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Peter Winkler von Mohrenfels

Die familiären Beziehungen des Kindes im Lichte des Art. 8 EMRK

I. Einleitung Lieber Harald, liebe Gabriele, Spectabilis, meine Damen und Herren! Das Generalthema dieses Symposiums lautet: Nationale und internationale Perspektiven für ein soziales Privat- und Prozessrecht@. Nun ist der Begriff `sozial@ B von lat. sociabilis = gesellig, verträglich B ja durchaus interpreta-tionsfähig. Im engeren Sinne bezieht er sich auf das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft. Ohne Zweifel ist aber auch die Familie Teil der Gesellschaft, manche sprechen sogar von ihrer Keimzelle. So gese-hen fallen auch familiäre Beziehungen unter das Generalthema, und auch wenn mein Freund Harald Koch sich vorrangig mit anderen Gebieten als nun gerade dem Familienrecht befasst hat, so dürfte sein Interesse jedenfalls für den internationalen Bezug meines Themas, mit dem ich den Vortrags-reigen dieses zu seinen Ehren veranstalteten Symposiums abschließen darf, außer Frage stehen.

Art. 8 EMRK hat folgenden Wortlaut:

Artikel 8. Gebot der Achtung der Privatsphäre.

(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Famili-enlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgese-hen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ich möchte die Bedeutung dieser Vorschrift fallbezogen anhand der ein-schlägigen Entscheidungen des EuGHMR darstellen. Dabei habe ich erken-nen müssen, dass die Zahl der einschlägigen Entscheidungen zu groß ist,

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um sie auch nur annähernd alle hier darstellen zu können. Die familien-rechtlichen Fragen, die von Art. 8 EMRK beeinflusst werden, reichen von der Abstammung über die elterliche Sorge1 , das Umgangsrecht2 und die Inpflegenahme eines Kindes3 bis hin zum HKÜ-Verfahren4 und zu Auswei- 1 EuGHMR, Urt. v. 23.6.1993, 15/1992/360/434 (Ingrid Hoffmann ./. Öster-reich), EuGRZ 1996, 648 (Ablehnung des Sorgerechts wegen Zugehörigkeit der Mutter zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas); Urt. v. 26.2.2002, 46544/99 (Kutzner ./. Deutschland), FamRZ 2002, 1393 (Sorge-rechtsentzug und Umgangsrechtsbeschränkung wegen fehlender intellektu-eller Fähigkeiten der Eltern); Urt. v. 16.12.2003, FF 2005, 36 (Unzulässigkeit einer Sorgerechtsregelung wegen Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas); Urt. v. 8.4.2004, 11057/02 (Haase ./. Deutschland), FamRZ 2005, 585 (Unverhältnismäßigkeit eines Sorgerechtsentzugs wegen Kindeswohlgefährdung); Urt. v. 9.5.2006, 18249/02 (C. ./. Finnland), FamRZ 2006, 997 (Sorgerechtsübertragung ohne Anhörung der Beteiligten und eines psychologischen Sachverständigen); Urt. v. 21.9.2006, 12643/02 (Moser ./. Österreich), FamRZ 2006, 1817. 2 EuGHMR, Urt. v. 13.7.2000, 25735/94 (Elsholz ./. Deutschland) (unterblie-bene Anhörung des nichtehelichen Vaters im Umgangsrechtsverfahren vor dem LG, keine Einholung eines Sachverständigengutachtens); Urt. v. 11.10.2001, 31871/96 (Sommerfeld ./. Deutschland [1]) (keine Einholung eines Sachverständigengutachtens, diskriminierende Wirkung von ' 1711 Abs. 2 BGB a.F.); Urt, v. 26.2.2002 (Kutzner ./. Deutschland), s. Note ?; Urt. v. 8.7.2003, 31871/96 (Sommerfeld ./. Deutschland [2] (diskriminierende Wirkung von ' 1711 Abs. 2 BGB a.F.); Urt. v. 8.7.2003, 30943/96 (Asim Sahin ./. Deutschland) (diskriminierende Wirkung von ' 1711 Abs. 2 BGB a.F.); Urt. v. 26.2.2004 (Görgülü, s. Note ?); v. 8.4.2004, 11057/02 (Haase ./. Deutschland) (Inpflegenahme der Kinder - u.a. eines Neugeborenen aus der Entbindungsstation - und völlige Umgangsverweigerung); Urt. v. 10.11.2005, 40324/98 (Süssl ./. Deutschland (Aussetzung des Umgangs-rechts mit Tochter aus geschiedener Ehe, keine Verletzung des Art. 8 EMRK). 3 EuGHMR, Urt. v. 8.7.1987, 4/1986/107/150 (W ./. Vereinigtes Königreich) (keine hinreichende Beteiligung der leiblichen Eltern im Verfahren über Inobhutnahme und Umgangsrecht); Urt. v. 25.2.1988, 2/1987/125/176 (Ols-son ./.Schweden), EuGRZ 1988, 591 (Art und Weise der Durchführung ei-ner Inobhutnahme); Urt. v. 27.4.2000, 25702/94 (K und L ./. Finnland), FamRZ 2000, 1353 (Inpflegenahme eines Kindes gleich nach der Geburt wegen psychischer Instabilität der Mutter); Urt. v. 26.2.2002 (Kutzner, s. Note 1). 4 EuGHMR, Urt. v. 25.1.2000, 31679/96 (Ignaccolo-Zenide ./. Rumänien); dazu Andrea Schulz FamRZ 2001, 1420B1430.

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sungsfällen5. Es musste also ein Auswahl getroffen werden. Ausgewählt habe ich Entscheidungen zur Abstammungsfeststellung (Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung, Anfechtungsrecht des rechtlichen Va-ters), zur Stärkung der Stellung des biologischen Vaters und zur Adoption, jeweils aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Als Beispiel für die zahlrei-chen Entscheidungen zum Sorge- und Umgangsrecht habe ich dazu einen besonders spektakulären Fall aus Deutschland herausgesucht, der nicht nur den EuGH, sondern mehrfach das zuständige OLG und das BVerfG be-schäftigt hat, und bei dem es auch darum geht, ob und ggf. in welcher Wei-se die nationalen Gerichte an die Entscheidungen des EuGHMR gebunden sind. Sie haben vielleicht von ihm gehört: ich meine den Fall Görgülü. II. Die Bindungswirkung von EuGHMR-Urteilen: der Fall Görgülü (Deutschland)6 Kazim Görgülü lebt als türkischer Staatsangehöriger seit 1994 in Deutsch-land. Er ist Vater des am 25.8.1999 geborenen Sohnes Christopher. Von der Schwangerschaft der deutschen Kindesmutter hatte er im Mai 1999 erfah-ren. In der Folgezeit erkundigte er sich wöchentlich nach dem Befinden der Kindesmutter und des ungeborenen Kindes, konnte jedoch ab Juli 1999 keinen Kontakt mehr herstellen. Ohne sein Wissen gab die Kindesmutter das Kind noch am Tag der Geburt am 25.8.1999 zur Adoption frei. Schon vier Tage später gab das Jugendamt das Kind an ein adoptionswilliges Ehe-paar. Weg war es! Görgülü erfuhr von alledem erst im Oktober 1999. Im November 1999 wandte er sich an das Jugendamt, um das Kind selbst zu adoptieren. Da seine Vaterschaft zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht festgestellt war, er-hielt er dort keinerlei Auskunft. Es gelang ihm jedoch, die Kindesmutter 5 EuGHMR , Urt. v. 21.6.1988, 3/1987/126/177 (Berrehab ./. Niederlande) (Verhinderung der Ausübung des Umgangsrechts mit der Tochter durch Ausweisung eines geschiedenen marokkanischen Vaters); Urt. v. 11.7.2000, 29192/95 (Ciliz ./. Niederlande) (Verhinderung der Teilnahme am Umgangsverfahren durch vorherige Ausweisung des türkischen Vaters); Urt. v. 27.10.2005, 32231/02 (Keles ./. Deutschland) (Ausweisung eines mehrfach straffällig gewordenen Türken, der in Deutschland Ehefrau und 4 Kinder hatte, mit unbefristetem Wiedereinreiseverbot). 6 EuGHMR, Urt. v. 26.2.2004, 74969/01 (Görgülü ./. Deutschland), EuGRZ 2004, 700 = FamRZ 2004, 1456 = NJW 2004, 3397.

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dazu zu bewegen, am 30.11.1999 mit ihm zum Jugendamt zu gehen und zu bestätigen, dass er der Vater des Kindes sei. Daraufhin erhielt er eine Ge-burtsurkunde seines Sohnes. Am 10.1.2000 beantragte er beim AG Wittenberg B FamG B die Übertra-gung der elterlichen Sorge für Christopher. Bis Dezember 2000 kam es auf Anregung des Gerichts zu vier Umgangskontakten mit seinem Sohn in An-wesenheit der Pflegeltern. Danach fanden keine Kontakte mehr statt. Auf seine Vaterschaftsfeststellungsklage hatte das FamG, nachdem es ein Abstammungsgutachten eingeholt hatte, zwischenzeitlich mit Urteil vom 2.5.2000 seine Vaterschaft festgestellt. Am 11.1.2001 beantragte Görgülü beim FamG die Regelung des Umgangs mit seinem Sohn. Am 8.2.2001 erließ das Gericht eine vorläufige Umgangs-regelung. Auf die Beschwerde des Amtsvormunds setzte das OLG Naum-burg indes schon 8 Tage später, am 16.2.2001, die Vollziehung dieser vor-läufigen Anordnung bis zur Entscheidung über die Beschwerde aus, am 10.4.2001 hob es sie endgültig auf. Görgülü durfte Christopher einmal mo-natlich für zwei Stunden in Gegenwart der Pflegeeltern und einer dritten Person sehen. Inzwischen war am 19.1.2001 beim AG B VormG B der Antrag der Pflege-eltern auf Adoption des Kindes eingegangen. Das Jugendamt als Amtsvor-mund hatte dazu seine Zustimmung erteilt. Görgülü verweigerte natürlich seine Zustimmung, sie wurde deshalb durch Beschluss des VormG vom 28.12.2001 ersetzt. Seine Beschwerde hiergegen wurde am 30.10.2002 vom LG Dessau verworfen, das OLG Naumburg hob diese Entscheidung jedoch am 24.07.2003 auf und setzte das Adoptionsverfahren bis zur Entscheidung im inzwischen eingeleiteten Verfahren vor dem EuGHMR aus. Zurück zum Sorgerechtsverfahren: Mit Beschluss vom 9.3.2001 übertrug das FamG Herrn Görgülü gemäß ' 1672 Abs. 1 BGB die alleinige elterliche Sorge für Christopher, nachdem es Stellungnahmen der Verfahrenspflegerin und der übrigen Beteiligten sowie die psychologische Stellungnahme einer Dipl.-Pädagogin des Landesjugendamts eingeholt hatte. Das Kind habe beim Treffen mit seinem Vater keinerlei Abwehrreaktionen gezeigt, der Vater sei bestens in der Lage, dem Kind ein Zuhause und eine Familie zu bieten. Solche Kontakte hätten schon viel früher stattfinden können, wenn die zuständigen Behörden nicht starr am Adoptionsverfahren festgehalten und damit jeden Kontakt zwischen Vater und Kind verhindert hätten. Im

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Falle eines Verbleibs des Kindes bei den Pflegeeltern bestehe das Risiko eines Identitätskonflikts, der eine größere Gefahr für das Kindeswohl dar-stelle als die Trennung des Kindes von der Pflegefamilie nach voraussicht-lich insgesamt zwei Jahren. Auf die Beschwerde des Amtsvormunds setzte das OLG Naumburg mit Beschluss vom 27.4.2001 die Vollziehung der Sorgerechtsentscheidung vom 9.3.2001 bis zur Entscheidung über die Beschwerde aus. Mit Be-schluss vom 20.6.2001 hob es dann, wie zu erwarten war, die Sorgerechts-entscheidung auf und schloss darüber hinaus den Umgang des Vaters mit seinem Sohn bis zum 30.6.2002 (also für ein ganzes Jahr!) aus. Die Über-tragung der elterlichen Sorge auf den Vater diene nicht dem Wohl des Kin-des. Das OLG stützte sich dabei auf die psychologische Stellungnahme des Landes-JA, eine kinderärztliche Bescheinigung, einen Bericht der Verfah-renspflegerin über die Befindlichkeit des Kindes und die Wohnverhältnisse des Vaters und der Pflegeeltern sowie auf seine eigene Sachkunde und Le-benserfahrung (!). Das Kind habe bereits eine tiefe soziale und emotionale Bindung zu seiner Pflegefamilie aufgebaut. Es habe bereits ein Jahr und zehn Monate bei den Pflegeeltern gelebt, das sei für ein Kind in eben die-sem Alter ein unendlicher Zeitraum. Die Einholung eines weiteren Sachver-ständigengutachtens hielt das OLG für nicht erforderlich, etwaige verblei-bende Zweifel gingen zu Lasten des Kindesvaters. Was tun? Herrn Görgülü blieb noch die Verfassungsbeschwerde. Deren Annahme wurde aber am 31.7.2001 von einer dreiköpfigen Kammer des BVerfG abgelehnt. Damit waren die im deutschen Recht vorgesehen Rechtsmittel ausge-schöpft. Herr Görgülü hätte die Beziehungen zu seinem Sohn vergessen können, wenn, ja wenn da nicht noch die EMRK und der EuGHMR gewe-sen wären. Am 18.9.2001 legte Görgülü beim EuGHMR wegen Versagung des Sorge- und Umgangsrechts Menschenrechtsbeschwerde ein, gestützt auf die Ver-letzung des in Art. 8 EMRK niedergelegten Anspruchs auf Achtung seines Familienlebens. Parallel dazu beantragte er erneut beim FamG die Übertra-gung der elterlichen Sorge und die Gewährung von Umgang. Mit Urteil vom 26.2.2004 B knapp anderthalb Jahre nach Einlegung der Beschwerde B entschied der EuGHMR einstimmig (!), dass Herr Görgülü durch die Verweigerung des Sorge- und Umgangsrechts in seinem Recht aus Art. 8 EMRK verletzt worden sei. Ein Verstoß gegen das verfahrens-

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rechtliche Fairnessgebot in Art. 6 EMRK wurde verneint. Der Gerichtshof verurteilte die BRD zur Zahlung von 15.000 EUR für den immateriellen Schaden sowie 1.500 EUR für Kosten und Auslagen des Beschwerde-führers. Zur Begründung führte er u.a. aus, dass es dem Kindeswohl ent-spreche, die familiären Beziehungen aufrechtzuerhalten, da der Abbruch solcher Beziehungen die Trennung des Kindes von seinen Wurzeln bedeute, was nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen gerechtfertigt sei, die hier nicht vorlägen. Der Ausschluss des Umgangsrechts für ein Jahr sei nicht verhältnismäßig. Daraufhin übertrug das FamG Herrn Görgülü mit Beschluss vom 19.03.2004 die elterliche Sorge für das Kind und räumte ihm bis zum rechtskräftigen Abschluss des Sorgerechtsverfahrens ein einstweiliges wö-chentliches Umgangsrecht ein. War Görgülü nun endlich am Ziel? Leider nein, meine Damen und Herren, denn er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit und der Hybris des OLG Naum-burg gerechnet. Mit Beschlüssen vom 30.06.20047 und 09.07.20048 hob das OLG die vorläufige Umgangsrechtsgewährung und die Sorgerechtsübertra-gung vom 19.3.2004 auf und lehnte den Antrag auf Übertragung der elterli-chen Sorge ab. Das zugunsten des Kindesvaters ergangene Urteil des EuGHMR binde unmittelbar nur die Bundesrepublik Deutschland, nicht aber deren Organe und Behörden und namentlich nicht die Gerichte als nach Art. 97 Abs. 1 GG unabhängige Organe der Rechtsprechung. Letztere unterlägen lediglich der innerstaatlichen Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG sowie der immanenten Kontrolle des BVerfG. Meine Damen und Herren, ich hatte soeben von der Hybris des OLG Naumburg gesprochen. Dieses Gericht begnügt sich nicht damit, die Urteile des EuGHMR für nicht bindend zu erachten, nein: es maßt sich an, sie in-haltlich zu zensieren und dem EuGHMR ̀ ideologisch vorbesetzte Interpre-tation des Art 8 EMRK@ vorzuwerfen. In langen, geschwollenen Sätzen, die bis zu 18 Zeilen und 139 Wörter umfassen, lassen die Naumburger Richter ihrem Frust über das Urteil des EuGHMR und ihrer verletzten Eitelkeit freien Lauf. Eine Blamage für die sachsen-anhaltinische Rechtsprechung!

7 OLG Naumburg v. 30.6.2004, 14 WF 64/04, EuGRZ 2004, 749 = FamRZ 2004, 1510. 8 OLG Naumburg v. 9.7.20004, 14 WF 60/04, FamRZ 2004, 1507.

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Der Fall war damit aber noch nicht am Ende: habemus judices in Karlsruhe! Görgülü legte wegen Verletzung von Art 6 GG iVm. dem Rechtsstaatsprin-zip Verfassungsbeschwerde ein und hatte dieses Mal Erfolg: mit dem viel-beachteten und in zahlreichen Aufsätzen und Rezensionen besprochenen Görgülü-Beschluss vom 14.10.20049 stellte der 2. Senat des BVerfG klar, dass zur Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) auch die Be-rücksichtigung der Entscheidungen des EuGHMR im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung gehöre. Die Entscheidungen des EuGHMR seien gemäß Art. 46 EMRK für die am Verfahren beteiligten Parteien ver-bindlich und hätten damit begrenzte Rechtskraftwirkung.10 Das OLG habe die Entscheidung des EuGHMR nicht in ausreichendem Maße gewürdigt. Das BVerfG hob den Umgangsrechtsbeschluss des OLG Naumburg vom 30.06.2004 auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung durch einen anderen Zivilsenat an das OLG Naumburg zurück. Mit Be-schluss vom 05.04.200511 verfuhr es in gleicher Weise mit dem Sorge-rechtsbeschluss des OLG vom 9.7.2004. Nunmehr befasste sich der 8. ZS des OLG Naumburg mit der Sache und stellte fest, dass die Beschwerde gegen die vom FamG erlassene e.A. nicht zulässig sei. Daraufhin nahmen das Jugendamt und die Verfahrenspflegerin ihre Beschwerden zurück. Auf Antrag von Herrn Görgülü regelte das FamG am 02.12.2004 erneut den Umgang mit dem Kind: jeden Sonnabend von 15:00 bis 17:00 Uhr durfte Görgülü sein Kind sehen. Auch dieser Beschluss wurde indes mit Beschluss v. 08.12.2004 vom OLG Naumburg durch den nunmehr wieder zuständigen 14. ZS wiederum aufgehoben. Mit Beschluss vom 20.12.200412 setzte das OLG Naumburg den Umgang zwischen Görgülü und seinem Sohn bis zur Entscheidung über das Haupt-verfahren zum Umgangsrecht aus. Schon acht Tage später gab es dafür die nächste Ohrfeige vom BVerfG: dieses setzte mit Beschluss vom 28.12.200413 auf Antrag von Görgülü im Wege der e.A. die Vollziehung

9 BVerfG v. 14.10.2004, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 = NJW 2004, 3404 = FamRZ 2004, 1857 10 BVerfG 111, 307 aaO zu I 2. a) der Gründe. 11 BVerfG v. 5.4.2005, 1 BvR 1664/04, FamRZ 2005, 783 = NJW 2005, 1765. 12 OLG Naumburg v. 20.12.2004, 14 WF 234/04. 13 BVerfG v. 28.12.2004, 1 BvR 2790/04,EuGRZ 2004, 809 = FamRZ 2005, 173.

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des OLG-Beschlusses bis zur Entscheidung über die von Görgülü erhobene Verfassungsbeschwerde aus. In den Gründen heißt es u.a.: `Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt u.a. dann vor, wenn sich eine Entscheidung des Gerichts bei Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsnorm so weit von dem sie beherrschenden verfassungs-rechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, das sie nicht mehr zu rechtfertigen, also willkürlich ist.@ Wenn das keine Ohrfeige ist... Die gegen die Entscheidung eingelegten Widersprüche des Amtsvormunds, der Pflegeeltern und der Verfahrenspfle-gerin des Kindes wurden mit Nichtannahmebeschluss vom 01.02.200514 verworfen. Am 10.06.2005 entschied das BVerfG endgültig über die eingelegte Verfas-sungsbeschwerde, mit dem Ergebnis B Sie ahnen es B, dass der OLG-Beschluss v. 20.12.2004 als verfassungswidrig aufgehoben wurde. Die Be-gründung hinsichtlich des Verstoßes gegen die EMRK ist an Klarheit nicht mehr zu überbieten: `Anstatt auf die Anordnung und Realisierung eines Umgangsrechts hinzu-wirken, hat das OLG außerhalb seiner Zuständigkeit unter Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 Abs. 3 GG) ein bereits (vom Amtsgericht) angeordnetes Umgangsrecht unterbunden und damit, ohne zur Entscheidung berufen zu sein, einen konventionsgemäßen Zustand aufge-hoben.@ War=s das? Noch nicht ganz! Am 15.12.2006 erließ der nunmehr zuständige 8. ZS des OLG Naumburg einen ausführlich und überzeugend begründeten Beschluss, worin Herrn Görgülü alle 14 Tage samstags von 11:00 bis 18:00 Uhr, ab 3./4. März 2007 bis sonntags 15:00 Uhr sowie für die 1. Hälfte der Schulferien ein Umgangsrecht eingeräumt wurde. Den Antrag auf Übertra-gung der elterliche Sorge lehnte der 8. Senat als zur Zeit unbegründet ab. Die gegen die seines Erachtens zu schwache Umgangsregelung gerichtete Verfassungsbeschwerde Görgülüs wurde mit Nichtannahmebeschluss vom

14 BVerfG v. 1.2.2005, 1 BvR 2790/04, EuGRZ 2005, 186 = FamRZ 2005, 429.

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09.02.200715 ebenso verworfen wie die Verfassungsbeschwerde der Verfah-renspflegerin.16 Den vorläufigen (?) Schlusspunkt in diesem bemerkenswerten Verfahren setzte der BGH mit seinem Beschluss vom 26.09.200717, mit dem er Görgü-lüs Rechtsbeschwerde gegen die Abweisung seines Antrags auf Übertra-gung der elterlichen Sorge zurückwies. Immerhin, am Ende hat sich das in Art. 8 EMRK verbriefte Recht auf Fami-lie durchgesetzt, wenn auch erst nach einem acht Jahre dauernden Kampf an mehreren Fronten, bei dem die Hartnäckigkeit eines nichtehelichen Vaters und die tatkräftige Hilfe des EuGHMR und des BVerfG am Ende die Igno-ranz und Hybris eines amoklaufenden sächsisch-anhaltinischen Oberlan-desgerichts zähmen konnten. III. Anonyme Geburt: der Fall Odièvre (Frankreich)18 Zu dem Recht auf Identität gehört nach std. Rspr. das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Dieses Recht bildet einen integrierenden Be-standteil des Rechts auf Schutz des Privatlebens iSv. Art. 8 EMRK.19 Steht dies der Zulässigkeit einer anonymen Geburt entgegen? Es geht hier um den Konflikt zwischen dem Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung und dem aus ihrem Persönlichkeitsrecht folgenden Recht der Mutter, ano-nym zu bleiben. In dem 2003 entschiedenen Fall Odièvre ging es um die Menschenrechts-beschwerde der 1965 von ihrer Mutter anonym zur Welt gebrachten Fran-zösin Odièvre. Die Mutter hatte damals ein Formular unterzeichnet, in dem sie auf ihre Rechte an dem Kind verzichtete; das Kind war daraufhin in staatliche Obhut genommen und später von einem Ehepaar adoptiert wor-den. 1990 erhielt Odièvre von der Behörde allgemeine Auskünfte über ihre

15 BVerfG v. 9.2.2007, 1 BvR 125/07, EuGRZ 2007, 238 = FamRZ 2007, 235. 16 BVerfG v. 9.2.2007, 1 BvR 217/07, EuGRZ 2007, 238 = FamRZ 2007, 531. 17 BGH v. 26.9.2007, XII ZB 229/06, FamRZ 2007, 1969 m. Anm. Gisela Zenz ebd. 2060 = NJW 2008, 223. 18 EuGHMR, Urt. v. 13.2.2003, 42326/98 (Odièvre ./. Frankreich), FamRZ 2003, 1367 m. Anm. Henrich. 19 EuGHMR v. 13.7.2006, 58757/00 (Jäggi ./. Schweiz), FamRZ 2006, 1354, Rn. 28.

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natürliche Familie, u.a. erfuhr sie, dass sie drei Brüder habe. Die Identität der Familie gab die Behörde aber nicht preis. Frankreich hatte im Jahre 2002 ein Gesetz über den Zugang zu den Her-kunftsdaten adoptierter und unter staatlicher Vormundschaft stehender Per-sonen erlassen.20 Der Artikel L. 222-6 des Code de l=action sociale et des familles (etwa: Familien- und Sozialgesetzbuch) wurde um einen neuen Absatz 1 ergänzt, der u.a. vorsieht, dass eine Mutter, die bei der Geburt ihres Kindes anonym bleiben möchte, über die rechtlichen Konsequenzen dieser Entscheidung aufgeklärt und aufgefordert (`invitée@) wird, auf frei-williger Basis Informationen über ihre und des Kindesvaters Gesundheit, die Herkunft des Kindes und die Umstände seiner Geburt und, in verschlos-senem Umschlag, über ihre Identität zu hinterlegen. Sie wird darüber in-formiert, dass es allein in ihrer Entscheidung liegt, ob und wann dem Kind ihre Identität bekanntgegeben wird. Vor diesem Hintergrund entschied der EuGHMR, dass die Zulässigkeit der anonymen Geburt nicht generell verweigert werden könne, sondern dass eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Rechten der Mutter und des Kindes stattzufinden habe. Frankreich habe mit dem neuen Gesetz eine ausgewogene, den widerstreitenden Interessen angemessen Rechnung tra-gende Regelung gefunden. Unter diesen Umständen verstoße die Zulassung der anonymen Geburt nicht gegen Art. 8 EMRK. Im deutschen Recht wird das Problem diskutiert, seit es sog. ̀ Babyklappen@ gibt.21 Der Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der anonymen Geburt vom 6.6.200222 sieht die Einfügung eines ' 26a in das PStG vor. Nach Abs. 4 dieses Paragraphen soll die Mutter die Vornamen des Kindes bestimmen können, nach Abs. 6 soll sie dem Kind in einem der Geburtsanzeige beizu-fügenden verschlossenen Umschlag Mitteilung über ihre Identität machen oder ihm eine sonstige Nachricht hinterlassen können. Dies ähnelt der fran-zösischen Regelung, die im Entwurf aber nicht erwähnt wird.

20 G. Nr. 2002-93 vom 22.1.2002 über den Zugang zu den Herkunftsdaten adoptier-ter und unter staatlicher Vormundschaft stehender Personen (`Loi relative à l=accès aux origines des personnes adoptées et pupilles de l=État@). 21 Vgl. dazu Katzenmeier, Rechtsfragen der `Babyklappe@ und der medizinisch assistierten `anonymen Geburt@, FamRZ 2005, 1134B1139. 22 BR-Ds. 506/02.

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Der Entwurf wurde 2004 vom BR auf seiner 777. Sitzung am 21.06.2002 an die Ausschüsse verwiesen. Auf der 803. Ausschusssitzung am 24.09.2004 wurde er von der TO abgesetzt, seitdem gibt=s keinerlei Infor-mationen mehr. Die Frage ist offensichtlich nicht dringlich.23 IV. Stärkung der Rechte des biologischen Vaters: der Fall Kroon (Nie-derlande)24 Wird ein Kind ein einer Ehe geboren, so hat es rechtlich den Ehemann der Mutter zum Vater. Tatsächlich kann aber ein anderer Mann in Wahrheit der biologische Vater sein. Mit der Frage, ob und wie dieser eine Feststellung seiner Vaterschaft erreichen kann, hatte sich der EuGHMR im Fall Kroon zu befassen. Ort des Geschehens sind diesmal die Niederlande. Die niederländische Staatsbürgerin Kroon heiratete 1979 Herrn M., trennt sich aber von diesem bereits 1980 wieder und verlor den Kontakt zu ihm. Sie nahm nunmehr eine dauerhafte Beziehung zu Herrn Z. auf, ohne indes mit diesem zusammen-zuleben. Gleichwohl gingen aus der Verbindung der im Oktober 1987 ge-borene S. sowie drei weitere Kinder hervor. Im Juli 1988 wurde die Ehe zwischen Frau Kroon und ihrem Ehemann, der seit 1986 unbekannten Auf-enthalts war, geschieden. Nunmehr wollte Herr Z. die Vaterschaft über sein Kind S. feststellen lassen. Entsprechende Versuche wurden indes vom Standesbeamten zurückgewie-sen, weil nach niederländischem Recht die Anerkennung eines während bestehender Ehe geborenen Kindes durch einen anderen Mann ausgeschlos-sen war, solange der Ehemann seine Vaterschaft nicht gerichtlich angefoch-ten hatte. Dies folgte aus Art. 1:199 BW in der 1987 geltenden Fassung25,

23 Vgl. dazu die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeor-denten Ina Lenke u.a. und der Fraktion der FDP, BT-Drucks. 16/7220 vom 16.11.2007, S. 18. Dort wird auf S. 14 f. auch über die französische Regelung berichtet. Siehe ferner die Antwort des Palamentarischen Staatssekretärs Dr. Her-mann Kues auf die schriftliche Anfrage der Abgeordeneten Ina Lenke, BT-Drucks. 16/11351 vom 12.12.2008, S. 38. 24 EuGHMR, Urt. v. 27.10.1994, 29/1993/424/503 (Kroon u.a. ./. Niederlande), FamRZ 2003, 813. 25 Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Länderteil Niederlande, Stand: 88. Lieferung - abgeschlossen am 30.11.1986, S. 68.

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der nur für den Ehemann die Möglichkeit der Anfechtungsklage vorsah. Die Ehefrau konnte nur für nach der Ehe außerhalb der Empfängniszeit geborene Kinder die Ehelichkeit bestreiten, Art. 1:198 BW aF. Diese Vor-schriften galten insoweit unverändert bis zur Reform des Abstammungs-rechts durch das G. v. 24.12.1997, welches den gesamten 11. Titel des ers-ten Buches26 mit Wirkung ab 1.4.1998 durch die neuen Art. 197 B 212 er-setzte.27 Nun war guter Rat teuer. Aber da war ja noch Art. 8 EMRK! Am 15.5.1991 erhoben Frau Kroon, ihr Sohn S. und dessen biologischer Vater Z. Men-schenrechtsbeschwerde. Der Gerichtshof erinnert in seiner Entscheidung vom 27.10.1994 zunächst daran, dass nach seiner Rechtsprechung der Begriff des ̀ Familienlebens@ in Art. 8 EMRK nicht auf Beziehungen beschränkt sei, die auf einer Ehe beru-hen, sondern auch de facto ̀ family ties@ B das ist Englisch, das würde Herrn Strothotte gefallen! B umfassen könne, wenn die Beteiligten unverheiratet zusammenleben.28 Auch ohne Zusammenleben könnten ausnahmsweise andere Umstände anzeigen, dass eine Beziehung ausreichend beständig sei, um tatsächliche `Familien-Bande@ zu begründen. Dies sei hier der Fall, da seit 1987 vier Kinder aus der Beziehung hervorgegangen seien. Bejaht man aber hier tatsächliche Familien-Bande und ein Familienleben, so muss auch dieses eher schwache Familienleben gemäß Art. 8 EMRK vom Staat geachtet werden. Dies bedeutet, dass das Familienrecht eine Möglichkeit vorsehen muss, die Vaterschaft des biologischen Kindesvaters auch ohne vorherige Vaterschaftsanfechtung durch den Ehemann der Mut-ter festzustellen. Folgerichtig stellte der Gerichtshof mit 7:2 Stimmen eine Verletzung des Art. 8 EMRK durch die Niederlande fest. Der niederländische Gesetzgeber reagierte, indem er das Anfechtungsrecht durch das bereits erwähnte Abstammungsreformgesetz v. 24.12.1997 mit Wirkung ab 1.4.1998 dahin gehend neu regelte, dass die Vaterschaft des 26 Art. 197B226 aF. BW 27 Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Länderteil Niederlande, Stand: 144. Lieferung , S. 101 Fn. 220. 28 EuGHMR v. 18.12.1986 (Johnston ./. Irland); Urt. v. 26.5.2994, 16/1993/411/490, FamRZ 1995, 110.

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Ehemannes der Mutter nunmehr nicht mehr nur durch den Ehemann, son-dern auch durch die Mutter des Kindes sowie durch das Kind selbst ange-fochten werden kann, Art. 1:200 BW. Diese Neufassung des Art. 1:200 BW gilt inhaltlich auch noch heute. Der biologische Vater hat zwar nach wie vor kein im Gesetz normiertes Anfechtungsrecht. Der EuGMR hatte die fehlen-de Achtung des Privat- und Familienlebens aber darin gesehen, dass es nur dem Ehemann möglich war, seine Vaterschaft anzufechten. Dieser Vorwurf ist jetzt beseitigt. Das deutsche Recht sah ursprünglich ebenfalls nur ein Anfechtungsrecht des Ehemannes vor. ' 1593 BGB a.F. Das FamRÄndG 1961 führte mit Wirkung ab 1.1.1962 ein eingeschränktes Anfechtungsrecht des Kindes ein, '' 1596B1598 BGB a.F. Durch das KindRG 1997 kam mit Wirkung ab 1.7.1998 das Anfechtungsrecht der Mutter hinzu, die Beschränkungen für das Anfechtungsrecht des Kindes wurden aufgehoben. Damit war das deut-sche Recht in Übereinstimmung mit der Kroon-Entscheidung, ein Anfech-tungsrecht des biologischen Vaters gab es indes nicht: der Schutz der Fami-lie gemäß Art. 6 Abs. 1GG wurde gegenüber der Feststellung der biologi-schen Abstammung als vorrangig erachtet. Die jüngere Entwicklung in Deutschland ging aber darüber hinaus. Mit Beschluss vom 9.4.2003 stellte das BVerfG fest, dass ' 1600 Abs. 2 Satz 1 BGB mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG insoweit unvereinbar war, als er dem biolo-gischen Vater auch dann das Recht auf Anfechtung der rechtlichen Vater-schaft vorenthielt, wenn die rechtlichen Eltern gar keine soziale Familie bildeten, die es nach Art. 6 Abs. 1 GG zu schützen galt. Der Bundesgesetzgeber reagierte mit dem Gesetz zur Änderung der Vor-schriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes etc. vom 23.4.2004.29 ' 1600 BGB wurde um die jetzigen Absätze 2 und 4 erweitert:30 die Anfechtung durch den biologi-schen Vater ist danach nur noch dann ausgeschlossen, wenn zwischen dem Ehemann und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht. Ziel des Gesetzes war die Anpassung der Rechtslage an die Entscheidung des

29 BGBl. 2004 I S. 598. 30 Durch das Gesetz zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft vom 31.3.2008 (BGBl I S. 313) wurde der vorherige Abs.3 mit leicht abgeändertem Inhalt zum jetzigen Abs. 4.

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BVerfG, für die dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 30.4.2004 gesetzt wor-den war. In der Gesetzesbegründung wird aber u.a. auch die Kroon-Entscheidung des EuGHMR erwähnt.31 So hat sie für die deutsche Rechts-entwicklung jedenfalls am Rande doch eine gewisse Rolle gespielt, wenn-gleich der Hauptkatalysator Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG war. V. Adoption 1. Fehlende Zustimmung des nichtehelichen Vaters zur Adoption des Kin-des: der Fall Keegan (Irland)32 Zur Adoption eines Kindes ist regelmäßig die Zustimmung beider Eltern erforderlich. Problematisch wird es, wenn der Vater zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht, womöglich von der Geburt überhaupt keine Kenntnis hat. Nach deutschem Recht gilt für die Zustimmung zur Adoption derjenige als Vater, der glaubhaft macht, dass er der Mutter während der Empfäng-niszeit beigewohnt hat (' 1747 Abs. 1 S. 2 iVm. ' 1600d Iabs. 2 S. 1 BGB). Wer indes von der Geburt nichts weiß, kann auch nichts glaubhaft machen. Wenn die Mutter schweigt, so hat das Vormundschaftsgericht nicht etwa von Amts wegen zu ermitteln, ob es einen Mann gibt, der als möglicher Vater in Betracht kommt.33 Dies wäre mit dem Persönlichkeitsrecht der Mutter nicht vereinbar. Ob das Kind später einen Anspruch gegen die leib-liche Mutter B sofern es deren Identität kennt B auf Auskunft über seinen leiblichen Vater hat, hängt von einer Abwägung der beiderseitigen Grund-rechte ab und sei hier dahingestellt.34 Für den leiblichen Vater wäre dies in jedem Fall zu spät, die Adoption ist dann längst gelaufen. Die Mutter kann also, wie der Fall Görgülü gezeigt hat, die Rechte des Va-ters ziemlich leicht aushebeln; gleichwohl wird man, wenn niemand die Vaterschaft für das Kind reklamiert, in der Adoption keinen Verstoß gegen seine Rechte aus Art. 8 EMRK sehen können. Anders aber, wenn es jeman-

31 BT-Ds. 15/2253 S. 8. 32 EuGHMR, Urt. v. 26.5.1994, 16/1993/411/490 (Keegan ./. Irland), EuGRZ 1995, 113 = FamRZ 1995, 110 = NJW 1995, 2153. 33 MünchKommm/Maurer4 ' 1747 BGB Rn. 4. 34 Vgl dazu Ralph Weber, Der Auskunftsanspruch des Kindes und/oder des Schein-vaters auf namentliche Benennung des leiblichen Vaters gegen die Kindesmutter, FamRZ 1996, 1254B1262.

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den gibt, der sich zu seiner Vaterschaft bekennt. Manche Kindesmutter versucht, die Adoption mit Hilfe der vorgesehenen Adoptiveltern und der Behörden ohne Rücksicht auf die Rechte des Kindesvaters durchzusetzen. Über einen solchen Fall hatte der EuGHMR im Fall Keegan zu entscheiden. Keegan war irischer Staatsangehöriger. Er hatte im Mai 1986 seine Freun-din und spätere Lebensgefährtin V kennengelernt. Beide beschlossen, sich ein gemeinsames Kind zuzulegen. Am 14.2.1988 feierten sie Verlobung, wenige Tage später stellte sich heraus, dass V schwanger war. Kurz darauf zerbrach die Beziehung jedoch, beide trennten sich voneinander. Am 29.9.1988 kam die gemeinsame Tochter S zur Welt. Keegan besuchte V am nächsten Tag im Krankenhaus und sah dabei auch sein Kind. Als er jedoch zwei Wochen später bei V=s Eltern vorsprach, wies man ihn ab, er durfte weder die V noch sein Kind sehen. V hatte bereits während der Schwanger-schaft Vorsorge getroffen, um ihre Tochter zur Adoption freizugeben. Am 17.11.1988 brachte sie das Kind dann auch zu den vorgesehenen Adoptivel-tern und informierte Keegan hiervon durch einen Brief. Nach damaligem deutschem Recht hätte der Vater in einem solchen Fall die Adoption verhindern können, indem er selbst die Adoption beantragte, ' 1747 Abs. 2 BGB idF. des AdoptionsG 1976. In Irland galt eine ver-gleichbare Regelung nicht. Keegan beantragte deshalb die Vormundschaft über das Kind, denn als Vormund würde er zum Kreis der Personen gehö-ren, ohne deren Zustimmung die Adoption nicht möglich wäre. Tatsächlich ernannte der Circuit Court ihn zum Vormund und übertrug ihm das Sorge-recht für S. Beschwerden der Kindesmutter und der vorgesehenen Adoptiv-eltern gegen diese Entscheidung wies der High Court im Juli 1989 zurück, holte aber auf Betreiben der Bf. dennoch eine Stellungnahme des Supreme Court ein. Dieser entschied am 1.12.1989, dass der High Court den Guardi-anship of Infants Act 1964 falsch ausgelegt habe: der Vater eines nichtehe-lichen Kindes sei mit einem verheirateten Vater nicht auf eine Stufe zu stel-len. Auszugehen sei vorrangig vom Kindeswohl, die Blutsverwandtschaft sei dabei nur eine von vielen Faktoren. Der Supreme Court wies den Fall zur erneuten Entscheidung an den High Court zurück, der daraufhin seine Entscheidung änderte und die Ernennung des Vaters zum Vormund abwies. Kurze Zeit später wurde die Adoption von S endgültig ausgesprochen. Wieder einmal blieb dem leiblichen Vater nur die Beschwerde zum EuGHMR. Dieser sah in der heimlichen, also ohne Wissen des leiblichen Vaters erfolgten Adoption einen Eingriff in das Recht des Beschwerdefüh-

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rers auf Achtung seines Familienlebens. Dieser Eingriff sei nicht gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. Zwar habe der High Court bei seiner Entscheidung die Belange der Beteiligten gerecht abgewogen. Das Haupt-problem liege aber darin, dass das irische Recht es erlaubt habe, das Kind kurz nach seiner Geburt ohne Wissen und Zustimmung des Vaters zur Adoption freizugeben. Hierfür ließen sich keine kindeswohlbezogenen Gründe anführen, deshalb liege ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK vor. Im Adoption and Children Act 200235 ist das Problem nunmehr beseitigt: nach sec. 47 dieses Gesetzes darf ein Adoptionsdekret nicht erlassen wer-den, wenn nicht die vorhandenen Elternteile zugestimmt haben oder ihre Zustimmung gemäß sec. 52 ersetzt worden ist. 2. `Quasi@-Stiefkindadoption: der Fall Emonet (Schweiz)36 Hinsichtlich der Adoptionsfolgen unterscheiden wir die Volladoption, wel-che das Verwandtschaftsverhältnis zu den leiblichen Verwandten erlöschen lässt, von der sog. schwachen Adoption, bei dem dieses Verhältnis in ge-wissem Umfang bestehen bleibt. Die Adoption Minderjähriger ist nach heutigem deutschem Recht Volladoption (' 1754 Abs. 1 BGB), die Adopti-on Volljähriger dagegen idR. eine schwache Adoption (' 1770 Abs. 2 BGB).37 In manchen Staaten hat man aber auch die Volljährigenadoption als Voll-adoption ausgestaltet. Ein Beispiel hierfür ist das schweizerische Recht. Nach Art. 267 Abs. 2 ZGB erlischt bei jeder Adoption mit Ausnahme der Stiefkindadoption (also der Adoption eines Kindes des Ehegatten) das bis-herige Kindschaftsverhältnis.

35 Deutscher Text bei Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kind-schaftsrecht, Länderteil Großbritannien, Stand: 1.3.2006, S. 70. 36 EuGHMR, Urt. v. 13.12.2007, 39051/03 (Emonet u.a. ./. Schweiz), FamRZ 2008, 377. 37 Letzteres war schon immer so. Das BGB machte ursprünglich keinen Unter-schied zwischen der Adoption Minderjähriger und Volljähriger, abgesehen davon, dass bei der Adoption Minderjähriger (unter 21 Jahren) die Eltern zustimmen muss-ten. Damals kannte man nur die schwache Adoption. Im Laufe der Entwicklung trat bei der Adoption der Fürsorgezweck in den Vordergrund; die Folge war, dass sich die Minderjährigenadoption zur Volladoption entwickelte; das Kind wurde also voll in die neue Familie eingegliedert.

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Im Fall Emonet hatte ein Schweizer Staatsbürger die volljährige Tochter seiner Lebensgefährtin adoptiert (Quasi-Stiefkindadoption). Die Folge war, dass nach Art. 267 Abs. 2 ZGB das Verwandtschaftsverhältnis der Adop-tierten zu ihrer Mutter erlosch. Versuche der Mutter, das Verhältnis wieder-herzustellen, blieben erfolglos. Ihr blieb nur noch die Beschwerde zum EuGHMR. Dieser stellt in seiner erst kürzlich im Februarheft 2008 der FamRZ ver-öffentlichten Entscheidung vom 13.12.2007 zunächst fest, dass der Ab-bruch der Mutter-Kind-Beziehung als Folge der Adoption einen Eingriff in das Recht der Mutter auf Achtung ihres Familienlebens darstellt. Dies er-scheint uns heute völlig selbstverständlich, gleichwohl ist daran zu erin-nern, dass die gleiche Folge auch nach ' 1371 BGB a.F. eintrat, wenn der Richter nach der Scheidung einem Ehegatten die alleinige elterliche Sorge zuweisen musste, und dass es immerhin bis zum 3.11.1983 gedauert hat, bis das BVerfG die Verfassungswidrigkeit dieser Regelung feststellte.38 Der Gerichtshof führt weiter aus, dass der Abbruch der Mutter-Kind-Beziehung nicht ̀ notwendig in einer demokratischen Gesellschaft@ sei, um ein legitimes Ziel zu erreichen. Das Argument der schweizerischen Regie-rung, die Regelung schaffe klare Verhältnisse und bewahre die adoptierte Person vor Interessenkonflikten, überzeugte den Gerichtshof nicht. In der Tat ist nicht einzusehen, wieso in einem Fall wie diesem, wo die leiblichen Eltern auch nach der Adoption noch zueinander in Beziehung stehen, das familiäre Band zur Kindesmutter abgeschnitten werden soll. Insbesondere ist nicht einzusehen, wo der entscheidende Unterschied zur Stiefkindadoption liegen soll: die Ehe reicht als Argument sicher nicht mehr aus. Die Schweizer werden nun wohl ihr Adoptionsrecht ändern müssen. Aber auch in Deutschland wird man darüber nachdenken müssen, ob es noch angemessen ist, dass die Adoption des minderjährigen Kindes des Lebens-partners (Quasi-Stiefkindadoption) die Rechtsbeziehung des Kindes zum bisherigen Elternteil erlöschen lässt. Jedenfalls dann, wenn zwischen den Beteiligten eine sozial-familiäre Beziehung besteht, folgt m.E. aus der

38 BVerfG, Urt. v. 3.11.1982, BVerfGE 61, 358 = NJW 1983, 101 = FamRZ 1982, 1179.

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Emonet-Entscheidung, dass ebenso wie im Falle des ' 1754 Abs. 1 BGB ein gemeinschaftliches Kindschaftsverhältnis entstehen muss.39 3. Nichtanerkennung einer ausländischen Volladoption: der Fall Wagner (Luxemburg)40 Auch im internationalen Privatrecht ist Art. 8 EMRK zu beachten. In der Wagner-Entscheidung vom 28.6.2007 ging es um die Anerkennung einer peruanischen Adoption in Luxemburg. Das Problem war, dass die Adoptie-rende eine unverheiratete luxemburgische Staatsangehörige war. Nach lu-xemburgischem Recht ist eine Volladoption nur gemeinschaftlich durch Ehegatten (Art. 367 lux c.c.) oder durch einen Ehegatten zugunsten des Kindes des anderen Ehegatten (Stiefkindadoption, Art. 367-1 luc. C.c.) zulässig. Die luxemburgischen Behörden erkannten die Adoption nicht an, weil die Fähigkeit zu adoptieren nach luxemburgischem IPR (Art. 370 Abs. 2 c.c.) dem luxemburgischen Heimatrecht der Adoptierenden unterlag, welches unverheirateten Personen diese Fähigkeit nicht zubilligt. Die Klage der Adoptierenden hiergegen blieb in allen drei Instanzen erfolglos. Und wieder hieß die Devise: auf nach Straßburg! Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass ein Eingriff in das Recht der Adoptierenden auf Achtung des Familienlebens vorlag. Das ist hier nicht ganz unproblematisch, denn strenggenommen handelt es sich um einen Zirkelschluss: wurde nicht die familiäre Beziehung überhaupt erst durch die Adoption, deren Wirksamkeit hier in Frage stand, begründet? Aber erinnern wir uns daran, dass der Gerichtshof auch de-facto- Beziehungen ausreichen lässt, so löst sich der Zirkelschluss auf: durch die peruanische Adoption war jedenfalls eine tatsächliche familiäre Beziehung begründet worden, auch wenn sie in Luxemburg nicht anerkannt wurde, sich also als ein sog. `hin-kendes Rechtsverhältnis@ darstellte. Somit kam es darauf an, ob der Eingriff in diese familiäre Beziehung iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK legale Ziele verfolgte und `in einer demokratischen Gesellschaft notwendig@ war. Insoweit verweist der Gerichtshof zunächst

39 In diesem Sinne wohl auch Henrich in der Anm., FamRZ 2008, 379. 40 EuGHMR, Urt. v. 28.6.2007, 76240/01 (Wagner u.a. ./. Luxemburg), FamRZ 2007, 1529.

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darauf, dass in der Mehrzahl der 46 Mitgliedstaaten eine Adoption durch unverheiratete Paare ohne Begrenzung möglich sei. Die luxemburgischen Richter hätten deshalb, so meint der Gerichtshof, die de facto zwischen den Beteiligten entstandenen Familienbande vernünftigerweise anerkennen müssen. Diese Argumentation leuchtet B wie sagt man B nicht wirklich ein. Hätten die luxemburgischen Richter einen klaren Gesetzeswortlaut einfach so um-gehen dürfen?41 Näher hätte es wohl gelegen, einen Eingriff durch den lu-xemburgischen Gesetzgeber anzunehmen. Nun wird man den Luxembur-gern nicht vorwerfen können, dass sie die Volladoption durch unverheirate-te Personen nicht zulassen B das ist schließlich ebenso Ansichtssache wie die Frage, ob man gleichgeschlechtlichen Partnern die Adoption eines Kin-des gestattet. Hier geht es aber um etwas anderes, nämlich darum, ob eine ausländische Adoption anerkannt wird. Der Gerichtshof hat übersehen, dass hier keine Vertragsadoption, sondern eine sog. Dekretadoption vorlag, de-ren Anerkennung sich nach den Grundsätzen des internationalen Verfah-rensrechts gestaltet. Nach deutschem Recht steht es der Anerkennung einer ausländischen Adop-tionsentscheidung nicht entgegen, wenn das ausländische Gericht ein ande-res Recht angewendet hat als das, welches nach dem Recht des Anerken-nungsstaates anzuwenden gewesen wäre. Anders nach luxemburgischen Recht: dieses verlangt zwar nicht, dass das ausländische Gericht das nach luxemburgischen IPR maßgebliche Recht angewendet hat B das wäre wohl auch eine unerfüllbare Forderung B, wohl aber, dass das angewandte Recht den Prinzipien des maßgeblichen Rechts nicht widerspricht.42 Ein solcher Widerspruch war hier offensichtlich bejaht werden. Üblicherweise werden solche Abweichungen nur unter dem Ausnahmetatbestand des Verstoßes gegen den ordre public geprüft. Über diesen Prüfungsmaßstab ist das lu-xemburgische Recht deutlich hinausgegangen. Der Gerichtshof hätte den Verstoß gegen Art. 8 EMRK deshalb darin sehen müssen, dass die Anerkennung einer ausländischen Adoptionsentscheidung über die Prüfung eines ordre-public-Verstoßes hinaus von der Einhaltung der Prinzipien des nach eigenem IPR maßgeblichen Rechts abhängig ge-macht wird. Am Ergebnis würde sich dadurch zwar nichts ändern, es wäre

41 Kritisch in diesem Sinne auch Henrich in der Anm., FamRZ 2007, 1531. 42 Lux. 22 février 1961, 18, 326.

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nur der Eindruck vermieden worden, der Gerichtshof wolle hier ein mate-rielles Recht, welches ihm nicht gefällt, einfach außer Kraft setzen. Eine solche Begründung lüde, wie Henrich in der Anm. zutreffend bemerkt, zur Gesetzesumgehung förmlich ein.43 Und Gesetze zu umgehen, das darf ja wohl nicht einmal der EuGHMR von den Gerichten der Mitgliedstaaten verlangen, oder? Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

43 Henrich FamRZ 2007, 1531.