etwas ein. Wegen der Zinsen auf Gewinnsteuer schwollen mi- nimale Schuldbeträge auf unseren Kre- ditkarten zu Milliardensummen an. Wir zogen in kleinere Wohnungen um, gaben uns gegenseitig Unterkunft, jeder ver- suchte, der Exekution zu entgehen. Mein Begleiter war gekränkt, weil man sich über die Lira, die Währung eines Landes, in dem er nie gelebt hat und auch nicht vorhat jemals zu leben, lustig gemacht hatte. Dabei war es, als ob sich die Lira in diesen Tagen mit uns einen Scherz er- laubte, und nicht nur unsere Ehre war gekränkt. Heimat als Gemeinsamkeit „Open borders“ MOHAMED HANEEN 1. Platz Fotowettbewerb Nâzım Hikmet und seine Menschenlandschaften: Das Amalgam des Poetischen mit dem Politischen Editorial Woher kommt dein Interesse für Nâzım Hikmet? Ich habe mich sehr gefreut, als ich davon erfuhr. Er ist ein echter Geheimtipp, und die Kenntnis seines Werks verbindet meist sehr be- sondere Menschen. Das stimmt, er ist in Europa nicht so be- kannt, jedenfalls weniger als in anderen Teilen der Welt. Ich habe sein Buch Men- schenlandschaften als 16-Jähriger von meinem Vater bekommen. Seither tra- ge ich es mit mir herum und lese immer wieder darin. In den vergangenen fünf Jahren habe ich mich mit dem Begriff der Wiederaneignung und mit Techni- ken der digitalen Welt beschäftigt. Doch irgendwann kam ich an den Punkt, wo mir schien, dass man dieses ganze Gere- de über Technologie am besten auf sich beruhen lässt und sich stattdessen lie- ber wieder der Frage zuwendet, was das Menschsein bedeutet. >> weiterlesen auf Seite 3 Was es heißt, Mensch zu sein Michiel Vandevelde im Gespräch mit Ekaterina Degot und Katalin Erdödi >> weiterlesen auf Seite 5 Hikmetinden Sual Olunsun Stellt in Frage! Launch der Zeitung Stellt in Frage! (Hikmetinden Sual Olunsun) Präsentiert von JUKUS und dem Büro der Offenen Fragen Preisverleihung des Fotowettbewerbs „Menschenlandschaften in der Steiermark“ Die Journalistin und Anthropologin Ayşe Çavdar im Gespräch mit Övül Ö. Durmuşoğlu und Ali Özbaş Lesung und Diskussion von und mit den Herausgeber*innen 22.9., 16:30 herbstbar / Postgarage Café Dreihackengasse 42, Ecke Rösselmühlpark 8020 Graz Deutsch und Türkisch, freier Eintritt Im Rahmen von Grieskram 2018 Michiel Vandevelde Human Landscapes - Book I Performance 22.9., 23.9., 24.9., 19:00 Orpheum Extra, Orpheumgasse 8 8020 Graz Englisch mit deutschen und türkischen Untertiteln Freier Eintritt mit Festival-Pass Einzelkarte 15/11 Euro Begrenzte Kapazitäten, Reservierung empfohlen! Public Program 23.9., ca. 20:30 (im Anschluss an die Performance) Michiel Vandevelde im Gespräch mit Anton Jäger (Historiker, Cambridge) Englisch, freier Eintritt In Auftrag gegeben von steirischer herbst Produziert von steirischer herbst und Disagree vzw Mit freundlicher Unterstützung von Flanders State of the Art GRAZ, ÖSTERREICH Einer spricht mit Trauer ohne Zorn: „Erst schlimm, schlimmer als schlimm. Dann Schluss. Geld, das Bronze ist. Mensch, der Bastard ist. Aber alle so? Gibt auch bessere.“ NâZIM HIKMET

Nâzım Hikmet und seine Menschenlandschaften Stellt in Frage! in frage DE.pdf · den Dichters Nâzım Hikmet aus der Tür-kei gewidmet und konzentriert sich vor allem auf sein episches

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Page 1: Nâzım Hikmet und seine Menschenlandschaften Stellt in Frage! in frage DE.pdf · den Dichters Nâzım Hikmet aus der Tür-kei gewidmet und konzentriert sich vor allem auf sein episches

WWW.STEIRISCHERHERBST.AT 1. Jahrgang / 37. WOCHE / NR. 1

L iebe Leserin, lieber Leser,was Sie da in Händen halten, ist „Stellt in Frage!“, eine Zeitung

herausgegeben als Teil des steirischen herbst’ 18. Entstanden ist sie in einer be-sonderen Zusammenarbeit unseres Bü-ros der Offenen Fragen mit dem Verein JUKUS. Dieses Blatt erscheint sowohl in Deutsch als auch in Türkisch und wird während des gesamten Festivalzeit-raums in unterschiedlichen Institutio-nen des deutsch- und türkischsprachigen Grazer Lebens aufliegen. Unsere Zeitung ist dem literarischen und politischen Schaffen des bedeuten-den Dichters Nâzım Hikmet aus der Tür-kei gewidmet und konzentriert sich vor allem auf sein episches Meisterwerk, die Menschenlandschaften, ein kompro-misslos ehrliches und zugleich radikal emphatisches Bild der Türkei Mitte des 20. Jahrhunderts. Alles beginnt mit einer Zugfahrt. Die Reisenden finden sich dort in einer – durchaus zufälligen, aber auch unbeab-sichtigten – Gemeinschaft wieder, und gleichzeitig tritt dabei ein soziales Pano-rama zutage, das Konflikte, Kontroversen und parallele Realitäten sichtbar werden lässt – auffallend ähnlich jener unserer heutigen Welt. Hikmets Vision der Gesellschaft als „Menschenlandschaften“ hat das dies-jährige Festival mit seinem Schwerpunkt Volksfronten inspiriert und bereichert, was sich in zahlreichen künstlerischen Projekten und Kollaborationen nieder-schlägt. So inszeniert der Choreograf Michiel Vandevelde das erste Buch der Menschenlandschaften im intimen Rah-men des Orpheum Extra. In Zusammen-arbeit mit dem Literaturhaus Graz haben wir die Rapperin und bildende Künstlerin Esra Özmen für eine Lesung eingeladen, die von einem Gespräch zwischen Erhan Altan, Erich Klein, Kerem Öktem und der Künstlerin selbst begleitet wird, darüber was für sie heute „Menschenlandschaf-ten“ bedeuten könnten. Und last, but not least haben wir diese Zeitung produziert, in der wir unterschiedlichste Perspekti-ven auf Nâzım Hikmet und sein Schaffen aufeinandertreffen lassen und in einen breiteren inhaltlichen Zusammenhang stellen wollen.Neben einer Serie von Interviews mit den zuvor genannten Protagonist*innen ha-ben wir auch weitere Künstler*innen, Autor*innen und Denker*innen eingela-den, mitzuwirken: darunter der Cartoo-nist Cem Dinlenmiş aus Istanbul, dessen Comics wir in der Zeitung veröffentli-chen dürfen. Ebenso dabei ist die Histo-rikerin und Anthropologin Ayşe Cavdar, die in ihrem Beitrag einen aufschluss-reichen und zum (Nach-)Denken anre-genden Einblick in die aktuellen Ent-wicklungen der Türkei gibt, sowie die Theatermacherin und Literaturwissen-schafterin Zehra İpşiroğlu, die mehr als relevante Fragen zu Frauenlandschaften aufwirft. Und der Historiker Anton Jä-ger behandelt das brennende Thema des heutigen Populismus. Wir laden Sie außerdem herzlich zu un-serem Zeitungs-Launch am 22. Septem-ber um 16:30 Uhr ein, der in der herbstbar im Postgarage Café im Rahmen des so-genannten „Grieskram“ stattfinden wird. Ayşe Cavdar wird dort als unser ganz spe-zieller Gast anwesend sein. Ebenso wer-den wir dort die Gewinner*innen unseres Fotowettbewerbs küren, den der steirische herbst gemeinsam mit dem Verein JUKUS ausgeschrieben hat und dessen preisge-krönte Fotos Sie in der Publikation sehen können. Diskutieren, lesen und singen Sie doch mit uns! Wir würden uns freuen!

Ihre Herausgeber*innenÖvül Ö. Durmuşoğlu, Katalin Erdödi, Elke Murlasits, Ali Özbaş

AyşE ÇAVDAR

Ich frage: „Sind Sie einer aus der Türkei?“„Nein, ich bin ein Verdammter.“„Warum sagen Sie das?“„Das ist eine lange Geschichte.“

Wir tauschen unsere Telefonnummern aus. Am vereinbarten Tag kommt er mit seinem Auto und zeigt mir die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen ist. Wir beginnen unser Gespräch mit der Frage, warum „Verdammter“? Er antwor-tet: „Ich bin nicht von hier, ich bin nicht von dort, ich bin eben ein Verdammter.“ Er sagt, dass er weder in die Stadt, in der er lebt, noch in den Ort, an dem er leben

möchte, nämlich in der Türkei, „hinein-passt“. Statt „anpassen“ verwendet er das Wort „hineinpassen“. Sich sicher, dass er mein Interesse ge-weckt hat, fügt er scherzhaft hinzu: „Ich bin ein überzeugter Erdoğaner, nur da-mit alles klar ist …“, und lacht. „Ich habe kein Problem mit Erdoğan, aber wenn du das schon sagst, warum bist du ein über-zeugter Erdoğaner?“, frage ich. Er spricht von der Krise 2001: „Es gibt hier die Bild-Zeitung. Die ist schlecht und niemand nimmt sie ernst. Irgendwo habe ich die Zeitung einmal in die Hand bekommen. In der rechten unteren Ecke steht immer eine kuriose Nachricht. Ich schaute dorthin. Da war eine Nachricht über die Türkische Lira, wie viele Nul-len sie hat und dass jedermann mit der Lira ganz einfach zum Milliardär werden kann. Man hat sich lustig gemacht.“ Er muss meinen fragenden Blick bemerkt haben. „Also, die haben sich über uns lustig gemacht. Das hat meine Ehre ver-letzt, ich war sehr wütend.“Erdoğan hat das Herz meines Begleiters gewonnen, indem er die Nullen der Lira weggestrichen hat. Ich warf ein, dass das den Wert der Lira nicht beeinflusst hat. „Das ist einerlei, aber sie wirkte nicht mehr so billig.“ Mir war nicht bewusst, dass die Währung eines Landes ein natio-nales Symbol darstellt. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sowohl zeitlich als auch örtlich aus der Ferne betrachtet jedes Ding zu einem Symbol werden kann. Unweigerlich erinnerte ich mich daran, wie wir die Krise 2001 in der Türkei erlebt haben. In einer einzigen Nacht ist unser verdientes Geld wertlos geworden. Darü-berhinaus verloren wir unsere Arbeit und uns blieb nicht einmal die Möglichkeit, dieses wertlose Geld zu verdienen. We-der unsere Ausbildung noch unsere Er-fahrung brachten etwas ein. Wegen der

Zinsen auf Gewinnsteuer schwollen mi-nimale Schuldbeträge auf unseren Kre-ditkarten zu Milliardensummen an. Wir zogen in kleinere Wohnungen um, gaben uns gegenseitig Unterkunft, jeder ver-suchte, der Exekution zu entgehen. Mein Begleiter war gekränkt, weil man sich über die Lira, die Währung eines Landes, in dem er nie gelebt hat und auch nicht vorhat jemals zu leben, lustig gemacht hatte. Dabei war es, als ob sich die Lira in diesen Tagen mit uns einen Scherz er-laubte, und nicht nur unsere Ehre war gekränkt.

Heimat als Gemeinsamkeit

„Open borders“

MOHAMED HANEEN

1. Platz Fotowettbewerb

Nâzım Hikmet und seine Menschenlandschaften: Das Amalgam des Poetischen mit dem Politischen

Editorial

Woher kommt dein Interesse für Nâzım Hikmet? Ich habe mich sehr gefreut, als ich davon erfuhr. Er ist ein echter Geheimtipp, und die Kenntnis seines Werks verbindet meist sehr be-sondere Menschen.Das stimmt, er ist in Europa nicht so be-kannt, jedenfalls weniger als in anderen

Teilen der Welt. Ich habe sein Buch Men-schenlandschaften als 16-Jähriger von meinem Vater bekommen. Seither tra-ge ich es mit mir herum und lese immer wieder darin. In den vergangenen fünf Jahren habe ich mich mit dem Begriff der Wiederaneignung und mit Techni-ken der digitalen Welt beschäftigt. Doch

irgendwann kam ich an den Punkt, wo mir schien, dass man dieses ganze Gere-de über Technologie am besten auf sich beruhen lässt und sich stattdessen lie-ber wieder der Frage zuwendet, was das Menschsein bedeutet.

>> weiterlesen auf Seite 3

Was es heißt, Mensch zu seinMichiel Vandevelde im Gespräch mit Ekaterina Degot und Katalin Erdödi

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Hikmetinden Sual Olunsun

Stellt in Frage!

Launch der Zeitung Stellt in Frage!(Hikmetinden Sual Olunsun)Präsentiert von JUKUS und dem Büro der Offenen Fragen

Preisverleihung des Fotowettbewerbs „Menschenlandschaften in der Steiermark“

Die Journalistin und Anthropologin Ayşe Çavdar im Gespräch mit Övül Ö. Durmuşoğlu und Ali ÖzbaşLesung und Diskussion von und mit den Herausgeber*innen

22.9., 16:30 herbstbar / Postgarage CaféDreihackengasse 42, Ecke Rösselmühlpark8020 Graz

Deutsch und Türkisch, freier Eintritt

Im Rahmen von Grieskram 2018

Michiel VandeveldeHuman Landscapes - Book IPerformance

22.9., 23.9., 24.9., 19:00Orpheum Extra, Orpheumgasse 88020 Graz

Englisch mit deutschen und türkischen UntertitelnFreier Eintritt mit Festival-Pass Einzelkarte 15/11 Euro Begrenzte Kapazitäten, Reservierung empfohlen! Public Program 23.9., ca. 20:30 (im Anschluss an die Performance) Michiel Vandevelde im Gespräch mit Anton Jäger (Historiker, Cambridge)Englisch, freier Eintritt

In Auftrag gegeben von steirischer herbstProduziert von steirischer herbst und Disagree vzwMit freundlicher Unterstützung von Flanders State of the Art

GRAZ, ÖSTERREICH

Einer spricht mit Trauer ohne Zorn:

„Erst schlimm,schlimmer als schlimm. Dann Schluss.Geld, das Bronze ist.Mensch, der Bastard ist.Aber alle so?

Gibt auch bessere.“

NâZIM HIKMET

Page 2: Nâzım Hikmet und seine Menschenlandschaften Stellt in Frage! in frage DE.pdf · den Dichters Nâzım Hikmet aus der Tür-kei gewidmet und konzentriert sich vor allem auf sein episches

2 Stellt in Frage! 1. Jahrgang / 37. WOCHE / NR. 1

ZEHRA İPşİROğLU

I n den letzten Jahren hat die Ge-walt an Frauen in der Türkei und in Ländern wie Deutschland oder Ös-

terreich, in denen Türken leben, zuge-nommen und wird vermehrt wahrge-nommen. Vielleicht hat dieser Anstieg mit dem wachsenden Selbstbewusstsein der türkischen Frauen zu tun. Viele von ihnen wollen kein Leben mehr führen, das ihnen von Männern vorgeschrieben wird; sie wollen studieren, einen Beruf erlernen, ihren Ehepartner selbst wäh-len, ein selbstbestimmtes Leben führen, sich scheiden lassen dürfen, um aus ei-ner unglückseligen Ehe zu entkommen, selbst bestimmen, ob sie Kinder bekom-men oder nicht – und die Zahl dieser Frauen steigt täglich. Frauen waren die Anführerinnen bei den Istanbuler Gezi-Protesten im Jahr 2013, bei denen eine kollektive Auflehnung ihr Sprachrohr fand. Hier zeigte sich das Po-tenzial der Frauen, die sich gegen das ih-nen zugedachte Lebensmuster zur Wehr setzen, überdeutlich. Wenn sich in die-ser Gesellschaft etwas ändert, dann nur unter aktiver Beteiligung der Frauen. Im Gegensatz dazu haben die von morali-schen und religiösen Normen bestimm-ten Repressionen heute ihren Höhe-punkt erreicht. In einem Milieu, in dem religiös und nationalistisch geprägte pa-triarchalische Diskurse vor Menschen-, Frauen- und Kinderrechten im Vorder-grund stehen, fügen sich viele Frauen bedenkenlos diesen Anschauungen. Die Spitzen der Polarisierung der Gesell-schaft zeigen sich deutlich anhand der Diskussionen über Frauen. Dem allem dürfen wir nicht gleichgültig gegenüber-stehen.In der von mir gegründeten Abteilung für Dramaturgie und Theaterkritik an der Istanbul Universität (İstanbul Üni-versitesi) und an der Abteilung für die Türkisch-Lehrerausbildung an der Uni-versität Duisburg-Essen, an der ich ge-arbeitet habe, befassten wir uns in den Lehrveranstaltungen für Kreatives Sch-reiben und Reportage mit verschiedens-ten Themen, von den Problemen der

Frauen bis zu den Problemen der Mi-granten und deren Kindern. Frau und Flucht, Frau und Gewalt, Frau und Ehre, Ehrenmord an Frauen waren Themen, die immer auf der Tagesordnung stan-den. Im Laufe der Zeit kam viel an Mate-rial zusammen, und ich habe in meinen Schreibprojekten sehr von diesem Ma-terial profitiert. Das letzte Produkt die-ser jahrelangen Arbeit ist Frauenland-schaften meiner Heimat. Der Putschversuch 2016 und die nach-folgenden Entwicklungen haben uns alle in einen tiefen Schock versetzt. Am Tag des Putsches war ich in Deutsch-land und konnte danach auch für länge-re Zeit nicht in die Türkei fahren. Jene, die alles leibhaftig miterleben, denken, dass andere, die weit weg sind, ohnehin in einer geborgenen gesicherten Umge-bung sind. Aber dem ist nicht so. Denn in dieser globalisierten Welt spielen geografische Entfernungen keine Rolle. Überdies ist die Türkei in Deutschland allgegenwärtig. Jeden Augenblick, jede Minute sendeten deutsche Kanäle Be-richte über die Türkei. Über Podiumsdis-kussionen, wichtige Treffen der Türkei-stämmigen und Flaggenparaden wurde berichtet. Im Wohnbezirk, auf der Stra-ße, im Bus – überall wurde über die ak-tuellen Geschehnisse in der Türkei ge-sprochen. Ich war der Meinung, wenn das in Deutschland so ist, ist das Leben in der Türkei sicher lahmgelegt. Als ich einige Monate danach nach Istanbul kam, sah ich, dass das alltägliche Le-ben größtenteils wiederhergestellt war; Treffen mit Freunden und StudentIn-nen, Theater-, Kino und Ausstellungs-besuche waren wie Medizin für mich. Es war, als würde ich mich langsam von einer schweren Krankheit erholen, aber ich hatte keine Ahnung über den weite-ren Verlauf dieser Krankheit.In diesen kummervollen Monaten ver-fasste ich, inspiriert von Nâzım Hikmets Menschenlandschaften, das satirisch-do-kumentarische Stück Frauenlandschaf-ten meiner Heimat. Mein vorrangiges Ziel war es nicht nur, die gesellschaftlichen Mechanismen unter die Lupe zu neh-men, die zur Unterdrückung der Frauen

führen, sondern auch zu zeigen, wie sehr die Frauen diese männliche Einstellung übernommen haben. In meinen Arbei-ten der vergangenen Jahre, beispielswei-se in dem seit drei Jahren im Bakırköy Belediye Tiyatrosu (Bakırköy Gemeinde-theater) aufgeführten Stück Lena Leyla ve Ötekiler (Lena Leyla und die Anderen), das auch auf Tournee im In- und Aus-land zu sehen war, beleuchte ich immer wieder diese männliche Denkweise mit ihrer zermürbenden Wirkung auf Frauen und ergründe, zu welchen Persönlich-keitsspaltungen das bei Frauen führt. Persönliche Interviews mit Frauen und Mädchen und meine jahrelangen For-schungen auf diesem Gebiet bilden das gemeinsame Thema dieser Texte.Für mich ist die faszinierendste Kompo-nente beim Verfassen von Theaterstü-cken die Aussicht, dass diese einmal auf der Bühne gespielt und nicht nur in ge-druckter Form bestehen bleiben. Schon während des Schreibens motiviert und begeistert mich allein dieser Gedan-ke. Während der Inszenierung steuern Spielleiter und Darsteller neue Sicht-weisen und Interpretationen bei. Ge-nau dieses Netz an mentaler Interaktion und Kreativität macht das Theater ein-zigartig, man könnte es eine kollekti-ve Kreativität nennen. Jedoch hängt das Funktionieren und die Entfaltung dieser kollektiven Kreativität davon ab, ob dies – fern von eigennützigen Selbstdarstel-lungskämpfen – in einer fruchtbaren At-mosphäre gedeihen kann. Das Interesse an realen Lebensge-schichten und Dokumentationen steigt mehr und mehr. In unserer künstlichen Welt, in der die Technologie immer wichtiger wird und die Menschen an Secondhand-Abenteuern ersticken, ist es ganz natürlich, dass das Interesse an authentischen Geschichten steigt. Die-se Entwicklung spiegelt sich in hohem Ausmaß auch am Theater wider. Und je mehr ich im Laufe der Jahre den Ge-schichten derjenigen, die unter schwie-rigsten Bedingungen ihr Leben meistern und hier besonders den Erzählungen der Frauen gelauscht habe, umso mehr habe ich verstanden, welch wichtige

Rolle Tatsachenberichte auch in der Li-teratur spielen. Die erste Voraussetzung dafür war und ist, zuhören und beob-achten zu lernen und meine Empathie-fähigkeit, die ich als wichtiges Potenzial in mir fühlte, zu entwickeln. In Frauen-landschaften meiner Heimat wollte ich die Geschehnisse in meiner Heimat, das diktatorisch autoritäre System, das die Menschen niederdrückt, aus der Sicht der Frauen darlegen. Denn die Leidtra-genden dieses Systems sind vor allem Frauen. Wenn wir ihre Lebensgeschich-ten erzählen, zeigen sich die wahren

Merkmale der Gesellschaft, in der wir leben, von selbst. --- Zehra İpşiroğlu (1948, Istanbul) ist Li-teraturwissenschaftlerin und Schriftstelle-rin; sie gründete unter anderem die Abtei-lung für „Theaterkritik und Dramaturgie“ an der Universität İstanbul und lehrte an der Universität Duisburg/Essen. Ihr breites literarisches Schaffen reicht von wissen-schaftlichen Aufsätzen über Literatur, The-ater und kreative Pädagogik bis hin zu Bü-cher für Kinder und Erwachsene und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Hört ihr die Stimme der Frauen?

Frauenlandschaften meiner Heimat

Du bist Forscher der moder-nen Poesiegeschichte der Türkei, in der Nâzım Hikmet

eine sehr bedeutende, wenn nicht die Hauptrolle spielt. Wie siehst du den breiteren literarischen und soziopo-litischen Kontext, in dem Menschen-landschaften entstanden ist, und wie würdest du das Werk von Hikmet aus der heutigen Perspektive betrachten?Nâzım Hikmet gelang mit dem frei-en Vers der wichtigste modernistische Schritt in der modernen türkischen Poe-siegeschichte. Die drei großen Reformen von ihm, nämlich der freie Vers mit trep-penartigen Zeilensprüngen, das Amal-

gam des Politischen mit dem Poetischen und die Gattungsüberschreitungen sind auch die wesentlichen Merkmale von Menschenlandschaften. Das Werk, das in den Kriegs- und Nachkriegsjahren im Gefängnis von Bursa entstand, konnte wegen der politischen Restriktionen erst in den 1960er-Jahren publiziert werden, übte aber dann großen Einfluss auf den türkischen Sozialrealismus aus.

Hat Hikmet und seine Literatur eher das Potenzial des Vermittlers zwi-schen den Welten – traditionell/mo-dern – oder zeigt es sich als Spreng-kraft, als Spaltpilz, der den Riss durch die Gesellschaft eher sichtbar macht als kittet?Sowohl die Moderne als auch Hikmets politische Haltung verlangten einen Abschied von den starren Formen. Des-halb wandte Hikmet das Metrum nicht mehr an, er erhielt aber den Reim und

die Harmonieelemente als beliebige, jedoch Ordnung konstituierende Mit-tel aufrecht. Er sprengte und spaltete, um wieder zu kitten. Denn für den po-litischen Kampf benötigte Hikmet so-wohl die Einheit wie auch die Konven-tion. Mit einem gänzlichen Verzicht auf die einheitsbildenden Elemente der Konvention hätte er sowohl die Kom-munikation erschwert als auch die Ein-heit gefährdet, beide notwendig für den Klassenkampf. Infolge des Verschwin-dens des Metrums erhielt die Rede frei-en Lauf, um einen Weg aus der beste-henden Ordnung zu finden.

Als Literaturvermittler und Überset-zer organisierst du Projekte und Ver-anstaltungen zwischen Österreich und der Türkei. Was sind die größten Herausforderungen dieser Arbeit? Die größte Herausforderung und Er-schwernis ist, dass die türkische und

die österreichische Dichtung über das 20. Jahrhundert hinaus jeweils histori-sche Entwicklungen durchmachten, die nicht direkt ineinander übersetzt wer-den können. Auf der einen Seite steht die türkische Dichtung, die lange Zeit mit dem Politischen aufs Engste ver-flochten war und sich schrittweise mo-dernisiert hat; auf der anderen Seite die avantgardistische österreichische Dich-tung, die sich unter anderem vom natio-nalsozialistischen Erbe zu bereinigen und eine Neugründung versuchte und deshalb in die tiefsten Tiefen der Spra-che vordrang: die evolutionäre und nar-rative einerseits, die radikale und kog-nitive andererseits. Für die Übersetzung türkischer Dichtung ins Deutsche ist kaum Interesse da, für die Übersetzung der österreichischen experimentellen Literatur ins Türkische gibt es jedoch Interesse von einer wachsenden Gruppe junger türkischer Dichter*innen.

Welche Leseempfehlungen hast du für uns?Die Zweite Neue von den 1950er- bis 1970er-Jahren (Turgut Uyar, Edip Can-sever, Cemal Süreya, Ece Ayhan und İlhan Berk), die die nächste Welle der Moderne in der türkischen Dichtung darstellte und erst nach fünfzig Jahren zum Verkaufsschlager wurde, würde ich empfehlen, aber leider ist es eine leere Empfehlung, da sie nicht übersetzt wur-de.

--- Erhan Altan (1963, Istanbul) ist Über-setzer, Essayist und Literaturvermittler; er arbeitet vermehrt zur österreichischen Avantgarde und türkischen Poesiegeschich-te. Er ist Lektor der Reihe Österreichische Bibliothek beim Istanbuler Pan Verlag und organisiert Projekte und Veranstaltungen zwischen Österreich und der Türkei. Er lebt in Wien.

Im Gespräch mit Erhan Altan

Das Amalgam des Politischen mit dem Poetischen: Er sprengte und spaltete, um wieder zu kitten

Nâzım Hikmets Menschenlandschaften. Eine polyphone GesellschaftskritikLesung und Gespräch

Einleitung und Moderation: Erhan Altan (Literaturwissenschaftler und Übersetzer)Lesung: Esra Özmen (Künstlerin und Rapperin)anschließend im Gespräch mit Erich Klein (Journalist, Übersetzer), Kerem Öktem (Politologe, Universität Graz)

4.10., 19:00Literaturhaus Graz Elisabethstraße 30, 8010 Graz

Freier Eintritt mit Festival-PassEinzelkarte 6/4 Euro

Eine Kollaboration von Literaturhaus und steirischer herbst

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3Stellt in Frage! NR. 1 / 37. WOCHE / 1. Jahrgang

Das war der Moment, an dem ich die Menschenlandschaften erneut zur Hand nahm und beschloss, alle fünf Bücher beginnend mit dem ersten über einen längeren Zeitraum zu erarbeiten oder zu inszenieren. Der Titel sagt schon, wor-um es in dem Werk geht. Es bietet An-sichten und Ausschnitte aus dem Le-ben der Menschen. Beinahe wie ein Film wechselt es zwischen Nahaufnahmen einzelner Personen, größeren Gesamt-darstellungen und ganzen Landschaf-ten. Es ist ein sehr einfaches episches Gedicht und erzählt die Geschichte ei-nes historischen Zeitabschnitts, der bis heute und gerade heute wieder von Be-deutung für uns ist. Atmosphärisch ge-prägt ist es von den Jahren des Zweiten Weltkriegs, in dem die Türkei eine be-sondere Rolle spielte: Sie kämpfte zwar nicht mit, aber die Folgen des Krieges waren im Land sehr wohl zu spüren. In dem Buch wird auch deutlich, dass die Türkei in Befürworter und Gegner Hit-lers gespalten war. Der Krieg um die Unabhängigkeit in den frühen 1920er-Jahren, in dem Verbände unter Atatürk gegen die Engländer und andere Kolo-nisatoren gekämpft hatten, wirkte im-mer noch nach. Es entsteht das Bild der Türkei als Grenzland zwischen Europa und der östlichen Welt, in dem viele Ge-schichtserzählungen und komplizierte Verhältnisse aufeinanderprallen. All das empfand ich als Herausforderung, mich mit diesem Material zu befassen.

Ohne Zweifel ist der Humanismus ein Grundpfeiler des Werks. Inter-essant finde ich, dass du in Reakti-on auf deine vorhergehende Aus-einandersetzung mit der digitalen Welt darauf zurückgekommen bist.

Kannst du das erklären? Ist der Hu-manismus eine Leerstelle im zeitge-nössischen Kulturschaffen, und hast du dich auch deshalb den Menschen-landschaften zugewandt?In den vergangenen fünf Jahren habe ich hauptsächlich mit den Techniken von heute und morgen in die Zukunft geschaut. Seither wende ich mich unter dem Motto „alte Erzählungen, neues Le-sen“ anderen Themen zu. Mich interes-siert jetzt umgekehrt die Frage, was wir von Erzählungen aus der Vergangenheit für unsere Gegenwart und Zukunft ler-nen können. Ich glaube nicht, dass mei-ne ganze Erforschung des Digitalen im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Text von Nâzım Hikmet in der Versen-kung verschwinden wird. Dennoch gibt zumindest aus meiner Sicht der gesam-te Diskurs rund um die digitale Welt und unsere Verkörperung des Digitalen nichts mehr her. Irgendwo habe ich ge-lesen, dass wir einerseits die technolo-gisierte Kriegsführung vorantreiben, andererseits irgendwann wohl wieder so weit sind, dass wir mit nackten Fäusten aufeinander losgehen. Darin steckt für mich eine gewisse Wahrheit.

Und nun arbeitest du mit einem Ro-man, der ebenfalls sehr filmisch und beinahe in einer Montagetechnik ge-schrieben ist. Was waren deine ers-ten Ideen für die szenische Umset-zung?Der Text ist an sich schon sehr stark. Dementsprechend halte ich mich selbst eher zurück. Nur einige grundsätzliche Entscheidungen waren zu treffen. Eine davon war, mit sehr jungen Körpern, also Tänzerinnen und Tänzern zwischen 18 und 24 Jahren zu arbeiten. Diese Ge-neration ist zu jung, um das Textmate-rial zu verstehen. Vielleicht bin auch ich selbst noch zu jung, um es im vollen

Sinn zu verstehen. Vielleicht tue ich nur so, als verstünde ich es, und beginne ei-nen Prozess, bei dem ich erst durch das Machen, in der Verkörperung, allmäh-lich zu verstehen beginne. Je älter die Darsteller*innen werden, je mehr sie vom Leben mitbekommen haben, umso mehr wird der Text vielleicht auf sie wirken. Dieses Verkörpern älterer Doku-mente interessiert mich sehr. Eine zwei-te Grundsatzentscheidung war, dass meine Inszenierung der Vorstellung viel Raum lassen wird. Das Gedicht spricht für sich selbst, und ich will es nicht ein-fach szenisch bebildern. Der Raum wird leer und irgendwann auch fast völlig dunkel sein. Das Publikum muss sich die Bilder und das Geschehen selbst ausdenken. Genau so ging es mir selbst beim Lesen der Menschenlandschaften: Im Kopf entsteht ein Schauplatz und ein Geschehen, man sitzt mit den Leu-ten im Zug. Stellenweise übernimmt sogar der Text den Rhythmus des Zu-ges, sodass dieser Rhythmus uns völlig zu durchdringen beginnt. Ich will mich beim Inszenieren auf den Text verlassen und ihn mit so wenigen Eingriffen wie möglich – aber auch so anregend für die Fantasie wie möglich – in eine Perfor-mance übertragen.

Mir geht es in diesem Zusammenhang um eine Vorstellungskraft, die sich an der Geschichte und am Nachdenken über die Vergangenheit entzündet, aber auch an deren Relevanz für die Gegen-wart. Angesichts des Aufstiegs rechts-extremer Parteien auch in Wien scheint mir der Text sehr brisant. Er handelt vom Geist des Zweiten Weltkriegs und am Rande auch vom Faschismus. Das erste Buch ist stellenweise sehr finster, und die Kriegserlebnisse, von denen die Leute darin erzählen, sind harter Stoff. Wir hier im Westen haben ein so beque-mes Leben, dass wir solche Dinge aus dem Bewusstsein verdrängen. Literatur und Kunst können dazu beitragen, dass wir wenigstens erfahren, wie es anders-wo war, und verstehen, wohin wir nie wieder zurückwollen.

Wie wird das Publikum des steiri-schen herbst reagieren, wenn es in dieser Aufführung mit Dingen kon-frontiert ist, die sich in einem türki-schen Zug des Jahres 1941 abgespielt haben? Sind die Menschenlandschaf-ten ein Buch von universeller Gültig-keit?Ich benutze diesen Begriff eigentlich nie, denn ich halte ihn für problema-tisch. Dennoch beinhaltet der Vorgang des Erzählens immer die Hoffnung, dass er Menschen zur Besinnung auf ihre ei-gene Lebenslage bringt. Dafür braucht es keine Geschichte von universel-ler Gültigkeit. Jede Art von Erzählung, wie eigenwillig oder breit angelegt sie auch sei, scheint mir geeignet, um das Nachdenken über die eigene Situation in Gang zu bringen. Die Menschenland-schaften handeln von der Geschichte der Türkei, aber man muss diese Geschich-te nicht kennen, um den Text zu verste-hen. Letztlich geht es in dem Buch auch um die vielen einzelnen Erzählungen, aus denen es sich zusammensetzt: um

die Anekdoten der Häftlinge oder auch ihrer Wärter. Sie geben uns zu verste-hen, was es heißt, ein Mensch zu sein, und zwar in den Ausnahmeverhältnis-sen, unter denen Nâzım Hikmet das Buch geschrieben hat. Sein Werk beruht auf den Erzählungen der Menschen, mit denen er im Gefängnis saß.

Sehr interessant ist, dass die Rah-menhandlung in einer Situation des Übergangs spielt. Die Häftlinge be-finden sich nicht im Gefängnis, son-dern in einem Zug. Das Land führt nicht eigentlich Krieg, aber der Krieg ist gegenwärtig. Das ist genau ge-nommen auch unsere Situation: In Syrien und anderen Ländern fin-den zahlreiche Kriege statt. Wir sind zwar nicht dort, aber sie sind uns ge-genwärtig.Als ich in einem Workshop mit der Ar-beit an dieser Inszenierung begann, wurde mir eines klar: Wenn man nur wenig über die Türkei weiß und die tür-kischen Namen nicht wiedererkennt, entfaltet sich diese Geschichte in einem bodenlosen dritten Raum – sie schwebt durch Zeit und Raum. Die Menschen-landschaften sind ja nun keine Science- Fiction, aber man hat etwas davon, wenn man all die Namen und Orte nie zuvor gehört hat und sie einem deshalb abs-trakt und ausgedacht erscheinen. Dann fiel mir auf, dass der Text mit der Viel-schichtigkeit menschlicher Beziehun-gen spielt. Es herrscht ein Machtver-hältnis zwischen den Wärtern und den Häftlingen im Zug, das bisweilen kippt. Am Ende sind diese Menschen nicht nur Herrscher und Beherrschte, sondern sie sprechen auch miteinander von Mensch zu Mensch.

Mich würde nun interessieren, wie du an die Inszenierung als solche he-rangegangen bist. Du bist als Choreo-graf tätig und auch als solcher aus-gebildet. Du hast von der bewussten Entscheidung gesprochen, mit jun-gen Körpern zu arbeiten, und die Menschenlandschaften werden von ih-nen als literarischer Text interpre-tiert. Aber wie ist deine choreografi-sche Sicht dieses Geschehens, das ja nicht notwendig auf den Körper be-schränkt bleiben muss?Der Text selbst ist sehr filmisch und hat eine gewisse inszenatorische Eigenbewe-gung: Nahaufnahmen, Schnitte, Wieder-holungen usw., also Strategien, die z.B. in der Choreografie oder auch in der Mu-sik ganz ähnlich eingesetzt werden. Und doch ist da noch mehr als der Text. Da sind die Körper der Schauspieler*innen und des Publikums, das zwischen ihnen verteilt sitzt. Gemeinsam ergeben sie eine Landschaft innerhalb des Raums, in dem sie sich versammeln. Ich stel-le mir eine fortlaufende, sehr langsa-me Choreografie vor – ein Muster, das die Darsteller*innen sehr gemessenen Schrittes abarbeiten. Ebenso folgt das Publikum seiner eigenen Logik. Es gibt keine festgelegte Publikumsbeteiligung. Man kann sitzen oder sich hinlegen. Die Leute wechseln aus eigenem Antrieb ihre Haltung. Ich bin gespannt auf die Land-schaften, die alle diese Körper gemein-sam hervorbringen werden.

Bei unserem ersten Treffen hat mich sehr beeindruckt, dass du beim Re-den über deine Kunst kein einziges Mal das Wort „Körper“ verwendet hast. Jetzt benutzt du es, aber mehr in dem Sinn, dass der Körper ein Mit-tel zur Verwirklichung von etwas an-derem ist.Das habe ich vom Filmemacher Robert Bresson gelernt. Er betrachtete seine

Schauspieler*innen wie seine Model-le und ließ sie sein Material vorführen. Er benutzte die Körper, mit denen er ar-beitete, als Instrumente. Und doch ge-lang es ihm, dem Publikum einen ge-fühls- und verstandesmäßigen Bezug zu seinen Figuren zu entlocken. Für mich geht es in diesem Stück und in der ex-perimentellen Gegenwartskunst allge-mein nicht darum, Gemütslagen durch-zukauen und sie stellvertretend für das Publikum zu empfinden. Körper können ebensogut Leinwände sein, auf die das Publikum die eigenen Empfindungen projiziert. Nicht ich projiziere meine Gefühle auf dich als Zuschauerin, son-dern du selbst entwickelst das Bedürf-nis, deine Gefühle auf das vorgeführ-te Material zu projizieren. Das wollen viele Menschen nicht. Daher dominiert auf den Bühnen heute so sehr die rei-ne Unterhaltung, die einem vormacht, was man denkt, will, fühlt. Ich arbei-te in die entgegengesetzte Richtung. Bei mir arbeitet das Publikum, weil es für sich selbst denkt und fühlt. Ich be-diene niemanden. Deshalb sind die Darsteller*innen, mit denen ich arbeite, In stru mente, oder Modelle, wie Bresson sagen würde, die mein Material vermit-teln. Das ist keineswegs ein streng ra-tionaler Zugang zum Körper, sondern durchaus auch ein äußerst gefühlsstar-ker. Nur dass du dir als Zuschauerin das selbst erarbeiten musst.

Die Menschenlandschaften gelten als Versepos. Du inszenierst das Ge-dicht in einem sehr privaten, ganz und gar nicht repräsentativen Rah-men. Es gibt keinen vorherrschenden Gesichtspunkt, sondern eher eine Streuung der Perspektiven. Nach der Beschreibung deiner Arbeitsweise zu urteilen, wird die Bühne ein in sich geschlossener, gleichzeitig aber auch sozialer Raum sein. Ich frage mich, welchen Stellenwert das Epos dar-in für dich hat. Höchstens fünfzig bis siebzig Menschen haben in dei-ner Aufführung Platz. Das sind sehr wenige im Vergleich zu anderen Auf-führungen darstellender Kunst.Interessanterweise setzt du in dei-ner Frage voraus, dass „episch“ gleich „groß“ bedeutet. Die Menschenland-schaften gelten als Epos, aber sie sind zugleich ein sehr persönliches und in-times Werk. Episch ist, was man daraus macht. Wenn man der Erzählung zuhört und sich die eigene Fantasie daran ent-zündet, kann ein epischer Bezug zum Text entstehen. Die Entscheidung liegt beim Publikum. Bei der Inszenierung habe ich darauf geachtet, den beson-deren Lebenslagen, in denen sich die-se Menschen wiederfinden, möglichst nahe zu kommen.

Mit dem Themenschwerpunkt „Volks -fronten“ des diesjährigen steirischen herbst stellt sich auch die Frage nach der politischen Bedeutung des Epi-schen als einer umfassenderen Form von Gemeinsamkeit. Nâzım Hikmet erschafft im Wesentlichen ein Ge-meinwesen aus lauter Kleinstepiso-den. Siehst du darin einen Bezug zu zeitgenössischen politischen Bewe-gungen oder Verhältnissen?Darauf habe ich wirklich keine Antwort. Du bringst den Begriff des Epos in Ver-bindung mit größeren Bewegungen im politischen Sinn. Ich bin mir nicht si-cher, ob es hier einen wesentlichen Zu-sammenhang gibt. Die Menschenland-schaften erzählen eine groß angelegte Geschichte, jedoch anhand von ein-zelnen Anekdoten einzelner Personen. Mir scheint dieses Buch voller Brüche. Es erzählt nicht von einer starken Ge-meinschaft, sondern von einem Ge-meinwesen der Vielen. Was macht ihre Gemeinsamkeit aus? Schlicht und ein-fach, dass sie sich zur selben Zeit am selben Ort befinden, nämlich in diesem Zug, und dass sie einander ihre Lebens-geschichten mitteilen. Was sie verbin-det, so könnte man sagen, ist die Tatsa-che, dass sie alle Menschen sind.

--- Michiel Vandevelde (1990, Leuven, Belgien) ist Choreograf, Kurator und Autor. Politischer und künstlerischer Aktivismus durchziehen seine künstlerische Praxis an den Schnittstellen von Choreografie, Dis-kurs und Performance innerhalb der Insti-tutionen der (darstellenden) Künste und darüber hinaus. Er lebt in Brüssel.

>> Fortsetzung von Seite 1

EDITA CAUSEVIC

2. Platz Fotowettbewerb

Page 4: Nâzım Hikmet und seine Menschenlandschaften Stellt in Frage! in frage DE.pdf · den Dichters Nâzım Hikmet aus der Tür-kei gewidmet und konzentriert sich vor allem auf sein episches

4 Stellt in Frage! 1. Jahrgang / 37. WOCHE / NR. 1

In seinem Werk Menschenland-schaften beschreibt Nâzım Hikmet die Menschen oder das „Volk“

vielstimmig und fragmentiert als ein Gemeinwesen voller Gegensätze und Spannungen. Er wählt einen Zugang des radikalen Mit- und Einfühlens – vielleicht einer der Gründe dafür, dass er oft als „romantischer Kommunist“ bezeichnet wurde. Welche Bedeutung hat diese Herangehensweise für Sie heute im größeren europäischen Kon-text des Zusammenlebens und der po-litischen Gemeinschaften? Wäre ein verstärkt politisches Verständnis von Empathie und Mitgefühl für andere Menschen vielleicht die Antwort auf die gegenwärtige Spaltung und Pola-risierung unserer Gesellschaften?Ich bin fest davon überzeugt, dass das Beharren auf der „Vielheit“ auch heu-te noch von großem Nutzen für uns ist. Liberale Denker wie Pierre Rosanvallon und Jürgen Habermas weisen seit Jahr-zehnten immer wieder darauf hin, dass wir uns das „Volk“, das in der „Volkssou-veränität“ gemeint ist, als eines vorstel-len müssen, das sich nur im Plural aus-drücken und sein Lied nur „vielstimmig“ singen kann. Diese Einsicht gilt es zu be-wahren, damit Europas Geschichte nicht auf eine homogene, einseitige Sache re-duziert wird. Aber mir wird besonders in letzter Zeit etwas unwohl, wenn das Ge-mahnen an die tatsächliche Vielfalt mit der ausdrücklichen Forderung einher-geht, Vielfalt zu „feiern“. Die Katego-rie der „Vielfalt“ wurde in den vergan-genen zwanzig Jahren politisch restlos übernutzt und auch missbraucht, um die zunehmende Vereinheitlichung unserer kapitalistischen Welt zu verschleiern. Es mag sein, dass wir in Europa in ethnisch vielfältigeren Gesellschaften leben. Aber in ökonomischer Hinsicht gleichen sich diese Gesellschaften insofern immer mehr, als die Spaltung zwischen Wohlha-benden und Besitzlosen überall dieselbe ist. Vor diesem Hintergrund in das Gere-de von der „Vielfalt“ einzustimmen, lässt sich dann leicht so verstehen, als seien die Interessen des türkischen Besitzers einer Telekommunikationsfirma diesel-ben wie die einer deutschen Postange-stellten türkischer Herkunft. Ähnliches gilt für das politische Potenzial der „Em-pathie“. Ein Beispiel, an dem sich dieses Problem exemplarisch darstellt, ist der kleine Kurde Aylan Kurdi, dessen Leiche auf dem Höhepunkt der sogenannten eu-ropäischen „Flüchtlingskrise“ an einem türkischen Strand fotografiert wurde. Anstelle der Bereitschaft zum Handeln bewirkte dieses Foto mit seinem Appell an unser Mitgefühl nur eine allgemeine Lähmung. Und seit die Linke sich dar-auf eingeschworen hat, dass das „Flücht-lingsproblem“ eine humanitäre Aufga-be sei, anstatt anzuerkennen, dass diese Menschen auf der Suche nach Rechten und persönlicher Freiheit fliehen, kön-nen wir nichts weiter tun, als uns mit Mitleidsappellen gegenseitig zu überbie-ten. Der französische Philosoph Didier Fassin hat das treffend als unsere zeitge-nössische „Mitleidsmüdigkeit“ beschrie-ben. Wir haben es satt, uns anderer Men-schen wegen ein schlechtes Gewissen zu machen, und wir tun uns schwer mit Ab-stufungen und Verhältnismäßigkeiten in diesem Universum des Leids.

In Österreich ist der Begriff des „Volkes“ durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts belastet – insbeson-dere durch den Austrofaschismus und das Bündnis mit dem nationalsozialis-tischen Deutschland. Politiker*innen der Rechten wie der Linken scheuen sich, das Wort in den Mund zu neh-men. Zugleich erlebt der Begriff der „Heimat“ anscheinend eine Renais-sance und wird von Vertreter*innen der Rechten wie der Linken immer häufiger bemüht. Der Wahlkampf des derzeitigen Bundespräsidenten Ale-xander Van der Bellen war dafür nur ein Beispiel. Ist die „Heimat“ ein ge-fährlicher Platzhalter für das „Volk“ geworden? Verbirgt sie nicht diesel-be nationalistisch-protektionistische Rhetorik hinter einem einigenden,

positiv besetzten Schlagwort?Wesentlich scheint mir hier das Aus-maß, in dem die Rede von der „Heimat“ weitergehende Bestrebungen nach einer sich selbst verabsolutierenden Gemein-schaft kompensiert. Diese Dynamik lässt sich an historischen Beispielen, etwa aus Deutschland, gut zeigen. Nach der schmerzhaft gescheiterten Revolution von 1918-1919 – gescheitert in dem Sinn, dass es dem deutschen Proletariat beina-he gelungen wäre, eine Weltrevolution in Gang zu bringen – legten führende Nazis großen Wert darauf, die Sprache der „Ar-beiterklasse“ durch die des „Volkes“ zu ersetzen. Ganz klar stand dahinter mehr als nur die zynische Absicht, das Prole-tariat für das reaktionäre Lager zu ver-einnahmen. Es war auch der Versuch, die Arbeiterschaft verstärkt in eine „Volks-gemeinschaft“ zu integrieren, die verges-sen machen sollte, dass die Kriegslasten sehr ungleich auf die verschiedenen Be-völkerungsgruppen verteilt wurden. Die Nazis ersetzten gezielt das Reden über die „Arbeiterklasse“ durch das Sprechen über das „Volk“. Der einzige Unterschied zu unserer heutigen Krise liegt darin, dass letzterer kein größeres Moment ei-ner Radikalisierung vorausgegangen ist. Denn linke Politik im eigentlichen Sinn dümpelt seit vierzig Jahren dahin – wenn nicht noch länger.

Der französische Philosoph Guy Debord bietet eine erhellende Sicht auf diese Dinge. Schon 1981 behauptete er, allein die Unterscheidung zwischen „Einwan-derern“ und „Einheimischen“ habe in Frankreich jeden Sinn verloren. Infolge der Globalisierung und der Ausweitung der Weltmärkte sei Frankreichs Arbeiter-schaft bereits eine Klasse der „Fremden im eigenen Land“. Daraus folgte auch, dass der Aufstieg des Front National mehr als nur ein Ausdruck französischer „Fremdenangst“ war. Die Französ*innen hassten Ausländer*innen nicht, weil sie „anders“ waren oder „nicht dazu gehör-ten“. Sondern dieser Hass, so Debord, war nichts anderes als ein externalisier-ter Narzissmus. Die Französ*innen er-kannten in der Gestalt des Flüchtlings die eigene Entwurzeltheit. Anstatt aber

Solidarität mit den Menschen zu bekun-den, die ihr Schicksal teilten, erleichter-ten sie sich die Bürde des Selbsthasses dadurch, dass sie die Einwanderer hass-ten.Ich finde Debords Beschreibung des Fremdenhasses als umgekehrte Form des Selbsthasses hilfreich, um die Eigen-logik des Rassismus im heutigen Europa zu verstehen. Niemand fühlt sich in der heutigen Welt noch wirklich zu Hause. Obwohl etlichen Europäer*innen noch der Segen spendabler Wohlfahrtsstaa-ten zuteilwird, ist ihr Einfluss auf deren politische Abläufe in den vergangenen dreißig Jahren erheblich geschrumpft. Überspitzt könnte man sagen: Es gibt eben auch wohlgenährte Sklav*innen. An der Tatsache der Unfreiheit ändert das nichts. Und da viele Menschen ihre Unfreiheit als eine Form von Orientie-rungslosigkeit (oder Wurzellosigkeit) wahrnehmen, sehen sie keine andere emotional verkraftbare Lösung, als sich einen Sündenbock zu suchen.

Müssen wir uns angesichts der an-haltenden Erosion politischer Instru-mente und ihrer Bedeutungen auf eine weitere Hinwendung zum Popu-lismus einstellen?Was diese „Erosion der Bedeutungen“ angeht, so scheint mir, dass beim heu-tigen Gebrauch des Wortes „Populis-mus“ sehr viele unredliche Motive im Spiel sind. Der Begriff hat eine lange, ab-wechslungsreiche Geschichte und ist mit normativen Vorstellungen überfrachtet. In den 1980er-Jahren half seine Einfüh-rung in das politische Vokabular Frank-reichs dem dortigen Front National, sich von der rechtsextremen Splittergruppe zur populären Massenpartei zu wandeln (die heute ein gutes Drittel der französi-schen Wählerschaft vertritt). Der „Popu-lismus“ läutert aber, wie wir in den letz-ten Jahren gesehen haben, nicht nur die äußerste Rechte. Als Populismusvorwurf dient er auch dazu, die Schuld am heuti-gen Rassismus von der Elite auf die Ar-beiterklasse abzuwälzen. Wenn der Front National „populistisch“ ist, das heißt für „das Volk“ spricht, so folgt daraus nicht etwa, dass er einen vermeintlichen Wil-

len des Volkes herbeikonstruiert, son-dern dass er tatsächlich vorhandene Wünsche der französischen Bevölkerung zum Ausdruck bringt. Auf diese Weise wird das französische „Volk“ zur Ausre-de und zum Sündenbock für den Rassis-mus des Front National. Das verschleiert zugleich die institutionelle und ökono-mische Eigenlogik des Rassismus, der in vielen Fällen gerade der herrschen-den Plutokratie sehr zupasskommt. Die Schlussfolgerung erscheint glasklar und unausweichlich: Wenn vor allem „das Volk“ rassistisch gesinnt ist, muss man diesem Volk nur seine Mitsprache neh-men, um wie von selbst wieder friedliche Verhältnisse der Toleranz herzustellen.

Was das „P-Wort“ selbst angeht: Ich rechne fest damit, dass uns der „Po-pulismus“ erhalten bleibt – und zwar nicht nur, weil viele „populistische“ Politiker*innen (wen immer dieser Be-griff nun genau meint) viel talentierter und klüger sind als ihre anti-populisti-schen Gegner*innen (man denke nur an die beschämenden Auftritte eines Jean-Claude Juncker); sondern auch, weil der Populismus von vornherein mit dem Wind segelt. Die Zahl der Parteimit-gliedschaften sinkt seit mehr als dreißig Jahren. Wahlbeteiligungen sind so nied-rig wie nie zuvor. Die Wirtschaftspolitik ist – wie die EZB in Frankfurt eindrück-lich zeigt – gegen jegliche Einflussnah-me durch das Wahlvolk abgeschottet. Löhne und Gehälter stagnieren. Zu-gleich erzeugen die sozia len Medien eine Illusion der Unmittelbarkeit und Wirksamkeit, wie man auch an den vie-len stürmischen Debatten auf Twitter erkennt, die so gut wie keinen Einfluss auf die tatsächliche Politik haben. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sich an diesen Entwicklungen in den nächsten Jahren etwas ändern könnte. Populist*innen sind die einzigen, die sie überzeugend zur Sprache bringen, und ihre Organisationen sind genau darauf ausgerichtet. Die niederländische PVV (unter Geert Wilders) vergibt nicht ein-mal Mitgliedschaften an ihre Angehöri-gen. Sie ist einfach nur eine „Unterstüt-zungsgruppe“ von „Anhänger*innen“. Die Lega und die Fünf Sterne-Bewegung in Italien führen eigene Online-Befra-gungen durch, aber niemand bezeugt deren Gültigkeit, und so dienen die Er-gebnisse nur dazu, die willkürlichen Entscheidungen der Parteioberen abzu-segnen. Die Populist*innen wissen, wo-her der Wind weht, und sie haben ihre Segel dementsprechend gesetzt.

Sehen Sie noch Möglichkeiten für das, was man eine Linke nennen könnte, in Europa wieder Terrain gutzumachen?

Diese Antwort überlasse ich dem deut-schen Philosophen Max Horkheimer: „Ich glaube nicht, daß es gut wird, daß aber doch die Idee, daß es gut wird, et-was sehr Entscheidendes bedeutet.“ Zurzeit sind die Aussichten für eine Renaissance der Linken ziemlich düs-ter. Das griechische Experiment Syriza hat sich selbst aufgegeben. Die italieni-sche Linke hat sich von ihrer Wandlung im Geist Clintons in den 1990er-Jahren bis heute nicht erholt. Die niederlän-dische Linke ist in eine verschnöselte Jugendorganisation (GroenLinks) und eine wirtschaftslenkerische Altpar-tei im Stil Tony Blairs (PvdA) gespal-ten. Andererseits gibt es auch Funken der Hoffnung. Die belgische PTB hat es geschafft, sich selbst zur letzten poli-tischen Vertretung der Gewerkschafts-bewegung in diesem Land zu erneuern. In Frankreich hat die Linke mit der Be-wegung La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon endlich begonnen, die politische Ökonomie und die Macht-verhältnisse innerhalb der Eurozone zu hinterfragen. Auch in Deutschland artikuliert die Bewegung Aufstehen von Sahra Wagenknecht Probleme der wirtschaftlichen Souveränität, die un-ter anderem für den Euro von entschei-dender Bedeutung sind.

Andererseits haben sich viele dieser Be-wegungen selbst Grenzen gesteckt, die sie wohl nur schwer überwinden wer-den können. Und obgleich eine poli-tische Besinnung auf nationaler Ebe-ne vonnöten ist, kann man die derzeit herrschenden Verhältnisse ohne eine untereinander abgestimmte, nationen-übergreifende Strategie nicht wirksam infrage stellen. Leider haben sich alle Versuche, in den letzten Jahren eine neue „Internationale“ aufzubauen, als illusorisch erwiesen. Sogar der Kampf für bescheidene Reformen kann heu-te schon revolutionär erscheinen, wie das Beispiel von Alexandria Ocasio-Cor-tez zeigt. (Und vielleicht liegt das dar-an, dass Reform und Revolution inzwi-schen gleichermaßen undurchführbar erscheinen). Unsere Lage kann man vielleicht mit Karl Kraus am besten be-schreiben als „hoffnungslos – aber nicht ernst“.

--- Anton Jäger (1994, Brüssel) ist Dokto-rand der University of Cambridge. Er forscht zur Geschichte des Populismus in den Ver-einigten Staaten und beteiligt sich an ak-tuellen staatstheoretischen Debatten. Seine Texte erscheinen in Zeitschriften wie Jaco-bin, De Groene Amsterdammer und The New Pretender. Jäger lebt in Colchester, England.

Anton Jäger im Gespräch mit Katalin Erdödi und Övül Ö. Durmuşoğlu

„Das Volk“ als Fremde im eigenen Land

„4 your eyes only – Vielfalt als Geschenk“

MARTINA REITHOFER

3. Platz Fotowettbewerb

Page 5: Nâzım Hikmet und seine Menschenlandschaften Stellt in Frage! in frage DE.pdf · den Dichters Nâzım Hikmet aus der Tür-kei gewidmet und konzentriert sich vor allem auf sein episches

5Stellt in Frage! NR. 1 / 37. WOCHE / 1. Jahrgang

D u bist eine Musikerin, Künst-lerin und Kulturarbeiterin, die sich mit sozialen und po-

litischen Fragen – vor allem mit Mi-gra tion, Bildung und Freiheit – durch das Medium Rap beschäftigt. Nâzım Hikmet ist für seine politisch enga-gierte Poesie unter anderem in Men-schenlandschaften bekannt, in der er – ganz ähnlich zum Rap – Menschen aus den verschiedensten sozialen Schichten und Hintergründen eine Stimme verleiht. Welche Relevanz hat seine Arbeit für dich heute, und hat sie etwas mit Rap zu tun?Nâzım Hikmet kenne ich von seinen Gedichten, aber eher nicht auf dieser politischen Ebene – ich habe erst viel später erfahren, dass es politische Tex-te sind. Für mich waren es Texte, in de-nen man Erfahrungen teilt: was Liebe angeht, Einsamkeit und das innere Ich, wie es leidet, was er oder sie denkt … Was die Verbindung zwischen Nâzım Hikmet und Rap betrifft, ist das größte Gefühl diese systematische Erfahrung. Ich habe darüber gerappt, dass ich in einer Einzimmerwohnung aufgewach-

sen bin. Ich habe immer gedacht, das ist meine Erfahrung, das ist nicht po-litisch, ich habe das erlebt. Und dann habe ich in anderen Raps mitbekom-men, dass ich nicht die Einzige war, die in einer Einzimmerwohnung auf-gewachsen ist. Erst später, nach vielen Raps – die meiner Meinung nach auch Gedichte sind – bin ich darauf gekom-men, dass wenn eine Erfahrung vie-le Leute teilen, es eine systematische, eine politische Erfahrung ist. So war es für mich auch bei Nâzım Hikmet. Zu le-sen, zu verstehen und es dann auf sich selber zu beziehen hat mir immer wie-der das Gefühl gegeben, dass ich nicht alleine bin in dem, was ich erlebe. Ich überlege allgemein, was Gedichte für mich sind, weil ich gedichtet habe, be-vor ich gerappt habe. In einer Welt, in der es so viele politische Unterschied-lichkeiten gibt, wo sich mein eigenes Ich andauernd verändert – zum Bei-spiel bin ich jetzt mit dir ein ganz an-deres Ich als mit meinem Bruder oder mit meinen Freunden ... In so einer Welt findet man oft nicht so leicht ein Gegenüber, bei dem man sich öffnen

kann. Und wo man sich nicht öffnen kann, will man schreiben. Man schreibt, um sich von etwas zu lösen. Das ist ein enormes Geschenk für jene Menschen, die das lesen, meine ich, weil du von ei-nem Menschen etwas Ehrliches, Sanf-tes, Unberührtes erfährst. Eine solche Unberührtheit lese ich auch in Nâzım Hikmets Texten. Diese Gefühle öffnen dann etwas in mir, das unberührt und sauber ist. Ich glaube, im Kontext die-ser Welt ist es ganz schwer, ein eigenes Wahrnehmungsgefühl zu bekommen. Durch diese Texte und auch Nâzım Hik-mets Gedichte habe ich vieles in mir wahrgenommen, was ich sonst viel-leicht nie so sehen würde.

--- Esra Özmen (1990, Wien) ist Rapperin, bildende Künstlerin, Performerin, Songwri-terin und Kulturarbeiterin. Gemeinsam mit ihrem Bruder Enes Özmen macht sie unter dem Namen EsRAP Musik. Sie widmet sich dabei, „ohne auf den Mund gefallen zu sein“, sozialkritischen Themen und versucht, mit ihren deutsch-türkischen Texten zum Nach-denken anzuregen. Sie lebt in Wien.

Wenn eine Erfahrung viele Leute teilen, ist es eine systematische Erfahrung,

eine politische ErfahrungIm Gespräch mit Esra Özmen

Wir lasen Nachrichten über Menschen, die sich wegen der Krise das Leben ge-nommen hatten und schauten uns rat-los in die Augen.Die Währungsumstellung war ein Teil der bitteren Rezeptur, die einherging mit den von Kemal Derviş erwirkten Krediten des Internationalen Wäh-rungsfonds und der Weltbank. Diese Beschlüsse, die viele von uns zwan-gen, nochmals bei null zu beginnen,

waren die Grundsteine des „Erdoğan-Wunders“. Den Menschen die giftigen Nebenwirkungen dieser Arznei, die heute in allen Bereichen zu spüren ist, aufzuschwatzen, konnte nur einem gu-ten Vermarkter wie Erdoğan gelingen. Na ja, er hat seine Aufgabe auch ent-sprechend gemeistert.Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, stellt mein Begleiter einen Vergleich zwischen der früheren und der heutigen Türkei an; ein Land, das er einmal im Jahr für einen Monat besucht. „Als Kind wollte ich nie in die

Türkei fahren. Im Geschäft gab es nur zwei Sorten Schokolade. Es gab nichts zu tun, nirgends konnte man hingehen. Mir war langweilig. Aber jetzt hat sich die Türkei sehr entwickelt. Jeder mei-det Erdoğan und die Türkei. Ich aber warte sehnsüchtig auf meinen Urlaub, damit ich in die Türkei fahren kann.“Wo wir gerade von Entwicklung spre-chen, fällt mir ein ... na gut, aber man kann die Türkei und Deutschland dies-bezüglich nicht vergleichen. Seine Antwort: „Aber hier ist das Leben so eintönig, es gibt nicht einmal eine or-dentliche Streiterei, jeden Tag dassel-be. Keine Aufregung. In die Türkei zu fahren, ist wie auf Safari zu gehen.“Ich gebe zu, ich bin verärgert. „Damit du es für dich spannend hast, wenn du für einen Monat kommst, soll uns also jeder friedvolle Tag verwehrt sein“, werfe ich ein. Er lacht: „Du hast ge-fragt, was ich denke, ich habe es gesagt, ärgere dich nicht.“ Er hat recht. Unterdessen bringt er mich in eine ehe-malige Fabrik, die zu einem Kultur- und Erholungszentrum umgebaut worden war. Das gigantische Gebäude bietet eine beängstigende, aber eindrucks-volle Kulisse aus Stahlkonstruktionen und Überresten von Maschinen. Wir bleiben genau unter einem dieser Un-getüme stehen, und er beginnt zu er-zählen: „Mein Vater hat hier gearbeitet. Wie still es jetzt ist, nicht wahr? Aber stell dir einmal vor, welchen Lärm so eine Maschine macht, wenn sie in Be-trieb ist. Mein Vater war diesem Lärm den ganzen Tag ausgesetzt, und wenn er am Abend nach Hause kam, war er nicht mehr in der Lage, uns zuzuhö-ren.“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll, seine Offenheit beschämt mich. Die Schließung der Fabriken hat seine Zu-kunftsaussichten verdüstert. Soviel ich verstanden habe, war es eben die Zerstörung dieser Perspektiven, die Deutschland eintönig gemacht hat. Und genau zu dieser Zeit, also in der 1990er-Jahren, war die Überlegung, in die weit entfernte Türkei zu gehen, ein unlogischer, ja sogar unmöglicher Schritt. Und da kam Erdoğan, hat Ord-nung in die Türkei gebracht und auch meinem Begleiter somit eine „Mög-lichkeit“ zum Geschenk gemacht. Diese Möglichkeit, diese Utopie, die vielleicht niemals Wirklichkeit werden wird, ist der Trumpf in seinen Händen, wenn er in trübsinnigen Gesprächen über die Hoffnungslosigkeit im Freundeskreis sagen kann: „Und dann gibt es ja noch die Türkei.“Ich wollte mit dieser Geschichte nichts verallgemeinern. Einzelne Geschichten kann man nicht verallgemeinern, aber

wenn man sie nebeneinanderstellt, ergeben sie ein Muster voller Wider-sprüche und Spannungen. In diesem Muster finden sich auch politische, ge-sellschaftliche und kulturelle Gemein-samkeiten zwischen den Menschen. Ich versuche, das Muster zwischen mir und diesem jungen Mann sichtbar zu machen. Er, der in seinen Gedanken die Türkei zu einer Utopie geformt hat und damit versucht, sich mit seinem Leben in den Überresten einer entschwunde-nen Industrie abzufinden, und ich, un-mittelbar betroffen von allem, was in der Türkei geschieht, von abermaligen Wirtschaftskrisen und politischen Res-triktionen.Nach einer Weile fällt mir auf, dass ich, immer wenn ich zu sprechen begin-ne, den Zwang verspüre zu betonen, dass ich meine Heimat liebe, dass ich bei erster Gelegenheit nach Hause zu-rückkehren möchte, dass es nicht mei-ne Absicht ist, die Türkei schlechtzu-machen. Die Verschiedenheit zwischen der Türkei in seinem Herzen und der Türkei, in der ich lebe, verärgert ihn.Eigentlich will er nichts von den Din-gen wissen, die sich hinter dem blen-dend strahlenden Glanz verbergen; ein Glanz, der sich in Beton, dem Symbol für den „Entwicklungsaufschwung“ (eigentlich Kapitaltransfer und Rück-lagen), vermarktet von Erdoğan, wi-derspiegelt. Denn seine Ansicht zu än-dern, würde bedeuten, sich von seiner abenteuerlichen und hoffnungsvollen Möglichkeit zu verabschieden, die er in Gesprächen mit Freunden in dieser kleinen Stadt, in der er lebt und die er nicht zu verlassen gedenkt, in die Run-de wirft. Um die Utopie dieser „hoff-nungsvollen Möglichkeit“ aufrecht-zuerhalten, muss er die Version der Geschichte, wie ich sie erzähle, ignorie-ren. Und genau an diesem Punkt liegt das, was uns verbindet, also der Knoten im Muster unserer beiden Geschichten. Im Spannungsfeld von Möglichkeit und Ignorieren. Er ignoriert meine Version der Geschichte, um seine geliebte Mög-lichkeit, seine Utopie zu bewahren. Ich jedoch ignoriere sein Bedürfnis nach einer Utopie von Heimat.Gut, aber kann man diesen Knoten lö-sen? Wer löst ihn? Er oder ich? Oder eine dritte Person?Ich weiß es nicht, ich überlege nur. Vielleicht ist es auch nicht notwendig, den Knoten gänzlich zu lösen. Viel-leicht reicht es, die Verwirrungen, die diesen Knoten verursachen, sichtbar zu machen, darüber zu sprechen und sie ernst zu nehmen. Vielleicht kann so „Heimat“, als Adresse dieses span-nungsgeladenen Musters, wieder zu einer „gemeinsamen Basis“ und so-

mit zu einer Möglichkeit werden. Es steht uns frei, diesbezüglich nichts zu unternehmen und uns, geschmiegt an unsere Schwerter und Schilde, ru-hig zum Schlafen zu legen, damit sich kein Schatten über unsere unvergleich-lichen Geschichten legt. Aber der we-sentliche Punkt ist, dass ein Land, das seinen Sinn und seine Bedeutung als gemeinsame Basis verloren hat, nie-mandem etwas nützt.

--- Ayşe Çavdar (1975, Ankara) ist An-thro pologin und Journalistin. 2016 war sie als Gastdozentin an der Phillips Mar-burg Universität im Centrum für Nah- und Mittel-Ost-Studien tätig. Derzeit forscht sie als Postdoktorandin im Zentrum für globale Kooperationsforschung am Käte Hamburger Kolleg in Duisburg.

>> Fortsetzung von Seite 1

„Hinterhof-Fußball“

FREIDL LISA

4. Platz Fotowettbewerb

„Wozu sollten wir in den Krieg eintreten?Auch ohne Krieg kann der Mensch recht gut leben ...“

Zuerst ein wenig schüchtern,dann entschieden, protestierte Perihan:

„Na gut, aber, Mutter,das Vaterland?

Wenn der Feind nun das Vaterland besetzt?“

(...)Die winzige Frau

schaute Perihan traurig an und sagte:

„Tochter, du bist noch zu jung,werde erwachsen,

heirate,gebäre Söhne,

dann werde ich dich wieder fragen,

was der Krieg bedeutet.“

NâZIM HIKMET

Page 6: Nâzım Hikmet und seine Menschenlandschaften Stellt in Frage! in frage DE.pdf · den Dichters Nâzım Hikmet aus der Tür-kei gewidmet und konzentriert sich vor allem auf sein episches

6 Stellt in Frage! 1. Jahrgang / 37. WOCHE / NR. 1

Nâzım Hikmets Menschenland-schaften werden oft als So-zialgeschichte in Versform

betrachtet, in der er einen differen-zierten und durchaus kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Entwick-lungen in der Türkei in der Mitte des 20. Jahrhunderts wirft. Welche Be-deutung hat die literarische und poli-tische Arbeit Hikmets für dich als So-zialwissenschaftler? Nâzım Hikmets Menschenlandschaften kann sicherlich als eine Sozialgeschich-te in Versform bezeichnet werden. Hik-met ist ein scharfer Chronist seiner Zeit. Die Armut und Finsternis des Zwei-ten Weltkriegs, in den die Türkei erst in letzter Minute miteinstieg, die Ent-täuschung über die Ideale und Verspre-chen der frühen türkischen Republik, die Ungerechtigkeit und Korruption des Einparteienstaates nach Atatürk – all dies spricht anschaulich und authen-tisch durch den Text. Diese Arbeit sowie das Leben des Autors sind aber weit-aus vielschichtiger. Da ist zum Beispiel der feurige Kommunist und Ideologe, der Moskau sehnsüchtig und unkritisch betrachtet und die politische und wirt-schaftliche Ordnung der Sowjetunion als die einzige Alternative zum westli-

chen Liberalismus und zum türkischen Nepotismus darstellt. Und dann gibt es noch Nâzım Hikmet, den großen Künst-ler, der all diese unterschiedlichen An-liegen zu einem einzigen atemberau-benden Bild von der Türkei und ihren Menschen verwebt: von der Zeit nach dem Unabhängigkeitskrieg und kurz bevor sich das Land an den Westmäch-ten zu orientieren beginnt und sich vom Propagandismus fernhält – wenngleich dies oftmals nur knapp gelingt. Dieser Text ist für mich wirklich wichtig, denn er erinnert stark daran, wie vielschichtig Autor*innenleben sind, wie vielschich-tig Texte sein können und wie wichtig es ist, sie wertzuschätzen.

--- Kerem Öktem (1969, Gelsenkirchen, Deutschland) ist Professor für Southeast European Studies and Modern Turkey am Zentrum für Südosteuropastudien (CSEES) an der Universität Graz. Seine Forschungs-bereiche umfassen Politik und internationa-le Beziehungen der Türkei, die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU, Nationa-lismusforschung sowie die Erforschung von muslimischen Gemeinschaften auf dem Bal-kan und in Westeuropa. Öktem lebt in Graz, Oxford und Istanbul.

Ein scharfer Chronist seiner Zeit

Im Gespräch mit Kerem Öktem

Als Übersetzer und Literatur-kritiker beschäftigen Sie sich intensiv mit Gegenwartsli-

teratur aus Russland. Nâzım Hikmet war durch sein Studium und später durch sein Exil eng mit der damaligen „post-revolutionären Sowjetischen Union“ verbunden. Er wird oft als „ro-mantischer Kommunist“ bezeichnet. Wie sehen Sie die Einflüsse dieser Be-gegnungen auf seine Arbeit?

Was immer Sie unter „post-revolutio-närer Sowjetunion“ verstehen – Nâzım Hikmet in Russland, das ist zweifellos eine Tragödie in etlichen Akten; wie viele es genau waren, mögen Hikmet-Spezialisten und Philologen untersu-chen. Gelinde und freundlich gesagt war deren Grundtenor eine Art Freiheit (des Emigranten und Flüchtlings) mit schwe-ren Defekten. Vom ersten Aufenthalt in den frühen 1920er-Jahren bis in die

1960er-Jahre bewegt sich Hikmet nahe am sowjetischen Mainstream von Poli-tik, Literatur und Literaturpolitik. Das ist kein besonderes Geheimnis. Nâzım Hikmet hat es in seinem späten Gedicht „Lebenslauf“ von 1961 selbst reichlich melancholisch formuliert, wenn er noch einmal die „kommunistische Universi-tät“ (eine Kaderschmiede für die „Völker des Ostens“), Lenins Sarg aus dem Jahr 1924, an dem er symbolisch Wache hielt, und schließlich den Beginn seiner letz-ten Lebensphase nach langjähriger Haft in der Türkei und dreißig Jahre nach der ersten Moskau-Reise Revue passieren lässt: „mein neunundvierzigstes (Jahr) erneut in Moskau als Gast der Tsche-kisten.“ Sein dichterischer Weg – vom 1923 formulierten Traum, „ein Hafis des Kapitals“ zu werden, über die program-matische Ansage „Unser Gedicht heißt / Konstruktivismus“ von 1930 bis zu sei-

ner Tätigkeit als offizieller Sowjetver-treter auf Friedenskongressen und Kin-derfreund in den Ferienlagern auf der Krim – war jedenfalls höchst brüchi-ger Natur. Kurz: Auch für den „roman-tischen Kommunisten“ Nâzım Hikmet gilt das Wort: Wer heute von der blau-en Blume träumt, muss verschlafen ha-ben; selbst wenn diese rot gewesen sein sollte.

--- Erich Klein (1961, Altenburg, Öster-reich) ist Übersetzer, Publizist, Kurator und Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift Wespennest in Wien. Zu seinen letzten Ver-öffentlichungen gehören: Die Russen in Wien. Die Befreiung Österreichs, Denk-würdiges Wien und Graue Donau, Schwar-zes Meer. 2013 erhielt Klein den Österrei-chischen Staatspreis für Literaturkritik. Er lebt in Wien.

„Unser Gedicht heißt / Konstruktivismus“. Nâzım Hikmet in der Sowietunion

Im Gespräch mit Erich Klein

steirischerherbst’18

Willkommen an den FrontenAm 20. September 2018 eröffnet der steirische herbst – Europas ältestes in-terdisziplinäres Festival für zeitgenös-sische Kunst. Der Titel des diesjährigen Festivals lautet Volksfronten – bewusst im Plural und auf höchst unterschied-liche historische Kontexte verweisend: die anti-faschistischen Bündnisse der 1930er-Jahre, eine rechtsextreme natio-nalistische Gruppierung in den USA, eine ironische Bezeichnung für repräsentati-ve Fassaden in der DDR. Ziel ist es, die leidenschaftlichen ideologischen Kämp-fe und kollabierenden politischen Dicho-tomien der Gegenwart zu thematisieren.

Die diesjährige Ausgabe ist die erste, die von der neuen Intendantin Ekaterina Degot in Zusammenarbeit mit einem Kurator*innenkollektiv organisiert wird. Das Programm umfasst installative, per-formative sowie diskursive Arbeiten von mehr als vierzig lokalen und internatio-nalen Künstler*innen, verteilt auf über zwanzig Veranstaltungsorte. Als Par-cours konzipiert, erstreckt es sich über die ganze Stadt. Beinahe alle Produktio-nen sind neu in Auftrag gegeben und entstehen speziell für die diesjährige Edition und Graz.

Wir freuen uns auf Ihren/Deinen Besuch!

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Verein JUKUS

JUKUS – Verein zur Förderung von Ju-gend, Kultur und Sport leistet Beiträge zur inter- und sozio kulturellen Arbeit in Graz und der Steiermark, um Möglich-keiten zur verstärkten gesellschaftlichen Partizipation zu schaffen und den Aus-tausch zwischen Menschen, die sich ver-schiedenen sozialen, jugendkulturellen Gruppen zugehörig fühlen, zu fördern.Weiters ist JUKUS aktiv bei der Förderung von Gleichbehandlung und -stellung und unterstützt daher gezielt Mädchen und junge Frauen. Die Aktivitäten des Vereins basieren auf diversitätssensiblen, inter-sektionalen und interkulturellen Grund-sätzen, insbesondere solchen, die Diskri-minierung, Rassismus, Antisemitismus und andere menschenfeindliche Haltun-gen verringern und vermeiden helfen.Sport sowie Kunst und Kultur werden als Themen- und Betätigungsfelder he-rangezogen, um Vorurteilen, Rassismus und Diskriminierung entgegenzuwirken und das Zusammenleben der Menschen in Graz, der Steiermark und Österreich zu fördern. JUKUS organisiert eine Vielzahl von Ver-anstaltungen im kulturellen und freizeit-pädagogischen Bereich.

HERAUSGEBER*INNEN / IMPRESSUM

NâZIM HIKMET

steirischerherbst festival gmbhSackstraße 17, 8010 Graz, Austriawww.steirischerherbst.at

Verein JUKUSAnnenstraße 39, 8020 Graz, Austriawww.jukus.at

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Herausgeber*innen: Övül Ö. Durmuşoğlu, Katalin Erdödi, Elke Murlasits, Ali ÖzbaşMit Beiträgen von Erhan Altan, Edita Causevic, Ayşe Çavdar, Cem Dinlenmiş, Lisa Freidl, Mohamed Haneen, Nâzım Hikmet, Zehra Ipşiroğlu, Anton Jäger, Erich Klein, Martina Reithofer, Kerem Öktem, Esra Özmen, Michiel VandeveldeKoordination Übersetzung und Lektorat: Ali Özbaş, Antonia RahoferGestaltung: Andreas BrandstätterDruckkoordination: MANINPRINTAuflage: 500

... und sagte dann: „Meister,ich habe noch eine Frage.Liegen diese Schienenum die ganze Welt?“

„Ja, um die ganze Welt.“„Also, wenn es jetzt keinen Krieg gäbe,und nicht nur der Krieg,auch wenn an den Grenzen keine Fragen gestellt würden,dann könnten wir doch mit der Lokomotive auf die Schienen gehenund von einem Ende der Welt bis zum anderen fahren.“„Aber sie muss halten, wenn sie ans Meer kommt.“„Dann kannst du auf ein Schiff gehen.“„Flugzeug ist besser.“

Ismail lachte.Einer von seinen vorderen Zähnen war abgebrochen.

„Ich darf nicht ins Flugzeug einsteigen, Meister.Es ist wider den letzten Willen meiner Mutter.“„Verlangte sie von dir, dass du nie fliegen sollst?“„Nee, sie sagte;

Tue niemandem was Böses, und wäre es nur einer Ameise.“

Alaeddin schlug mit seiner riesigen Handauf Ismails langen, bloßen Nacken:

„Du bist ja unmöglich, Menschenskind.Macht nichts, du Alter,trotzdem werden wir fliegen.Nicht um Menschen zu töten,sondern um am Himmel

das Leben zu genießen ...“