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Psychologische Analyse der Sti~rungen im taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie.) Von Prof. Dr. G. R@v~sz. Mit 12 Textabbildungen. (Eingegangen am 5. April 1928.) Ich stellte mir die Aufgabe, eine Analyse jener psyehischen Erschei- nungen zu unternehmen, die wir beim Betasten yon Gegensti~nden wahr- nehmen. Im Mittelpunkt steht die Frage des aktiven Erfassens taktil dargebotener Objekte. Von diesem Punkt aus wird versucht, die Ab- weichungen von den normalen Tasterlebnissen zu beschreiben und zu deuten. Die konsequente Durchffihrung dieses Prinzips erleidet eine Unterbrechung dort, wo sieh die pathologischen Verh~ltnisse von den normalen unterscheiden, wo also eine gesonderte Betrachtung des pathologischen Vorganges erforderlich ist. Der Umstand, dab die von mir geprfiften Patienten zu den sensori- sehen Fi~llen gehOren, hat meine Fragestellung und den Gang meiner Untersuchung bestimmt. Das mir zu Gebote stehende pathologisehe Ma- terial war indessen derartig, dal~ ich Fragen nachgehen konnte, die weir fiber das Gebiet der sensoriseh bedingten Tastst6rungen hinausgehen. Ich widmete meine Aufmerksamkeit besonders solchen Problemen, die ffir die Lehre der taktilen Wahrnehmung, Erkennung und Wieder- erkennung im allgemeinen, ferner ffir alle Arten der taktilen Agnosie von Bedeutung sind. An dieser Stelle will ieh mich nur auf einige Pro- bleme beschr~nken und meine Darlegungen bloB an einem von mir be- sonders ausffihrlich untersuchten Patienten demonstrieren 1. Jene, die ffir das von mir bearbeitete Problemgebiet und fiir das ganze patholo- gisehe Material Interesse haben, verweise ich auf meine Originalarbeit: ,,lJber taktile Agnosie", F. Bohn, Haarlem 19282. 1 Die Arbeit wurde im Auftrag der Remmer Adrian Laan-Stiftung ausgeftihrt. Das pathologische Material wurde mir durch Prof. Dr. K. H. Bouman, Direktor der Psyehiatrisch-neurologischen Universiti~tsklinik zu Amsterdam, bereitwilligst zur Verftigung gestellt. z Nieht im Buchhandel. Interessenten stellt Verfasser Exemplare gem zur Verftigung. (Prof. Dr. G. Rdv@sz, Psychologisches Institut. Amsterdam, Heeren- gracht 196).

Psychologische Analyse der Störungen im taktilen Erkennen

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Psychologische Analyse der Sti~rungen im taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie.)

Von Prof. Dr. G. R@v~sz.

Mit 12 Textabbildungen.

(Eingegangen am 5. April 1928.)

Ich stellte mir die Aufgabe, eine Analyse jener psyehischen Erschei- nungen zu unternehmen, die wir beim Betasten yon Gegensti~nden wahr- nehmen. Im Mittelpunkt steht die Frage des aktiven Erfassens taktil dargebotener Objekte. Von diesem Punkt aus wird versucht, die Ab- weichungen von den normalen Tasterlebnissen zu beschreiben und zu deuten. Die konsequente Durchffihrung dieses Prinzips erleidet eine Unterbrechung dort, wo sieh die pathologischen Verh~ltnisse von den normalen unterscheiden, wo also eine gesonderte Betrachtung des pathologischen Vorganges erforderlich ist.

Der Umstand, dab die von mir geprfiften Patienten zu den sensori- sehen Fi~llen gehOren, hat meine Fragestellung und den Gang meiner Untersuchung bestimmt. Das mir zu Gebote stehende pathologisehe Ma- terial war indessen derartig, dal~ ich Fragen nachgehen konnte, die weir fiber das Gebiet der sensoriseh bedingten Tastst6rungen hinausgehen.

Ich widmete meine Aufmerksamkeit besonders solchen Problemen, die ffir die Lehre der taktilen Wahrnehmung, Erkennung und Wieder- erkennung im allgemeinen, ferner ffir alle Arten der taktilen Agnosie von Bedeutung sind. An dieser Stelle will ieh mich nur auf einige Pro- bleme beschr~nken und meine Darlegungen bloB an einem von mir be- sonders ausffihrlich untersuchten Patienten demonstrieren 1. Jene, die ffir das von mir bearbeitete Problemgebiet und fiir das ganze patholo- gisehe Material Interesse haben, verweise ich auf meine Originalarbeit: ,,lJber taktile Agnosie", F. Bohn, Haarlem 19282.

1 Die Arbeit wurde im Auftrag der Remmer Adrian Laan-Stiftung ausgeftihrt. Das pathologische Material wurde mir durch Prof. Dr. K. H. Bouman, Direktor der Psyehiatrisch-neurologischen Universiti~tsklinik zu Amsterdam, bereitwilligst zur Verftigung gestellt.

z Nieht im Buchhandel. Interessenten stellt Verfasser Exemplare gem zur Verftigung. (Prof. Dr. G. Rdv@sz, Psychologisches Institut. Amsterdam, Heeren- gracht 196).

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1. Zur Phiinomenologie der optisehen und taktilen Wahrnehmung.

Obgleich die phdnomenale Verschiedenheit, die zwischen Wahrneh- mungen, die beim Betasten eines Gegenstandes und die beim Anblick desselben Objektes erlebt werden, dem unvoreingenommenen Beob- achter nicht entgangen ist, konnte man sich doch lange yon dem Ein- druck nicht freimachen, da{~ hinsichtlich des Gesamteindruckes optisch und haptisch erfal3ter Formen und Gegenst~nde eine weitgehende (~ber- einstimmung bestehe. Die wechselseitig kontrollierende T~tigkeit beider Sinne schien die ,,•hnlichkeitstheorie" zu unterstfitzen, obgleich eine gar nicht sehr tief gehende Analyst h~tte zeigen kSnnen, da[~ die Nach- priifung sich meistens auf Merkmale bezieht, die eigentlich nur durch den zu kontrollierenden Sinn wahrgenommen werden kSnnen. Denn beabsichtigen wir z. B. dutch den Tastsinn zu priifen, ob ein hart und glatt ,,aussehendes" Objekt wirklich hart und glatt ist, dann iiberpriifen wit etwas, worfiber das Gesicht uns eigentlich nicht aufkli~ren kann, woraus wir nur mit Hilfe gewisser Tastqualit~ten korrelative optische Merkmale erschlie~en kSnnen. 1Jberhaupt schon das Vorhandensein solcher korrelativen Merkmale, wie Glatte, Glanz, Elastizit~t, Beweglich- keit, schien zugunsten der Ahnlichkeitsauffassung zu sprechen, da man darin den Ausdruck einer inneren Beziehung vermutete.

Priift man jedoch unbefangen die korrelativen Merkmale des Gesichts- sinnes im Tastgebiet, so l ~ t sich leicht erkennen, da~ es sich hierbei um ganz heterogene Inhalte handelt. Wir diirfen zwar sagen, dab wir die Weichheit, H~rte, Rauhigkeit und Biegsamkeit eines Gegenstandes sehen, blol3 mul3 uns dabei klar sein, dab wir unter Weichheit und Rauhigkeit Qualit~ten des Tastsinnes meinen, daI~ die sichtbare Weichheit und Rauhigkeit mit den entsprechenden Tasterlebnissen nichts gemein hat 1. Das entsprechende gilt yon den, , tastbaren" optischen Merkmalen. Dabei kommt es vor allem auf die r~umlichen Qualit~ten, wie Form und GrSBe, an. Auf diese Frage mtissen wir etwas ausftihrlicher eingehen, weil sie mit unseren spi~teren Ausffihrungen in enger Beziehung steht.

Wenn man mit Gelb und Goldstein annimmt, dal3 die R~umlichkeit in den Tasterlebnissen keine taktile Angelegenheit ist, sondern nur durch die mit den Tasteindriicken assoziativ verbundenen Gesichtsvorstellungen in die Tastwelt hineinkommt 2, dann wird durch diese Ansicht die Frage naeh dem Anteil optischer Vorg~nge an der Bildung der Tastformen ge- 15st, die enge Beziehungen zwischen Tast- und Gesiehtswahrnehmungen erkli~rt. Es war allerdings bekannt, dal3 bei der Deutung yon Tastein-

1 W. Schapp, Beitr~ge zur Ph~nomenologie derWahrnehmung. G6ttingen 1913. A. Gdb und K. Goldstein, ]~ber den EinfluB des vollst~ndigen Verlustes des

optisehen Vorstellungsverm0gens auf das taktile Erkennen. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorg. 83. 1919.

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driicken Gesiehtsvorstellungen von groBer Bedeutung sind, man wuBte bloB nieht, dab in allen Fdllen, also aueh dann, wenn visuelle Vorstel- lungen nieht festzustellen sind, die ri~umliehe Einordnung der Tastein- drficke allein in den Gesichtsraum geschehen kann. Von diesem Stand- punkte aus gesehen, erhalten gewisse Ergebnisse frfiherer Untersuchun- gen eine fiberzeugende Interpretation.

Wie heterogen die PMinomene unserer Gesichts- und Tastwelt auch sind, werden di'ese urspri~nglich beziehungslosen, heterogenen Inhalte in- ]olge der reichen assoziativen Verbindungen in wechselseitiger Bezogenheit Korrelate des gesehenen bzw. des ertasteten Gegenstandes. Infolge dieser Beziehungen treten Tast- und Gesichtswelt einander immer nigher, ver- treten sieh immer h~ufiger, versehmelzen sogar, so dab man schlieBlieh den Eindruck gewinnt, als ob es sich um ansehaulieh gegebene Ahnlich- keiten (manchmal sogar um Identit~ten) handeln wiirde. Am deut- liehsten wird man der ph~nomenalen Verschiedenheiten von Gesichts- und Tasteindrtieken gewahr, wenn man unbekannte, ungewOhnliche oder komplizierte Gegenst~nde abwechselnd dureh den Tastsinn und Gesichtssinn einer Priifung unterwirft. In solchen Fi~llen erleben wir den Eindruek der Identiti~t niemals, den der Ahnliehkeit nur selten und auch dann bloB in sehr besehr~nktem Make. Der Unterschied beider Erlebnisse t r i t t am sch~rfsten hervor, wenn man vom Tasterlebnis zum optischen hinfibergeht, wenn man also den zuni~ehst nur taktil wahrge- nommenen Gegenstand plStzlieh zu sehen bekommt. Man ist immer wieder fiberrascht, wie wenig unsere Tastwahrnehmungen mit unseren Gesichtseindriicken fibereinstimmen. Und das ist um so auffi~lliger, da man den optisehen Gesamteindruek nicht mit einem ,,reinen", sondern sehon mit einem dureh Gesichtsvorstellungen durchdrungenen Tast- eindruek vergleicht. Um aber die ph~nomenale Verschiedenheit beider Sinnesgebiete sich zu vergegenwi~rtigen, braucht man sich nicht einmal auf unbekannte oder komplexe Gegenst~nde zu beschri~nken. Prinzipiell ist es gleiehgiiltig, ob der taktil dargebotene Gegenstand uns bekannt ist oder nicht. Die einzige Voraussetzung ffir das deutliehe Erleben dieses phi~nomenalen Untersehiedes ist, dab das Objekt uns individuell nieht bekannt sei.

AuBer den ph~nomenalen Unterschieden l~Bt sich eine sehr deutliche Differenz auch im taktilen und optisehen Wahrnehmungs- und Er- kennungsvorgang nachweisen.

Jedermann kann beobaehten, dab man beim taktilen Erkennungs- vorgange die Aufmerksamkeit yon vornherein auf andere Eigenschaften des Objektes zu richten pflegt wie beim optischen. Wir tun es darum, weft die taktil wahrnehmbaren Dingeigensehaften zum grSBten Teil andere sind wie die dem Auge sieh darbietenden. Ferner, weil jene Merk- male, die den Gegenstand als Tastob]ekt eharakterisieren und daher ffir

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die taktile Erkennung unerl~[tlich sind, verschieden von denjenigen sind, worauf man sich bei der optischen Erkennung stfitzt.

Nehmen wir ein einfaehes Beispiel, etwa die Wahrnehmung eines an unserem Kleide angenahten Knopfes. Im Taktilen verl~uft der Vorgang in der Weise, da~ wir zun~chst die Oberfl~ehe des Knopfes betasten, und analog der optisehen Betrachtung, die Form und die Musterung, falls die letztere tastbar ist, beachten. Gleichviel, ob der Knopf uns individuell bekannt ist oder nicht, ffihlen wir -- sogar noch nach der Erkennung -- das unfiberwindliche Bedfirfnis, weitere Einzelheiten fiber ihn in Er- fahrung zu bringen, wie z. B. fiber die Beschaffenheit der Rfiekseite oder fiber die Stelle, wo der Knopf am Stoff befestigt ist. Man hat das Be- dfirfnis, das Tastobjekt zu durchforschen, zu durchdringen, es sozusagen ganz in Besitz zu nehmen.

Bei der optischen Betrachtung tritt die Gestalt des Gegenstandes sofort und spontan hervor, w~hrend die Einzelheiten aus dem Gesamt- bild in der Regel nicht herauszutreten pflegen. Sie kommen meistens nur dann zur Beaehtung, wenn sie willkfirlieh zum Gegenstand der auf- merksamen Beachtung gemacht werden. Demgegenfiber maehen sich im Tasterlebnis besonders die Formelemente und einzelne Merkmale des Gegenstandes geltend, und es seheint, als ob bei der haptisehen Form~ und Gegenstandswahrnehmung die Gesamtgestalt sich oft aus den ein- zelnen Tasteindrfiekcn aufbauen wfirde. Die ph~nomenale Gesamtform entsteht sozusagen genetiseh, indem die einzeln wahrgenommenen Ein- drficke sieh sukzessiv zu einer h6heren Einheit zusammenschlieBen. Tat- sache ist, dab der taktilen Gesamtauffassung in der Regel mehrere Wahr- nehmungsakte zugrunde liegen und daher ist zu erwarten, dab bei der Gestaltbildung den Tastbewegungen eine besonders groI~e Bedeutung zukommt.

Die Analyse des normalen stereognostischen Vorganges ffihrt ferner zur Unterscheidung der unmittelbaren und der mittelbaren Gegenstands. erkennung.

Nimmt man bei gesehlossenen Augen einen bekannten Gegenstand in die Hand, so wird man ihn in der Regel unmittelbar, ohne jede R eflexion erkennen. Das erleben wir gew6hnlich, wenn wir allt~gliche Gegenstande taktil zu erkennen haben. Ebenso unmittelbar verl~tuft der Erkennungsvorgang bei weniger gebr~uchliehen Gegenstanden, falls sie uns generell bekannt sind. Als Beispiele kSnnen die meisten Ge- brauchsgegenst~nde dienen. Wenn die sofortige Erkennung eines Gegen- standes nur dadurch gelingt, da[t die Aufmerksamkeit von vornherein auf ihn oder auf seine Spezies eingestellt war, so liegt aueh unmittelbares Erkennen vor, denn es kommt hier nicht auf die Motive, auf die Ur- sachen der Erkennung an, sondern allein darauf, ob die Erkennung mit oder ohne Reflexion bzw. mit oder ohne Aufsuchen von mittelbaren

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Kriterien stattgefunden hat. In diesen Fi~llen hi~lt man die entspreehen- den taktilen und visuellen Vorstellungen parat, und beschri~nkt sich zumeist auf die Kontrolle, ob und wieweit der Tasteindruck mit den in Bereitschaft stehenden Gegenstandsvorstellungen fibereinstimmt. Suchen wir z. B. im Dunkeln nach einer Klemme oder einem Holzfigfir- chen, dann erkennen wir diese Dinge unmittelbar, sobald wir sie betasten, infolge der in Bereitschaft stehenden Gegenstandsvorstellungen. Kommt hingegen ein solches Objekt, ohne dag wir darauf eingestellt sind, in unsere Hand, so kann es leicht geschehen, dal~ es nicht oder erst nach langerer l)berlegung erkannt wird.

Die unmittelbar taktile Erkennung bzw. Wiedererkennung kann entweder a )auf tatsachlicher Erkennung des getasteten Gegenstandes oder b) auf Erkennung auf Grund gewisser besonders charakteristischer Zfige, Eigenschaften, Teile beruhen. Auf die erstere Art der unmittel- baren Erkennung brauchen wir nicht eingehen, sie ist ffir uns die bekann- teste Form der Identifizierung sowohl im Taktilen wie im Optischen. Die zweite Erkennungsart wollen wir jedoch etwas nigher ins Auge fassen.

Die Objekte unterscheiden sieh nicht nur ihrem Gesamteindruck nach, sondern auch nach gewissen charakteristischen Merkmalen. So kann ein Tastobjekt bekanntlich durch seine Schwere und Ki~lte, ein an- deres dureh die Form des Ganzen oder eines seiner Teile eharakteristiseh sein. GewOhnlich wird dureh die stark hervortretenden Merkmale nicht das individuelle Objekt, sondern blo$ die Gruppe eharakterisiert. Das genfigt auch im allgemeinen, weil man bei taktiler Stereognose nicht nach Erfassung des Individuellen, sondern des Generellen strebt.

Man kann sich von diesem Saehverhalt leicht iiberzeugen, wenn man den taktilen Erkennungsvorgang genauer prfift. Dann f~llt nhmlich auf, wie oft die Intention sieh auf die Bestimmung der Spezies zu beziehen pflegt und wieviel seltener auf die Erkennung des Individuellen. Die Erkennungsabsicht ist also meistens auf das ,, Was" und nicht auf das ,,Welches" gerichtet. Wir suchen in der Tasche meistens nach irgend- einem Bleistift, auf dem Tisehe nach irgendeiner Kerze und nicht nach einem bestimmten Bleistift, nach einer bestimmten Kerze.

Mit einem gewissen Recht kann man also yon 2 Klassen der unmittel- baren Stereognose redan, und zwar einmal yon der unmittelbaren Er- kennung der Spezies und ferner yon der des Individuums. Wird das Individuelle erst nach der Erkennung der Gruppe erkannt, so sprechen wir von mittelbarer Erkennung.

Diese auf Erkennung der Spezies gerichtete Tendenz finder ihren Grund fibrigens schon in der Natur des Tastens. Das Tasten stellt ur- sprfinglich eine analytisehe Ti~tigkeit dar. Um die charakteristischen, stofflichen und Iormalen Merkmale des Gegenstandes zu ertasten, um fiber ein Objekt, dessen Ausdehnung den engeren Tastraum iibersteigt,

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einen einheitlichen Eindruck zu gewinnen, bedarf es der Tastbewegungen, des analysierenden Tastens. Die Synthese der sukzessiv wahrgenom- menen Teile stellt uns vielfach eine sehwierige Aufgabe dar. Um diese synthetisehe Tatigkeit zu ersparen, sucht der Tastsinn nach charakte- ristischen Einzelheiten, die als untrfigbare Zeichen bestimmter Dinge dienen. Individuell charakteristische taktile Merkmale zu finden und diese l~ngere Zeit zu behalten, stS[~t auf groBe Schwierigkeiten, daher besehr~nkt man sieh lieber auf Feststellung und Fixierung yon Gruppen- merkmalen.

Von mittelbarer taktiler Erkennung bzw. Wiedererkennung sprechen wir dann, wenn sich zwischen Tasteindruek und Gegenstandserkennung solehe Vorg~nge (Auffassungs- und Erkennungsakte) einschieben, die die Erkennung erst ermSglichen. Bei mittelbarer Erkennung handelt es sieh also darum, Anhaltspunkte ffir die Erkennung zu finden. Mittelbare Erkennung liegt z.B. vor, falls Material, Oberfl~ehenstruktur, Teil- gestalten, Merkmale, Situation vor dem Akt des Erkennens vergegen- w~rtigt werden.

2. [3ber taktile Gestaltung.

Die Analyse der Tastwahrnehmung setzt uns in die Lage, die Be. ziehung zwischen der taktilen Gestalt und den ihr zugrunde liegenden Elementen, wie auch den Vorgang des Gestaltens, Bildens, Formens unter besonders gfinstigen Umsti~nden zu studieren. Es li~[~t sich zuni~chst in diesem Gebiet beobachten, da~ die gestalteten Elemente -- die freilich schon selbst Gestalten sein kSnnen -- die Gesamtgestalt nicht aus- machen. Es kommt deutlich zum Ausdruck, daI~ das Ganze eine natfir- liche Einheit bildet und da~ es solche Ziige und Eigenschaften aufweist, die den konstituierenden Elementen fehlen. Die Gesamtgestalt des be- tasteten Gegenstandes kann daher auf die Teile ebensowenig zurfick- gefiihrt werden als im Optischen etwa ein Quadrat auf die Linien, durch die es gebildet wird. Es l~Bt sich ferner zeigen, wie mit dem Auftreten der einheitlichen Gestalt die Selbst~ndigkeit der Elemente, der Teile aufgehoben wird, wie aus dem Gesamterlebnis die sukzessiv wahr. genommenen Teile verschwinden. Es l ~ t sich oft beobachten, wie Elemente des Gesamtkomplexes ihre r~umlich getrennten, relativ schaff heraustretenden Formen verlieren, sobald sic in eine innige Verbindung zueinander treten. Andererseits trifft man auch solche Glieder, die in der Gesamtgestalt wiederzufinden sind, wie etwa bunte Fl~chen auf einem Bride oder EinzeltSne in Intervallen.

Ich glaube, dal~ der phi~nomenale Unterschied einerseits zwischen den Elementen oder Teilen des Gesamtkomplexes, andererseits zwischen der Gesamtgestalt des Dinges auf keinem Sinnesgebiet sieh so gut demon. strieren l~I~t wie auf dem der Tastwahrnehmungen. Prfift man ein

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. 115. 38

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Objekt, so wird es sehr bald deutlich, wie wenig J~hnlichkeit zwischen den durch die analysierende Tiitigkeit erfai3ten Einzelheiten einerseits, zwi- schen der spezifisehen Gesamtgestalt anderseits besteht. Das Studium des taktilen Wahrnehmungsvorganges weist aber mit Bestimmtheit auch darauf bin, da[t die Gestalt, die Gesamtform oder wie man sonst die phanomenale Einheit eines urspriinglich aus vielen Teilen bestehenden charakteristischen Eindrucks nennen will, stets nur infolge unserer Akti- vititt, infolge willkiirlicher Tdtigkeit zustande kommt und nicht spontan, ohne unser Zutun, wie das im optischen Gebiet regelmi~Big zu beobachten ist. Demzufolge gilt die Behauptung Ko]]kas, die Gestalten seien in keiner Weise weniger unmittelbar als ihre Teile I fiir die Tastgestalten sicherlich nicht. Der Grund dafiir, dab man diesem Satz eine allgemeine Geltung zuschreibt, liegt darin, da~ bei den Gestaltproblemen das Augen- merk der Forscher fast aussehlieitlich auf die optische Wahrnehmung ge- richtet war. Im Visuellen gewinnt man in der Tat leicht den Eindruck, als ob die Gestalten grunds~tzlieh ebenso urspriinglich seien wie ihre Teile, und als ob die Gesamtform in der Regel erfai~t werde, bevor ihre Teile erfal~t werden 2. Unter gew6hnlichen Umst~nden ist das Bildganze ffiiher da als die Teile, besonders als die unselbst~ndigen Teile des Kom- plexes, die erst durch die analysierende T~tigkeit aus dem Totalgebilde herausgesondert werden. Das liegt vorzugsweise daran, dait das optisehe Bild eines Objektes selten anders als simultan aufgefal~t wird, w~hrend bei der taktilen Form- und Gegenstandswahrnehmung die simultane Auffassung nicht die Regel bildet. Ein weiterer Unterschied ist, dal~ die spontane Gestaltbildung im Optischen dadureh gef6rdert wird, dait die Gestaltteile alle von optischer Natur sind, wi~hrend im Taktilen versehiedene Sinnesgebiete beteiligt sind. Bei taktiler Ge- staltbildung sind nicht die unmittelbar gegebenen taktilen Einzel- wahrnehmungen bestimmend, sondern vor allem die optischen Vor- stellungsbilder.

Da[t bei der taktilen Wahrnehmung im Gegensatz zu der optischen die aktive, willkiirliche Gestaltung eine besondere Rolle spielt, mag seinen Grund insbesondere darin haben, dal~ die mittelbare Gegenstands- erkennung, die im optischen Gebiet nur ausnahmsweise vorkommt, hier unter gewissen Umsti~nden nahezu die Regel bildet. Sobald ein zwecks taktiler Erkennung vorgelegter Gegenstand unmittelbar nicht erkannt wird, t r i t t eine Ti~tigkeit mit der Intention auf, die losen, unzusammen- h~ngenden Eindriicke am Objekte zu einem einheitlichen Ganzen zu vereinigen.

1 K. Ko/]ka, Psychologie. Lehrbuch der Philosophie. Herausgegeben yon M. ])e~soir.

W. K6hler, Komplextheorie und Gestalttheorie. Psychol. Forsch. G. - - M. Wertheimer, Untersuchungen zur Lehre yon der Gestalt. Ebenda ! u. 4.

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Welche Teile, welche Eigentfimlichkeiten bei der Bildung des Ge- samteindruckes berficksichtigt werden, das li~13t sich wdhrend des ak- t iven ,,Bildungsprozesses" nicht feststellen. Und ebensowenig k6nnen wir uns eine Vorstellung fiber den Erfolg machen, wozu uns die ana- lytische Prfifung des Gegenstandes und der darauffolgende Gestaltungs- vorgang ffihrt. Von diesem Sachverhalt aus liege sich die Produktions- theorie yon Benussi verteidigen, freilich in einer ver~nderten Form, die ffir sich keine allgemeine Geltung beansprucht und das Gestalten nicht im w6rtlichen Sinne versteht.

Wir sehen also, daft unter gewissen Umstdnden die Er/assung der Ele- mente oder Teile der mehr oder weniger ein/achen Gestalten schon vor der Er/assung de8 einheitlichen Komplexes er/olgt. Die Gesamt/orm wird in diesen F~illen durch verschiedene Akte eingeleitet und vorbereitet.

Diese Ausffihrungen beziehen sich auf Fi~lle, in denen das betastende Objekt nicht erkannt wird und auf jenen Tell des Erkennungsvorganges, welcher der Identifizierung des Gegenstandes vorangeht, ferner auf F~lle, in denen dem Beobachter die Aufgabe gestellt wird, die Gestalt eines individuell nicht bekannten Gegenstandes genau zu erfassen und dessen Gesamtbild sich deutlieh zu vergegenw~rtigen. Besitzt das taktil gepriifte Ding keine pri~gnante Struktur, so wird die Vergegen- w~rtigung in besonderem MaBe yon der Erfahrung und yon der Vor- stellungsfi~higkeit des Beobachters abh~ngen.

Die taktile Gestalt einer Konkaven oder einer Geraden ist allerdings ebenso unmittelbar, und sie scheint uns ebenso primi~r zu sein wie ihre optische Gestalt. Aber sobald es sich um kompliziertere Tastobjekte handelt, werden sie -- unter den oben erw~hnten Bedingungen -- mittel- bar erfal~t. DaB in unseren F~llen die die Gesamtform konstituierenden Teile meistens selbst Gestalten sind, dal~ es sich in der Regel um Gestal- tung yon Elementargestalten oder mehr oder weniger selbstgndigen Ge- staltteilen handelt, ist prinzipiell irrelevant. Das Wesentliche ist, daft Teile eines Ganzen nicht spontan, sondern mittels zusammen/assender TdtigIceiten zu einer Einheit verbunclen werden.

Aus diesen Er6rterungen folgt als methodischer Grundsatz, da~, wenn man die Ph~nomene und Gesetze der Gestaltbildung erforschen will, man in erster Reihe solche Gebiete aufsuchen mu~, wo die Gestalten nicht oder wenigstens nicht in der Regel spontan entstehen. Erst wenn man diese Gebiete mit Rticksieht auf die Gestaltung durchforscht hat, l~Bt sich der Geltungsbereich der aufgestellten Satze der Gestalttheorie festsetzen. Bis dahin l ~ t sich nicht mehr sagen, als dab im optischen Gebiet die Gestaltung nach diesen oder jenen Gesetzen vor sich geht.

Die fundamentale Bedeutung der Tastwahrnehmungen ffir die Ge- stalttheorie liegt also darin, dal~ sich hier an zahllosen F~llen demon- strieren li~I~t, wie bei der Gestaltung unsere zusammen]assende Aktivit~it

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beteiligt ist. Ohne diese Aktivit~t bleibt die Gestaltung aus. Wir k6nnen ein etwas umfangreiches Tastobjekt beliebig lunge betasten, und die ,,natiirlichen Teile" deutlieh wahrnehmen, solange wir uns nicht be- mfihen, die Teile zu einem Gesamtbilde zusammenzufassen, bleiben die Teileindriieke isoliert, unzusammenhi~ngend.

Es l~l~t sich also auf Grund unserer Erfahrungen folgendes feststeUen : Aul~er den spontan und unmittelbar entstehenden Gestalten be-

stehen noch solehe, die sich in der Zeit entwiekeln. Wi~hrend der sog. unmittelbaren Gestaltbildung (richtiger Gestaltwahrnehmung) keine nachweisbaren T~tigkeiten zugrunde liegen, ist die mittelbare Gestalt- bildung eben durch solehe Vorg~nge charakterisiert.

Ferner: Die Gestalten dfirfen nicht ohne weiteres als urspriingliche angesehen werden, nur insoweit sie yon Anfang an als unmittelbare, spontane, einheitliche Gebilde sich erweisen, was allerdings bei gewissen Gestalten wohl nachweisbar ist (vgl. die sieh darauf beziehenden Ver- suche an sehr jungen Kindern und Tieren), sonst sind sie sekund~ir, entstehen erst unter Mitwirkung von bewui~t ausgeffihrten gedanklichen Operationen. - - Bei unmittelbaren Gestalten bemerken wir yon einer aktiven Zusammenfassung der Elementargebilde oder Teilgestalten, von einer aktiven kollektiven Auffassung niehts, hingegen zeigt sieh diese T~tigkeit wi~hrend der mittelbaren Gestaltung in unverkennbarer Weise. - - Die Anzahl der aktiv entstandenen Gebilde ist bei weitem nieht so unbedeutend, daI~ man sie als Sonderfi~lle betrachten diirfte. Es gibt sogar Sinnesgebiete, die durch sukzessive Wahrnehmungsakte (Tast- und Tonwahrnehmungen) besonders ausgezeichnet sind, wo den aktiven Gestaltbildungen ein ebenso groi~er Raum angewiesen werden mu~ wie den spontanen in anderen Gebilden.

3. Arten der taktilen Stiirung.

Sehalten wir die Fi~lle von grober taktiler Ani~sthesie und Aphasie aus dem umfangreichen Gebiet der taktilen Agnosie aus, dann kSnnen wir die taktilen Stfrungen und Ausfallserscheinungen in folgender Weise klassifizieren:

I.

1. St6rung in der Materialerkennung (Ahylognosie). Diese StSrung liegt vor, wenn Patienten gebr~uchliehe Stoffe bei taktiler Darbietung nicht zu erkennen vermSgen. Gehngt die Erkennung der Stoffe unmittel- bar nicht, dann greifen die Patienten vielfach nach mittelbaren Kriterien, wie z. B. naeh Dieke, Temperatur, Konsistenz, Schwere, um wenigstens jene Kategorie feststellen zu kOnnen, in welche die Stoffe gehSren. Die betasteten Stoffe werden unter diesen Bedingungen -- wenn auch meistens falsch -- als Papier, Holz, Stein, Glas beurteilt.

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Die StSrung in der Stofferkennung beruht in erster Reihe auf einer herabgesetzten Empfindlichkeit des Vibrationssinnes oder auf Verringe- rung der sog. Tastsensibiliti~t. Ffir beide F~lle finder man unter den von uns untersuchten F~llen Beispiele. Bei einem Patienten war die Vibra- tionsempfindlichkeit stark herabgesetzt, bei dem anderen die Druck- und Beriihrungsempfindliehkeit.

2. Die St6rung in der Former/assung und Formerkennung (Astereo- gnosie, Amorphognosie) liegt vor, wenn der Patient taktil dargebotene Fl~ehenfiguren oder dreidimensionale KOrper in bezug auf die Form nicht zu erkennen vermag. Also wenn z. B. ein aus Pappe ausgesehnit- tenes Papierquadrat als Quadrat, eine Sternfigur als Stern, eine Pyra- mide als Pyramide nicht erkannt wird, oder wenn die ]ormale Struktur eines nicht besonders komplizierten Objektes einheitlich nicht aufgefaSt werden kann.

Bei der Priifung der Stereognosie geniigt es nieht, den Patienten nur regelm&I]ige Fl&chenfiguren oder stereometrische KSrper taktil dar- zubieten, denn es ist keineswegs ausgeschlossen, dal~ diese Objekte auch ohne unmittelbare Er/assung der Form, etwa auf Grund gewisser sekun- d&rer Anhaltspunkte richtig beurteilt werden. So li~l~t sich ein Quadrat oder ein Dreieck sehr leicht durch Abz&hlen der Ecken bestimmen. Aueh ein Kubus oder eine Pymmide kann zuweilen yon einem mit den geo- metrischen Verh&ltnissen vertrauten Patienten trotz gestOrter Form- auffassung identifiziert werden.

Bei der Untersuchung astereognostischer F&lle ist es also bcsonders wichtig, zwischen unmittelbarer und mittelbarer Form- und Gegenstands- erlcennung zu unterscheiden. Werden die dargebotenen Figuren unmittel- bar erkannt, so kSnnen wir die stereognostisehe Fi~higkeit des Beobachters als intakt bezeiehnen. Braucht der Patient jedoch fiir die Erkennung der Objekte eine geraume Zeit, w&hrenddessen er das Objekt yon allen Seiten aus tastend priift, so ist anzunehmen, dab sein Urteil sich auf mit- telbare Kriterien bezieht. Daher sind Mitteilungen fiber Formperzeption in pathologischen F&llen ohne Angabe der Urteilszeit oder mindestens, ob das Urteil sofort oder erst nach einiger Zeit abgegeben worden ist, entweder unbrauehbar oder mehrdeutig. Besonders gilt dies ffir die angeblich positiven Fi~lle.

Sehr deutlieh l&l~t sich unsere Vermutung in einem Fall yon Ho//. mann naehweisen 1. Einer seiner Patienten (Fall 6) sollte alle ihm taktil dargebotenen stereometrisehen KSrper (Kugel, Halbkugel, Kugel- segment, Kegel, dreikantiges Prisma, Oktaeder, Dodekaeder) mit Aus- nahme des Oktaeders erkannt haben, welches er einmal als Wfirfel, ein anderes Mal als Prisma beurteilte. Ich vermute, dal~ der betreffende

1 H. Ho//mann, Stereognostische Versuche. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 35. 1884.

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Patient keinen von den dargebotenen KSrpern unmittelbar erkannte, son- dern bloB auf sie sehloB. Denn wenn er Oktaeder mit Wfirfel oder Prisma verweehseln kann, so ist nicht anzunehmen, dab er Wfirfel oder Prisma voneinander auf Grund des unmittelbaren Eindruckes hi~tte unter- scheiden kSnnen. Darauf weist fibrigens die Bemerkung Ho]]manns hin, dab die KSrper vielfaeh erst naeh l~ngerer Zeit erkannt worden sind, ferner, dab eine einfaehe UmschlieBung des K6rpers im all- gemeinen nieht genfigte, um die Ob]ekte zu identifizieren, sie muBten in der Hand mehrmals hin und her bewegt werden, bevor das Urteil abgegeben wurde.

Bezeichnend fiir diese Verh~ltnisse sind aueh die Angaben, die Gerst- mann fiber einen seiner an reiner taktiler Agnosie leidenden Patienten mitteilt 1. Einzelne einfache Gegensti~nde des t~glichen Gebrauches, wie Trinkglas, Flasche usw. wurden ,,fast immer" erkannt. Ferner: ,,Es wurde bei einer Prfifung der eine oder der andere Gegenstand das eine Mal unter verhi~ltnismi~Big geringer, das andere Mal unter grSBter Anstrengung und mit betr~chtlichen Schwierigkeiten erkannt, der an einem frfiheren oder sp~teren Tage trotz grSBter Miihe durehaus nicht erkannt werden konnte." Diese Beispiele zeigen, dab intaktes Er- kennen gew6hnlicher Gegenst~nde also nieht als eindeutiges Symptom angesehen werden daft, woraus man auf Intaktheit gewisser Funktionen sehlieBen kSnnte.

Ist die Stereognosie gestSrt oder Bar aufgehoben, so wird darunter auch die Gegenstandserkennung leiden mfissen. Es h~ngt von dem Grad der stereognostischen StSrung einerseits, yon der Ursaehe der StSrung andererseits ab, wie stark die Gegenstandserkennung dureh die StSrung in Mitleidenschaft gezogen wird.

3. Stdrung in der Gegenstandserkennung (taktile Agnosie in der ge- br~uchlichen Bedeutung, Achrematognosie) i~uBert sich darin, dab der Patient unf~hig ist, bekannte, oft sogar die gewShnliehsten Gegensti~nde rein taktil wiederzuerkennen. Er kann weder fiber den Namen noeh fiber den Gebrauch oder Zweck des betreffenden Gegenstandes AufsehluB geben. Im allgemeinen werden wit wohl bei einer sieh auf Objekte be. ziehenden Agnosie auf gleiehzeitige Astereognosie rechnen mfissen, sehon darum, weil die letztere vielfaeh auI St6rung der stereognostisehen Auffassung zurfickzuffihren ist. Beispiele fiir gestSrte Gegenstandserken- nung bei gestSrter oder aufgehobener Formauffassung liefert die neuro. logische Praxis in fiberm~Biger Anzahl. Das regelm~Bige Zusammenfallen der Astereognosie mit taktiler Agnosie schliel3t aber nieht aus, dab generelle oder partielle Aufhebung der Gegenstandserkennung mit in- takter Stereognosie verknfipft auftreten kann. StSrung der Gegenstands-

1 j . Gerstmann, Reine taktile Agnosie. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 44. 1918.

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ira taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie.) 597

erkennung bei in takter stereognostischer F~higkeit zeigt sich bei den bekannten F~llen yon Raymond und Egger, wo dargebotene Gegen- st~nde nicht erkannt worden sind, obgleich Formerkennung und GrSl3enauffassung intakt gewesen sind.

Besonders gut lassen sich die diesbezfiglichen Verhi~ltnisse an dem ausgezeichnet untersuchten Fall yon Gerstmann zeigen 1. Sein Pat ient konnte zahlreiche Gebrauchsgegensti~nde durch die linke Hand nach ihrer Bedeutung, Verwendung, ihrem Zweck nicht erkennen, solche abet, die durch das tastende Erkennen yon Form und Gestalt allein eindeutig zu best immen waren, wurden leicht erkannt 2.

4. Zur Hlassilikation der taktilen Agnosie.

Die Klassifikation der taktilen Agnosie, die heute in der neurologi- schen Praxis noch welt und breit Anwendung findet, lehnt sich an die Klassifikation Wernickes an. Solange wir zu einer neuen, theoretisch wohl begrfindeten Klassifikation nicht gelangen, scheint es auch mit am richtigsten zu sein, sich an dieses Schema zu halten. Auch Goldstein, der in bezug auf die Lehre der Agnosie und Aphasie eine andere Auffassung ver t r i t t wie sein Lehrer Wernicke, lehnt sich in seiner ,,Topik der Grol]- hirnrinde" an Wernicke an, indem er bei der reinen Form der takti len Agnosie zwei Arten yon St6rungen unterscheidet, n~mlich die St6rung im Ents tehen des charakteristischen Gesamteindrucks (reine taktile Agnosie) und die in der Formauffassung (Astereognosie) a. Auch Gerst-

mann bleibt auf dem prinzipiellen Standpunkt yon Wernicke, bloi~ versucht er auf Grund seines eigenen Falles und des bekannten Falles yon Kutner 4 eine Unterscheidung zwischen Stereognosis (F~higkeit zur formalen Erfassung des Gegenstandes) und taktiler Gnosis (inhaltliches und begriffliches Erkennen) zu statuieren.

Die Aufstellung einer neuen Klassifikation mit scharf unterschiedenen Untergruppen wfirde heute noch verfrfiht sein. Nicht etwa darum, well neue Gesichtspunkte fehlen, sondern weil die bereits ver6ffentlichten F~lle - - mit geringer Ausnahme -- zu einer wissenschaftlichen Wieder- verwertung g~nzlich unbrauchbar sind. Wir verffigen nur fiber eine ~uBerst geringe Anzahl yon ausffihrlich dargestellten und im Sinne unserer heutigen Forschungsprinzipien untersuchten F~lle.

1 j . Gerstmann, Reine taktile Agnosie. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 44. 1918.

2 Vgl. auch den Fall yon v. Stau//enberg (l~ber Seelenblindheit. Arb. a. d. hirnanat. Inst. in Ziirich H. 8) und einige FMle (4, 5 und 8) yon Gans (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie, Orig. 31. 1916).

3 K. Goldstein, Die Topik der GroBhirnrinde. Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 30. 1922.

4 R. Kutner, Die transcorticale Tastlhhmung. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 21. 1907.

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598 G. R6v~sz: Psychologische Analyse der St~rungen

Noeh ein prinzipieller Umstand macht es erkl~irlieh, warum wir die Aufstellung einer neuen Klassifikation zur Zeit noch nicht versuchen wollen. Wenn man n~imlich sieht, wie die sog. ,,reine" takti le Agnosie mi t anderen St6rungen verkoppelt aufzutreten pflegt, und wie sie sich als Folge einer allgemeineren pathologisehen Ver~nderung, einer Grund- st6rung nachweisen 1/~Bt, - - wie das z. B. beim Patienten von Gelb und Goldstein der Fall war - - , so r~it uns dies zur gr6Bten Vorsicht, denn es ist keineswegs ausgeschlossen, dab alle oder die meisten der uns bekann- ten ,,reinen" F/tlle als Folge einer und derselben Funktionsst6rung angesehen werden mtissen, welch letztere sich nicht auf das taktile Gebiet beschr~inkt, sondern die meisten Leistungen beeinfluBt. Daher daft man annehmen: H/itte man seinerzeit die sog. reinen F/ille von einer seharf umsehriebenen Fragestellung aus und mit vollkommeneren Untersuchungsmethoden untersucht, dann h~itten die Forseher yon der takti len Agnosie ein wesentlich anderes Bild gewonnen. Da die ganze Aufmerksamkeit der Kliniker auf Feststellung der Symptome geriehtet war, vergall man, nach dem Wesen der St6rung zu fragen. Da man ferner vielfach das Symptom als direkten Ausdruck einer Funktion ansah, vergaB man zu priifen, ob die der taktilen Agnosie zugrunde liegende St6rung ihre Wirkung auch auf andere Gebiete ausiibe.

Werden von nun an die Patienten mit cortiealer St6rung auf ihre Lei- stungen in den verschiedensten Gebieten untersucht und wird man sich nicht auf das Symptomenbild der taktilen Agnosie beschr~nken, so ist es m6glich, dall man zu dem Ergebnis kommt, dab taktile Agnosie oder Astereognosie im eigentlichen Sinne nur dann vorliegt, wenn im takti len Gebiete SinnesstSrungen nachzuweisen sind, w/~hrend in F/illen, wo dies nieht feststellbar ist oder wo deren Geringfiigigkeit zur Erkl~rung der vorliegenden astereognostischen Erscheinungen nicht ausreicht, die Ur- sache anders, in einer h6heren, die ganze Verhaltungsweise des Kranken beeinflussenden Sphere zu suehen ist.

Ieh habe vors/itzlich von den F/tllen, wo bloll die Lokalisation takti ler Eindriicke oder vor allem diese Funktion geseh/tdigt ist, nicht ge- sprochen, und zwar deswegen, weil ich diese F~lle weder in die erste noeh in die zweite Klasse einreihen kann. Der Lokalisationsvorgang geh6rt n~mlieh nicht zu den Sinnesfunktionen im eigentliehen Sinne des Wortes. Er ist ein viel komplexerer Vorgang und seine normale Funktion hi~ngt von einer zu grollen Zahl von Faktoren ab, als dab man ihn unter- schiedslos den Sinnesfunktionen zuordnen diirfte.

Die Erkenntnis, dab die taktile Lokalisation nieht zu den Sinnes- Iunktionen geh6rt, oder wenigstens die Anerkennung dessen, dab es nicht gerechtfertigt ist, die Lokalisation hinsiehtlich der Tastwahrneh- mung gleichwertig neben die Haut- und kin~sthetisehen Empfindungen zu stellen, - - wie das noch immer getan wird - - , wiirde auf die Sichtung

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im taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie.) 599

und wichtige Deutung agnostischer Falle f6rdernd wirken. Hatte man bei frfiheren Untersuchungen den Lokalisationsvorgangen besondere Auf- merksamkeit gewidmet, so k6nnten wir heute die unzahligen Falle, die in der Literatur aufgestapelt, aber unverarbeitet vorliegen, bis zu einem gewissen Grade wissenschaftlich verwerten. Die gr6Bere Anzahl der bis- her untersuchten sensorischen Falle klart uns zwar fiber die Mannig- faltigkeit und Variabilitat der Erscheinungen bei der Astereognosie auf, aber da sie jedes ordnenden oder klassifikatorischen Prinzips entbehrt, weil~ man nicht, was man mit ihnen anfangen soll. In dieses riesige Material nachtraglich eine Ordnung zu bringen, wird uns nicht ge- lingen, weft neben dem Ordnungsprinzip auch das Forschungsprinzip fehlte, so dag uns diese Falle auf scharf formulierte Fragen keine zu- reichende Antwort zu geben verm6gen. Ich vermute, dab zahlreiche Falle, die als gew6hnliche sensorische diagnostiziert wurden, ausschlieB- lich dieser Gruppe angehSren.

Diese Bemerkungen vorausschickend, wollen wir nun die beiden Hauptgruppen der taktilen Agnosie, soweit das vorliegende pathologische Material es zulaBt, etwas nigher ins Auge fassen.

5. Beziehang des taktilen Erkennens zur Stiirung der Sensibilitiit und Motilit~it.

Zunachst wollen wir die Beziehungcn des taktilen Erlcennens zur Sensibilitdt besprechen.

Da~ Sensibilitatsst(irung das Tasterkennen mehr oder weniger be- eintrachtigen kann, gilt als Grundsatz. Hingegen die Meinungen fiber die Art der Beziehung zwischen Tasterkennen und St6rung der Sensibili- tat sind geteilt. Es gibt Autoren, die behaupten, zwischen Sensibilitats- st6rung und taktiler Agnosie oder Astereognosie bestfinde lceine Icausale Beziehung. Das Zusammentreffen soil in der Hirnlokalisation liegen, indem das Rindenterritorium, an das die StSrungen in der Sensibilitat gebunden sind, sich mit dem Rindenzentrum, wo die dem taktilen Er- kennen entsprechenden physiologischen Vorggnge sich abspielen, deckt oder mit ihm in engster Verbindung steht. Zu diesen Autoren ge- h6ren u.a. Kato 1 und Bonhoe//er 2, die die Auffassung vertreten, da~ die beiden Vorgange koordiniert und nicht kausal verknfipft sind. Andere wieder denken sich die Sensibilitatsst6rungen ffir das Zustande- kommen yon Tastlahmung ursgchlich wesentlich. Einen vermittelnden Standpunkt nimmt Goldstein ein, indem er zugibt, dai~ zwischen Sinnes- stSrung und taktiler Agnosie eine kausale Beziehung besteht, aber nicht notwendig sein muI3. Dieser Standpunkt wird wohl der richtige sein.

1 T. Kato, l~ber die Bedeutung der Tastl~hmung ffir die optische Hirn- diagnostik. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 42. 1911.

2 K. Bonhoe//er, Partielle reine Tastlithmung. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 43. 1918.

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600 G. R6vdsz: Psychologische Analyse der StSrungen

Was die Parallelit~it anbelangt, die einerseits zwischen Sensibiliti~ts- stSrung, andererseits zwischen Tastl~hmung bestehen soll, so ist auch diese keineswegs durchgi~ngig. Folgende Diskrepanzen sind zu ver- zeichnen :

Mit geringer Sensibiliti~tsstSrung kann sich grobe StSrung im Tast- erkennen verbinden, wie z. B. in Bonhoe/[ers 1. und 2. Fall.

Auch das Gegenteil kommt vor, ni~mlich grobe Sensibiliti~tsstSrung mit geringer Beeintr~chtigung des Tastwahrnehmens, z. B. der Fall von Jones, wo Form- und Stofferkennung keine Ver~nderung erlitten, die StOrung sich blo~ auf die Erkennung gewisser Gegensti~nde bezog 1.

Zuweilen l~l~t sich bei Verbesserung oder vollkommenem AufhSren des einen eine Verschlechterung oder die Resistenz des anderen fest- stellen. Darauf weist der Fall Redlich hin, wo die StSrung stark zuriick- getreten ist, die Astereognosie jedoch blieb". Das Gegenteil davon, wenn n~mlich bei Verschlechterung des einen eine Verbesserung des anderen auftritt, konnte man auch feststellen.

Ferner kann die Sensibilit~t in groBem Umfange gest(irt sein, ohne gleichzeitig das Tasterkennen zu beeintri~chtigen.

Abgesehen yon diesen Diskrepanzen kann die perzeptive StSrung im allgemeinen verschiedenen Grades sein, je nachdem bei der Sensibiliti~ts- stSrung mehr oder weniger Tastorgane in Mitleidenschaft gezogen werden. Da aber fiir das Tasterkennen nicht alle Tastqualiti~ten von derselben Bedeutung sind, besteht auch in dieser Beziehung kein durch- gi~ngiger Parallelismus.

Uber die so oft aufgeworfene Frage, welche jene Sinnesqualiti~ten sind, die bei der Stereognosie von ganz besonderer Bedeutung sein mOgen, sind die Meinungen auch geteilt.

Auf Grund des klinischen Materials li~I~t sich eher bestimmen, welche Sinnesfunktionen bei der Stereognosie eine geringe, welche eine be- deutende Rolle spielen. Die letztere Frage li~i~t sich schon darum nicht so lcicht beantworten, weil Sch~digungen der einzelnen Sinnesqualit,~ten sehr selten vorkommen, so dai~ die Bedeutung der einzelnen Sensibili- t~tsstSrungen ffir die Form- und Gegenstandscrkennung einwandfrei nicht zu beurteilen ist.

Schwierigkeiten bietet ferner der Umstand, dai~ die Erfassung der Form einerseits und die Erkennung der Gegensti~nde andererseits im allgemeinen yon anderen Bedingungen abzuhi~ngen scheinen. So wird man den Tast- und vibratorischen Empfindungen bei Erkennung der Gegenst~nde eine grS~ere Rolle zuschreiben mfissen als bei der Form- erkennung. Demgegeniiber h~ngt die Formerkennung vonder normalen

1 E. Jones, La vraie aphasie tactile. Rev. neurol. 14. 1907. A. t~edlich, StSrungen des Muskelsinnes und des stereognostischen Sinnes

bei der eerebralen Hemiplegie. Wien. klin. Wochenschr. 1893.

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im taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie.) 601

Funktion der Lokalisation viel mehr ab als die Gegenstandserkennung, sower die letztere nicht einfach auf der richtigen Formauffassung beruht.

Es scheint, daB die Lageempfindung der Finger und der Hand, die Lokahsation der bertihrten Hautstelle und der sog. Raumsinn, kurz die taktile Lokalisation in allen ihren XuBerungen es ist, welche den grSSten EinfluB auf die Form und Gegenstandserkennung ausiibt. Ist diese einmal gestSrt, so kSnnen wir mit einer starken Alteration der Form- und Gegenstandsperzeption rechnen. Da nun in den meisten F~tllen, wo eine sensorische Astereognosie diagnostiziert wurde, auch StSrung in der Lokalisation festzustellen war, ist anzunehmen, dab selbst bei sensorischen Stgrungen der Hauptgrund vornehmlich in der Schgdigung der r~tumlichen Lokalisation zu suchen ist. Dieser Urn- stand verringert die Rolle der sensorischen StSrung bei Entstehung taktiler Agnosien und unterstiitzt meine Vermutung, dab die Lokali- sationsstSrung entweder als eine besondere, yon den sensorischen StS- rungen unabh~tngige oder mit der AuffassungsstSrung (corticalen StSrung) eng zusammenhgngende Krankheitsursache darstellt.

Mit der Frage der Lokalisation steht die weitere Frage in Zusammen- hang, wie es kommt, daB Patienten trotz geringer sensibler StSrungen eine verhdiltnism~[3ig so geringe Anzahl yon Formen zu er/assen und von Gegenstdinden zu erkennen verm6gen ? Wenn auBer der Sinnesempfindlieh- keit auch die Lokalisation gesch~digt ist, dann lassen sich die deutlichen Abweichungen vonder normalen stereognostischen Leistung unschwer auf die vorhandene LokalisationsstOrung zuriiekfiihren. Selbstverst~ndlich ist es mSglich, dab sensorische StSrung aueh bei geringem Grade ein hin- reichender Grund fiir Auffassungs- und ErkennungsstOrung werden kann. Zum Beispiel kann ein Gegenstand darum nieht erkannt werden, weil seine stoffliche Struktur infolge StOrung des Vibrationssinnes nicht wahr- genommen wurde. In diesem Falle wird der Patient bei Bestimmung des Materials nach sekund~ren Kriterien suchen, wie etwa naeh Fest- stellung der Schwere, Temperatur, Dicke, Dingeigensehaften, welche eine viel geringere Differenzierung der Stoffe zulassen als die Tast- qualit~ten der Weichheit, H~rte, Gl~tte und Rauhigkeit. Damit lassen sich die stereotypen Urteile der Patienten, wie ,,Holz", ,,Eisen", ,,Pa- pier" erkl~ren. Alles, was kalt und schwer erscheint, wird als Eisen, alles, was weder sehwer noeh kalt empfunden wird, dabei aber eine gewisse Dicke hat, wird als Holz, und alles, was leicht und diinn erscheint, wird als Papier beurteilt.

Wie leieht sich anomale Reaktionen erzeugen lassen, 1/~Bt sich am besten am Normalen zeigen. Wenn Stoffe mit stark abgekiihlten I-Ianden oder bei gesehlossenen Augen mit sehr dicken Handschuhen betastet werden, so sind Beriihrungs- und Temperaturempfindungen

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602 G. R~v~sz: Psychologische Analyse der StSrungen

unter diesen Bedingungen beinahe aufgehoben, Vibrationsempfindungen herabgesetzt. Als Beispiel soll hier ein Auszug aus einer Versuchsreihe raitgeteilt werden, die ich an einem psychologisch nicht geschulten Be- obachter angestellt habe.

Tabelle 1.

Takt i l da rgebo tene Stoffe

Holz . . . . . . . . . . . Wolle . . . . . . . . . . . Nickel . . . . . . . . . . . Watte . . . . . . . . . . . Stanniol . . . . . . . . . . Blech . . . . . . . . . . . Gummi . . . . . . . . . . Quaste aus Wolle . . . . . Aluminium . . . . . . . .

ohne Handschuh

Holz + Wolle +

Messing + Watte -~

Stanniol -~ Blech +

Gummi + Quaste +

Porzellan +

Beurteilt

mi~ H a n d s c h u h

E i s e n - -

W a t t e ?

E i s e n ?

W o l l e ?

P a p i e r - -

h a r t u n d d i i n n - -

H o l z - -

G u m m i - -

h a r t

Stsrung in der Stofferkennung kann zuweilen auch ohne Herab- setzung der Vibrationsempfindlichkeit entstehen, wenn der Druck- und Temperatursinn und besonders die Motilitdt der Finger beeintri~chtigt sind. Wie Katz 1 nachwies, spielt die Bewegung bei Oberfli~chentastun- gen auch bei stereognostischen Leistungen eine so wichtige Rolle, dai3 man der Bewegung eine gestaltende Kraf t zusprechen kann. Seiner Ansicht nach ist die Bewegung fiir die Gestaltung der Tastphi~nomene prinzipiell genau so unentbehrlich wie das Licht ffir die Farbenempfin- dungen. I s t dem so, so ist es natiirlich, wenn bei StOrung der Motilit~t der Finger Gl~tte und Rauhigkeit und damit die ganze Mannigfaltigkeit der Oberfli~ehenstruktur nur in beschr~nktem MaBe zur Geltung kommt. I s t die Motaliti~t gehemmt, dann verliert das Tastorgan jene Beweglich- keit, Geschmeidigkeit, Elastiziti~t, die bei der Betastung und Prfifung von Stoffen erforderlich ist. Selbst Stoffe, mi t denen der Pat ient ti~glich in Beriihrung kommt, werden zuweilen nicht erkannt.

Am meisten wird unter motorischer StSrung die Formperzeption leiden. Die klinische Praxis liefert Fi~lle von motorisch bedingter Astereognosie in soleher Anzahl, dab es iiberfliissig ist, hierffir Beispiele anzuffihren.

Es sei uns erlaubt, hier noch auf die Frage der taktilen Ubbarkeit und ~bungs/estigkeit kurz einzugehen. Bei der reinen perzeptiven Astereognosie wi~re prinzipiell eine taktile Einpr~gung der Gegensti~nde mOglich. Es w~re n~mlich denkbar, dal3 der Kranke seine ver~nderten Empfindungen zu neuen taktilen Komplexen gestaltet. Seine weitere Aufgabe besttinde darin, zwisehen diesen neuen taktilen Gebilden und

1 1). Katz, Der Aufbau der Tastwelt. Leipzig 1925.

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im taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie.) 603

den Gegenstandsvorstellungen feste Assoziationen zu stiften. Wie weir nun die Bildung soleher Assoziationen einem Kranken gelingt und welehe Bedeutung sie fiir die Wiedererkennung haben dfirften, l~f~t sich im allgemeinen nicht sagen. Immerhin sind die dabei entstehenden Schwie- rigkeiten grol~ und zum Teil -- wie ich glaube -- von prinzipieller Natur. Die erste Schwierigkeit sehe ich eben darin, dab die neuen taktilen Ge- bilde mit den frfiheren taktilen Eindrficken des Patienten nicht tiber- einstimmen, folglieh werden sie schon wegen der assoziativen Hemmung sehwer einpr~gbar sein. Ferner verblassen die eingepr~gten neuen tak- tilen Eindrficke, da sie mit ungewohnten, teils sogar widersprechenden optisehen Vorstellungsbildern verbunden werden, leieht wieder. Denn die optischen Vorstellungen k6nnen gewissermal]en die Rolle des Binde- stoffes haben, wovon der Konsistenzgrad der taktilen Erinnerungsbilder abh~ngt. Sehhe$1ich spielt hier auch noeh die mangelhafte Perzeption der Kranken eine bedeutende Rolle. Sie stellt eine der wiehtigsten Ur- sachen dar, warum Patienten auf nicht erkannte Gegenst~nde sieh nicht einfiben lassen. Infolge der Sensibiht~tsst6rung fallen die feinen Nuancen weg, alles flieftt ineinander fiber, wodurch manehe wichtigen, die Spezies besonders charakterisierenden Merkmale verwiseht werden. Ich nehme an, dal~ dieselben Erscheinungen, die man bei Tasterkennungsversuehen mit nacktem Fu$ beobachtet (siehe meine ausffihrliche Arbeit), auch bei den Patienten auftreten, indem die Konturen der Gegensti~nde ver- schwinden, r~umliche Verh~ltnisse falsch gedeutet und schnell vergessen werden. Da nun undeutliche Eindrficke keinen wirksamen Einpr~gungs- wert besitzen, ferner die auftauchenden, meistens inad~quaten visuellen Vorstellungen das taktile Bild in seiner Entstehung nicht zu unterstfitzen verm6gen, schliel~lich die Gegenst~nde ihren ph~nomenalen Charakter infolge Undeutlichkeit der Eindrfieke immerfort weehseln, so ist es verstgndlich, wenn taktil nieht erkennbare Gegenst~nde trotz wieder- holter Darbietung schon nach einer nicht zu langen Zeit nieht mehr wiedererkannt werden. Denn, wenn sieh Eindriicke nicht fixieren lassen, so lassen sie sich auch nieht im Ged~chtnis bewahren.

Diese Frage habe ich darum beriihrt, weil man oft den Versuch ge- macht hat, an perzeptiver Astereognosie leidende Mensehen auf die Er- kennung allt~glieher Gegenst~nde einzufiben.

6. Beziehung des taktilen Erkennens zur St~rung der Aut[assungsfunktion.

Bekanntlich hat man vielfaeh das Vorkommen einer Astereognosie, die nieht auf Sensibilit~tsstSrung beruht, in Abrede gestellt. Striimpell, der in seiner Praxis F~lle yon reiner taktiler Agnosie ohne Sensibilit~ts- stSrung nicht beobachtet hatte, bestreitet, da[~ die mitgeteilten F~lle auf zentrale St6rung zurtickzufiihren seien. Er wies darauf hin, dab in

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alien ibm bekannten F~llen der sog. reinen taktilen Agnosie eine ge- wisse Abstumpfung der Sinnesempfindlichkeit vorlag, vor allem in der Tiefensensibilit~t und in der Lokalisation, die er ffir unsere stereogno- stische F~higkeit grundlegend hielt 1. Stri~mpell l~13t die MSglichkeit einer echten taktilen Agnosie zwar zu, doch dfirfte sie dann zu den grS~ten Seltenheiten geh6ren, wie z. B. der Fall yon Bonhoe//er ~ und Kramer a. D~]~rine stellt sich auf einen radikalen Standpunkt, indem er es fiir aus- geschlossen erkl~rt, da{~ taktile Agnosie ohne Sensibilit~tsst6rung iiber- haupt vorkommen kSnnte. (,,Cette agnosie est toujours due s un trouble de la sensibilitd")4. Alle diejenigen, die sich dem Vorkommen sog. ,,rei. her" oder corticaler taktiler Agnosie gegenfiber ablehnend oder skeptisch verhalten, meinen, dal~ schon die geringsten St6rungen in der Sensibilit~t (und Motilit~t) geniigen, Symptome der taktilen Agnosie bzw. Astereo- gnosie auszulSsen.

Zu der vorliegenden Meinungsverschiedenheit kann man folgendes bemerken :

Es ist in der Tat yon groitem Gewicht, wenn Kliniker wie Stri~mpell und D~j~rine w~hrend ihrer langen klinischen Praxis keinem Fall be- gegnen, bei dem taktile Agnosie ohne Sinnesst6rung zur Beobachtung kam. Daraus kann man aber nur auf ihre Seltenheit und nicht auf ihre Unm6glichkeit schliei3en.

Die Tatsache, dab in den meisten Fi~llen der angeblichen reinen Astereognosie Sensibilit~tsst6rungen festzustellen waren, reicht nicht aus, umfangreiche St6rungen bezfiglich der Form- und Gegenstands- erkennung ausschliei31ich durch Schadigung der sensorischen Funktionen zu erkl~ren. Das gilt besonders dann, wenn mit geringer Sensibilit~ts- st6rung die g(inzliche Au/hebung oder eine starke Beeintr~chtigung der Form- und Gegenstandserkennung einhergeht, oder wenn sich die St6- rung nachweisbar nur auf solche Sinnesfunktionen bezieht, die bei der Form- und K6rperwahrnehmung keine besondere Rolle spielen. Schon der Umstand, dai3 sehr deutliche Sinnesst6rungen mit geringen stereo- gnostischen Abweichungen auftreten k6nnen, ferner, dal3 unsere stereo- gnostischen Leistungen dutch kfinstlich hervorgerufene Sensibilit~ts- verringerung wenig zu beeinflussen sind, muir uns bei der Interpretat ion zur Vorsicht mahnen. Vorsicht in der Interpretation fordern besonders die Fi~lle, wo z. B. bei vollsti~ndigem Verlust der Gegenstandserkennung die Sinnesfunktionen mit Ausnahme des Drucksinnes und der aktiven

1 A. Striimpell, Die Stereognose durch den Tastsinn und ihre St6rungen. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 60. 1918.

2 Siehe FuI3note 2, S. 599. 8 F. Kramer, Die corticale Tastl~hmung. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol.

21. 1907. 4 j . Dd]drine, Consid4rations sur la soi-disant ,,aphasie tactile". Rev. neurol.

14. 1906.

Page 20: Psychologische Analyse der Störungen im taktilen Erkennen

im taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie.) 605

Bewegung intakt geblieben sind (Ho]/manns 11. FalP) oder wo die St(i- rung sich blof~ auf einen einzigen Finger besehri~nkt. Genau geprtift und vorsiehtig interpretiert mtissen ferner die Fi~lle von partieller Astereo- gnosie werden (Gordon) und solche, wo nach allmahliehem Versehwinden der sensorisehen StSrung die herabgesetzte stereognostische Fahigkeit bestehen bleibt (Redlich ~, Ri~mke3), insofern die Astereognosie hier nicht als Uberbleibsel umfassender SensibilitatsstSrung aufzufassen ist, eine Erklarung, die Malling 4 auch bei allen reinen Fallen anzuwenden geneigt ist.

Die Forderung einiger Autoren, astereognostische F~tlle ohne jegIiche SensibilitatsstSrung aufzuweisen, ist sehr schwer zu erffillen. Nicht etwa darum, weil Astereognosie mit sensibler StSrung notwendig verkniipft ist, sondern weil -- wie Goldstein hervorgehoben hat -- aus rein lokali- satorischen Grfinden dieselben Griinde, die die reine Astereognosie zur Entstehung bringen, auch die Sensibilitat leicht beeintr~chtigen kSnnen 5. Andererseits muf~ aueh darauf geachtet werden, daf~ taktile Leistungs- stSrungen auch sekunddir durch FunktionsstSrung in anderen Gebieten zustande kommen kSnnen. Ist z. B. durch FunktionsstSrung die visuelle Raumanschauung beschadigt, so wird infolgedessen die Kranke eine Tast- stSrung erleiden, wie aus dem bekannten Fall von Gelb und Goldstein her- vorgeht, nicht darum, weil eine spezielle StSrung auf dem Tastgebiete vorliegt, sondern weft infolge der StSrung in der Visualisation der Patient zu keiner ri~umliehen Vorstellung, also auch zu keiner taktil-r~umlichen, fahig ist. Es liegt nahe, die sog. corticale TaststSrung als Folgeerschei- nung einer allgemeineren GrundstSrung (die Unfi~higkeit, Reizkomplexe zu einer Einheit zusammenzuschlieBen) anzusehen, zu deren Symptomen eben auch die TaststSrung gehSrt.

Es ist keineswegs ausgeschlossen -- wie ich schon oben er- w~hnte -- , daB, wenn man die betreffenden Patienten auch auf andere Leistungen hin untersucht und die Ergebnisse einer phanomenologischen Analyse unterworfen hi~tte, man auBer den taktilen noeh andere minde- stens so ausgepragte und vielleicht grundlegendere psychisehe StSrungen hatte feststellen k6nnen.

Diese Auffassung findet neuerdings eine Sttitze in dem Nachweis, dab geringffigige periphere StSrungen, allerdings von ganz bestimmter Art, ausgepr~gte TaststOrungen verursachen kOnnen.

Durch diese Feststellung hat die radikale Auffassung yon Ddj~rine, daI3 namlich die taktile Astereognosie stets sensorisch bedingt ist gegen-

z Siehe Ful3note 1, S. 595. 2 Siehe FuBnote 2, S. 600. 3 H. C. R~mke, Over,,Astereognosie". Nederlandsch tijdschr, v. geneesk. G9. 4 K. Malling, Om Astereognose. Hospitalstidcnde 51. 1908.

K. Goldstein, ~ber Aphasic. Neurol. u. psych. Abh. aus dcm Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie 1927.

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606 G. R6v6sz: Psychologische Analyse der St6rungen

fiber der Wernicke schen Annahme an Wahrscheinlichkeit zugenommen. Es zeigte sich n~mlich, dab 1. geringe Sensibiliti~ts- und Motilit~ts- st6rungen, die schon durch die iibliche, ziemlieh unexakte klinische Me- thodik bei den angeblichen ,,reinen" Fi~llen festzustellen waren, meistens gar nieht so unbedeutend sind, dab man sie vernachl~ssigen k6nnte, 2. (und das ist das Wiehtigste) sollte die Stereognosie, die Angabe der ri~umlichen Verhi~ltnisse (Gr6f~e, Lage, Richtung usw.), die Lokalisation, die Gegenstandserkennung nieht allein yon der Intakthei t relativ ein- facher Empfindungsinhalte abhi~ngen, sondern auch vom normalen Emp/indungsablau/. Ist also der Erregungsablauf der Hautsensibilit~t veri~ndert, so kann es zu Leistungsst6rungen kommen, ohne dab dabei die Hautsensibilit~t erhebliehere St6rungen aufweisen mfiSte 1.

Angenommen, daI~ man durch die Veri~nderungen, die durch Funk- tionswandel erzeugt werden, eine ausgepri~gte ,,reine" Astereognosie befriedigend erkl~ren kann, gibt uns selbst dieser Umstand noch kein Reeht, das Vorkommen der ,,eorticalen" Tastli~hmung einfach in Abrede zu stellen. An soleh eklatanten F~llen wie z. B. denen von Bonhoe]/er,

Kramer, Magnus, Alsleben mu$ erst der Naehweis erbracht werden, da$ sie stets mit Funktionswandel verkniipft sind. Anderseits mfil~te be- s t immt werden, ob mit dem Funktionswandel stets eine Sehi~digung im Dingerkennen verbunden ist. Ferner ist es noeh erforderlieh, naehzu- weisen, ob die typisehen Verschiedenheiten innerhalb der ,,reinen" F~lle dutch die Wirkung des Funktionswandels verst~ndlich gemaeht werden k6nnen. Wie es aueh sein mag, mfissen wir in der Arbeitsrichtung von v. Weizsdicker und Stein einen Fortschrit t erblicken, der manehe Wider- sprfiehe in der Frage der taktilen Agnosie zu 10sen vermag.

Zusammenfassend kann soviel gesagt werden, daf~ wahrscheinlich eine gr6i~ere Anzahl von Fi~llen, die als Wernickesche Tastli~hmung dia- gnostiziert wurden, sensoriseh bedingt waren. Man kann annehmen, dal~ in etlichen Fi~llen die gest6rte Sensibiliti~t unbeaehtet blieb, weft die Kranken eher auf Ausfi~lle als auf die Funktion untersueht worden sind, weil man nieht alle Erscheinungen untersucht und bertieksichtigt hat, die ein Kranker bietet, und weil man die Leistungsausf~lle und die fal- sehen Reaktionen nicht in gebfihrender Weise erforseht hat; schlief~lich weil man den Weg, durch den der Patient zu seinen Leistungen, Urteilen kam, beinahe ganz aul]er aeht lieB.

7. Ein Fall aus meinem pathologischen Material. Zum Schlul3 mSchte ich aus meinem pathologischen Material einen

Fall ausfiihrlich besprechen.

1 Freiherr V. v. Weizsdcker, l~ber den Funktionswandel usw. Pfliigers Arch. f. d. ges. Physiol. 201. 1923. - - H. Stein, Nachempfindungen bei Sensibilit~ts- stSrungen. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 50. 1923.

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lm taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie.) 607

Patient K. Su., 36 Jahre alt (Mann). Diagnose: Multiple Sklerose. Ergebnis der klinischen Priifung: Starker Tremor; typische Spraehst6rungen;

beiderseitigen Nystagmus. Motorische Kraft des Patienten in den oberen Extremit~ten nicht grol3, links

jedoch etwas gr61]er als rechts. In den unteren Extremitaten besteht rechts deutlicher Spasmus, pathologisch

gesteigerte Sehnenreflexe, Knie- und FuBclonus kann hervorgerufen werden. Der Fundus oculi zeigt eine temporale Bleichung der Papilla nervi optici; im

Gesichtsfeld beider Augen zentrale Scotoma. Ausfall der Bauchdeckenreflexe; zunehmende Blasenbeschwerden 1.

Zur allgemeinen Charakteristik sei mitgeteilt, dal~ die Intelligenz des Patienten - - soweit es sich aus den Beobachtungen wi~hrend einer l~n- geren Zeit erkennen liel~ - - in keiner Weise gest6rt war. (~ber seinen Krankhei tszustand war er gut informiert, sprach fiber seinen Beruf ver- sti~ndig, teilte uns einige Ereignisse aus seinem Leben mit, war fiber die gegenwartigen politischen und sozialen Zust~nde gut orientiert.

Die Sinnesst6rungen waren links viel sti~rker ausgeprhgt als rechts. Die Ergebnisse der Sinnesprfifung bezfiglich der linken Hand lassen sich folgendermal~en zusammenfassen:

Beriihrungsemp/indlichkeit, mit Wat te geprfift, erwies sich als unge- stSrt. Ebenso liel3 sich in der Druckemp/indlichkeit keine bemerkbare Anomalie feststellen, und zwar weder in bezug auf den oberfl~chliehen wie auf den tiefen Drucksinn. Gegen Schmerzreize ist Pat ient sehr emp- findlieh, selbst eine oberfl~chliche Berfihrung mit einer Nadel 16st bei ihm eine ~uBerst schnelle Abwehrreaktion aus. Die Hyper~sthesie be- zieht sich viel mehr auf die linke als auf die relativ normale rechte Hand. Auf Grund einer Prfifung des Temperatursinnes dureh Beurteilung ver- sehiedener K6rper auf ihre thermisehen Qualit~ten (Katz) mul~ die Temperaturempfindliehkeit des Patienten als vollkommen normal be- t raehte t werden. Die Vibrationsemp/indungen wurden zuni~ehst mi t einer a-Gabel untersucht in der Weise, dal3 wir die Gabel auf die einzelnen Finger drfickten. Der Vibrationssinn zeigte sich partiell gestSrt, indem Daumen- und Zeige- und Mittelfinger der linken Hand Vibrationen kaum spfirten. Am deutliehsten kam die StSrung an den Endphalangen zum Ausdruek, und zwar sowohl im inneren volaren Teil als auf dem dor- salen Rfiekenteil. Sehwaehe Vibrationen wurden yon dem Patienten iiberhaupt night gespfirt, blo13 die starken Anfangsschwingungen. StSrung des Vibrationssinnes wurde such auf Handriieken, Stirn, Nasen- bein, Sch~del und Arm beobaehtet. Bei der Untersuchung der Dicken- emp/indlichkeit fiir starre Fl~chen verwandten wir 6 Metallpl~ttehen, die voneinander um einige Zehntel Millimeter abwichen. Es stellte sich her- aus, dab die Empfindliehkeit des Patienten fiir Diekenunterschiede ge-

l Krankengesehichte yon Prof. Dr. K. H. Boumann.

Z. f. d. g. Neur. u. Psych . 115. 39

Page 23: Psychologische Analyse der Störungen im taktilen Erkennen

608 G. R6v6sz: Psychologische Analyse der StSrungen

stSrt war. Demgegeniiber war das Ergebnis bei der Prfifung der Dicken- empfindlichkeit fiir biegsame Fl~chen, wobei wir eine Anzahl yon Papieren yon einem Dickenunterschied yon 0,5 mm verwandten, sehr zufrieden- stellend. DaB der Patient Dickenunterschiede der Metallfl~chen yon 0,5 mm nicht wahrzunehmen vermochte, indessen bei Papieren solche yon 0,005 ohne Schwierigkeit beobachtete, erkl~rt sich dadurch, dal3 in beiden F~llen verschiedene ~qinnesdaten zugrunde liegen. In dem ersten Falle kommt das Urteil auf Grund yon Lage- und Spannungsempfin- dungen der Finger zustande, in dem zweiten auf Grund der Oberfl~chen- struktur und vor allem der Elastizit~t des Papiers. Man wird es dem- gem~l~ natfirlich linden, wenn unter pathologischen Umst~nden die eine Art der Dickenempfindlichkeit gest6rt sein kann, die andere da- gegen intakt.

Die simultane Raumschwelle wurde an dem volaren distalen Teil der Grundglieder der Finger untersucht. Die Schwelle auf der linken Hand an der volaren Fl~che der Endphalangen der Finger lag zwischen 13 und 20 ram. Da unter normalen Umst~nden an den Fingerspitzen schon bei einem Abstand yon ca. 2 mm eine r~umliche Sonderung der Spitzenabsti~nde mSglich ist, mul3 der ,,Raumsinn" des Patienten stark gest6rt sein.

Trotz der starken Herabsetzung des sog. Raumsinnes war die Lokali- sations/iihigkeit nicht gest6rt. Der Patient konnte den beriihrten Haut- bezirk der Finger stets fehlerlos angeben.

Die Aristotelische Ti~uschung wurde sowohl an der linken wie an der rechten Hand wahrgenommen. Eine kleine Anomalie schien dennoch vor- handen zu sein, indem an den Seitenfl~chen der Finger der linken Hand vielfach nur ein Gegenstand gefiihlt wurde.

Bei der Priifung (ter kiniisthetischen Empfindungen ist es uns weder bei aktiven noch bei passiven Bewegungen gelungen, St6rungen nachzu- weisen. Der Patient konnte die von uns vorgezeigten Bewegungen bei offenen wie bei geschlossenen Augen richtig nachmachen. Ebenso gut gelang es ihm sprachlich geschilderte Bewegungen auszufiihren. Kleine passive Bewegungen in dem Interphalangealgelenk der Finger, im Hand- gelenk usw. wurden vom Patienten sehr deutlich wahrgenommen und die Richtung derselben fehlerlos angegeben.

Die Lageemp/indung erwies sich ungestSrt. Zusammenfassend kSnnen wir sagen, dai3 beim Patienten blo[~ der

Vibrationssinn und der sog. Raumsinn gest6rt waren, wi~hrend die rib- rigen Hautempfindungen und die Lokalisation keine Abweichungen zeig- ten. Da nun Katz 1 nachwies, dal3 bei feinerer Unterscheidung der Ober- fl~chenstruktur und bei taktiler Erkennung der Stoffe die Vibrations- empfindungen eine groBe, vielfach sogar eine entscheidende Rolle spielen,

1 Siehe FuBnote 1, S. 602.

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im taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie.) 609

miissen wir diesem Fall sine besondere Bedeutung zusprechen, da er geeignet ist, die Auffassung von Katz fiber die Funktion des Vibrations- sinnes im pathologischen Gebiet zu erproben. Dieser Fall ist um so wichtiger, als die StSrung des Raumsinnes hierbei ohne Belang ist, was darauf schlieBen li~Bt, dab er ffir die Leistungen des Tastsinnes nicht besonders maBgebend ist.

Unsere erste Aufgabe bestand also darin, den Patienten hinsiehtlich seiner Unterscheidungsfi~higkeit fiir Rauhigkeitsdi//erenzen zu prfifen. Zu diesem Zwecke haben wir eine rein abgestufte Reihe von Papieren und Leinen zusammengestellt. Der Patient durfte die Tastfli~chen bei geschlossenen Augen und verstopften Ohren beliebige Zeit betasten. Die Rauhigkeitsdifferenzen zwisehen den Tastfl~chen waren so deutlich, dab sie mit abnehmender Rauhigkeit von allen Normalen in fibereinstim- menderWeise geordnetwurden. Der Patient war jedoch nicht imstande, Unterschiede selbst zwisehen welt voneinander abstehenden Fl~chen wahrzunehmen. So wurde z. B. 1 (marmoriertes Papier) und 10 (grobes Leinen) ,,fast gleich", 1 und 6 (rauhes Paekpapier) ,,gleich", 1 und 11 (sehr grobes Leinen) ,,letztere etwas rauher" beurteilt.

Es ergibt sich also, dal~ Patient die Qualit~ten der Oberfl~tchen- tastungen, d. h. die Gli~tte und die Rauhigkeit zwar erleben kann, aber nicht imstande ist, deuttiche Rauhigkeitsunterschiede wahrzunehmen.

Eine weitere Aufgabe war festzustellen, wie Patient verschiedene Materialien beurteilt.

Tabelle 2.

Tastmaterialien Urteil

glattes Papier rauhes Papier weiches Leinen Voile de cotton feine Seide, sehr glatt feine Taftseide, rauher leichte Foulard- Seide Cr6pe de Chine Sammt, gestreift Stoff (Covercoat) Frott6-Stoff, rauh und weich

Karton Karton Karton, rauh Karton, sehr rauh Karton Papier Karton, rauh Karton, noch rauher Karton, rauh Karton oder Papier Karton, sehr rauh

Es zeigte sich auch hier, dab der Patient gi~nzlich unfi~hig war, die ihm dargebotenen Stoffe zu erkennen. Sein Urteil bezog sich eigentlich auf die Unterlage (Pappe), worauf dis Stoffe aufgezogen waren, die dureh die intakte Empfindlichkeit ffir H~rte und Weichheit leieht zu erkennen war.

Da das Ergebnis mit diesen Stoffarten negativ ausfiel, versuchten wir die Stofferkennungsfi~higkeit des Patienten noch mit im allt~glichen

39*

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610 G. R6v~sz: Psyehologische Analyse der St5rungen

Gebrauch befindlichen Materialien zu priifen. Dieser Versuch fiihrte zu folgenden Resultaten:

Tabelle 3.

Tastmaterial Urteil

Pappe bedeckt mit Leinen grobes Sandpapier glattes Leinen (gest~rkt) Wachsleinwand weiehes Tueh Filz Linoleum Tannenholz, gehobelt Fiehtenholz, gehobelt

~las Aluminium Zinnplatte, d/inn Eisenblech Eisenbleeh, sehr rauh und rostig

? Karton, sehr rauh Karton Papier Karton ? Karton, vermute ich! Karton Papier; mit beiden H~nden

umschlieBend: dfinnes Holz. Glas Glas, weft es hart ist Holzplatte Glas Karton, aber etwas zu rauh

In seinem Urteil stiitzte sich der Kranke in erster Reihe auf die Druck- und Temperaturcmpfindungen, dahcr wurden auf Kar ton aufgezogene Stoffe, soweit sie keine K~lteempfindung auslOsten, beinahe immer als Kar ton beurtcilt. Die Oberflachcnstruktur der verschiedenen Stoffe l~l~t sich aber durch den H~rtegrad und Rauhigkeitsgrad und auch dutch den thermischen Charakter der Gcgenst~nde nicht immer so genau wahr- nehmen, dal~ man auf Grund dieser Feststellungen den Stoff spezifisch erkennen kSnnte. Es gibt Materialien, die beziiglich der H~rte und Rauhigkeit und sogar des Temperatureindruckes miteinandcr ann~hernd iibereinstimmen. Wenn sie auch nicht miteinander verwechselt werden, kommt es doch nicht zum Ausdruck, dal~ sie zu verschiedenen Arten ge- h5ren. In solchen F~llcn wird die feinerc Struktur der Oberflache, die Lagerung, die Verteilung der Elemente, die charakteristischen Uneben- heiten, die Faserung, die Klebrigkcit usw. ausschlaggebend scin. Die Wahrnehmung dieser feineren Struktur setzt aber neben einem intakten Vibrationssinn noch einen normalen ,,Raumsinn" voraus. Ist der Raum- sinn so gestSrt, dab diffcrente Teile dcr Oberfl~che nicht mehr zu unter- seheiden sind, so mug dadureh die Auffassung der mikromorphen taktilen Beschaffenheit stark beeintr~chtigt werden. Diese Annahme l~Bt sich iibrigens aueh an Normalen bcstatigen.

Stellen wir mit den oben angcfiihrten Tastmaterialien denselben Vet- such an, mit dem Unterschied, dal~ wir die Objekte nicht mit der volarcn Seite der 1. Phalange, sondern mit der Rtickseite des zweiten Gliedes der Finger betasten, dessen Simultanschwelle ungef~hr mit der der Volarseite des letzten Fingergliedes unseres Patienten iibereinstimmt (ca. 16 ram), so kommen wit zu folgenden Ergebnissen:

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im taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie).

TabeUe 4.

611

Tastmaterial Urteil einer normalen Urteil des Patienten Versuchsperson

glattes Papier Leinen Voile de cotton Taftseide Sammt Frott~

Karton LSsehpapier Karton, rauh Seide; Karton 1 Sammt sehr rauh, abet kein

Karton

dasselbe ? dasselbe dasselbe (Karton) Karton Karton

Auf Grund der fibereinstimmenden Ergebnisse der vergleichenden Versuehe miissen wir dem sog. Raumsinn, der sieh vornehmlieh, wenn aueh nicht aussehlieBlieh, auf die Sonderung und Lokalisation taktiler Eindriicke bezieht, bei der talctilen Erkennbarkeit der Materialien eine wichtige Rolle zuschreiben. Mag der Vibrationssinn auch an der Wahr- nehmung der Rauhigkeit, G1/~tte, H~rte und Weiehheit oder, um die Ter- minologie yon Katz zu gebrauehen, an der Erkennung der Modifikationen der Oberfl~ehentastungen den wiehtigsten Anteil haben, f/Jr die Spezi- fikationen derselben, f/Jr die Stofferkennung kann der Vibrationssinn allein nicht ausschlaggebend sein. Denn wfirde dies der Fall sein, so w~re es nicht verst~ndlieh, warum wir die verschiedenen Stoffe an der Dorsal- seite der Finger weniger gut erkennen als an der Volarseite, obgleich naeh- gewiesenerweise in den versehiedenen Teilen der Hand und der Finger keine erhebliehen Differenzen in bezug auf die Vibrationsempfindlieh- keit bestehen.

Zur Priifung der takti len Morphognosie boten wit dem Pat ienten aus Messing veffertigte geometrisehe Figuren dar. Die Ergebnisse sind in folgender Tabelle zusammengefaBt:

Tabelle 5.

Dargebotene Figur Urteil

Dreieck Viereck Kreisfl~che Fiinfeek Seehseck Siebeneek Neuneck Zehneck Zw61feck Sechzehneck Trapez

Kreissegment

richtig erkannt desgl. desgl.

Ffinfeek; Seehseck unbestimmt, nieht rund Sechseck beinahe Kreis Kreisfl/~che

Viereck; beim zweitenmal wurden die sehiefen Kanten wahr- genommen und das Objekt riehtig beurteilt

kann nicht beurteilt werden

1 In einer Riehtung betastet erschien der d~rgebotene Stoff Seide, in der ent- gegengesetzten Riehtung Karton.

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612 G. R@v~sz: Psychologische Analyse der St6rungen

Der Umstand, dab es dem Patienten erst nach l~ngerer Prfifung ge- lang, die schiefen Seiten des Trapezes zu entdecken, und dab das Ffinfeck nach analytischer Prfifung einmal als Ffinfeck, ein anderes Mal als Sechs- eck beurteilt wurde, l iBt vermuten, dab weder das Urteil , ,Trapez" noch das Urteil ,,Ffinfeck" auf Grund eines simultanen taktilen Formein- druckes gewonnen wurde. Dreieck, Viereck und Kreis schein t Patient in ihrer spezifischen Form unmittelbar wahrzunehmen, hingegen zur Er- kennung der fibrigen Flgchenfiguren gelangt er zweifellos nur durch I-Iilfen, wie z. B. durch Abz/~hlen der Seitenzahlen, Ecken. Ob Patient das Ffinfeck als Raumgestalt yon eigener Struktur erlebt hat, l iBt sich mit Bestimmtheit nicht feststellen; die Art und Weise, wie er die Figur prfifte, spricht dagegen. GroBe Schwierigkeiten bereitete es dem Pa- tienten, die Lagebeziehungen der Seiten wahrzunehmen. Es schien mir, als ob unser Patient im Gegensatz zu den Blinden, die bei ihrer haptischen Raumwahrnehmung sich angebHch pr imir auf die Form einstellen, sich zunichst die einzelnen Merkmale vergegenwirtigt hgtte. Wenn wir uns be- zfiglich der Leistungsfihigkeit unseres Patienten einen Vergleich erlauben dfirfen, dann k6nnen wir sagen, dab die Tastleistungen unseres Patienten hinsichtlich der Morphognosie zweidimensionaler Gebilde auf derselben Stufe stehen wie die der Blinden beim Tasten mit oftener Hand. Unter diesen zweifellos ungfinstigen Umstinden erkennen nimlich Blinde un- mittelbar nur Drei- und Vierecke, wihrend sie bei Figuren, die fiber die Seitenzahl 4 hinausgehen, nicht einmal die Seitenzahl simultan er- fassen k6nnen i.

Die Auffassung zweidimensionaler Figuren war also beim Patienten zwar prinzipiell nicht gest6rt, da er die F/~higkeit nicht verlor, einfache Formen wie Quadrat, Viereck und Kreis simultan als solche zu er- fassen. Etwas komplexere Formen konnte er aber schon wegen sen- sibler St6rungen weder einheitlich erfassen, noch auf sie auf Grund von Merkmalen schliel]en.

Die Gegens tandserkennung , die Chrematognosie wurde zunichst an alltgglichen Gebrauchsgegenst/~nden und bekannten Objekten unter- sucht. Bei geschlossenen Augen boten wir dem Patienten die Gegen- st/~nde zwecks Beurteilung und Benennung dar. Bei miBlungener Erkennung forderten wir ihn auf, den Eindruck zeichnerisch dar- zustellen.

Tabelle 6.

GegenstAnde Urteil

1. Taschenuhr 2. Schliissel

riehtig erkannt richtig erkannt

i Th. Heller, Studien zur Blindenpsychologie. Leipzig 1904. - - W. Sternberg, Die Raumwahrnehmung der Blinden. M/inchen 1920.

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im taktilen Erkennen. (Taktile Agnosie). 613

Tabelle 6 (Fortsetzung).

Gegenst~inde Urteil

3. Spule

4. Knopf aus Horn

| 5. Kamm aus Horn

6. Pferdchen aus Holz

7. ein Stiick Kreide v o n d e r Form:

8. Nagel (gebogen)

9. kleiner Krug (Spielzeug)

10. ~sthesiometer

11. Spule 12. Piippchen aus Holz 13. K6rbchen 14. F/illchen aus Holz 15. Holzschuh (Spielzeug) 16. Giraffe aus Holz 17. Bleistift 18. Streichholzschachtel

trotz langer Priifung nicht erkannt. Naehgezeiehnet:

nicht erkannt. Nachgezeiehnet:

nieht erkannt; s p ~ r ffir ein Stfiek Itolz gehalten. Naehgezeiehnet:

nicht erkannt; kann nicht nachzeichnen, weil zu kompliziert

nieht erkannt. Nachgezeiehnet:

riehtig erkannt

nicht erkannt. Nachgezeiehnet:

nicht erkannt. Naehgezeichnet"

richtig erkannt nicht erkannt richtig erkannt richtig erkannt richtig erkannt Pferdchen richtig erkann~ richtig erkannt

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614 G. R6v6sz: Psychologische Analyse der St6rungen im taktilen Erkennen.

Es l~13t sich also behaupten, da[~ der Patient gcwShnliche, allti~gliche Gegenst~tnde taktil erkennen kann, obgleich er wegen gest6rter Sensibili- ti~t die feineren Formungen der Objekte rein taktil nicht wahrzunehmen vermag.

Bei taktil weniger bekannten Gegenst~nden f ielder Versuch negativ aus. Einige Beispiele :

Ein mittelgrol3er h61zerner Vogel mit ,,Eine Art von Tier. Spielzeug. Da ist schr langem Sehnabel (Spielzeug). der Kopf, ein Vogelkopf; bier der

Schnabel, der Rumpf und die beiden Beine."

Hiindchen aus Glas. ,,Schwer zu beschreiben. Oben dicker als unten; es ist aus einem Stfick. Was es bedeutet, das weil3 ieh wirk- lich nicht ''z.

Kleines h61zernes Bert. ,,Eine kleine Schachtel." Sehr lange iiberlegt. Als ich ihn aufforderte, die Einzelheiten genau zu beachten, land er ,,4 FiiSe unten".

Kleiner Vogel aus Holz. Wird nicht erkannt, jedoch gut be- schrieben. Vorstellen kann er ihn nicht.

USW. USW.

Gegenst~nde, die dureh den Patienten nicht erkannt wurden, teils weil es sich um seltene Objekte handelte, teils well sie klein oder blofi Teile von Objekten waren, folglich nur durch Deutung, Interpretation Sinn erhalten, wurden mit anderen Objekten zusammen bei ge6ffneten Augen dem Patienten vorgelegt. Er sollte aus diesen Gegenst~nden die bereits betasteten aber nicht erkannten Objekte heraussuehen. Die Priifung gelang fehlerlos; die taktilen Eindriicke und die dadurch er- weckten optischen Hilfsvorstellungen geniigten also, um die Objekte optiseh wiederzuerkennen.

Sehliei~lich gaben ~ den Namen eines Gegenstandes an, der taktil nicht erkannt wurde oder taktil schwer oder fiberhaupt nicht zu erkennen war, und forderten den Patienten auf, aus einer Reihe yon Gegenstgnden den genannten taktil herauszusuchen. Patient 10ste auch diese Aufgabe recht gut. Es ist also nicht anzunehmen, dab die Visualisation des Pa- tienten irgendwie gest6rt war.

Ieh hoffe, da~ dieses Beispiel eine Vorstellung gibt yon den Ge- sichtspunkten, die mich bei der Untersuchung der pathologischen Fglle geleitet haben.

1 Als wir ihn darauf aufmerksam machten, dal3 es sich um einen Spielzeug- hund handelt~, land er den Kopf und die Ohren. Die Stellung des Tieres konnte er nicht angeben. Das riihrt wahrscheinlich davon her, dab sein Raumsinn ftir die ziemlich komplizierten Linien und Unebenheiten, die ffir die Stellung des K6rpers charakteristisch waren, nicht ausreiehte.