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Böses Erwachen Böses Erwachen Böses Erwachen Michael Thiel Michael Thiel Schattenwacht-Zyklus

Schattenwacht-Zyklus 1: Böses Erwachen

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Eine urtümlich-karge Eisenzeitwelt ist die stimmungsvolle Kulisse für den Krieg des letzten Drachen und seines Militärvolkes, den Chimäriern, gegen die bekannten Völker. Mittendrin eine naive Abenteurerin namens Laura, die auf einem harten Weg reifen muss. Die uralte Prophezeiung von Theb Nor, einst ausgesprochen um die Völker zu schützen, knebelt sie jetzt und hält sie in der drohenden Niederlage gefangen. Die Vier Könige, Halbgötter im Dienste der Götter, haben die Entstehung der Prophezeiung selbst erlebt und wissen um die wahre Bedeutung und Bedrohung. Sie kämpfen gegen den verborgenen Feind, merken aber bald, dass die Götter ihnen endlich Frieden schenken wollen. Ein anderer muss an ihre Stelle treten ...

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DEM ABGRUND ENTRINNEN

Eine brisant gemischte Gruppe von Abenteurern macht sich auf, den stets mächtiger werdenden Chimäriern zu widerstehen. Die Mischwesen aus Drachen- und Menschenblut scheinen unausweichlich die gesamte bekannte Welt zu unterjochen. Unterstützt von kampferprobten Gefährten und hadernden Halbgöttern, nimmt die junge und unerfahrene Halbelfin Laura die Herausforderung der dunklen Übermächte an.

„Böses Erwachen“ bildet den fesselnden Auftakt im sechsbändigen Kampf gegen das Imperium des Chimärierfürsten Schattenwacht. Insbesondere die realitätsnahe Darstellung der Kampfszenen versetzt die Leserschaft mitten ins Geschehen, saugt förmlich in den Strudel der Geschichte – und lässt Sie so fast am eigenen Leib erfahren.

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Schattenwacht-Zyklus

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Schattenwacht-Zyklus

ISBN 978-3-940-92800-9

10.95 € [A]9 783940 92800918.90SFr(UVP)

9.95 € [D]

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UMWELTHINWEISGedruckt auf holz-, säure- und chlorfreiem Papier

Deutsche Erstausgabe1. Auflage

Copyright © 2007 SCRATCH Verlag Simon Czaplok, HamburgPrinted in Germany 2008

Umschlagsillustration: Klaus Scherwinski, BielefeldInnenillustration: Flavio Bolla, Aarau (Schweiz)

Karte und Symbole: Lydia Schuchmann, WeiterstadtLayout und Satz: Thorsten Göde, Hamburg

Lektorat: André Krieg, HamburgDruck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen

ISBN 978-3-940-92800-9

http://www.scratch-verlag.de

Das vorliegende Werk einschließlich alle seiner Bestandteile ist urheberrechtlich geschützt. Jede urheberrechtsrelevante Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Recht der mecha-nischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und der Verarbeitung in elektronischen

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Michael Thiel

Böses Erwachen

Phantastischer Roman

- Aus der Welt der Erben von Theb Nor -Beginn des Schattenwacht-Zyklus

In Vorbereitung:Preis der Unsterblichkeit

Spiel mit dem FeuerSühne der KönigeSturz eines GottesEnde der Nacht

Hiermit wird der Schattenwacht-Zyklus enden.

SCRATCH Verlag Simon Czaplok

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Jedem gewidmet, der den Mut und die Kraft aufbringt,gegen den Strom toter Fische zu schwimmen.

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„Be your own disciple, fan the sparks of will“ ManowaR

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�Prolog

Mit ihrer runzligen, dicken Hand strich sie sich eine weiße Lockensträhne aus den müden Augen. Sie saß ganz allein am abendlichen Feuer, eine Wolldecke eng um den Leib geschlungen. „Mutter ...“, hauchte sie, als sie langsam den Kopf in den Nacken legte. Lächelnd genoss sie den majestätischen Anblick des Sternenhimmels über sich. „Bald folge ich Dir!“

Sie dachte an die Prophezeiung von Theb Nor. Diese uralte Priesterlehre hatte die Welt – den von Wasser umschlossenen Leib der Naturgöttin Heva – verändert, schon lange vor ihrer Zeit. „Wehe den Sorglosen! Geschichte wiederholt sich unaufhörlich“, hatte der Hohepriester Theb Nor vor weit über hundert Jahren gemahnt. Wann war es wohl wieder soweit? Und welcher Teil würde sich wiederholen?

Vor Jahrtausenden war es so,

Wie es sich heute wiederholen kann:

Überheblichkeit und maßlose Habgier

Schmiedeten einen Pakt

Mit dem Fürsten der Dämonen.

Er war und ist ein Feind der Götter,

Den Errichtern und Beschützern unserer Welt.

Ein lautes Knacken im nachtschwarzen Wald hinter ihr ließ sie aufspringen und herumwirbeln. Stöhnend rieb sie

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� sich darauf das Kreuz, doch ihre alten Augen durchdrangen aus schmalen Schlitzen die Dunkelheit. Ihr nicht geringes Gewicht verlagerte sie auf das linke Bein, da ihr rechtes Knie wie unter Dolchstichen vom Alter schmerzte. Ihre rechte Hand tastete nach dem Griff des eisernen Kurzschwertes in der Lederscheide.

Ihr Herz beschleunigte nicht sonderlich. Aber ihre Erinnerungen an Angreifer, dunkle Wälder, Blut und Schmerz rasten wie so viele Male zuvor durch ihren Kopf. Es roch nach Schuppen! Nach Chimäriern, den zweieinhalb Meter großen Drachenmenschen, gegen die sie in ihrer Jugend so oft hatte kämpfen müssen. Nie würde sie den harzigen Geruch der ockernen Schuppen und des kochenden Drachenatems vergessen. Oder das Gefühl des Fausthiebs einer solchen fünfhundert Pfund schweren Bestie. Pýucaani nannten sie sich selbst, geborene Soldaten mit ungeheurer militärischer Disziplin. Ihre Generäle waren von infernalischer Intelligenz und Genialität.

Die alte Kriegerin kratzte sich nervös an ihren leicht spitzen Ohren. Lautlos zog sie das Schwert aus der Scheide und verteilte vorsichtig das Gewicht auf beide Beine zurück; die Schmerzen im Knie hielten sich in Grenzen. Auch ihr Kreuz schien ihr heute nicht völlig den Dienst versagen zu wollen.

„Hevas Leib ist endlich befriedet, steck Dein Schwert weg!“, lachte eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit vor ihr.

„Pah! Man kann nie wissen, was außerhalb der Sichtweite der großen Stadtstaaten der Menschen heranschleicht! Hevas Leib ist groß!“, knurrte die Frau – und schob das Schwert mit einem Grinsen zurück. „Vielleicht bist Du irgendein

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�feindlicher Stammeskrieger auf der Jagd nach Eisen!“ Ihr Lächeln schwand schon wieder, aber nicht wegen ihrer Witzelei, sondern wegen der Prophezeiung Theb Nors, die noch immer durch ihre Gedanken spukte.

Doch der Feind ist nicht vernichtet!

Er lauert auf eine neue Chance,

Auf eine neue Schwäche in den Seelen,

Auf dass die Sterblichen selbst ihn befreien.

Denn da die Gefahr vergessen ward

Und die Bücher geleert,

Konnten sie neu gefüllt werden.

„Genau die Begrüßung, die ich von Dir erwartet habe!“, lachte die sich nähernde Stimme aus dem Wald. „Nun, wie geht es der größten Kriegerin der bekannten Welt?“

Jene Worte ließen das Lächeln der alten Halbelfin vollends verblassen, trotz des fröhlichen Klanges ihres Gefährten. Schmerzvoll an ihre Vergangenheit erinnert, schweifte sie ab, dachte viele Jahre zurück. Dachte an Dinge, die sie selbst erlebt, und andere, die sie viel später erst über die damaligen Ereignisse erfahren hatte ...

Kein Orakel vermag zu sehen,

Wie es im Himmlischen Krieg steht

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10 Zwischen Dämonen und Göttern.

Doch eins ist sicher,

Eins spüre ich so deutlich,

Wie die Pflanzen das Licht spüren:

Die letzte Entscheidung

Treffen die Sterblichen allein.

Schon sind die ersten Schergen befreit,

Dunkle Gegenspieler der Vier Könige,

Auf der Suche nach unserem freien Willen.

„Da kommen Reiter! Versteck dich!“, rief die Mutter ihrem Jungen zu. „Schnell! Und mach das Herdfeuer aus!“ Sie wich in den Schatten der Tonziegelhütte zurück, spähte aber weiter aus der Fensteröffnung. Ihre Augen fixierten zwei winzige Punkte im flirrenden Wüstensand, die sie nur vage als Kamele identifizieren konnte. Ihre Hände gruben sich in ihr schmutziges Leinenkleid.

Der Junge löschte das Herdfeuer mit einem Wasserschwall aus dem bereitstehenden Ledereimer. Dann lief er zum Fenster und starrte mit großen Augen und offenem Mund hinaus.

„Melek! Versteck dich im Vorratsraum!“, herrschte die Mutter ihn an und funkelte böse auf ihn herab.

„Sind das Chimärier, Mama?“, fragte Melek und blickte

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11furchtsam zu seiner Mutter auf. Nur in den dunkelsten aller Geschichten wurden jene Monster erwähnt.

„Nein“, antwortete sie zögerlich, „aber das ist unwichtig für uns einfache Bauern.“ Sie spähte sorgenvoll aus dem Fenster, wischte nervös dicke Schweißtropfen von der Stirn und atmete flach durch den offenen Mund.

„Die reiten ja ganz langsam!“, rief Melek erstaunt und zeigte nach draußen.

Ohne Vorwarnung packte die Mutter den Jungen an den Schultern und zog ihn hinter sich her durch einen Vorhang in den zweiten Raum der Hütte. Sie stieß mit dem Fuß energisch einen blassen Webteppich von einer Holzluke.

Melek rief: „Was wird aus meinen Geschwistern und Vater auf dem Feld?“

Die Mutter antwortete nicht, sondern klappte die Holzluke auf. Zwei dicke Hanfseile, verbunden mit mehreren verknoteten Aststreben, führten als Strickleiter in ein dunkles Loch. „Rein da!“, befahl die Mutter, packte Melek am Arm und riss ihn bis direkt vor die Leiter.

Melek trat von einem Fuß auf den anderen und starrte gequält nach unten. „Ich will da aber nicht rein!“, jammerte er.

Im Nebenraum wurde die Eingangstür aufgerissen und schwere Schritte trampelten ins Haus. Melek und seine Mutter erstarrten, ihr Griff um seinen Arm wurde locker.

„Weib! Bist du hier?“„Vater!“, rief Melek und rannte durch den Vorhang in

die Arme eines kräftigen, schwarzbärtigen Mannes.„Mein Junge!“, lachte der Vater und hob Melek auf

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12 den Arm. Auch Meleks Mutter war inzwischen durch den Vorhang getreten. Die Eltern wechselten besorgte Blicke.

Hinter dem Vater standen drei junge Männer. Der jüngste und schmächtigste schloss die Tür, während die beiden älteren mit schmalen Augenschlitzen durch das Fenster starrten. „Ob die beiden die Wüste durchquert haben?“, raunte der Älteste.

„Dann hätten sie bestimmt Tigermänner gesehen!“, raunte der andere Junge am Fenster zurück.

„Irgendwas stimmt an denen nicht“, flüsterte der Älteste, lehnte sich vor und stützte sich auf der Fensterkante ab.

„Komm da weg!“, rief die Mutter entsetzt.„Aber er hat recht!“, brummte der Vater, „ich kann sicher

noch weniger erkennen als Amchad, aber ich glaube, das sind keine Menschen. Sie sind zu klein.“ Der Vater stellte sich hinter Amchad, den Ältesten, und blickte über dessen Schulter nach draußen. „Sieh ihre Beine an den Kamelen! Viel zu kurz!“

Amchad bekam große Augen und flüsterte: „Oder die Kamele sind so riesig!“

Inzwischen stand die ganze Familie neugierig an der Fensteröffnung und spähte in die Ferne, wo zwei Kamele gemächlich auf das Dorf zutrotteten.

Auf den Kamelen saßen zwei Obtaru: Kleinwüchsige eines mächtigen Stammes aus Hevas Mitte, einem Gebirge weit im Norden. Obtaru waren mit Zwergen und Gnomen verwandt, teilten jedoch nicht die zwergische Gier nach Reichtum oder die gnomische Gier nach Wissen mit ihnen.

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13Beide Obtaru, Mann und Frau, besaßen zerzaustes, schwarzes Haar und kräftige Körper. Ihre einst bleiche Haut war von der Wüstensonne tiefrot gebrannt und pellte ab. Dem eisigen Gemüt der Obtaru entsprechend – ihr Schöpfer war der Gletschergott Mascilmur – erduldeten sie die Hitze jedoch mit Gleichgültigkeit. Sie trugen weiße, zu große Kaftane, wie menschliche Wüstenbewohner sie bevorzugten. Hinter ihren Sätteln türmten sich festgebundene Lederrucksäcke und Leinenbeutel. Auf den Köpfen trugen sie große Strohhüte, die nicht recht zu den Kaftanen passten, noch weniger aber zu den natürlichen Gewohnheiten ihres Stammes, der höchste Berge und eisige Gletscher bewohnte. Obtaru froren niemals, aber die Hitze einer Wüste kannten sie in ihrer Heimat nicht ansatzweise.

„Wirst Du durchhalten, bis wir da sind?“, fragte die Frau ein wenig amüsiert.

Der Mann knurrte bloß leise zur Antwort und schloss die Augen. In seinem Bart klebten ein paar Reste seiner Übelkeit. „Ich hasse reiten“, murmelte er, „und noch mehr hasse ich Kamele.“ Er wischte sich über die nasse Stirn. „Aber das Schlimmste ist diese Hitze! Die Verteidigung des Westpasses gegen die Chimärier und Tiefenweltler vorletztes Jahr war weniger schlimm.“

„Das war ein Verrat und ein Gemetzel!“, empörte sich die Frau, „viele Krieger verloren ihr Leben!“

Der Mann schwieg. Erinnerungen an Kämpfe gegen deformierte Kreaturen, deren Obtaru-Vorfahren vor zahllosen Generationen in die Tiefe getrieben worden waren, verdarben ihm den Spaß am Nörgeln. Wir hätten

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14 nie die Berge verlassen sollen. Erst recht nicht gen Süden. Von wegen, große Schätze ... „Gierig wie die Zwerge“, hatte der Älteste gesagt … Verdammt, er hatte recht!

In der Ferne sahen die beiden, wie sich am Dorfrand Männer mit Knüppeln und allerlei Feldarbeitsgeräten ansammelten und sie erwarteten.

Der Mann seufzte entnervt und brummte: „Du redest.“

„Na gut“, erwiderte seine Frau, „aber sei nicht wieder so grimmig. Das würde mir das Gespräch nämlich wirklich erleichtern!“

Abermals knurrte der Mann bloß zur Antwort. Grimmig zu sein war unter Obtaru eine veraltete religiöse Pflicht, um dem Vorbild ihres Schöpfers Mascilmur nachzueifern.

„Haltet eure Kamele an! Keinen Schritt näher!“, rief ein Mann mit einem abgewetzten Knüppel, als die Obtaru in Rufweite kamen und ihre Gesichter unter den Strohhüten erkennbar wurden.

Die beiden gehorchten. Die Frau rief: „Wir sind Dolgos und Mirthu. Wir haben die Wüste durchquert und wollen jetzt nichts weiter als einen Schlafplatz und Vorräte. Wir können mit Münzen dafür bezahlen.“

Die Männer des Dorfes steckten die Köpfe zusammen und murmelten, während Dolgos und Mirthu ruhig abwarteten. Weder kannten die Männer Obtaru – oder deren bekanntere Verwandte, Gnome und Zwerge – noch konnten sie mit Münzen viel anfangen. In Dörfen wie diesem war Tauschhandel üblich.

Schließlich rief der Wortführer mit dem Knüppel:

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15„Ihr könnt in Solmeks Stall schlafen. Aber ihr müsst alle Waffen abgeben. Ihr bekommt sie erst bei eurer Abreise wieder, und die sollte bald sein.“

„Einverstanden!“, rief Mirthu zufrieden. Sie hüpfte aus dem Sattel und führte ihr Kamel am Zügel weiter.

„Endlich“, seufzte Dolgos und sprang ebenfalls hinab. Für einen Moment blieb er genau so stehen, wie er auf den Füßen gelandet war, und schloss die Augen. „Ich hasse Kamelreiten“, knurrte er.

Mirthu und Dolgos hatten sich in der kühlen Nacht noch bis zu einem Heiler und Alchimisten durchgefragt. Die Tonziegel seines Hauses waren weniger schief als die der meisten anderen Hütten. Außerdem war das Haus so groß, dass es zwei, vielleicht sogar drei getrennte Räume besaß statt einen. Durch eine Tür aus Astgeflecht – einem teuren Prunkstück – waren die Obtaru in den rotgoldenen Feuerschein des Hauses gebeten worden und hatten ihr Anliegen geäußert.

„Nein, so wird das nichts!“, krächzte der alte Mann und ballte die knorrigen Fäuste. Mirthu und Dolgos blickten zu ihm hoch, während er vor seinem Experimentiertisch aus Ölbaumholz so energisch auf und ab rannte, dass die Tontiegel und Kupferfläschchen darauf bei jedem Schritt klirrten. Es roch plötzlich nach Humus und Zitrone.

„Beruhigt Euch“, sagte Dolgos eisig.„Ohne mich könntet ihr nicht mal anfangen zu suchen!

Ich will den fünften Teil des Schatzes ... und das Pfund Gold!“

„Entweder oder“, erwiderte Dolgos trocken. Bedächtig

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16 nahm er seinen Strohhut ab, wusste er doch, dass er mit seiner Halbglatze und dem schwarzen Haarkranz immer noch ernstzunehmender wirkte, als mit dieser wenig würdevollen Kopfbedeckung.

„Nein!“, schrie der alte Mensch unbeeindruckt. „Ich habe noch nie ein Abenteuer erlebt, ich werde jetzt nicht dabei sein und auch in der Zukunft nichts mehr erleben. Aber einen Teil eines Schatzes werde ich kriegen! Und dazu die reguläre Bezahlung, ein Pfund Gold. Entweder das – oder ihr bekommt eben den Trank nicht. Dann könnt ihr ja sehen, wie weit ihr in der verfluchten Ruine kommt!“

Dolgos neigte den Kopf angriffslustig nach unten und funkelte den Greis böse an. Mirthu schwieg nachdenklich und kratzte sich nervös am Arm.

Der Greis begann siegessicher zu lächeln. Er entspannte die Fäuste und fuhr sich durch den langen weißen Bart.

„Den zehnten Teil des Schatzes, nicht mehr“, knurrte Dolgos zornig.

„Den fünften“, antwortete der Greis mit höhnischer Höflichkeit und grinste noch breiter.

Dolgos presste Lippen und Zähne fest aufeinander. Seine Fäuste zerknitterten die Hutkrempe, die leise knirschend und knackend dagegen protestierte.

Mirthu seufzte schließlich: „Einverstanden.“Dolgos riss die Augen auf, fuhr herum und stierte

Mirthu an. „Wir haben beim Feilschen schon gegen Zwerge gewonnen, und jetzt das! Das kannst Du nicht zulassen!“, rief er fassungslos.

„Vergiss es. Ohne den Trank können wir die Ruine nicht betreten“, murmelte Mirthu geknickt.

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1�„Das weißt Du doch gar nicht!“, brauste Dolgos auf und wirbelte dabei seinen angeschlagenen Strohhut haarscharf an einem Tonfläschchen auf dem Alchimistentisch vorbei. Mit glühenden Augen funkelte der Greis den Strohhut an.

Mirthu wurde ebenfalls lauter. „Willst Du es etwa ausprobieren? Was, wenn die Legende stimmt, wenn der Ort verflucht ist und wir uns gegenseitig an die Kehle gehen würden?“

Dolgos prallte ob dieser Vorstellung leicht zurück, blieb aber auf den Fersen stehen. Er rang sein Erstaunen nieder und widersprach zaghaft: „Das könnte uns doch nie passieren.“

Mirthu blieb hart und stemmte die Fäuste in die Hüfte. „Ich bin nicht bereit, das Risiko einzugehen. Wir brauchen den Trank. Wenn der Preis dafür ein Pfund Gold und ein Fünftteil des Schatzes ist, dann sei es so. Es bleibt uns mehr als genug übrig.“ An den Greis gewandt, bestätigte sie nochmals: „Wir sind einverstanden, Meister Kanfir.“

Kanfir lächelte breit, zwirbelte seinen Bart und erklärte: „Sehr gut. Seid morgen zur Mittagsstunde wieder hier, dann ist Euer Trank fertig.“

Die Obtaru verließen das Haus des Alchimisten und tauchten in die helle Wüstennacht ein. Dolgos trat einen kleinen Tonbrocken fort und brummte: „Ich weiß sowieso nicht, wie ein Trank unsere Seelen vor Flüchen beschützen soll. Ein Trank ist für den Körper da, nicht für die Seele. Und woher weiß der Trank, was ein Fluch ist und wie und wann er uns trifft?“

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1� Mirthu seufzte theatralisch und entgegnete: „Du bist ein Krieger und kein Alchimist, Du musst Dich damit nicht auskennen. Kanfir aber ist Alchimist, er kennt sich sehr wohl mit solchen Dingen aus. Ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl, dass er bloß vorgibt, es zu können. Vergiss nicht, wir sind weit weg von Mascilmur, vielleicht zu weit für seinen Schutz. Hier herrschen fremde Götter! Wer weiß, was die von uns halten.“

Dolgos versetzte bitter: „Du bist eine Zwergin und kein Mensch. Du kennst Dich mit Menschen nicht aus. Kanfir ist aber ein Mensch. Menschen kennen sich mit Menschen aus, aber Du nicht! Und hab ich nicht gesagt, lass uns den Menschengöttern Opfer bringen? Jetzt würden sie sofort sehen, dass wir bloß scheinheilig wären.“

Mirthu blieb stehen. „Dann mach einen besseren Vorschlag, Sturkopf!“

Dolgos drehte sich zurück. „Selber Sturkopf! Geh doch! Ich bleibe einfach hier und warte ab, ob Du lebend zurückkehrst!“

Mirthu schrie: „Fein! Aber wenn ich es schaffe, gehört mir auch der Schatz allein!“

Dolgos übertönte sie abermals: „Wunderbar! Schrei doch noch lauter im ganzen Dorf herum, dass wir einen Schatz suchen!“

Betroffen klappte Mirthu den Mund zu und errötete. Kopfschüttelnd stapfte Dolgos davon und ließ sie stehen. Durch die eisige Gleichgültigkeit der Obtaru war die berühmte Sturheit der Zwerge durchgeschimmert – die sie anderen Völkern gegenüber stets bestritten.

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1�Melek rannte so schnell er konnte nach Hause. „Mama! Mama!“, schrie er, als er die Schwelle überflog und in den Wohnraum sprengte. „Die Gnome suchen einen Schatz! Der alte Kanfir hilft ihnen!“, japste der Junge außer Atem. Mutter und Vater sahen sich tiefgründig an und schwiegen. Melek blickte hektisch zwischen beiden hin und her. Weil niemand sofort etwas sagte, rief er: „Es ist in den Sandruinen! Ich weiß, wo die sind!“ Die Eltern reagierten erst im zweiten Moment. Ihre Augen wurden groß, doch da war Melek schon aus der Tür.

Dolgos war etwa hundert Obtaru-Schritte weit gekommen, da sah er einen kleinen Menschenjungen aus dem Dorf in die nächtliche Wüste rennen – in Richtung der Ruinen. Wütend drehte sich Dolgos um und schrie zu Mirthu hinüber: „Da hast Du es! So schnell geht das!“

Schlagartig alarmiert, rannte Mirthu zu Dolgos. Schon im Laufen rief sie: „Wir dürfen ihn nicht gehen lassen! Der Fluch wird ihn treffen, außerdem ist es viel zu gefährlich!“ Hinter Melek brüllte sie her: „Junge, komm zurück! Geh da nicht hin, das ist Dein Tod!“

Melek rief im Rennen über die Schulter: „Ihr wollt nur nicht, dass ich den Schatz kriege!“

Mirthus Schultern sackten herab und sie seufzte. Wieder kratzte sie sich nervös an den Armen.

Dolgos starrte finster vor sich hin. „Mutiges Bürschlein“, brummte er mit einer gewissen Anerkennung.

Unbewusst wanderte seine Hand zu der Stelle, wo sonst der Griff seiner Eisenaxt war. „Das wird Ärger geben. Besser, wir verschwinden.“

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20 Mirthu riss die Augen auf. „Du willst Dich verdrücken? Wir sind verantwortlich! Wir müssen den Jungen zurückholen!“

Dolgos’ Miene wurde noch schwärzer. „Dann finden wir jetzt also raus, ob wir den Trank gebraucht hätten oder nicht.“ Mirthu nickte entschlossen und stapfte los. Dolgos schälte einen flachen, vorn spitzen Faustkeil aus seiner engen Hosentasche unter dem Kaftan hervor und folgte der Gefährtin.

Hinter sich hörte er weitere, höchst eilige Schritte. „Wir holen den Jungen schon. Bleibt Ihr lieber hier“, brummte Dolgos über die Schulter. Unschlüssig drehte er seinen Faustkeil in der Hand hin und her, um herauszufinden, wie er zum Kämpfen am besten zu halten war. Dolgos hatte sein ganzes Leben lang gekämpft, aber nicht gegen Flüche oder Geister. Seine Nackenhaare sträubten sich.

„Niemals!“, rief Meleks Vater und holte den kurzbeinigen Obtaru mühelos ein. „Weib! Hol meine Söhne aus der Taverne und schick sie mir nach!“, rief er der Mutter zu. Sie war am Dorfrand stehen geblieben.

„Ich kenne den Fluch, der auf den Sandruinen liegt!“, behauptete der Vater, „ich weiß, was wir tun müssen.“

Erfreut sah Dolgos zu ihm auf. „Wirklich? Wunderbar! Erzählt, mein Freund! Wie ist Euer Name? Ich bin Dolgos, und der runde Hintern da vorn gehört Mirthu.“ Obtaru besaßen – wie die Zwerge – einfach kein Talent für Humor, und versuchten sie doch, witzig zu sein, ging das meist daneben.

Meleks Vater ignorierte Dolgos’ Derbheit. „Ich bin

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21Oreb, Laffads Sohn. Der Fluch trifft jeden, der an seinen Begleitern zweifelt. In so einem Fall wird der Verfluchte sich bedroht fühlen und glauben, seine Begleiter loswerden oder sogar töten zu müssen. Das heißt, wir drei müssten uns völlig vertrauen, bevor wir die Ruinen betreten. Der Trick, den Fluch zu umgehen, ist eigentlich, allein zu gehen, damit man erst gar keine Begleiter hat. Aber mein Sohn ist vermutlich schon drin! Wir sollten die Sandruinen tunlichst nicht betreten, sondern dem Jungen klarmachen, dass er sofort wieder rauskommen muss.“

Sie holten Mirthu ein, die am Rand einer Düne stand und in eine Senke hinabschaute. Hier und da ragten vereinzelte Säulen und Mauerreste aus Tonziegeln über den Sand. In der Mitte der Senke klaffte ein Loch, in das versandete Treppen hinabführten. Von Meleks Füßen sah das Grüppchen runde, flache Krater im Sand, die der Treppe folgten.

„Melek! Der Ort ist verflucht! Komm sofort da raus!“, schrie Oreb mit den Händen am Mund. Die Wüste blieb stumm.

„Wir haben sowieso keine Fackeln dabei“, grübelte Mirthu laut.

„Ich gehe rein. Ihr bleibt hier. Zwischen meinem Sohn und mir wird das Vertrauen ausreichend sein“, entschied Oreb und stapfte sofort los.

Die Obtaru sagten nichts. Oreb erreichte die Treppe, die ins Schwarze führte. Er zog den Kopf ein und verschwand unter dem Wüstensand.

„Glaubst Du, wir sehen sie noch einmal wieder?“, raunte Mirthu gespenstisch.

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22 „Das müssen wir“, gab Dolgos finster zurück, „sonst werden die Dörfler uns steinigen.“

Melek war über die versandeten Stufen in die dunkle Tiefe gesprungen; beinahe wäre er ausgerutscht und mit dem Rücken auf den versunkenen Stein gefallen. Doch flink und geschickt wie er war, rettete er sein Gleichgewicht, sprang die letzten fünf Stufen weit ab und landete sicher auf beiden Füßen. Er hatte keine Angst – er kannte nur sein Ziel: noch vor den Erwachsenen den Schatz finden. Was ihn erwartete, dass es Einstürze geben konnte, dass allein sein erster Sprung ins Bodenlose hätte führen können – an all das dachte er nicht.

Er folgte dem stockdunklen Gang und war wild entschlossen, sich notfalls blind hindurchzutasten, solange er nur der Erste war. Auch Angst vor der Dunkelheit war ihm fremd.

Flammen loderten von einer Fackel empor und die Dunkelheit wich zurück. „Oh, willkommen, junger Herr! Seid Ihr hier, um meine Waren zu begutachten?“, fragte ein bleicher, bartloser Mann in einem weißen Kaftan. Der unruhige Feuerschein tanzte an uralten Torbögen und lange verblichenen Wandmalereien.

Melek stierte den Mann an und rührte sich nicht. Die unheilvollen Bildreste der Schlangenmenschen an den Wänden entgingen ihm völlig.

„Aber gewiss seid Ihr das! Wie dumm von mir! Was sonst solltet Ihr hier wollen? Ich bin Gozbad, fahrender Händler. Ich habe einige vorzügliche Gegenstände zum Tausch anzubieten! Sicher seid Ihr ein großartiger Feilscher,

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23wenn Ihr Euch hier hinuntergetraut habt! Nicht wahr?“Meleks Blick zuckte widerwillig von Gozbad fort zu

einer riesigen, offen stehenden Truhe, aus der ein magisches Leuchten drang. Melek kannte das dunkle Holz nicht, aus dem die Truhe und ihr flacher Deckel bestanden, aber er kannte das Metall der klobigen Eckbeschläge: Gold.

„Oh! Bitte, tretet ruhig näher! Keine Scheu! Ihr dürft Euch alles ansehen!“, rief Gozbad und wirbelte übertriebene Gesten der Einladung mit seinem freien Arm. Mit dem anderen Arm hielt er die Fackel immer näher an die Truhe.

Das Licht wanderte von Melek fort, aber es schien ihn mit sich zu ziehen. Melek stolperte mit starren Augen auf die große Truhe und das geheimnisvolle Leuchten darin zu. Er passierte Gozbad und erreichte den goldbeschlagenen Holzkasten.

„Seht nur, junger Herr! Was für wundervolle Dinge ich habe! Nicht wahr?“

„Ja“, hörte Melek sich abwesend raunen, als habe es ein anderer gesagt. Seine kindliche Abenteuerlust war gegen ihn gewandt worden.

Oreb folgte dem plötzlichen Fackelschein in der Dunkelheit und rannte in eine staubige Halle, deren Mittelgang von eckigen Ziegelsäulen flankiert wurde. Am Kopfende der Halle entdeckte Oreb seinen Sohn. „Melek! Komm sofort her, verdammter Bengel!“, schrie der Vater. „Was bei allen Wüstengeistern tust Du da? Woher hast Du die Fackel?“ Auch Oreb sah die verblichenen Malereien an den Wänden nicht. Ohnehin hätte nur ein sehr

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24 erfahrener Priester die unheilvolle Natur der dargestellten, nekromantischen Rituale der Schlangenmenschen erkannt.

„Was?“, hauchte Melek so leise, dass sein Vater es nicht hören konnte. Neben ihm stand der grinsende Händler und hielt die Fackel über die Truhe.

„Ich habe gar keine Fackel“, flüsterte Melek.„Wie wäre es zum Beispiel mit diesem Wurfdolch,

junger Herr? Ein wundervolles Exemplar! Die Klinge aus geschärftem Eisen, der Griff aus dem Horn eines stattlichen Ziegenbocks. Exzellent ausgewogen und auch für Eure Handgröße bestens geeignet! Probiert ihn doch mal und seht, was Eure Hand dazu sagt!“

„Was machst Du denn da?“, schrie Oreb wütend und sah zu, wie sein Sohn sich bückte und scheinbar die Hand nach etwas ausstreckte. Doch da war nur Sand.

„Na, junger Herr? Er liegt doch wundervoll in der Hand! Nicht wahr? Probiert ihn aus! Ich habe extra für Euch dort hinten eine Zielscheibe aufgestellt! Na los, werft! Werft!“

Melek drehte sich hölzern herum und hob den schweren Eisendolch. Der leicht gewundene Horngriff schmiegte sich perfekt in seine kleine Hand.

„Melek? Was hast Du da in der Hand?“, rief sein Vater unsicher und kniff die Augen zusammen. „Wenn ich nur zehn Jahre jünger wäre!“, murmelte er.

„Wirf! Wirf!“, geiferte Gozbad. „Es ist ein toller Wurfdolch! Wirf ihn, ja!“

Melek warf. Die schwache und ungeschickte Bewegung hätte die schwere Klinge vermutlich drei oder vier Meter weit vor seine Füße scheppern lassen.

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25Allerdings begann dieser Wurfdolch kurz vor dem Boden wild zu trudeln und sich wieder in die Luft zu erheben. Er raste mit der Geschwindigkeit des Wurfs eines echten Messerwerfers auf Oreb zu.

Der Vater riss entsetzt die Augen auf. Das geschärfte Eisen schlug in seinen Hals. Leise gurgelnd fiel er auf den Rücken und wurde schlaff.

„Ein guter Wurf, junger Herr! Ein sehr guter Wurf! Ihr dürft den Dolch behalten, weil Ihr ein so guter Kunde seid! War das alles? Na gut, wie Ihr meint, junger Herr! Bis zum nächsten Mal! Dann bringt Ihr doch gewiss all Eure Freunde mit, nicht wahr?“

„Ja“, raunte Melek tonlos. Er schlich zur Leiche seines Vaters. Bevor er den Dolch aus der Kehle zog, betrachtete er neugierig das Blut und die Wunde. Er putzte die scharfe Klinge und den Horngriff vorsichtig am Kaftan seines Vaters sauber und spazierte dann langsam zum Ausgang zurück. Hinter ihm erlosch das Fackellicht. Er war zu keiner Empfindung und keinem Gedanken fähig – er war Gozbads Marionette.

Als er auf der Düne die beiden Obtaru erblickte, die aufgeregt die Zeigefinger nach ihm streckten, flüsterte der Wurfdolch in seiner Faust: „Sie wollen Dir den Dolch stehlen! Die Fremden sind voller Neid! Töte sie, bevor sie Dich töten! Das ist das einzig Richtige! Ich bin doch Dein Freund, nicht wahr? Töte sie! Wirf jetzt, junger Herr! Du kannst sie nicht verfehlen! Vertrau mir, ich bin Dein einziger Freund! Wirf! Töte sie alle!“ Durch den verfluchten Dolch, ein Relikt der lange untergegangenen Hochkultur der Schlangenmenschen, war der diabolische

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26 Geist Gozbad nun seiner Verbannung entkommen. Die Waffe diente ihm als schützendes Gefäß, denn aus eigener Kraft hätte er die zeitlosen Bannkreise der versunkenen Ruine nicht verlassen können.

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„Wehe den Sorglosen!, so beginnt die größte aller Lehren unserer Welt. Kein Satz enthält mehr Wahrheit. Kein Satz wurde mehr verschmäht. Und an keinen Satz werden wir

uns deutlicher erinnern als an diesen, wenn es zu spät ist.“Skorad der Weise, Hohepriester des Großen Flussvaters im

Tempel zu Berghaus, über die Prophezeiung von Theb Nor

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311

Ein murmelnder Wust aus über dreißig zerzausten Männern saß auf langen, wackelnden Bänken an mehreren Zedernholztischen. Fackeln spendeten das einzige Licht in der kargen Felshöhle. Gelegentlich hustete jemand aufgrund des Fackelrauchs, der unter der Decke hing und nicht richtig abzog. Neben den großen Tischen saßen einige Männer und eine Frau an den Höhlenwänden, sodass zwischen Wänden und Tischen nur schmale Gassen frei waren.

„Hörst Du? Das ist das Gitter für die Neuen. Gleich kriegen wir Besuch“, raunte ein stämmiger Mann seinem dürren, jungen Sitznachbarn ins Ohr, ohne sich allzu sehr zur Seite zu biegen. Der Junge nickte darauf stumm und schaute in einen dunklen Gang am Ende der Höhle; von dort war ein lautes Scheppern herübergedrungen.

Zwei Personen traten aus dem Gang. Das Bronzegitter schepperte erneut. „Jetzt ist es wieder zu“, raunte der Hüne und strich seine schmutzig-blonden Locken aus dem Gesicht. Dutzende Augenpaare taxierten die beiden Neuankömmlinge und alles Murmeln verebbte.

Verloren standen sie da: eine zierliche, schwarzhaarige Frau mit spitzen Ohren, die nur noch Fetzen eines schwarzen Kleides trug. Nah bei ihr: ein breitschultriger Mensch mit kalten Augen. Seine nachtblaue Seidentunika deutete auf großen Reichtum hin – vergangenen Reichtum vermutlich, da er nun hier war. Die dunklen Haare und der dichte Bart des Mannes, seine gedrungene Statur und

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32 sein stechender Blick ließen ihn wie einen angriffslustigen Bären erscheinen. Die starren Falten in seinem Gesicht zeigten Härte und Erfahrung, auch wenn sein Haar noch nicht ergraut war.

Der blonde Gladiator murmelte zu dem Jungen: „Siehst Du, wie seine Schultern und seine ganze Haltung nach vorn drängen? Er ist ein Kämpfer.“

Die spitzohrige Frau hustete unterdrückt und sah gequält zu der stickigen Dunstwolke unter der Höhlendecke auf. Anders als der Kämpfer, hatte sie sichtlich Angst. Ihre Hände verkrampften sich zu kleinen Fäusten und sie reckte stolz das Kinn, dabei hatte ihr bisher niemand etwas getan. Ihr Blick schweifte eilig durch die vielen Gesichter im Raum, Augenkontakt vermied sie jedoch. Für einen winzigen Moment blieb ihr Blick an den muskulösen Armen der einzigen anderen Frau in der Höhle hängen, von der sie spöttisch zurückgemustert wurde.

Der blonde Hüne fuhr sich ein weiteres Mal mit der Hand durch die welligen Strähnen – als könnte eine halbwegs geordnete Frisur über die Schmutzschicht auf seiner Haut und über das speckige, löchrige und blutbefleckte Beige seiner Leinentunika hinwegtäuschen. Er nickte dem Jungen neben sich knapp zu, grinste und strubbelte auch das dunkle Haar des Jungen durch. Mit einem theatralischen Ächzen erhob er sich.

„Willkommen!“, rief er in die Richtung der Neuankömmlinge. Er schlenderte auf sie zu, während sie ihn genau im Auge behielten. Beider Blicke funkelten ihm entschlossen, vielleicht sogar aggressiv entgegen.

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33Lächelnd blieb der Gladiator ein paar Schritte vor ihnen stehen. Er breitete die Arme aus und zeigte seine leeren Handflächen zum Gruß. „Die Regeln hier sind ganz einfach. Legt Euch mit niemandem an, dann werdet auch Ihr in Ruhe gelassen. Wir haben unsere Kämpfe alle da draußen vor uns und müssen uns hier nicht noch mehr Ärger aufhalsen.“ Er deutete hinter sich auf ein weiteres Fallgitter, hinter dem ebenfalls ein Gang im Dunkeln verschwand.

„Wer hier drin so verletzt wird, dass er nicht mehr kämpfen kann, wird zu hungrigem Ballast und wird von den Chimäriern getötet – ebenso wie alle, die für die Verletzung verantwortlich waren.“ Wieder machte er einen Augenblick Pause, dann verbreiterte er sein Lächeln. „Ich heiße Narur und habe hier von allen Männern die meisten Kämpfe überlebt. Wie sind Eure Namen?“

„Taren“, antwortete der Mensch mit fester Stimme.„Nenúriel“, antwortete die Frau viel leiser. Obwohl sie

in einem Stadtstaat der Menschen und nicht unter Elfen aufgewachsen war, hatte sie offenkundig die Lethargie ihres Volkes geerbt. Auf der Flucht vor der eigenen nebulösen Vergangenheit, hatten die Elfen ihre Hochkultur aufgegeben und lebten nun schon seit vielen Generationen wieder als einfache Jäger und Sammler.

„Noch mal willkommen, Taren und Nenúriel. Macht es Euch bequem.“ Narur deutete spöttisch in die Runde. Der Gladiator hatte offenbar Übung darin, vor Publikum aufzutreten. „Oh, und vergesst nicht: In der Hörweite von Chimäriern solltet Ihr nur Drachisch sprechen oder schweigen, wenn Ihr keine Hiebe wollt.

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34 Hier drin jedoch verstehen fast alle auch das Wichtigste der Menschensprache, ob vom Imperium verboten oder nicht.“ Narur schob seine Daumen in seinen Ledergürtel und schlenderte zu seinem eigenen Platz zurück.

Aus einer Ecke meldete sich eine weitere, jedoch feindselige Männerstimme: „Er hat vergessen zu sagen, dass alles andere, was keine Verletzung erzeugt, durchaus erlaubt ist. Er hat auch vergessen, dass er mitnichten hier der Häuptling ist. Es gibt keine Rangfolge außer der, die Ihr Euch verdient.“

Die Stimme gehörte einem fahlhäutigen Krieger mit Glatze und pechschwarzen Augen. Er ließ die Füße auf dem Tisch liegen und lehnte mit verschränkten Armen an der Höhlenwand. In die Stille fügte er hinzu: „Wenn Ihr also einen Sitzplatz wollt, müsst Ihr ihn euch holen.“

Die beiden Neulinge sahen sich kurz um und stellten fest, dass es keine freien Plätze gab, wohl aber einige Männer, die auf dem Boden saßen. Narur, der inzwischen wieder auf seinem Platz saß, warf den beiden Neuen einen warnenden Blick zu. Taren und Nenúriel schlurften unschlüssig zu einer freien Stelle der Wand, in der Nähe der Abort-Nische, und setzten sich dorthin. Einige Krieger lachten dreckig, aber die meisten murmelten inzwischen wieder mit ihren Nachbarn.

Nenúriel hatte schon in Anbetracht des Gestanks von Urin und Kot die Nase gerümpft, als sie sich nur hingesetzt hatte. Jetzt kam der säuerliche Geruch abgestandenen Schweißes von ihrem Nachbarn hinzu. Dennoch schob sie ihren Mund bis neben dessen Ohr und fragte in fließender Menschensprache: „He, Du! Wann gibt es was zu essen?“

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35Der Mann drehte ihr das Gesicht mit einem undeutbaren Ausdruck zu und antwortete zögernd: „Nach jedem Kampf in der Arena werfen die Chimärier dem Sieger mitgebrachtes Essen zu. Wenn Du rausgehst und kämpfst, kriegst Du Essen. Wenn Du nicht kämpfen willst, verhungerst Du hier drin. Je besser Du kämpfst, desto mehr werfen sie Dir zu.“

Nenúriel wurde bleich und schluckte entsetzt.Mit einem schiefen Grinsen wandte der Mann sich

wieder ab.„Keine Sorge“, flüsterte Taren ihr von der anderen Seite

grimmig ins Ohr. „Ich werde für uns beide kämpfen.“Unvermittelt stand Taren auf und fragte laut in die

Runde: „Wann werde ich kämpfen?“Stille. In der Ferne, von draußen, war Aufruhr zu

hören.Zurückhaltend antwortete Narur: „Das Publikum ist

schon in der Arena. Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis wieder ein paar von uns abgeholt werden. Die Chimärier stehen immer am Eingang und rufen rein, wie viele Kämpfer sie wollen. Du musst Dich durchbeißen, wenn andere auch noch kämpfen wollen.“

Taren erwiderte selbstsicher: „Kein Problem.“ Er nickte zum Dank und setzte sich wieder.

Nenúriel starrte ihn besorgt an. Plötzlich umklammerte sie seinen Arm mit beiden Armen und wisperte: „Was, wenn Du getötet wirst? Dann bin ich hier allein!“

Ohne sie anzublicken, knurrte Taren: „Wenn ich es nicht versuche, verhungern wir beide. Und wenn ich zu lange warte, bin ich zu schwach zum Siegen.“

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36 Die muskulöse Frau, die Nenúriel schon zuvor aufgefallen war, stand plötzlich vor ihnen und blickte kühl auf sie herab. Ihr lang herabfallendes, blondes Haar war sauber und gekämmt. Ihre silbergraue Tunika wies keinerlei Risse oder Löcher auf, abgesehen von dem äußerst großzügigen Ausschnitt. Der wenige Stoff, der sich über ihre Brüste spannte, war allerdings fettig und abgegriffen. Nenúriel bemerkte, dass auch die engen Beinlinge der Frau ziemlich aufgeraut waren.

„Hallo. Ich bin Pira. Für eine Frau gibt es hier drin noch eine andere Möglichkeit, mit Nahrung versorgt zu werden. Ich bin sicher, wir zwei können uns die Meute auch teilen.“ Sie grinste und zupfte mit spitzen Fingern ihren Ausschnitt hin und her, sodass ihre Brüste jedes Mal leicht angehoben wurden. Gleichzeitig stellte sie sich breitbeinig hin und lehnte ihre Hüfte vulgär nach vorn.

Nenúriel verzog angewidert die Miene.„Du hast mich für eine Kriegerin gehalten, was?“,

plauderte Pira und befühlte demonstrativ ihre Muskeln. Dann wurde sie ernst. „Keine Sorge, Kleines. Wenn Du erst am Verhungern bist, vergisst Du jeden Stolz.“ Ohne Abschied verschwand sie an einem der Tische.

Als sei sie erschöpft, schloss Nenúriel die Augen. Seufzend lehnte sie ihre Stirn an Tarens Schulter.

Kaum war Pira fort, stand der kahle Krieger mit der fahlen Haut und den schwarzen Augen vor ihnen. Taren sagte er kalt ins Gesicht: „Ich bringe Euch beiden jede Menge Nahrung, wenn Du sie mir für ein Weilchen überlässt.“

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3�Langsam richtete Taren sich auf. Seine Augen loderten vor Zorn, seine Kiefer mahlten und sein ganzer Körper bebte. Er beherrschte sich nur mühsam, als er die Antwort herauspresste: „Wenn du sie anrührst, töte ich dich.“

Amüsiert grinste der Krieger ihn an. „Dann töten die Chimärier Dich aber auch, mein Freund. Du hast die Regeln doch gehört.“ Schlagartig wurde sein Blick eiskalt. „Und jetzt geh aus dem Weg.“

Drei Männer packten Taren hinterrücks. Der Fahle trat lüstern auf Nenúriel zu. Die sah furchtsam zu ihm auf und drückte sich an die Wand. „Von Elfenkörpern habe ich bisher nur gehört“, grunzte er gierig und starrte auf ihre angezogenen Schenkel, durch die Fetzen ihres Kleides, wo sie ihre Haut nicht verbergen konnte.

Taren schrie und strampelte vergeblich. Auf einmal sprang Nenúriel auf die Füße und rief: „Also schön!“ Der Fahle grinste zufrieden.

„Nein! Nein!“, schrie Taren mit rotem Kopf und bäumte sich immer wieder in den Griffen der drei Männer auf.

Nenúriels blasses Gesicht musterte Taren wie betäubt. Sie strich über seine bärtige Wange, was ihn äußerlich beruhigte. Seine Augen blieben jedoch entsetzt aufgerissen und sein Kiefer klappte herunter. Nenúriel flüsterte: „Es ist doch das Beste so!“

Dann schlug sie dem Fahlen die Stirn auf die Nase und trat ihm zwischen die Beine. Noch bevor jemand reagieren konnte, trat sie so auch einen der Männer zu Boden, die Taren festhielten.

Taren schlug sofort mit der freigewordenen Hand dem Nächsten an die Halsseite, worauf dieser benommen

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3� zurücktaumelte. Der dritte und letzte der Männer ließ freiwillig los und verschwand kommentarlos.

Nenúriel und Taren betrachteten unsicher ihr Werk und musterten wachsam die Umstehenden. Am Rande stand Pira und klatschte langsam, während sie spottete: „Bravo. Und glaubt ihr wirklich, jetzt habt ihr eure Lage besser gemacht?“ Sie schüttelte demonstrativ den Kopf und wandte sich ab.

Plötzlich sprang der fahle Gladiator mit einem langen Knochensplitter in der Faust auf die Füße und stach nach Taren. Der war jedoch viel zu wachsam für solch eine plumpe Attacke und zog blitzschnell den Bauch weit ein, sodass er vorgebeugt dastand. Gleichzeitig streckte er die Arme zum Waffenarm des Gegners aus. Taren packte dessen Handgelenk mit beiden Händen, doch der Gegner schlug ihm mit der freien Faust gegen die Schläfe. Taren grinste ihn darauf allerdings nur an. Dann trat Nenúriel dem Gegner abermals zwischen die Beine, diesmal von hinten. Einige Krieger lachten hinter vorgehaltener Hand, während der fahle Mann fluchend und würgend wieder zu Boden ging.

Die Gladiatoren hatten jetzt erkannt, dass sie mit Taren einen äußert erfahrenen Krieger vor sich hatten. Lange Kämpfe gab es nur zwischen Ebenbürtigen, die ihre Aktionen gegenseitig vereitelten oder konterten. Oder zwischen unfähigen Kämpfern, die einen Kampf nicht zuende zu bringen vermochten. Taren jedoch war jemand, der seine Kämpfe binnen weniger Augenblicke entschied.

Nun hielt Taren den Knochensplitter in der Hand. Der Fahle stöhnte am Boden: „Das wird euch noch leidtun!“

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3�Diesmal war es Taren, nicht Pira, der langsam und demonstrativ den Kopf schüttelte. Andächtig drehte er den Knochensplitter in der Faust.

Dass auch Narur in der Nähe gestanden hatte, bemerkten sie erst, als er ihnen zurief: „Jetzt habt Ihr Respekt, aber auch Feinde. Ihr solltet Euch ein drittes Auge im Rücken zulegen.“ Damit wandte er sich ab.

Nenúriel zitterte am ganzen Körper, während sie ihm nachsah. Taren behielt den fahlen Gladiator mit versteinerten Zügen im Blick, während der sich aufrappelte und mit hassverzerrter Miene ebenfalls verzog.

„Was glaubst Du, wie lange sie jetzt noch leben werden?“, fragte Narurs junger Sitznachbar. Seine Arme waren voller Narben, die gleichmäßig nebeneinander aufgereiht schienen, wie absichtlich beigebracht.

Narurs Miene verzog sich bekümmert, während er über seine Antwort nachdachte. Schließlich brummte er: „Nicht lange, wenn die beiden essen wollen. Taren muss kämpfen gehen und Nenúriel allein lassen. Außerdem muss er irgendwann schlafen. Gebraks Freunde werden dichthalten, wenn er die Neuen tötet, sodass die Chimärier niemanden zum Bestrafen finden werden.“

„Glaubst Du, sie haben sich damit in Sicherheit gewogen, als Du ihnen sagtest, dass hier eigentlich niemand töten darf?“, fragte der Junge unschuldig.

Narurs Miene verfinsterte sich erschreckend und er schwieg.

Der Junge spürte, dass er in ein Fettnäpfchen getreten war und wechselte das Thema. „Was ist das eigentlich für

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40 ein breites Armband, dass Taren trägt? So was habe ich hier drin vorgestern schon mal gesehen, aber der Kerl ist inzwischen tot.“

Narur blickte kurz zu Taren. Er nickte anerkennend, als er das Armband entdeckte. „Ja, ich weiß, wen Du meinst. Diese Eisenbänder sind Magieblocker der Chimärier. Taren muss in der Magie bewandert sein, wenn sie ihm so etwas ums Handgelenk schmieden. Die Dinger verhindern, dass er seine Magie fließen lassen kann.“

„Er sieht doch gar nicht wie ein Zauberer aus. Hätte nicht diese Elfin, oder wie die Spitzohren heißen, so ein Ding kriegen müssen?“

Narur grinste schwach. „Wie sehen Zauberer denn normalerweise aus? Ich habe erst zweimal mit eigenen Augen einen gesehen, jedenfalls, von denen ich wusste, dass es Zauberer sind. Und Nenúriel ist die erste Elfin, die ich treffe. Ich habe bisher – genau wie Du – nur Gerüchte und Mythen über Elfen und Zauberer gehört.“

Etwas beschämt blickte der Junge zu Boden und grinste schief. „Vielleicht habe ich auch schon mit ... Magie zu tun gehabt“, murmelte er. Seine Augen weiteten sich etwas und schweiften ins Leere.

Narur hatte Taren gemustert und davon nichts mitbekommen. „Irgendwie werde ich gerade neugierig, Du auch?“, lachte Narur verhalten. Er klopfte dem Jungen auf die Schulter und erhob sich. „Na, komm schon!“, rief er dem zögernden Jungen über die Schulter zu, während er ein weiteres Mal zu den beiden Neulingen ging.

Der Junge verbarg nur mit leidlichem Erfolg seine Blicke auf die Elfin und auf die Löcher in ihrem Kleid.

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41Mit finsteren Blicken empfingen die Neuen Narur und den Jungen. Taren hielt noch immer den scharfen Knochensplitter in seiner großen, haarigen Faust.

Ungefragt setzten Narur und der Junge sich zu ihnen. „Ich muss Euch noch dringend etwas sagen“, begann Narur ernst und leise, ohne Blickkontakt, doch mit warnenden Gesten. Bevor er fortfuhr, zwang er sich, Taren und Nenúriel doch in die Augen zu sehen. „Gebrak, der Fahle, hat viele Freunde hier. Sie werden sich gegenseitig decken. Das heißt, die Chimärier werden keinen Schuldigen hinrichten können, wenn Ihr von Gebrak getötet werdet. Versteht Ihr?“

Taren nickte düster und brummte: „Das war uns auch schon klar. Wir werden es irgendwie schaffen, das haben wir immer.“ Seine Finger spielten mit dem Knochensplitter.

Der Junge witzelte vorlaut: „Seid Ihr deswegen hier?“ Sechs Augenpaare funkelten ihn strafend an. „Oh“,

machte er nur und sah zu Boden.„Ich bin neugierig“, wechselte Narur das Thema und

blickte Taren freundlich an. „Wieso trägst Du dieses Armband?“

Taren schwieg zunächst und schien in Narurs Gesicht etwas zu suchen. „Ich bin ein Diener von Bruder Mond, aber dieses Armband blockiert meine Verbindung zu meinem Gott, sodass er mir nicht helfen kann.“

„Ich dachte, es sei ein Magieblocker“, wunderte Narur sich.

Taren legte den Kopf schräg; der Junge hatte wieder den Eindruck, einen wütenden Bären vor sich zu sehen.

„Die Diener von Bruder Mond brauchen keine

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42 Taschenspieler-Tricks“, knurrte Taren. Seine glühenden Augen schweiften fort.

Narur ließ ihn in Ruhe und wandte sich stattdessen an Nenúriel: „Ich habe zuvor noch nie eine Elfin gesehen.“

Ausdruckslos erwiderte sie seinen Blick. Nach ein paar Lidschlägen entgegnete sie trocken: „Die anderen sehen auch alle so aus wie ich.“

Der Junge lachte, aber Nenúriel war der Humor scheinbar vergangen.

Narur behielt den Faden bei: „Jemand hat mir mal gesagt, viele Elfen seien magisch begabt. Stimmt das?“

Wieder antwortete Nenúriel zunächst nur mit einem rätselhaften, leeren Blick. Schließlich entrang sie sich ein knappes „Ja.“

„Und Du?“, fragte der Junge unsicher.Langsam wandte sie ihm das Gesicht zu, und diesmal

antwortete sie gar nicht.„Wir tun Euch nichts“, sagte Narur daraufhin und hob

beschwichtigend die Hände. „Ihr braucht Freunde hier drin“, fügte er ernst hinzu.

Nenúriel senkte den Kopf und schluckte. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Taren brachte sie mit einem scharfen Seitenblick zum Schweigen. „Vertrauen ist Wunschdenken für die Schwachen“, knurrte er in keine bestimmte Richtung.

Aufmerksam beobachtete Narur das Wechselspiel zwischen den beiden, die sich offenbar gut kannten und aufeinander eingespielt waren. Der Junge beobachtete das ebenfalls, konnte aber weniger Schlüsse daraus ziehen als der ältere Narur, wie seine verwirrte Miene verriet.

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43„Ihr verbergt doch was, oder?“, raunte Narur und beugte sich verschwörerisch näher. Aufmunternd zwinkerte er den beiden zu, doch Taren schnaubte nur verächtlich und Nenúriel ließ den Kopf noch tiefer hängen. „Dachte ich mir“, nickte Narur zufrieden.

Seufzend erhob er sich. „Also schön, wenn Euch nach Reden ist, mein Stammplatz ist da hinten. Denkt immer daran: Hier drin weiß man nie, wann man sich zum letzten Mal sieht.“

Er wollte sich gerade abwenden, als das vordere Gitter kreischend hochgezogen wurde. Ein Chimärier zwängte sich durch den Gang. „Heute ist ein besonderer Tag!“, grollte das zweieinhalb Meter große Wesen in einer harten, gutturalen Sprache. Kleine, unnütze Flügel lugten auf seinem Rücken aus dem Lederpanzer hervor und zuckten hin und wieder, wenn der Chimärier die Arme bewegte. Sein Drachenschwanz war kräftig und berührte leicht den Boden beim Gehen. Die geschlitzten Reptilienaugen seines länglichen Drachenkopfes suchten die Höhle ab. Er entblößte scharfe Zahnreihen, als er infernalisch grinste: Sein Blick war an Narur, dem Jungen und den beiden Neuen hängen geblieben. „Ihr vier da!“, brüllte der Chimärier und zeigte auf sie. „Antreten!“

Taren übersetzte ganz leise die Worte für Nenúriel, welche die Drachensprache nicht verstand. Nenúriel zischte darauf im Gehen vorwurfsvoll in Narurs Ohr: „Du hast gesagt, man kann sich aussuchen, ob man kämpft!“

„Das dachte ich bisher auch“, hauchte Narur wie versteinert zurück. Immer wieder strich er im Gehen eine Strähne hinters Ohr.

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44 „Endlich! Mein erster Arena-Kampf! Jetzt brauchst Du mich nicht mehr mitzufüttern, Narur“, flüsterte der Junge stolz. Schon im nächsten Moment geriet seine Miene aus den Bahnen und er begann zu zittern. Vor dem Chimärier blieben sie stehen.

„Zu Ehren des Jahrestages der Thronbesteigung des Imperators werdet Ihr gegen das Tier kämpfen! Mitkommen!“, brüllte der Soldat.

„Wir kämpfen zu viert gegen ein Tier?“, flüsterte Taren zu Narur und hielt nur mühsam seine Erleichterung zurück.

„Freu Dich nicht zu früh“, raunte Narur jedoch und unterdrückte den Impuls, noch weiter an seinen Locken zu fingern. Er war bleich geworden.

„Was für ein Tier ist das?“, wollte Nenúriel wissen.Narur sah sie mit großen Augen an und wisperte:

„Das weiß niemand von uns hier. Wann immer es heißt, dass jemand gegen ,das Tier‘ kämpft, kommt derjenige nicht zurück. ,Das Tier‘ ist der absolute Champion der Chimärier.“

„Da sind Waffen. Nehmt was ihr wollt, und dann ab nach draußen!“, befahl der Chimärier und stampfte dann eine breite Treppe hinauf ans blendende Tageslicht. Hinter ihm wurde eine riesige Bronzeluke zugeworfen. Die vier standen wieder im Fackelschein.

Nach einem Tisch mit Waffen ging der Gang noch etwa fünfzehn Meter weiter geradeaus bis zu einem offen stehenden Gitter, hinter dem ebenfalls grelles Tageslicht strahlte. Ein sandiger Arenaplatz wartete dort auf sie.

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45Von draußen toste bereits der Lärm des Publikums an ihre Ohren. Narur und der Junge kniffen beim Blick in das Tageslicht die Augen zusammen; sie waren an das Halbdunkel der Höhle gewöhnt. „Wenigstens gibt es da draußen frische Luft!“, scherzte der Junge leise und grinste nervös.

Nenúriel rieb sich die Augen und flüsterte panisch: „Es ist Tag! Es ist doch Tag!“

Fragend starrte Narur die beiden Neuen an. Taren antwortete auf diesen Blick: „Sie ist lichtblind. Sie ist ... krank.“ Schluchzend vergrub Nenúriel ihr Gesicht an Tarens Schulter und krallte ihre Finger in seine Tunika. Taren knurrte in Narurs Richtung: „Die Schuppen hätten sie an der Oberfläche deswegen fast getötet, aber dann doch entschieden, dass es in der Arena lustiger wäre, sie sterben zu sehen.“

Mit steinerner Miene betrachtete Taren die angebotenen Waffen und griff sich einen schweren, langen Streitkolben mit dicken Dornen am bronzenen Kopf. Narur warf ihm und Nenúriel einen langen, undeutbaren Blick zu, dann griff er sich einen stabilen Speer mit Kupferspitze und marschierte wortlos in Richtung Arena. Der Junge schnappte sich ein breites Kurzschwert aus Bronze und folgte eilig.

„Bleib hinter mir“, flüsterte Taren mit gezwungener Sanftheit in Nenúriels Ohr. Dann ging auch er entschlossen auf das flirrende Tageslicht zu.

Narurs Augen glühten kampfbereit nach draußen. „Seid froh, dass es noch nicht richtig Sommer ist“, raunte er über die Schulter. „Den ersten Arenakampf in der

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46 brütenden Sommerhitze zu haben, macht das Überleben noch unwahrscheinlicher als zu anderen Jahreszeiten.“

In der Mitte der Arena stand ein riesiger, braunhäutiger Ork in einer eisernen Plattenrüstung. Nur einen Helm trug er nicht, sodass man sein filziges, schwarzes Fell sah: Es wucherte an Kopf und Gesicht, reichte aber nicht bis zur Rüstung herab. Triumphierend brüllte der Ork dem Publikum auf den ansteigenden Steinrängen entgegen und reckte sein Eisenschwert und seinen mächtigen, runden Holzschild in die Luft. Riesige Muskeln zeichneten sich unter schwarzem Leder ab, soweit sein Körper nicht von Eisenplatten bedeckt wurde. Dicke, gelbe Hauer ragten aus dem Unterkiefer des Orks. An Knien, Ellbogen und Schultern waren seine Rüstungsteile mit Eisendornen versehen ... und Blut war daran getrocknet. Das Publikum, ausnahmslos Chimärier, brüllte donnernd seinen Namen und stampfte dazu auf den Boden: „Tier! Tier! Tier!“

Die vier Gladiatoren sammelten sich im letzten Schatten vor dem Ausgang und starrten in stummer Verschüchterung ihren Gegner an. Tarens Lippen bewegten sich lautlos im Gebet und mehrmals hob er knapp den Kopf gen Himmel. Nenúriel kniff schon jetzt vor Schmerzen ihre lichtempfindlichen Augen zusammen.

„Reib Deine Hände mit Sand ein, gegen den Schweiß“, wies Narur den Jungen beim Anblick des Hirschhorngriffes seiner Waffe an, so leise, dass der Junge es bei dem Lärm fast nicht gehört hätte. „Wie ist eigentlich Dein Name,

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4�Junge?“, fragte Narur – ohne den besorgten Blick von Tier abzuwenden.

„Melek“, kam die Antwort mit seltsam zitternder Stimme; er schien Furcht zu haben, aber nicht vor Tier.

„Viel Glück, Melek. Viel Glück, Taren und Nenúriel“, raunte Narur gespenstisch.

Taren stutzte für einen Moment. Das wird doch nicht ... Nein, das kann nicht derselbe Melek sein.

„Das Biest hat einen Schild! Wir müssen uns koordinieren!“, rief Taren halblaut, als sein Gebet endete.

Narur musterte ihn melancholisch.„Reiß Dich zusammen, Mann!“, zischte Taren und stieß

ihn in die Rippen. „Du, Melek, Du rennst dem Biest in den Rücken und stichst es ab, sobald Schild und Schwert durch Narur und mich gebunden sind! Ich nehme den Schild, weil ich noch auf Nenúriel aufpassen muss. Narur, kommst Du mit dem Schwert klar?“

Narur sah Taren seltsam leer an, nickte aber. Direkt über ihnen schepperten jetzt glänzende Posaunen, und ein Chimärier verkündete: „Vier Sklaven gegen das Tier! Die Spiele beginnen!“

„Raus mit Euch!“, donnerte eine andere Chimärier-Stimme weiter hinten im Gang.

Die vier Sklaven marschierten nebeneinander in die Arena ein. Nenúriel klammerte sich blind an Taren. Tier empfing die Gruppe mit wildem Gebrüll – und rannte auf sie zu.

Er hielt nicht etwa an, als er die Gruppe erreichte. Er rammte mit dem schweren Holzschild Taren und Nenúriel,

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4� die zu zweit nicht schnell genug ausweichen konnten und zu Boden geschleudert wurden.

Narur hatte Tier bei dessen Vorstoß in der Flanke treffen wollen. Tier hatte das Manöver durchschaut, sein Schwert zur Seite gerissen und Narur so auf Abstand gescheucht.

Melek war auf der anderen Seite um Tier herumgerannt, um wie abgesprochen in den Rücken des Orks zu gelangen. Doch Taren war gerade erst vom Boden wieder hochgekommen und musste die hilflose Nenúriel noch mit sich ziehen, fort von Tier, sodass der Ork sich einfach umdrehen und Meleks Hieb blocken konnte. Tier hatte ihre Planung mit seiner überragenden Erfahrung schon in den ersten Augenblicken zunichtegemacht.

Wieder versuchte Narur, in die Flanke zu gelangen. Wieder reichte es, dass Tier mit dem Schwert in seine Richtung wirbelte, um ihn zurückspringen zu lassen. Taren stieß Nenúriel jetzt nur noch hinter sich und stürmte brüllend auf Tier los, um ihn zu zwingen, den Schild einzusetzen. Melek verstand sofort und wartete sprungbereit, um Tier von hinten zu treffen, sobald der Ork den Schild gegen Taren einsetzte. Doch Tier dachte nicht daran.

Gerade als Taren den Streitkolben niederschmettern lassen wollte, riss der Ork den Stiefel hoch ins Gesicht des fast zwei Köpfe kleineren Menschen. Scheinbar war Tier selbst Taren überlegen, was Reaktion und Überblick betraf. Tier bekam bloß einen Streifer vom Streitkolben am Bein ab, der gegen seine Eisenplatten nicht viel ausrichtete. Taren stürzte rücklings zu Boden und ließ den Streitkolben los. Aus seiner Nase strömte Blut.

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4�Meleks Hieb wurde von Tiers Schild so stark zur Seite gefegt, dass es den Jungen fast von den Füßen riss. Siegessicher sprang Narur in genau diesem Moment wieder mit seinem Speer vor. Ohne sich zu drehen oder überhaupt hinzusehen, machte Tier einen Schritt auf Narur zu, haarscharf am Speer entlang, sodass er nun mit dem Rücken direkt vor Narurs Gesicht stand: Ein äußert gefährliches Manöver, das kaum einem Krieger ohne Verletzung gelang. Narur wollte erschrocken zurückspringen, der Speer war auf diese Distanz nutzlos. Doch Tier riss jetzt das Schwert herum und köpfte Narur mit einem sauberen Hieb.

Fassungslos starrte Melek den Kopf an, der vor seine Füße rollte, während gleichzeitig Narurs Körper schlaff zu Boden sackte. Das Publikum toste und Tier riss abermals siegessicher das Schwert gen Himmel.

Nenúriel hatte sich mit immer noch zugekniffenen Augen zu Taren vorgetastet und schluchzte: „Was ist? Steh auf! Was hast Du?“ Ihre Hände suchten nach seinem Gesicht. Sie schrie auf, als sie das Blut an ihren Fingern spürte. Verzweifelt nahm sie Sand in beide Hände und warf ihn dorthin, wo sie Tier vermutete – doch sie traf nicht mal seinen Schild und Tier lachte sie aus. Nenúriel hatte allerdings erreicht, dass Tier sich nun vor ihr aufbaute. „Siehst lecker aus!“, grollte der Ork, schnupperte und leckte sich mit der Zunge über die Lippen.

Mit einem Wutschrei und hoch erhobener Waffe raste Melek auf Tier zu, um ihn zu erwischen, solange er noch abgelenkt war. Wie beiläufig riss Tier erst im allerletzten

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50 Moment den Schild hoch und rammte ihn Melek vor Brust und Kopf. Es konnte kaum einen größeren Beweis für seine Überlegenheit geben. Der Schildschlag unterbrach nicht nur den Angriff, er unterhielt auch das Publikum: Der Applaus wurde lauter. Für einen Lidschlag stand Melek benommen vor Tier und keuchte atemlos. Tier ließ das Schwert einfach niedersausen wie ein Henkersbeil – und stoppte direkt vor Meleks Kopf. Statt ihn zu töten, hob er dann pfeilschnell seinen Fuß vor die Brust des Jungen und stieß ihn von sich, als wollte er eine Tür eintreten. Melek machte einen Satz über mehrere Meter und überschlug sich rückwärts. Das Publikum toste immer lauter vor Beifall und feuerte den Ork an: „Tier! Tier! Tier!“ Der Ork verstand es offenkundig, die Zuschauer zu unterhalten.

Nenúriel begann zu murmeln, während sie mit den blutigen Fingern Runen in den Schweiß auf Tarens Stirn zeichnete.

„Nicht! Du darfst Dich nicht verraten!“, stöhnte Taren und rappelte sich mühsam hoch. „Es geht schon“, raunte er und küsste Nenúriel flüchtig. „Bleib hier“, sagte er wie zum Abschied und stapfte Blut schniefend auf Tier zu. In drei Armlängen Abstand blieb er stehen und reckte angriffslustig das Kinn.

Sichtlich amüsiert baute Tier sich vor ihm auf und grollte kehlig. Plötzlich begann er im Tosen des Publikums zu lachen und brüllte in der Drachensprache: „Keine Magie in der Arena!“

Eine plötzliche Ahnung traf Taren wie ein Schlag. Er wirbelte herum – Nenúriel starrte in den Himmel.

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51Verdrehte die Augen. Ihre Knie wurden weich. Taren stürmte auf sie zu, aber bevor er sie erreichte, sank sie bäuchlings in den Sand. Ein Armbrustbolzen ragte aus ihrem schmalen Rücken, ein Bolzen der fortschrittlichsten Waffe des Imperiums. Auf einer Plattform auf dem höchsten Rang der Arena stand ein Chimärier und lud seine Armbrust nach. Taren drehte Nenúriel auf die Seite. Ihr Körper war leblos, ihre Augen halb offen und leer. Tarens Kiefer mahlten aufeinander und seine Augen brannten feucht. Langsam hob er den Kopf und starrte Tier voller Hass an. Der Ork lachte um so dreckiger.

Dann schleuderte Melek das Kurzschwert in den Rücken des Orks, mit einer Zielsicherheit, als habe er noch nie etwas anderes in seinem Leben getan. Die Klinge traf mit der Spitze und blieb trotz der eisernen Rüstung sogar stecken. Tier brüllte entsetzt auf und wirbelte herum. Wackelig stapfte er Melek hinterher, der Schritt um Schritt zurückwich und den Ork ausdruckslos im Auge behielt. Das imperiale Publikum schrie vor Wut, noch war es auf der Seite des Orks, des altbekannten Champions.

Taren sprang auf und stampfte auf Tier zu. Als der Ork ungeschickt zurückwirbelte, duckte Taren sich unter dem Schwert weg; langsam kannte er Tiers Kampfstil. Wie eine Sprungfeder kam er sofort wieder hoch und rammte Tier dabei die Spitze des Streitkolbens unter das Kinn. Dem überrumpelten Ork verging auf der Stelle das Brüllen. Melek sprang ihn von hinten an, um ihm die Augen zuzuhalten. Nebenbei drückte er mit dem Knie das Kurzschwert zur Seite, damit es sich schmerzhaft in der Wunde bewegte. Tier wirbelte wild mit Schwert und Schild herum. Taren

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52 wartete eiskalt, bis das Schwert gerade an ihm vorbei raste, dann zerschmetterte er mit einem mächtigen Hieb den Unterarm des Orks. Das Schwert fiel zu Boden, Tier brüllte vor Schmerz und Verzweiflung. Das Publikum war still geworden.

Taren ließ den Streitkolben fallen, hob das Schwert auf und rannte mit der Spitze voran in den Ork. Der schwere Schild schlug ihm ein letztes Mal gegen die Schulter, aber das bekam er kaum mit. Er ließ den Ork gurgelnd hinter sich zusammenbrechen, ignorierte auch das Orkblut auf seinen Händen, Bauch und Armen und rannte zu Nenúriel zurück. Melek folgte ihm in respektvollem Abstand.

Während Taren still weinend den leichten Körper der Toten an sich drückte, erhob sich ein neuer Ruf des Publikums: „Nimm den Kopf! Nimm den Kopf!“

Ein Chimärier rief Taren zu: „Schlag dem Ork den Kopf ab! Na los!“

Taren wusste, dass er gehorchen musste, wenn er bis zu seiner Flucht überleben wollte. Die Orks, ein versklavtes Volk der Schuppen, bedeuteten ihm nicht viel; er hatte schon viele getötet. Er legte Nenúriel behutsam zu Boden und ging zu Tier zurück, der noch immer leise röchelte. Taren setzte einen Fuß auf den Ork und riss das mächtige Eisenschwert aus der Wunde. Quiekende Geräusche entrangen sich der Kehle des besiegten Gegners. Mit einem weit ausgeholten Hieb köpfte Taren ihn und trat den Schädel in die Mitte der Arena.

Ein Chimärier neben den Trompetern rief: „Ein Hoch auf den neuen Champion: Taren von Silberberg!“

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53Das Publikum stampfte mit den Füßen und brüllte seinen Namen: „Ta-ren! Ta-ren! Ta-ren!“

Hasserfüllt sah Taren zu, wie ein Chimärier Nenúriel achtlos am Fuß packte und die Leiche fortschleifte. Er wusste aus Jahren des Krieges gegen die Chimärier, dass sie insbesondere frisches Elfenfleisch als Delikatesse betrachteten.

Das Eisenschwert ließ Taren fallen, er müsste es sowieso abgeben. Stattdessen hob er auf, was die Zuschauer ihm an Nahrung zuwarfen: Brot hauptsächlich, Sklavennahrung also, aber auch ein paar Äpfel und ein Stück Fleisch – von welchem Wesen auch immer. Er würgte plötzlich bei dem Gedanken daran, wessen Fleisch vielleicht beim nächsten Kampf dabei war. Es kostete ihn alle Kraft, einen animalischen Wutschrei zu unterdrücken.

Mit hängendem Kopf trottete Taren schließlich in die Gladiatoren-Unterkunft zurück, wo zahllose, ehrfürchtige Mienen ihn anstarrten: den großen Krieger, der das unbesiegbare Tier getötet hatte und dabei nichts weiter abbekommen hatte, als eine gebrochene Nase und einen blauen Fleck an der Schulter.

Taren von Silberberg war zurückgekommen. Narur nicht, obwohl der bisher der Sklavenchampion gewesen war. Wer also war Taren von Silberberg? Was war ein Diener von Bruder Mond?

Melek, der an Nahrung aufgehoben hatte, was Taren für ihn liegen gelassen hatte, folgte ihm still. Angestrengt dachte er darüber nach, wo er diesen Namen, Silberberg, und diesen Titel, Diener von Bruder Mond, zuletzt gehört hatte.

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54 2

Dunkelheit. Zwei Stimmen unterhielten sich.„Hast Du gehört, woher der Mensch kam?“, fragte er. „Silberberg“, antwortete sie.„Ja, Silberberg“, wiederholte er.„Und hast Du auch gesehen, wie er um sein Weibchen

getrauert hat?“, fragte sie. Unter Chimäriern waren die Begriffe Männchen und Weibchen die übliche Wahl.

„Ja, allerdings“, antwortete er zögernd.„Rührend, nicht?“, fragte sie.„Willst Du Dich beklagen?“, fragte er mit gespieltem

Tadel.Sie lächelte in der Dunkelheit.Er wurde wieder ernst und sagte: „Er ist es. Wir müssen

ihn befreien.“Sie zischte leise: „Pst! Nicht so laut! Die Spähzauber

sind überall!“Er wandte sich schuldbewusst ab und murmelte:

„Ich werde mal nach unserem besonderen Patienten im Forschungsraum sehen.“

„Ressu und Darrakos müssten inzwischen wieder in der Forschungsstätte sein“, flüsterte eine Menschenfrau in einer verschmierten, weißen Robe und fuhr sich nervös über ihr rotes Kurzhaar.

„Ja, gehen wir schnell hin und warnen sie, solange

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55Konndamur die Verbindungen noch nicht endgültig herausgefunden hat“, stimmte ihr ein unscheinbarer Menschenmann in einer ähnlichen Robe zu.

Die beiden hasteten mit nervösen Blicken durch die imperiale Stadt Harkýior, über saubere und breite Pflasterstraßen hinweg, vorbei an geschäftigen Chimäriern und deren Sklaven, vorbei an hellen Steinbauten, die viele Mannslängen hoch in den Himmel ragten und deren lange Eingangstreppen von runden Marmorsäulen flankiert wurden. Überall auf den Zinnendächern wehten rote Fahnen mit der schwarzen Drachenfaust des Imperators darauf.

„Dachtet ihr wertlosen Sklaven wirklich, Richter Konndamur wäre so dumm, Euch nicht beobachten zu lassen?“, tönte die raue, grollende Stimme eines Chimäriers plötzlich hinter den zwei Menschen.

Die beiden sprangen erschreckt herum. Eine fünfköpfige Patrouille mit mannshohen Speeren und eisernen Langschilden hatte sich hinter ihnen aufgestellt. Auf ihren Eisenpanzern prangte ebenfalls das imperiale Wappen.

„Khorriser!“, wisperte die Frau mit großen Augen. Beim Anblick jener Eliteeinheit, wie jede imperiale Palastwache sie besaß, hatte sie automatisch deren Sprache gewählt. Khorriser, Blutengel, waren eiskalte Schlächter, die durch Drogen aufgeputscht wurden. Sie lebten dadurch nur halb so lang wie andere Chimärier, waren allerdings auch doppelt so gefährlich. Sie waren wie Flammen, in die man fässerweise Brandöl goss.

Erst jetzt fiel den Menschen auf, dass niemand sonst mehr auf der breiten Pflasterstraße war, niemand hinter

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56 den hohen Fensterbögen hervorschaute und auch niemand zu hören war, weder Chimärier noch andere Sklaven. Tatsächlich war es bis auf das Flattern der Fahnen im Wind nun totenstill.

Der Wortführer der Patrouille bleckte die spitzen Zähne zu einem räuberischen Grinsen und knurrte: „Der Richter weiß schon lange vom Verrat der beiden Rassenforscher. Er hatte Euch zwei Sklaven nur noch eine Weile am Leben gelassen, bis Ihr ihm genug Beweise in die Hände gespielt hattet. Ressu und Darrakos werden in diesem Moment verhaftet. Aber keine Sorge, ihr Tiere könnt ihnen in der Arena weiterhin Gesellschaft leisten!“

Während die beiden Sklaven sich widerstandslos Ketten anlegen ließen, fragte der Menschenmann plötzlich aufmüpfig: „Ihr werft eins Eurer seltenen Weibchen in die Arena? Ich dachte, die sind so wertvoll?“ Seine Frage wurde mit einem Prankenhieb ins Kreuz beantwortet, der ihn mehrere Meter vorwärtstrudeln ließ. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei, fing sich wieder und blieb nun teilnahmslos an Ort und Stelle stehen. Beide Sklaven ließen sich wie willenlos abführen. Sie wechselten nur ängstliche, fast panische Blicke miteinander.

Der weißhaarige Gnom warf sich unruhig auf seiner Decke hin und her. Er schlief nur selten wirklich tief, meistens hatte er Albträume. Diese Nacht war eine der seltenen Nächte, in denen er von seinen wenigen angenehmen Erinnerungen träumen durfte.

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5�„Wie soll sie heißen?“, fragte er eine schlaksige Elfin mit schwarzem Haar. Er legte seine Hand auf ihren prallrunden Bauch unter dem bunten Kleid.

„Laura“, strahlte die Elfin aus jadegrünen Augen. Ihr Lächeln wich ein wenig, als sie leiser fragte: „Willst Du nicht ihr Pate werden, Athónon? Wenn Du nicht mein Leben gerettet hättest, wäre sie auch nicht da, und immerhin hast Du Dir von jeher heimlich Kinder gewünscht.“

Der Gnom funkelte wütend zu der Elfin auf, deren Lächeln darauf noch weiter verblasste.

„Das ist nichts für mich, Jade“, knirschte seine alternde Stimme. Langsam wandte er sich ab.

„Unser Dorf ist gleich am Fuß Deines Berges und Du bist uns stets willkommen, Athónon Elfenfreund“, antwortete Jade etwas traurig und sah dem Gnom nach, wie er in seine Wohnhöhle kletterte und sie stehen ließ.

Athónon drehte sich auf seiner alten, speckigen Decke hin und her. Wieso mussten selbst seine wenigen schönen Erinnerungen ein schlechtes Ende nehmen? Und wieso war er nicht Herr seiner Träume, um die schlechten Enden wenigstens auszulassen?

Darrakos hob mühsam die Lider. Er lag nackt und ausgestreckt auf dem Bauch und hatte überall so starke Schmerzen, dass er sich kaum rühren konnte. Der kalte Steinboden lähmte ihn zusätzlich; als Chimärier war er gegenüber Kälte besonders empfindlich. Es kostete ihn schon seine ganze Kraft, um wenigstens nicht laut

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5� loszuwimmern. Sein Drachenschwanz pochte glühend und fühlte sich gebrochen an, ebenso wie seine kurzen Flügel, seine linke Hand und all seine Finger.

Er presste die mächtigen Kiefer aufeinander, als er ein Paar Lederstiefel vor sich erkannte; mit Ausnahme der Tigermenschen trugen nur die Niederen, die Nicht-Chimärier, einen Schutz um die Füße. Darrakos konnte den Kopf nicht heben, deshalb konnte er nicht höher als bis zu den Knien des Niederen sehen. Seine gelben Reptilienaugen zuckten nach rechts und links und erkannten noch einige weitere Stiefelpaare, allesamt abgewetzt und dreckig.

„Ressu ...“, krächzte Darrakos; beinahe brach seine Stimme vor Schwäche.

„Hier“, raunte die Stimme seines Weibchens nah hinter ihm. Es schien ihr genauso schlecht zu gehen wie ihm.

Der Träger des Stiefelpaares hockte sich vor ihm ab, sodass Darrakos ihn nun fast ganz sehen konnte. Es handelte sich um einen fahlhäutigen Menschen ohne Kopfbehaarung. „Willkommen in der Sklavenunterkunft, Herr“, begrüßte der kahle Mensch Darrakos in der Sprache der Chimärier. „Dürfte ich untertänigst fragen, wer Euch so zugerichtet hat?“

Der Spott in der Stimme des Menschen war nicht zu überhören. Darrakos verkniff sich jedoch selbst das leiseste Knurren in Anbetracht seiner Situation. Normalerweise hätte ein standesbewusster Chimärier einen Niederen, der so einen Ton anschlug, auf der Stelle auspeitschen lassen.

Der Mensch fuhr in seinem falschen Plauderton fort: „Also, wir haben Euch nicht angerührt. Wir haben

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5�uns mit der Sklavin begnügt, die zusammen mit Euch Herrschervolksvertretern gebracht worden ist, und mit dem Menschen und dem kranken Tiger.“

„Alynde ...“, knurrte Darrakos und funkelte den bleichen Mann zornig an.

„Sie lebt selbstverständlich noch“, redete dieser gönnerhaft weiter, „sonst hätten wir ja nichts mehr für die Zukunft von ihr.“ Mit heuchlerischer Freundlichkeit fuhr er fort: „Ich bin übrigens Gebrak.“ Dann schlug sein Ton wieder in Sarkasmus um: „Also, Herr, was verschafft uns Niederen die große Ehre? Ihr seid in der Tat die ersten vom Herrschervolk, die zu uns Tieren gesperrt werden – Verzeihung, die sich dazu herablassen, uns hier Gesellschaft zu leisten.“

Darrakos konnte sich noch immer nicht rühren. Geschweige denn die Hände mit den gebrochenen Fingern aufsetzen, um sich aufzurappeln. Hinter sich hörte er jedoch Ressu leise knurren und ihre Krallen über den Boden scharren. Darrakos beobachtete, wie Gebraks Blick über ihn hinwegstriff und sich weitete. Gebrak erhob sich langsam und trat schweigend einen Schritt zurück.

Ressu hinkte auf ihn zu, bis sie zwischen ihm und Darrakos stand. Sie wurde gekrümmt von Schmerzen und musste sich die Rippen halten, doch das ließ sie nur noch grimmiger erscheinen. Auch sie besaß keine Robe mehr, aber auf Niedere hatte der Anblick nackter Schuppen keinerlei Wirkung. Als Weibchen war sie kleiner als die Männchen der Chimärier, aber immer noch war sie deutlich über zwei Meter groß und überragte selbst die höher gewachsenen Anwesenden um eine Kopflänge.

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60 Außerdem war allen Sklaven, die im Imperium geboren worden waren, tiefsitzender Respekt vor ihren Herren anerzogen worden, sodass dieser Respekt Gebrak nun sofort dominierte, als er nicht mehr die völlige Kontrolle besaß.

Ein bartloser Zwerg mit Halbglatze, der Gebrak kaum bis zur Brust reichte, watschelte neben ihn und maulte lautstark in Menschensprache: „Lass Dich von der doch nicht einschüchtern! Wenn die Chimärier die beiden hier reinwerfen, ist es denen egal, wie wir sie behandeln. Die sind jetzt nicht länger wertvoller als wir! Was will das verletzte Weibchen machen, wenn sich drei oder auch fünf von uns mit ihr anlegen, hä? Ich sage, die Braut soll die Schnauze halten und froh sein, dass sie so abstoßend hässlich ist!“

Ressu knurrte beleidigt und ballte die riesigen Fäuste, sie verstand die Menschensprache offensichtlich. Aus den Reihen der Sklaven kam zustimmendes Murren. Gebraks Miene erhellte sich immer mehr und seine Mundwinkel krochen aufwärts. Schließlich strahlte er förmlich und rief mit ausgebreiteten Händen in Menschensprache in die Runde: „Recht hast Du, Brommil! Sie wird wie alle hier behandelt! Wenn Du also Streit willst, Weibchen, dann komm her und hol ihn Dir ab!“

Gebrak straffte sich, hob das Kinn und funkelte provozierend zu den hellroten Reptilienaugen der Chimärierin auf. Die baute sich ihrerseits in voller Größe vor ihm auf und ignorierte ihre schmerzenden Rippen.

„Nicht ...“, raunte Darrakos heiser in Ressus Richtung. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr“, flüsterte sie ihm zu.

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61Völlig unvermittelt brüllte sie und sprang Gebrak mit beiden Fäusten gegen die Brust. Der Mensch wurde zwei Meter weit durch die Luft gestoßen und krachte so hart gegen die Höhlenwand, dass er sofort darauf mit dem Gesicht auf den Boden schlug und in genau der Haltung liegen blieb, die er beim Aufschlag an der Wand gehabt hatte. Mit zitternden Händen tastete er nach seinem Rücken und konnte dabei das erbärmliche, erstickende Wimmern nicht unterdrücken. „Kann nicht ... atmen!“, würgte er panisch hervor.

„Sonst noch jemand?“, knurrte Ressu in Menschensprache und blickte angriffslustig um sich. Niemand wagte es, sich mit ihr anzulegen. Sie rieb sich wieder die Rippen und hinkte zu Darrakos. Die Krallen ihrer dreigliedrigen Füße ließ sie dabei demonstrativ am Boden scharren. Sie hockte sich stöhnend neben Darrakos, musterte ihn fürsorglich und liebevoll und strich zärtlich über die Dornfortsätze auf seinem Rücken.

An der Höhlenwand wandte sich noch immer Gebrak am Boden, allein.

Taren saß neben dem bewusstlos an einer anderen Wand liegenden Tigermenschen, der zusammen mit den vier Neuen gebracht worden war. Der Tigermensch trug nichts als einen Lendenschurz und bestand aus mindestens zweihundertfünfzig Pfund puren Muskeln. Seinen Tigerschwanz hatte er mit einem Tuch an sein rechtes Bein gebunden. Taren hatte gehört, dass dies unter Tigermenschen üblich sei, wenn sie Roben oder Beinlinge trugen, nicht aber im Lendenschurz. Vermutlich war

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62 dieser Tigermann also seiner Kleidung beraubt worden. Zahlreiche Narben, manche erschreckend groß, hatten in seinem orangefarbenen Fell deutliche Kerben hinterlassen. Doch was auch immer ihn jetzt ausgeschaltet hatte, war von außen nicht zu erkennen. Taren öffnete vorsichtig den Mund des Wesens und bewunderte die starken, gesunden Reißzähne, während er ihm einen Schluck Wasser aus einem irdenen, etwas unförmigen Becher einflößte. „Wenn ich nur wüsste, ob Deine Körpertemperatur normal für Dein Volk ist“, murmelte Taren zu sich. Auf einmal öffnete der Fremde die Lider und musterte den überrascht innehaltenden Menschen mit gelben Tigeraugen.

Kaum hörbar flüsterte das Wesen: „Ich glaube, ich habe kein Fieber. Danke für das Wasser, Freund.“

Taren nickte freundlich und gab ihm einen weiteren Schluck aus dem klobigen Tonbecher. „Schön, Dich lebend wiederzusehen“, sagte er. „Was ist geschehen?“

„Ich weiß es nicht“, presste der Tigermensch hervor.„Und kannst Du Dich inzwischen an etwas von Dir

erinnern? An Deinen Namen wenigstens?“, fragte Taren.„Nein“, seufzte der Tigermensch tonlos. „Selbst

mein Name ist mir noch nicht wieder eingefallen.“ Niedergeschlagen sah er sich um. „Wo sind wir?“, fragte er unsicher nach ein paar Lidschlägen.

„Wir sind jetzt Gladiatoren in der Arena, fürchte ich. Wir sind auf ganzer Linie gescheitert.“

Die Miene des Tigermenschen versteinerte und er schwieg. Mit den Krallen seines Fußes kratzte er sich am anderen Bein. Anders als seine Hände, waren seine Füße noch die eines Tigers; er ging auf Zehenspitzen und hatte

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63sehr stark entwickelte Sprunggelenke.In Tarens Schädel arbeitete es. Nach der Prophezeiung

von Theb Nor – der bedeutendsten Priesterlehre, die er kannte – war Wissen etwas Anrüchiges, als Selbstzweck gar Verbotenes. Keinerlei Wissen zu haben, nicht mal über sich selbst, schien dem Tigerwesen etwas Göttliches zu geben. Doch Taren war ein rationaler Mensch und er konnte nicht akzeptieren, dass der Verlust des Gedächtnisses gut sein konnte. Andererseits konnte das göttliche Nicht-Wissen ein Zeichen für die Begleiter dieses Tigerwesens sein, so deutlich wie ein Feuer in tiefer Nacht ...

Taren versteifte sich, als die Chimärierin auf ihn zuhinkte. Schweigend blickte er zu ihr auf.

„Du bist Taren von Silberberg, nicht wahr?“, fragte sie in seiner Sprache, der Sprache der Sklaven.

„Ja“, antwortete Taren zögernd und unterdrückte den Reflex, sich nervös am Bart zu kratzen.

Ressu nickte still und schien über etwas nachzudenken. Dann wandte sie sich dem Tigermenschen zu. „Wie geht es Dir?“, fragte sie ihn matt, aber nicht unfreundlich.

„Was interessiert es Dich?“, blockte Taren an dessen Stelle.

Für einen Moment sah Ressu ihn irritiert an. Sie erklärte: „Zwei unserer Menschensklaven fanden ihn bewusstlos am Stadtrand. Wir kümmerten uns um ihn. Wir sind Rassenforscher und kennen uns ein wenig mit Tigermenschen aus, wenn auch nicht genug, um ihn wachzubekommen. Als ich sah, dass er die Augen geöffnet hat, bin ich neugierig geworden.“

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64 Jetzt wandte sie ihren Blick wieder dem Tigermenschen zu, der sie ebenfalls mit einer gewissen Neugier betrachtete.

„Ich kann mich an rein gar nichts erinnern, nicht mal an meinen Namen“, schilderte der Fremde sein Dilemma.

„Wie schade“, antwortete Ressu enttäuscht und fügte hinzu: „Dein Erinnerungsvermögen wird aber sicher bald wiederkehren. Vermutlich hast Du viel durchgemacht und musst Dich erst erholen, bevor Dein durchgeschüttelter Kopf wieder ganz klar geworden ist.“

Nach dem Blutdurst der Tigermenschen fragte sie nicht: nach dem Dämon N rracorr, der in ihren Seelen nistete. Dieses Thema war Tigermenschen überaus unangenehm, und nur wenige Angehörige anderer Völker wussten überhaupt davon. Vor über tausend Jahren, als Seinesgleichen von den Göttern besiegt worden waren, hatte N rracorr sich in die Seelen der kriegerischen Tigermenschen gerettet. Noch heute war dieses Volk verflucht; Geruch und Anblick von Blut konnten sie in rasende Bestien verwandeln.

Als Ressu den Kopf drehte, fiel ihr Blick zufällig auf einen der großen Holztische. Darauf lag Alynde, ihre menschliche Sklavin mit dem kurzen, roten Haar. Sie war bewusstlos und ohne Kleider. Zwei Männer stritten darum, wer als Nächster „dran“ war. Seltsam gepresst in ihrer Miene, registrierte Ressu die Szene. Sie suchte die Höhle mit Blicken ab und erspähte nach wenigen Lidschlägen auch Saban, ihren männlichen Sklaven und Alyndes Gefährten. Saban war grün und blau geschlagen worden und seine Robe war zerrissen. Mehr bewusstlos als

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65wach, saß er in einer Ecke der Höhle und stierte dumpf auf seine blutigen Fußspitzen. Seufzend erhob Ressu sich und hinkte zu ihrem eigenen Gefährten zurück, der noch immer hilflos am Boden lag.

Bisher hatte Taren nur insoweit mit Chimäriern zu tun gehabt, als er seine Heimatstadt Silberberg gegen sie verteidigt hatte, wenn das Imperium einen weiteren, halbherzigen Ansturm gegen die äußerst dicken und gut verteidigten Mauern unternommen hatte. Die keilförmig ausufernden Bastionen im Inland hinter Silberberg, die Nahrung und Wasser der Stadt sicherten, hielten ebenfalls stand; zudem waren Chimärier reine Fußsoldaten. Doch was auch immer die Chimärier davon abhielt, einen wirklich entscheidenden Schlag gegen Silberberg zu führen – wenn dieser Grund nicht mehr gegeben war, würde die Stadt fallen. Einer der Gründe, warum Taren überhaupt die Grenze zum Imperium überschritten hatte, war, mehr über diese seltsame, zermürbende Situation herauszufinden.

Dass die Chimärier die Mauern Silberbergs nicht zu stürmen in der Lage sein sollten, war absurd. Dem Militärrat von Silberberg und allen Priestern, die etwas zu entscheiden hatten, war zweifelsfrei klar, dass es einen anderen, verborgenen Grund dafür geben musste, dass Silberberg den Vormarsch des Imperiums aufhielt.

Taren gehörte zu einer kleinen Elite von Silberberger Kriegern, die so lange überlebt hatten, dass sie es regelrecht gewöhnt waren, Chimärier zu töten. Menschen kämpften immer zu zweit gegen die Schuppen, anders hatten sie

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66 keine Chance; solange der Kampfbund hielt, konnten durchaus auch Menschen Chimäriern das Fürchten lehren. Was Taren jedoch nicht gewöhnt war, das war, mit Chimäriern zu reden. Aber etwas flößte Taren Vertrauen zu der Chimärierin Ressu ein.

Er folgte ihr; als sie ihn fragend anblickte, schilderte er ohne Umschweife in Menschensprache: „Ich habe den Tigermann schon zuvor getroffen. Sein Gedächtnis hatte er da aber auch schon verloren. Möglicherweise handelt es sich dabei um ein göttliches Zeichen.“

„Ah ja ...“, machte Ressu unsicher. Sie legte den Kopf schräg, nahm etwas Mut zusammen und fragte dann: „Dieses Silberberg ... ist nicht in der Nähe, oder?“

„Nein“, antwortete Taren. „Ich hatte hier einen Auftrag.“

Ressu sah ihm tief in die harten Augen. „So, so ...“, machte sie leise, ohne den Blick abzuwenden. Jedes Wort wohl überdenkend, fragte sie dann langsam: „Und wurdest Du zufällig von zwei Rassenforschern hergebeten?“

Endlich verstand Taren. Er nickte. „Ja, deswegen bin ich hier“, sagte er gedehnt – und verschwieg, dass dies nur die halbe Wahrheit war.

„Gut“, erwiderte sie. „Ich heiße Ressu, und das ist mein Gefährte Darrakos“, stellte sie sich vor und hockte sich zu Darrakos.

Taren brummte: „Ich habe diese Namen schon einmal gehört.“

Hinter Taren räusperte sich plötzlich Melek, der junge Mann, der ebenfalls den Kampf gegen das Tier überlebt hatte.

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6�Alarmiert spannte Ressu sich und knurrte kehlig. Taren hob leicht die Hand, um sie zu beruhigen.

Furchtsam starrte Melek die Chimärierin an und ließ sie nicht aus den Augen. Er stammelte: „Der Tigermensch ... er lässt fragen, ob es hier einen großen Menschen mit langen, braunen Haaren gibt, etwa vierzig Jahre alt. Er weiß den Namen nicht, aber er hat ein Bild von ihm vor Augen. Das ist momentan wohl seine einzige Erinnerung. Er glaubt, dieser Mann sei wichtig. Ich habe ihm gesagt, dass ich keinen solchen Mann hier kenne, aber ich dachte ... also, ich fühlte irgendwie ... ich sollte Dir das sagen, Taren.“

„Danke, Melek“, sagte Taren und klopfte dem Jungen sachte auf die Schulter. Irgendetwas gefiel Taren an ihm nicht, etwas in seinem unsteten, angespannten Blick.

Ist das etwa doch derselbe Melek, der ...„Ich kenne so einen Menschen auch nicht“, berichtete

Ressu und unterbrach damit Tarens Gedanken über Melek.

„Ich auch nicht“, ergänzte Taren. „Vielleicht kümmerst Du Dich ein bisschen um den Tigermenschen, Melek. Hier, nimm den Apfel mit.“

„Darf ich fragen, weshalb Ihr zwei hier seid?“, führte Taren dann das Gespräch fort. Entgegen einer alten Gewohnheit vermied er es, die Arme beim Gespräch zu verschränken.

Ressu seufzte schwer, bevor sie antwortete: „Wir sind Rassenforscher, und als solche brauchen wir Vertreter anderer Rassen als Augen und Ohren jenseits des

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6� Imperiums. Nur so können wir das natürliche Verhalten anderer Rassen in Freiheit erforschen, um mehr über diese zu lernen, um ...“ Sie gestikulierte unschlüssig mit den Händen und suchte nach Worten.

„Um sie besser bekämpfen zu können“, schloss Taren bitter den Satz und verschränkte nun doch die Arme.

„Ja“, gab Ressu jetzt unumwunden zu. „Dafür sind imperiale Rassenforscher da.“ Sie zeigte kein Zeichen von Verlegenheit. Ihre Hände lagen jetzt ruhig aufeinander.

Für einige Lidschläge starrten beide aneinander vorbei zu Boden. Schließlich fuhr Ressu fort: „Offensichtlich aber wurde uns unterstellt, wir hätten uns zu liberal gegenüber den Niederen verhalten, ja sogar Informationen bewusst zurückgehalten, die Schwächen unserer Feinde betrafen. Wir wurden als Verräter am Imperium hingestellt. Unsere Verletzungen rühren noch vom Verhör.“ Ihre Miene wurde hart und ihr Blick schweifte ins Leere. „Normalerweise inhaftieren sie keine Weibchen. Aber ich bin schon zu alt zum Eierlegen, deshalb bin ich wertlos.“ Dann sah sie Taren wieder intensiv ins Gesicht. „Zuletzt haben wir Augen und Ohren bei einem ganz bestimmten, freien Stadtstaat der Menschen gesucht: Silberberg. Wir haben Mittelsmänner eingesetzt, von denen wir aber nun schon eine Weile nichts mehr gehört haben.“

Taren nickte knapp und erwiderte Ressus vielsagenden Blick. Eine neue Frage begann sich in seinem Hinterkopf zu drehen: Konnte es sein, dass die Chimärier selbst nicht genau wussten, was es mit Silberberg auf sich hatte? Warum zögerten ihre Bataillone vor der Stadt mit einem entschiedenen, vernichtenden Angriff? Was ging in ihrer

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6�Führung vor? Und wie konnte Taren seiner jetzigen Lage entkommen, um das Rätsel zu lösen, um vielleicht gar seine Heimat zu retten?

Ressu blickte kurz zu den Seiten, beugte sich etwas vor und fragte dann leise: „Wo ist Nenúriel?“ Sie bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte: Taren zuckte bei der Erwähnung des Namens wie von einem Hieb getroffen. Seine Lippen zuckten und seine Augen wurden feucht. „Oh“, machte Ressu und senkte leicht den Blick.

Der Mondtempel von Silberberg: glatter weißer Marmor, prunkvoll mit Silber verziert. Dies war eines der reichsten Gebäude des ganzen Stadtstaates. Jeder Hohepriester von Bruder Mond war nahezu automatisch auch Mitglied des Stadtrates, der aus den sechs wichtigsten Priestern und den sechs reichsten Händlern bestand. Das runde Gebäude befand sich direkt neben der Kaserne des stehenden Heeres. Es war keine Seltenheit, dass die Mondpriester der Nachtschicht der Stadtwache etwas Arbeit abnahmen.

„Jetzt sitzt Du da wie ein Häufchen Elend. Aber weißt Du was? Ich glaube Dir nicht, dass Du so weich und eingeschüchtert bist! Ich habe mich umgehört; als Du eine Nachtelfin wurdest, haben Deine Eltern Dich verstoßen und sogar die Stadt verlassen, weil sie Angst hatten, diese Elfenkrankheit könnte sie sonst auch einholen. Seit Du neun Jahre alt warst, seit diese unheilige Seuche Dich erwischt hatte, hast Du Dich allein durchgeschlagen – und Du lebst noch, hast noch alle Gliedmaßen und kaum Narben. Du bist nicht wie die trägen, verträumten Elfen aus der Wildnis. Jemand wie Du ist nicht weich und schüchtern. Jemand wie

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�0 Du ist absolut in der Lage zu töten. Also erzähl mir endlich, wieso Du den Färber umgebracht hast!“

Nenúriel hob den Kopf und musterte Taren emotionslos. „Ich habe ihn nicht getötet“, sagte sie ruhig.

Taren ohrfeigte sie. Stumm nahm die Elfin den Schlag hin, blickte den Menschen nun aber nicht mehr an. Taren schrie zornig: „Wer sollte ihn denn sonst getötet haben? Dein Dolch steckte in seiner Brust, und nur zwei Stunden zuvor haben mehrere Menschen gesehen und gehört, wie Du mit ihm gestritten hast.“

„Ich habe ihn nicht getötet“, wiederholte Nenúriel tonlos.„Ich sollte Dich ...“, begann Taren, da sprang Nenúriel

plötzlich vom Schemel und stand jetzt fast Nase an Nase vor Taren.

„Ja? Was solltest Du mich? Zusammenschlagen? Töten? Vergewaltigen?“ Bei diesen Worten griff sie sich fest in die vorgereckten Brüste unter dem schwarzen Kleid. „Nur zu, ich kann mich gegen einen Menschenmann nicht wehren. Ich weiß das aus Erfahrung.“

Schlagartig fielen ihre Arme wieder herab. Sie funkelte Taren an und zischte: „Du machst mir keine Angst. Ich habe den Färber nicht getötet. Aber ich sehe auch, wie die Wahrscheinlichkeiten liegen. Nur weil etwas ganz unglaubwürdig erscheint, heißt es nicht immer, dass es nicht doch sein kann. Aber ich kann es nicht beweisen, also tu, was Du nicht lassen kannst. Nur erspar uns beiden Dein Gerede und die noch ausstehende Moralpredigt, Priester.“ Mit diesen giftigen Worten setzte sie sich wieder hin und starrte zornig auf die schäbigen Pflastersteine des Zellenbodens.

Sprachlos sah Taren auf sie hinab. Er schüttelte sich kurz,

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�1wie ein nasser Hund. „Entweder bist Du äußerst raffiniert oder ein tragischer Fall. Entweder falle ich nicht auf Dich herein oder ich habe keine andere Wahl bei der Beweislage. So oder so, Du wirst morgen zu Tode gesteinigt.“

Nenúriels Blick wurde für einen kurzen Moment wehmütig und sie schluckte schwer. Doch schon beim nächsten Lidschlag wurde ihre Miene hart und kalt. „Gut so. Was für ein Leben habe ich schon?“

„Ist das ein Schuldbekenntnis?“, fragte Taren lauernd. Nenúriel schüttelte bebend den Kopf.Taren beugte sich vor ihr Ohr und flüsterte: „Was ist das

für ein Leben, einsam und ohne jede Wärme?“ Ruckartig drehte sie ihm das Gesicht zu und funkelte ihn

ebenso überrascht wie böse an.Vorsichtig streckte er eine Hand nach ihrer Wange aus und

berührte ihr schwarzes Haar. Die unvorhergesehene Geste brachte sie völlig aus dem Konzept. Fassungslos starrte sie ihn an. Taren löste sich seufzend von ihr und schlich um sie herum, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt. „So was kennst Du nicht?“, fragte er mitfühlend.

Nenúriel berührte mit den Fingerspitzen zaghaft ihre Wange, wo eben noch Tarens Hand gewesen war. Ihr Blick war erschreckt, regelrecht bestürzt.

Taren hielt inne und überlegte. Dann packte er Nenúriel mit beiden Händen im Nacken. Sofort versteifte sie sich und ihre Miene wurde wieder hart. „Das kennst Du, wie es aussieht“, murmelte Taren. Dann begann er, ihren Nacken zärtlich zu massieren. Sofort wurde Nenúriels Miene erschrocken und weich, verwundbar.

„Was ...“, begann sie und seufzte ganz leise. „Was hast Du

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�2 vor?“, flüsterte sie schließlich. „Du quälst mich mehr, als Du ahnst.“

Taren hörte auf und sagte unangenehm laut: „Das dachte ich mir. Du bist ein armes Ding. Jetzt erzähl mir die ganze Geschichte mit dem Färber. Dann mache ich vielleicht weiter ... damit.“

In Nenúriels Gesicht arbeitete es. Plötzlich lief eine Träne ihre Wange hinab und leise sprach sie: „Im Kerker der Stadtwache sitzt eine Frau, die noch am ehesten so etwas wie eine Freundin für mich ist. In einem Monat soll sie freikommen. Hauptmann Swefan hat gesagt, er tötet sie, wenn ich ihm kein Alibi verschaffe. Ich dachte, ich könnte mich besser verstecken. Swefan hat den Färber getötet, weil der ihn bei irgendetwas beobachtet haben soll, was er nicht hätte sehen dürfen. Ich weiß nicht, was, das hat Swefan mir nicht gesagt.“

Allmählich hatte sie wieder ihren ruhigen Ton gefunden. „Das war alles. Mach daraus, was Du willst.“ Dann wurde ihr Blick flehend, sie sah zu Taren auf und rief mit dünner Stimme: „Aber ich bitte Dich, wir müssen meine Freundin Lani beschützen!“

Taren nickte mit sorgenvoller Miene vor sich hin. „Könntest Du jetzt ...“, flüsterte sie erwartungsvoll und

griff nach seiner Hand.„Nicht hier, wir sind im Tempel von Bruder Mond!“, fuhr

er sie an und zog die Hand weg.Enttäuscht starrte sie zu ihm auf. „Mistkerl!“, zischte sie

wütend und sah weg.„Ich gehe jetzt mit Hauptmann Swefan reden“, sagte

Taren zum Abschied und marschierte davon. Hinter ihr

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�3schlug er die schwere Tür aus Eichenholz zu und schob den Bronzeriegel vor.

„Denk an Lani! Bitte!“, rief Nenúriel ihm durch die verschlossene Tür nach.

„Nach unserem ersten Kuss hat sie vor Glück geweint, sie war wie erlöst aus einem langen Fieber“, murmelte Taren und verbarg seine Augen hinter seiner Hand.

„Was meintest Du?“, fragte Melek, der sich wieder vom Tigermann zurückgezogen und in Tarens Nähe gesetzt hatte.

„Nichts“, krächzte Taren, dem beinahe die Stimme versagt hätte.

„Reden wir endlich Klartext, Taren von Silberberg“, verlangte Ressu und setzte sich zu dem düster vor sich hin brütenden Menschen. „Schließlich sind wir schon zum Tode verurteilt – was macht es jetzt noch, wenn die anderen Gladiatoren etwas von unserer Verbindung erfahren?“

Taren nickte teilnahmslos. Er schwieg und rieb sich die roten Augen.

„Was ist aus den menschlichen Mittelsmännern geworden, die Dich zu uns führen sollten?“, wollte Ressu wissen.

Taren seufzte und begann schließlich mit brüchiger Stimme zu reden. „Wir hatten uns wie abgesprochen am Markt mit Lisann und Fehnor getroffen, das heißt, Nenúriel, der Tigermann und ich. Doch plötzlich wurde der Markt von Soldaten gestürmt. Lisann und Fehnor liefen in eine andere Richtung als Nenúriel und ich, daher

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�4 weiß ich nicht, was aus ihnen wurde. Da aber Darrakos und Du jetzt hier sind, wurden sie wohl geschnappt und verhört, oder sie haben Euch sogar verraten. Nenúriel und ich wurden jedenfalls ein paar Straßen weiter gestellt und sind nicht mal mehr verhört worden, sondern direkt in die Arena gebracht worden. Wie es dem Tigermann zwischenzeitlich ergangen ist, weiß ich auch nicht.“

Ressu dachte einige Momente lang über das Gehörte nach und nickte leicht. „Jedenfalls ist es schön zu sehen, dass jemand unserem Ruf gefolgt ist, und obendrein auch nicht irgendwer. Das lässt mich hoffen, dass andere wie wir, in anderen Städten, vielleicht mehr Erfolg haben.“

Im ersten Moment dachte Taren sarkastisch: „Und mit der ungeklärten Lage Silberbergs hat das wohl nichts zu tun, wie?“ Er seufzte und widersprach: „Ich fürchte eher, dass das ein ziemlich seltener Glücksfall für Euch gewesen ist. Wenn Nenúriel und ich Silberberg nicht sowieso ... überraschend hätten verlassen wollen, wären wir nämlich niemals hergekommen. Es war bloß so, dass wir keinen anderen Ort gekannt haben, an den wir hätten gehen können. Also steigerten Nenúriel und ich uns in unsere gewisse Neugier noch weiter hinein und beschlossen schließlich aus Abenteuerlust, und mit dem Segen meines Tempels, das Risiko doch einzugehen und den Worten Eurer Mittelsmänner zu vertrauen, darüber, dass es auch Chimärier gäbe, die ...“, er wurde sehr leise, „... mit dem Imperator nicht einverstanden seien.“

Dass er auch hier war, um zu ergründen, weshalb die „Schuppen“ Silberberg nicht mit voller Entschlossenheit angriffen – sondern vor den Mauern ein Militärlager

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�5befestigt hatten, verschwieg er ganz bewusst. So sehr vertraute er der Fremden noch lange nicht, ihr seine Geheimnisse zu verraten. Dass er das verlorene Gedächtnis für ein göttliches Zeichen hielt, hatte er ihr auch nur verraten, weil er wusste, dass Chimärier mit Religion nichts anfangen konnten; ihr Imperator war ihr einziger Gott, und religiöse Riten waren als Zeitverschwendung verboten.

Niedergeschlagen nickte Ressu und seufzte leicht. Sie wechselte das Thema: „Und wo habt Ihr nun diesen Tigermann getroffen? Leben sie sonst nicht von Silberberg aus viele Tagesreisen weit im Süden?“

Taren blickte hinter sich, wo das Wesen schlief. Leise berichtete er: „Es gibt auch in Silberberg einige Tigermenschen, Auswanderer, Pilger oder Abenteurer. Dieser hier trottete völlig desorientiert die Straße nach Harkýior entlang, ohne jede Tarnung mitten auf die Stadt zu. Er meinte nur, er hätte schon sehr lange kein Gedächtnis mehr, doch er konnte nicht einmal sagen, wie lange genau. Wir haben ihm die Situation erklärt und ihn dann mit an unsere Kette gelegt, sodass wir alle gemeinsam als Sklaventreck in die Stadt geführt wurden. Der Tigermann stand zwar nicht auf Fehnors Namensliste, aber die Wachen haben nicht weiter gefragt. Sie wussten wohl, dass ihr Rassenforscher seid und viele Niedere transportieren lasst.“

Ressu hatte aufmerksam zugehört. Als Taren endete, beugte die Chimärierin sich nah über den Kopf des Tigermenschen und suchte seinen Kopf ab. Gedankenverloren kratzte sie dabei etwas Ruß aus

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�6 ihren Nasenlöchern.„Er scheint keine Kopfwunde zu haben, die seinen

Gedächtnisverlust zur Folge gehabt haben könnte“, murmelte sie.

Auf einmal riss der Tigermann die Augen auf und packte Ressu mit einer Hand am Hals. Ressu riss ebenfalls entsetzt die Augen auf, würgte heiser und versuchte vergeblich, die Krallen des Tigermannes von ihrem Hals zu lösen.

„Schon gut! Lass sie los!“, rief Taren und legte dem Tigermann eine Hand auf die Schulter. „Sie wollte nachsehen, ob Du vielleicht eine Kopfwunde hast! Sie wollte Dir helfen!“, redete er eindringlich auf ihn ein.

Ressu röchelte gequält und grub ihre eigenen Krallen in die eiserne Hand des Fremden. Langsam sank sie auf die Knie und krächzte kläglich. Dann ließ der Tigermann sie einfach los und starrte zur Decke. „Tut mir leid“, flüsterte er beschämt.

Ressu fiel stöhnend auf die Knie und rieb sich den Hals. Ihre Augen waren immer noch geweitet, während sie den Tigermann mit neuem Respekt betrachtete. „Woher hast Du bloß diese Kraft?“, keuchte sie ehrfürchtig.

„Weiß ich gerade nicht“, stieß das Wesen ruppig und unwillig hervor. Ressus Hals war fast doppelt so dick wie der von Taren, und er stellte sich gerade vor, was die Klaue des Fremden wohl mit seinem vergleichsweise dünnen Genick angestellt hätte. Gelbe, dampfende Blutfäden rinselten aus Ressus Hals, wo die schwarzen Tigerkrallen sich unter ihre Schuppen gebohrt hatten. Auch der Tigermann blutete etwas an der Hand, doch er ignorierte es.

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��„Entschuldige mich“, raunte Ressu eisig und zog sich zu Darrakos zurück. Der Tigermann presste schuldbewusst die Kiefer aufeinander.

„Was war das gerade?“, fragte Taren vorwurfsvoll den Tigermann.

„Ich weiß es nicht“, antwortete der niedergeschlagen. „Ich habe mich erschreckt; ich bin aus wirren Träumen erwacht und dachte, ich hätte einen mordgierigen Feind vor mir.“ Er seufzte schwer und brummte: „Ich hoffe wirklich, dass ich mich bald wieder an mehr erinnere als daran, wie man anderen Schmerzen zufügt.“

„Der Junge, der Dir den Apfel brachte ...“, begann Taren finster.

„Danke, das hat gutgetan“, lächelte der Tigermann.„Hat der Junge sonst noch etwas gesagt oder getan?

Hattest Du bei ihm auch ein Gefühl von Bedrohung?“, fragte Taren leise, nachdem er sich mit mehreren Seitenblicken versichert hatte, dass Melek nicht in der Nähe war.

Der Tigermann musterte Taren ausdruckslos. Er legte die Hände auf dem Bauch zusammen und blickte nachdenklich zur Decke. „Nein“, antwortete er schließlich. „Der Junge ist etwas verkniffen, das ist alles.“

Taren schnaufte durch die Nase und nickte gepresst. „Hoffen wir es“, brummte er.

„Was soll mit ihm sein?“, wunderte sich der Tigermann und musterte Taren neugierig.

Taren starrte nur schweigend vor sich hin.

„Melek Messer! Das war Melek Messer! Er hat schon wieder

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�� getötet!“, schrie eine alte Frau hysterisch und fiel vor einem kleinen Haus aus Tonziegeln auf die Knie. Sie streckte die Hände zum Himmel und jammerte.

Taren blieb einige Schritte von ihr entfernt stehen. Seine Miene war mit einem äußerst finsteren Blick eingefroren. Innerlich jedoch begann er sich bereits dafür zu schämen, dass er den eisernen Wappenschild von Bruder Mond trug.

Er jagte einem Wahnsinnigen im Süden der Silberberger Lande nach, der ihm ständig einen Schritt voraus war. Tarens Flügelhelm, sein Eisenpanzer und der Wappenschild mit dem fahlen Halbmond zeigten schon von Weitem, dass er kein einfacher Söldner war. Doch dieser junge Mörder – halbnackt und nur mit einem Dolch bewaffnet, hieß es – spielte schon seit fast zwei Jahren Katz und Maus mit ihm. Taren war kurz davor, zum Gespött von ganz Silberberg zu werden. Er musste diesen Kerl einfach kriegen, kostete es, was es wollte.

Taren betete jeden Abend eine Stunde um Erleuchtung; irgendetwas musste er doch falsch machen! Doch Bruder Mond gab ihm keinen Hinweis. Dies war Tarens bisher schwerste Prüfung, und er sollte sie allein bestehen.

Vielleicht ist es Bruder Mond gewesen, vielleicht auch nur ein Zufall. Doch eines Tages machte die Nachricht die Runde, Melek Messer sei getötet worden. Andere sagten, er sei spurlos verschwunden. So oder so, Tarens Hohepriester in Silberberg hielt wie immer seine schützende Hand über Taren und ließ überall verbreiten, Taren, nicht irgendwer, hätte Melek Messer zur Strecke gebracht. Tarens Ruf war offiziell wiederhergestellt worden. Doch Taren litt noch heute daran, dass er es besser wusste.

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��Nichts würde er lieber tun, als den berüchtigten Melek Messer ganz langsam zu erwürgen. Doch niemals würde er das Risiko eingehen – und sei es noch so gering – vielleicht einen Unschuldigen zu erwischen.

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�0 3

„Das hat Laura für Dich gebastelt, nachdem ich ihr von Dir erzählt habe“, berichtete Jade, die schlaksige, schwarzhaarige Elfin, die neben Athónon am Abendfeuer vor seiner Einsiedlerhöhle saß. Sie hielt dem weißhaarigen Gnom einen kleinen Gegenstand hin, der mit einem bunten Leinentuch umwickelt war.

Athónon drehte einen Hasenbraten über dem Feuer und reagierte weder auf Jades Worte, noch nahm er das Geschenk der vierjährigen Halbelfin Laura entgegen.

Jade wickelte es selbst aus und hielt es hoch, damit Athónon es wenigstens sah: Eine Kastanienpuppe mit einer weißen Haube hielt eine kleinere Kastanienpuppe an der Hand.

„Ich lege es hierhin“, sagte Jade leise und platzierte die beiden Puppen auf einem flachen Stein neben Athónon.

Jade erzählte dann amüsiert: „Die Geschichte vom Kampf im Tiefenreich hat Laura sehr gefallen. Sie hat sofort einen Stock genommen und Deinen Kampf gegen die Tiefenweltler nachgespielt.“

Athónon sah noch immer nicht auf. „Ich habe es nicht unbedingt lustig in Erinnerung. Vor allem die Stelle nicht, als der Pfeilhagel niederging und Du mit einem Pfeil im Rücken neben mir zusammengebrochen bist.“

Jades Lächeln erstarb. „Nein, der Teil war nicht lustig, den habe ich auch weggelassen“, flüsterte sie mit belegter Stimme.

„Du setzt ihr ziemliche Flausen in den Kopf“, setzte

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�1Athónon düster nach und hob den aufgespießten Hasenbraten vom Feuer. „Wenn das mal gut geht.“

Etwas betreten rieb sich Jade das Gesicht und starrte verunsichert in die Flammen, während Athónon den Braten teilte.

„Ihr Elfen seid einfach zu sorglos, lebt nur in den Tag hinein und lauft vor jedem anstrengenden Gedanken weg, sogar vor Eurer eigenen Vergangenheit“, brummte der Gnom.

Jade wollte ihn sarkastisch fragen, ob er mit seinem Einsiedler-Dasein nicht viel schlimmer in dieser Hinsicht war. Doch sie hatte kein Interesse daran, den Finger in offene Wunden zu drücken und schwieg.

„Schöne Freunde habe ich hier“, grunzte Gebrak abfällig. „Von wegen, zu dritt oder zu fünft machen wir sie fertig. Wo wart ihr denn, hä?“

Brommil, der Zwerg, keifte zurück: „Was lässt Du Blödmann Dich auch so vorführen? Außerdem konnte keiner wissen, dass das Biest so stark und schnell ist und außerdem weniger verletzt, als es erst den Anschein gehabt hatte.“

Gebrak hob langsam das Kinn und stierte den Zwerg mit seinen schwarzen Augen so feindselig an, dass Brommil für einen Moment blass wurde. Demonstrativ knetete Gebrak seine Finger durch.

„Das ... war nicht so gemeint“, stammelte Brommil leise und hob beschwichtigend die Hände.

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�2 Pira schlenderte überaus zufällig zwischen die beiden und lächelte Gebrak an: „Was macht Dein Rücken?“

„Könnte eine Massage vertragen, schätze ich.“ Er legte die Hände um Piras Hüfte und zog sie an sich.

„Dafür ist jetzt keine Zeit mehr!“, maulte Brommil von der Seite.

„Dafür ist immer Zeit“, schnurrte Pira und tätschelte Brommils Halbglatze, ohne ihn anzusehen.

Mit wutverzerrter Miene schlug der Zwerg ihre Hand zur Seite. Als Pira sich lasziv an Gebrak zu reiben begann, verdrehte Brommil entnervt die Augen und trottete von dannen.

Auf dem Tisch wurde immer noch „die Neue“ von einem weiteren Krieger „eingeweiht“; ihr Hinterkopf schlug immer wieder auf das Holz, da sie bewusstlos war. Kopfschüttelnd ging Brommil weiter, bis er nur noch ein paar Schritte von Taren entfernt stehen blieb. „Wir könnten noch einen guten Kämpfer für eine bestimmte Sache gebrauchen“, rief der Zwerg ihm halblaut zu.

Mäßig interessiert hob Taren den Kopf aus den Händen und musterte den Zwerg fragend. „Und da kommst Du ausgerechnet zu mir? Schätze, Gebrak mag mich nicht besonders“, brummte er.

Brommil kam näher und raunte dem Menschen verschwörerisch ins Ohr: „Das ist mir doch egal! Pass auf: Wir werden ausbrechen! Der Wachsoldat für den nächsten Kampf wird ganz zufällig das falsche Tor öffnen und wir müssen eigentlich nur noch schnell genug rennen. Gebrak kennt als Einziger den richtigen Weg, der dann hoffentlich

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�3unbewacht sein wird. Also bleib ihm auf den Fersen! Die anderen, die anderswo rauslaufen, werden sterben. Das kommt uns zugute, weil wir in dem Chaos noch besser verschwinden können. Es kann aber durchaus sein, dass auch wir kämpfen müssen, dann wäre es mir lieber, Leute wie Du begleiten uns. Zumal wir ja keine Waffen haben und erst jemandem welche abnehmen müssten.“

Jetzt war Taren hellwach und streckte den Rücken gerade. Sein Misstrauen grub tiefe Furchen in seine Stirn. „Wieso sollte der Wachsoldat das tun? Wieso kennt Gebrak einen sicheren Weg? Und wieso sollte ich Euch schrägen Gestalten überhaupt vertrauen?“

Brommil tat kein bisschen beleidigt, sondern lachte breit. Übertrieben hob er die Achseln zu einer gleichgültigen Geste. „Du kannst auch gern hier drin verschimmeln.“

Taren sah über Brommil hinweg zu Gebrak und Pira, die ganz in ihrer Ekstase versanken.

Brommil folgte Tarens Blick, lachte etwas in Zwergensprache und stieß ihm dann den Ellbogen in die Rippen.

Taren sah den geifernden Zwerg nur geringschätzig an, fast mitleidig. Unvermittelt fragte er: „Kann es sein, dass Gebrak sehr unzufrieden damit sein würde, dass ich dabei wäre?“

Brommil grinste breit: „Ja, das ist wohl möglich. Aber wir müssen es ihm ja nicht sofort sagen, er wird es dann auf dem Weg schon merken! ... Du weißt also Bescheid. Nimm mit, wen Du sonst noch meinst. Je mehr Kämpfer, desto besser. Den Ballast lässt Du aber besser hier, wie zum Beispiel den Chimärier, der nicht laufen kann.“

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�4 Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Brommil von dannen und kletterte auf den Tisch mit der neuen Sklavin Alynde, um von ihrer Kopfseite aus das tierhafte Geschehen zu beobachten. Nach wenigen Augenblicken wurde er von den Umstehenden am Kragen gepackt und fortgeschleudert. Er lachte dreckig und verzog sich in eine Ecke, wo er still über sein verpfuschtes Leben zu brüten begann. Es schien ihm gerecht, hier geendet zu sein.

„Lani ist tot. Jemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten, noch bevor Swefan verhaftet worden ist.“ Nenúriel stand vor dem Tempeltor und blickte Taren ins Gesicht. Ihre Miene war matt, ganz und gar nicht passend zu der Nachricht über ihre tote beste Freundin.

Taren runzelte skeptisch die Stirn. „Ich weiß“, antwortete er feindselig. „Was willst Du hier? Dieser Tempel ist für Menschen. Elfen beten ja nicht.“

Sie ging nicht darauf ein. Stattdessen hauchte sie: „Jetzt habe ich niemanden mehr.“ Ihre Gesichtsmuskeln zitterten leicht.

Verärgert wiederholte Taren: „Ich fragte, was Du noch hier willst.“

„Deine Hand“, flüsterte sie und streckte ihre Hände nach seinen aus.

„Verschwinde!“, bellte Taren. Er machte einen Schritt zurück und wollte das Tor schließen. Doch Nenúriel trat auf die Schwelle und starrte ihn flehend an. „Bitte lass mich nicht wieder allein!“, flüsterte sie.

„Ich habe Dir nie Gesellschaft geleistet“, belehrte Taren sie schroff.

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�5„Bitte!“, flehte Nenúriel und trat noch näher, dicht an ihn heran, doch ohne ihn zu berühren.

Schweigend sah er sie an. Seine Miene blieb finster.Sie flüsterte: „Plötzlich ist mir völlig klar geworden,

wie sinnlos meine bisherige Existenz war. Du kannst das ändern!“

Taren schüttelte den Kopf. „Das denkst Du nur im Moment. Du bist jung. Lass ein paar Tage vergehen und Heva sieht wieder anders aus.“

„Da, Du tust es schon wieder!“, wisperte Nenúriel und lächelte dünn.

Taren verstand nicht und sah sie mit seiner Miene des grimmigen Bären an.

„Du behandelst mich wie ein Lebewesen. Du bist der erste Mensch oder Elf, der das tut, seit ich ...“ Sie biss sich auf die Lippe und ließ den Kopf hängen, ballte die Fäuste und schluchzte leise. Dann sah sie mit feuchten Augen wieder auf und wisperte: „Ich bin doch auch ein Lebewesen, oder nicht? Ich atme, denke und fühle! Aber alle behandeln mich nur wie Dreck, wie ein Stein im Weg, den es zu umgehen gilt! Außer Dir.“

Taren hatte einen Kloß im Hals. Allerdings erwiderte er: „Siehst Du, Du lügst Dir selbst etwas zurecht. Ich habe Dich auch abgewiesen und will Dich nicht. Jetzt verschwinde.“

„Du bist es, der lügt“, zischte sie und musterte sein Gesicht herausfordernd. Fast lächelte sie.

„Was?“, entfuhr es Taren. Damit hatte er nicht gerechnet.„Du hast zumindest Mitleid mit mir, das hast Du mir

schon gezeigt. Aber Du hast auch Angst, dass Du meinetwegen in Schwierigkeiten kommst, weil Du ein Priester der

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�6 Menschen bist und Nachtelfen durch ihre Empfindlichkeit gegen Sonnenlicht als aussätzige, kriminelle Monster gelten – obwohl es nur eine Krankheit ist ... Also stößt Du mich fort, obwohl Du anders fühlst.“ Dann wurde ihre Miene traurig. „Hast Du das wirklich gut gegeneinander abgewogen? Dein Ansehen gegen mein Leben?“ Sie zog langsam einen schartigen Bronzedolch unter dem Kleid hervor; der Griff bestand bloß aus einem dicken Lumpen, gehalten durch ein verknotetes Lederband.

Taren sprang alarmiert zurück und griff nach dem Schwert an seiner Seite.

Doch Nenúriel setzte sich die Dolchspitze mit beiden Händen selbst ans Herz und schloss die Augen. Sie flüsterte: „Wenn ich Dir wirklich egal bin, wirst Du nicht eingreifen.“ Eine scheinbare Unendlichkeit lang blickte sie ihn an.

Taren fühlte sich gelähmt. Er wollte sie nicht sterben sehen, aber seine strenge Loyalität zum Tempel kämpfte gegen sein Herz und nahm ihm jegliche Entschlusskraft.

Dann stach Nenúriel zu. Sofort riss sie Augen und Mund auf und stöhnte unterdrückt.

Taren stand reglos vor ihr. Während sie auf die Knie sank, starrte sie ihn voller Entsetzen an. Mit einer zähen Bewegung kippte sie vornüber – in Tarens zugreifende Arme. Er legte sie behutsam auf den Rücken. Dann riss er den Dolch achtlos aus der Wunde, warf ihn zur Tür hinaus und legte seine Hände übereinander auf das pulsierende Blut.

Hinter ihm liefen Schritte herbei, jemand rief: „Was ist hier denn los?“

Taren versank in sein stilles Gebet an Bruder Mond, in welchem er um Rettung und Heilung bat.

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��„Ich habe Dich entlarvt“, flüsterte Nenúriel kraftlos, aber mit einem Lächeln.

Als Taren sein Gebet beendete, war seine Hand voll Blut, aber die Wunde war geschlossen.

„Ich wusste es“, flüsterte Nenúriel im Liegen und griff nach seiner Hand.

Doch wieder zog Taren sie weg und grollte: „Du irrst Dich. Ich kann nur nicht zulassen, dass jemand an unserem Tor stirbt. Du kannst hierbleiben, bis Du wieder laufen kannst. Doch dann gehst Du weg und bringst Dich woanders um, wenn Du unbedingt musst, Nachtelfin!“

Nenúriels Lächeln erstarb. Taren jedoch musste seines verbergen, indem er den Kopf abwandte; er hielt seine Maskerade nicht mehr durch.

Taren schüttelte die quälenden Gedanken ab. Er raunte dem Tigermann ins Ohr: „Hast Du gehört, was der Zwerg erzählt hat?“ Der Tigermann nickte. „Kommst Du mit? Kannst Du laufen?“, fragte Taren, und wieder nickte der Tigermann. „Du bist verdammt stark. Kriegst Du vielleicht dieses Armband auf?“, fragte Taren dann.

Der Tigermann richtete sich vorsichtig zum Sitzen auf und nahm Tarens Handgelenk mit dem Armband in beide Hände. Er betrachtete die flache Nase eingehend, an der beide Seiten des Eisenringes zusammengeschmiedet worden waren. „Sieht aus wie ganze Arbeit, Freund“, murmelte er. „Aber ich werde es versuchen.“

Er schloss die Klauen fester um das Eisen. Ein tiefes Grollen ausstoßend, versuchte er mit aller Gewalt, die beiden verbundenen Hälften des Armbandes

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�� auseinanderzureißen. Tatsächlich waren die beiden Hälften nicht richtig miteinander verschmolzen, sondern hatten sich nur an einem sehr dünnen Anteil der Oberfläche verbunden; Eisen richtig zu bearbeiten, gehörte zu den schwierigsten Schmiedekünsten auf Hevas Leib, denn kaum ein Feuer war heiß genug dafür.

Taren hatte sich sowohl in der minderen Qualität des Armbandes als auch in der Kraft des Tigermannes nicht geirrt. Mit einem leisen Knall lösten sich die Hälften voneinander. Der Tigermann reichte Taren grinsend das aufgebogene Erinnerungsstück.

„Schön, Dich dabei zu haben“, sagte Taren und drückte die mächtige Schulter des Wesens. Das Armband behielt er zunächst in der Hand.

Taren stand auf und ging zu Ressu herüber. „Es soll eine Flucht geben“, raunte er ihr zu. „Ich traue dem Braten noch nicht, aber falls es wirklich klappt, müssen wir vorbereitet sein. Ich würde ungern die einzigen verbündeten Chimärier hier zurücklassen.“

Ressu starrte ihn undeutbar an. „Erzähl mir mehr“, verlangte sie.

Taren berichtete von seinem Gespräch mit Brommil. „Ich weiß nicht, wie Gebrak das hinbekommen hat, aber den Versuch ist es wert“, schloss er.

Ressu hatte ihm mit regloser Miene zugehört und deutete nun auf Darrakos, der ebenfalls zugehört hatte. „Ich kann ihn nicht zurücklassen“, sagte sie ohne Emotion.

Taren hielt triumphierend das geöffnete Armband hoch. „Ich werde ihn heilen, wenn Du mir den Rücken freihältst. Ich muss mich in meine Gebete an Bruder Mond versenken,

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��und zwar so tief, dass ich nichts von meiner Umgebung mitbekommen werde. Da ich mich mit Chimäriern nicht auskenne und außerdem keinerlei Gebetshilfen dabei habe, wird es zudem recht lange dauern.“

Er reichte Ressu das Armband und kniete sich zu Darrakos, der ihn skeptisch musterte. „Es wird sich gut anfühlen“, versicherte er. Dann legte er dem geschuppten Wesen die Hände auf den Rücken und schloss die Augen. Dass ich mal einen Chimärier heilen und nicht töten würde ... Bin gespannt, was Bruder Mond dazu sagt.

„Oh, mein Bruder! Höre meine Bitte: Breite Deinen Mantel über dieser Kreatur zu meinen Händen aus, spende ihr Deine Ruhe und Dein mildes Licht ...“

Kaum war Taren abwesend und murmelte seine Gebete, gab Ressu sich einen Ruck und stampfte eilig davon. Sie hielt auf Saban zu, ihren männlichen Sklaven, der zusammengeschlagen in einer anderen Höhlenecke lag. Dabei streifte sie mit der Schulter Pira und Gebrak, die noch miteinander beschäftigt waren. Pira schrie ihr einige Beleidigungen nach, aber Gebrak hielt sie still zurück. Ressu beachtete die beiden nicht weiter. Mit dem Rücken zu Darrakos und Taren, setzte sie sich zu Saban und stupste ihn aufmunternd an.

Gebrak starrte ihr noch für einen Moment nach und reagierte nicht auf die irritierte Pira. Dann blickte Gebrak zu Taren und begann breit zu grinsen. Achtlos stieß er Pira von sich, band sich die Hose zu und schlenderte zu Taren, der davon nichts mitbekam. Auf dem Weg zu Taren gab Gebrak durch Handzeichen einigen Männern zu verstehen, ihm zu folgen.

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�0 Ressu sah kurz über die Schulter zu Gebrak und dessen Männern, wandte sich aber sofort wieder ihrem verwundeten Sklaven zu.

Darrakos flüsterte Tarens Namen. Doch der Mensch reagierte nicht, sondern war unnatürlich abwesend und murmelte Gebete. Darrakos wandte sich schwach am Boden, aber er war nicht mal stark genug, um sich unter Tarens Händen wegzurollen, zumal seine eigenen Hände unbrauchbar waren. Dass seine Sklaven sich befreiten und rächten, gehörte zu seinen häufigsten Albträumen.

Gebrak stand nun siegessicher in Tarens breitem Rücken, fünf weitere Männer postierten sich um den verwundeten Chimärier. Plötzlich starrten die fünf alle Gebrak seltsam an. „Was ist?“, schnauzte er und breitete provozierend die Arme aus. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Überrascht wirbelte Gebrak herum.

Der riesige Tigermann stand hinter ihm und blickte undeutbar auf ihn herab. Unter dem Fell zeichneten sich beeindruckende Muskeln ab.

Heiser befahl Gebrak: „Schnappt ihn Euch!“Die fünf Männer hinter ihm kamen bedrohlich näher

und umringten den Tigermann, der sie mit düsteren Seitenblicken bedachte.

Pfeilschnell packte der Tigermann Gebrak und schleuderte ihn wie eine Puppe in den nächsten Angreifer. Dem dritten hinter sich trat er rücklings mit der Ferse gegen die Schläfe. Dem vierten schlug er zwei Krallen seiner Klaue in die Augen – der Mann brach schreiend zusammen und presste sich die Hände vors blutige Gesicht.

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�1Gebrak richtete sich in diesem Moment wieder auf. Er hielt den Mann am Arm fest, gegen den er geschleudert worden war, als der sich gerade verziehen wollte. „Wir sind noch drei gegen einen, verdammt!“, schnauzte Gebrak.

Der dritte Mann beugte sich zu Taren und hielt die Hände ganz nah an dessen Kopf, sodass er sofort zugreifen konnte. „Verschwinde“, sagte er in Richtung des Tigermannes.

Taren bekam von all dem offensichtlich nichts mit. Er saß immer noch vor Darrakos und murmelte Gebete.

„Sehr gut!“, lobte Gebrak seinen Gefolgsmann und verschränkte die Arme.

Ansatzlos drehte der Tigermann sich nach hinten um und ging gleichzeitig in die Hocke. Er sprang dem Gefolgsmann förmlich ins Gesicht und riss ihn von Taren weg zu Boden. Noch bevor Gebrak Taren erreichen konnte, stand der Tigermann wieder und schlug Gebrak die Faust so schnell ins Gesicht, dass viele der Zuschauer in der Höhle es nicht richtig gesehen hatten. Gebrak brach tonlos zusammen. Auch der Gefolgsmann im Rücken des Tigerwesens rührte sich nicht mehr; was ihm beim Stürzen widerfahren war, hatte niemand gesehen. Der Tigermann war offensichtlich ein Kämpfer mit überragendem Können. Der verbliebene Scherge von Gebrak verschwand eilig in einer Höhlenecke.

„Dieser Gebrak ...“, fluchte Ressu scheinheilig, als sie dazu geeilt kam. „Ich danke Dir!“, rief sie dem Tigermann nach, der sie jedoch nur finster musterte und stehen ließ.

Mitten in der Bewegung hielt der Tigermann inne und

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�2 drehte sich noch einmal zurück. Er sah Ressu, die in Tarens Rücken stand und mit schmalen Augen auf den Menschen herabsah. Dann jedoch drehte auch sie den Kopf zurück und ihre Blicke trafen sich mit denen des Tigermannes. Sie lächelte schief und setzte sich neben Taren, um die Hand ihres Gefährten zu halten. Der Tigermann kam schweigend zurück und setzte sich auf der anderen Seite zu Taren, der von der ganzen Szenerie nach wie vor nichts mitbekam.

Darrakos schwieg und musterte seine Gefährtin irritiert und vorwurfsvoll.

Pira schlich unsicher an Gebrak heran, der noch immer reglos am Boden lag. Ohne den Tigermann oder Ressu aus den Augen zu lassen, fühlte sie Gebraks Puls am Hals und atmete erleichtert auf. Dann ging sie einfach wieder und ließ ihn liegen. „Idiot!“, zischte sie noch über die Schulter.

Melek, der die ganze Szene beobachtet hatte, entkrampfte nun seine Hand wieder, die er die ganze Zeit um die Scherbe einer irdenen Karaffe geschlossen hatte. Den „Griff“ seiner Waffe hatte er mit einem Fetzen seiner Tunika umwickelt.

„He, wer hat den Krug zerdeppert?“, fluchte ein Bär von Mann neben ihm. Als dessen fragender Blick auf Melek fiel, zuckte der nur mit den Schultern; der Junge blieb wie unbeteiligt sitzen und versteckte die Scherbe unter seinem Bein.

„Wird im Kampfgeschehen passiert sein“, meinte ein anderer Mann desinteressiert.

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�3„Das schöne Wasser!“, lamentierte der Bär.Melek grinste schwach, denn er hatte das meiste vorher

noch getrunken.

Mit einem plötzlichen, tiefen Einatmen kam Taren zu sich. „Danke, mein Bruder Mond“, flüsterte er. Dann registrierte Taren milde überrascht, dass Ressu und der Tigermann direkt neben ihm saßen. Sein Blick fiel auf den Bewusstlosen etwas hinter Darrakos. Taren zog nur eine Braue hoch und erklärte: „Ich habe Darrakos jetzt insgesamt gekräftigt, denke ich. Ich kenne mich mit Chimäriern zwar nicht aus, aber es hat sich gut angefühlt. Jetzt werde ich mir gezielt die Finger vornehmen.“

Als Taren sich vor Darrakos’ Kopf setzte und seine Hände auf die des Chimäriers legen wollte, knurrte der: „Vielleicht bleibst Du lieber wach und aufmerksam. Ich komme zurecht.“ Der finstere Blick des Chimäriers fiel auf Ressu, die hart zurückfunkelte.

Ahnungsvoll fragte Taren: „Was ist los?“ Er blickte die beiden Chimärier und den Tigermann abwechselnd an, aber niemand antwortete. Nur die Mienen von allen dreien waren verfinstert.

Ressu und Darrakos starrten jeder für sich ins Nichts, doch das Tigerwesen blickte Taren direkt an. „Ich passe auf. Heile Du seine Hände“, sagte es schließlich.

„Soll ich Dich wachrütteln, wenn etwas passiert?“, fragte Ressu.

„Ja“, nickte Taren, berührte nun endgültig Darrakos’ Hände und versenkte sich wieder in seine leisen Gebete.

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�4 Melek näherte sich zögerlich von vorn dem Tigermann. „Was plant ihr?“, flüsterte er.

Der Tigermann blickte dem Jungen nur schweigend in die Augen.

„Ich weiß, dass Ihr etwas vorhabt. Ich bin sicher, Taren wollte mir auch noch Bescheid sagen. Nur dauert die Heilerei jetzt so lange.“

Ressu zischte von der Seite: „Verschwinde, Junge!“Melek wich furchtsam einen Schritt zurück und blickte

noch einmal fragend den Tigermann an. Der sah seinerseits zu Taren hinüber, der in seine Gebete versunken war.

Gerade als Melek mit hängendem Kopf abziehen wollte, raunte der Tigermann ihm nach: „Halt Dich einfach an uns, falls etwas passieren sollte.“

Strahlend nickte Melek, winkte noch kurz und wollte gerade zu seinem Platz zurückkehren, als Darrakos rief: „He, Junge! Versuch, ob Du nicht unsere Sklavin Alynde und ihren Gefährten Saban hierher bekommst. Ressu hilft Dir.“

„Ich denke, ich sollte lieber ...“, begann Ressu, aber Darrakos knurrte: „Tu, was ich sage, Weibchen!“

Melek wurde bleich und starrte die beiden Chimärier abwechselnd an.

Ressu erhob sich hastig, ihr zorniger Blick hing am Boden. „Komm!“, knurrte sie, winkte den Jungen hinter sich her und marschierte zum Tisch, wo Alynde noch immer ausgebreitet lag. Ohne Vorwarnung riss Ressu einen Mann von ihr und schleuderte ihn in die Umstehenden. „Er ist jetzt dran“, rief Ressu und zog den verdatterten

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�5Melek grob an den Tisch. „Sie gehört mir, ich erlaube es Dir. Viel Spaß“, sagte Ressu und trat einen Schritt zurück. Sie funkelte jedoch jeden der Umstehenden feindselig und kampflustig an, der auch nur den Hauch eines Widerwortes im Blick hatte.

Melek hatte Schwierigkeiten, sich vom Anblick der Sklavin loszureißen. „Ja, aber ...!“, stammelte er und blickte endlich Ressu an.

„Du weißt doch, wie es geht, oder?“, spottete Ressu bitterböse, „sonst kann ich Dir helfen. Ich bin schließlich Rassenforscherin. Ich habe das schon sehr oft bei Euch Niederen beobachtet.“

Melek wurde nicht rot, doch er begann zu schwitzen und starrte wieder Alynde an. „Ich dachte, wir ...“, begann er mit trockenem Mund.

Ressu bellte ungehalten: „Wir haben genug Zeit. Jetzt rauf auf den Tisch mit Dir und geh Deinen naturhaften Funktionen nach.“ Sie packte Melek am Nacken und am Knie und warf ihn kurzerhand auf den Tisch, mit dem Gesicht genau auf Alyndes Brustkorb.

Die Umstehenden murrten hinter vorgehaltener Hand, doch niemand wagte es, sich mit der Chimärierin anzulegen.

Melek versuchte sichtlich, sich zu beherrschen, seine Augen waren geschlossen und sein Mund stand offen.

„Los, nimm die Gelegenheit mit, Du Schwächling!“, fluchte Ressu, um Melek mit Klischees zu provozieren, die sie bei ihrer Arbeit als Rassenforscherin bei den Niederen beobachtet hatte.

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�6 „Tu doch was!“, knurrte Darrakos und sah den Tigermann an. „Ich weiß zwar nicht, was hier gespielt wird, aber ich weiß, dass sie etwas vorhat, was uns nicht gefallen wird!“

Der Tigermann überlegte einen Moment, während dem er Darrakos’ Blick erwiderte. Dann sagte er ruhig: „Ich halte es für wichtiger, Taren zu bewachen. Tut mir leid, Freund.“

Melek sah sich um und fühlte die spöttischen und verachtenden Blicke der Umstehenden auf sich. Einige lachten laut und zeigten auf ihn. Wahrlich, das hatte er nicht verdient ...

„Lass Dir das nicht gefallen, Junge“, raunte Ressu ihm ins Ohr. „Ich sehe doch in Deinen Augen, dass Du von anderem Schlage bist, als Du jetzt vorgibst.“ Dann trat sie wieder zurück, verschränkte die Arme und überwachte weiter mit strengem Blick die Umstehenden.

„Das ist alles nicht richtig“, flüsterte er zu der bewusstlosen Alynde. „Ich hatte mich doch gebessert! Ich hatte das Böse überwunden!“

In der Tat hatte er die Bruchstücke eines glücklicheren Lebens in seinem Kopf wieder zusammensetzen können; Bruchstücke, die er teilweise in seiner eigenen Erinnerung bewahrt hatte und teilweise erst aus dem Beobachten anderer gewonnen hatte.

Doch der Anblick von Alyndes Körper hypnotisierte ihn und die schreiende Forderung übermannte seinen jungen Willen. Ich erlaube es Dir!, hörte er außerdem noch in seinen Gedanken.

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��Ressu lachte leise und böse. „Einer weniger“, dachte sie bei sich, „gleich müsste das Tor aufgehen.“

Sie würde nicht mehr erfahren, was sie damit angerichtet hatte.

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�� 4

Plötzlich schepperte das Tor. Gebrak, Pira und Brommil rannten sofort los, ohne etwas zu sagen. Die meisten Gladiatoren reagierten verwundert auf den Sprint der drei; sie gingen davon aus, dass Neulinge eintrafen.

Der Tigermensch rüttelte augenblicklich Taren wach und riss ihn mühelos auf die Füße. „Komm!“, rief er und packte auch Darrakos am Arm.

Taren schüttelte die Benommenheit ab und packte den anderen Arm des Chimäriers. Sie stützten ihn und rannten zu dritt Richtung Tor, ohne einen Blick über die Schulter zu riskieren.

Melek bekam nichts davon mit. Ressu trat ein paar Schritte zurück, behielt aber den stumm zuckenden Jungen im Auge, bis auch sie zu sprinten begann. Von ihrem Hinken war inzwischen nichts mehr übrig.

Im Rennen überholte sie Brommil, dessen kurze Beine ihm hier zum Verhängnis werden konnten. Sie stieß ihn fluchend zu Boden und zischte: „Idiot! Du hättest es für Dich behalten sollen!“ Sie rannte weiter, während Brommil sich ächzend wieder auf die Füße stellte. Allzu eilig hatte er es nicht; er fühlte sich wie ein Büßer, der seine gerechte Strafe für sein Leben als Räuber und Söldner annahm.

„Alarm! Das war das falsche Tor! Die Sklaven fliehen!“, hörte Brommil von oben. Scheppernd fiel das Tor hinter ihm wieder herab. Schwere Schritte stampften eine Treppe hinunter, direkt auf ihn zu. „Das ging schnell“, fluchte der Zwerg. Er sprengte mit großen Augen davon, so schnell er

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��konnte. Sein Überlebenstrieb obsiegte. Er wusste, dass er jetzt sofort ein Versteck brauchen würde, denn die riesigen Chimärier würden ihn gleich erreichen.

Ressu holte auch Darrakos, Taren und den Tigermann ein. „Der Junge wollte sich nicht losreißen, Alynde war bewusstlos und Saban konnte nicht laufen“, berichtete Ressu, während sie gemeinsam weitereilten. Keiner der drei antwortete ihr. „Na schön“, knurrte sie, „in meinem Boot ist sowieso kein Platz für alle. Viel Spaß bei der Wegsuche! Lebt wohl, ihr Narren!“ Damit rannte sie davon – überraschend schnell für ihr Alter – und verschwand im Dunkel des Tunnels.

„Miststück!“, zischte Darrakos ihr nach. Unter Schmerzen versuchte er, seinen geschundenen Körper so schnell wie möglich zu bewegen.

Taren blickte gehetzt zurück und sah die Chimärier, die auf ihn zeigten.

„Ich höre sie auch“, keuchte Darrakos und hielt an. „Lasst mich hier und rettet Euch!“, verlangte er und ließ sich demonstrativ fallen. „Sie töten mich vielleicht nicht.“

Taren starrte auf ihn hinab. „Leb wohl. Möge Bruder Mond Dich ... Leb wohl.“ Dann rannte er los. Der Tigermann folgte ihm stumm.

Der Tunnel führte sie an mehreren Gabelungen vorbei. Sie konnten die anderen drei Flüchtlinge noch rennen hören und folgten ihrem Lärm.

Vor einer halboffenen Tür aus dicken Bohlen, die für Chimärier klein gewesen wäre, stoppten sie. Fäkaliengestank schlug ihnen entgegen. Hinter der Tür erstreckte sich ein

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100 Quergang der Kanalisation von Harkýior. Von Gebrak, Pira oder Ressu fehlte jede Spur.

„Harkýior liegt an der Westseite einer Bucht“, keuchte Taren, atemlos vom Rennen. „Ich kann mir denken, was Ressu mit einem Boot will! Wenn meine Orientierung mich nicht trügt, müssen wir rechts herum. Los!“

Sie rannten auf einem schmalen Steinsteg, während neben ihnen das Dreckwasser dahin trieb. Allmählich hörten sie ein fernes Rauschen. „Wir sind richtig!“, japste Taren. Der Tigermann neben ihm hielt mühelos mit seinem Tempo mit und atmete ruhig und gleichmäßig: über drei Schritte verteilt ein und über fünf aus.

„Ich habe Dir gesagt, dass kein Platz mehr im Boot ist“, sagte Ressu kalt zu Gebrak. Pira stand neben ihnen und starrte entsetzt zwischen beiden hin und her.

„Ich will sie aber mitnehmen. Irgendwie wird es gehen“, beharrte Gebrak mit hoch gerecktem Kinn. Er betrachtete das winzige Boot aus Zedernholz und Teer, das am Ufer fest vertäut war. Hinter ihnen ergoss sich das Kanalwasser über den kurzen, verdreckten Strand ins Meer.

„Nein“, entschied Ressu, „entweder Du steigst jetzt allein ein, oder ihr bleibt einfach beide hier.“ Ohne ein weiteres Wort ließ sie Gebrak stehen und ging zum Tau, welches das Boot hielt. Die entfernten Möwenschreie, das einschläfernde Wellenrauschen und dagegen das unruhige Plätschern des Kanals waren für einige Lidschläge die einzigen Geräusche.

Über die Schulter brummte Ressu: „Es gibt noch mehr Sklavenweibchen im Imperium, die gut aussehen. Such

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101Dir halt eine neue, wenn wir in Pheraar sind. Ich will jedenfalls so schnell wie möglich aus dieser widerlichen Meeresfeuchte!“

Taren und der Tigermensch hatten sich am Ausgang des Kanals abgehockt und das Gespräch belauscht. „Was machen wir jetzt?“, wisperte Taren.

„Abwarten“, flüsterte der Tigermann zurück und blickte nach oben. Taren sah ihn fragend an. „Da nähern sich schwere Schritte über uns“, flüsterte der Tigermann.

Taren blickte wieder gespannt nach draußen.Ohne Vorwarnung wurde Ressu von einem

Armbrustbolzen in die Seite getroffen. Wütend schrie sie: „Ihr Narren! Wisst ihr nicht, wer ich bin?“ Sie fuhr herum, die Wunde schien ihr nichts auszumachen. Dann taumelte sie plötzlich und stürzte ins Boot. Für einen Moment strampelte sie hilflos wie ein schreiender Käfer, der auf dem Rücken lag. Ein zweiter Armbrustbolzen traf sie in die Brust. Sie schrie noch lauter und zorniger und klammerte sich mit den Händen an den Rändern des Bootes fest.

„Hier sind sie! Ich brauche Verstärkung!“, brüllte ein Chimärier direkt über dem Kanalausgang.

Pira starrte auf den Chimärier, der eilig den nächsten Bolzen auflegte und die Armbrust mit seiner kräftigen Hand spannte. Ohne Zögern sprintete sie zum Kanal. Kurz vor dem Eingang entdeckte sie jedoch Taren und den Tigermann und prallte zurück. Genau in dem Moment durchbohrte sie der Bolzen des Chimäriers und riss sie von

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102 den Füßen. Erst als sie am Boden lag, hauchte sie einen kraftlosen Schrei aus und bewegte nutzlos die Füße, als könnte sie wieder aufstehen.

„Wo ist Gebrak?“, wunderte Taren sich still und suchte die karge Umgebung ab. Ressu, die noch immer im Boot lag, war allmählich still geworden und stöhnte nur noch leise. Das Tau hatte sie zuvor schon gelöst – die geteerte Nussschale trieb nun zum Meer hinaus.

„Es treibt etwas schnell, oder?“, raunte der Tigermensch.

Fasziniert beobachtete Taren das Boot. Es trieb wirklich zu schnell.

Taren und der Tigermann machten sich noch kleiner, als der Chimärier mit der Armbrust vom Dach des Kanals sprang. Der drachische Soldat landete sicher im Sand, auch wenn sein Gewicht ihn tief in die Hocke zwang. Er trat neben Pira und beugte sich über sie, packte sie am Hals und zog sie ohne Mühe zu sich hoch. Sie baumelte wie eine blutige Strohpuppe in der Luft, verzog schwach das Gesicht und legte eine Hand um den Bolzen.

„Wo ist der dritte plötzlich hin? Sag es und ich erlöse dich“, grollte der Chimärier und schüttelte sie. Allein davon musste sich ihr Hals verrenken.

„Weiß nicht!“, würgte Pira hervor.Achtlos warf der Chimärier die Frau von sich und stapfte

den Strand hinab bis zum Wasser. Er sah dem Boot nach und legte den Kopf schräg.

„Wenn er umkehrt, sieht er uns“, flüsterte Taren düster.

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103Der Tigermann nickte. Lautlos schlich er nach draußen und ließ Taren sprachlos zurück. Wie ein echter Tiger auf der Jagd, auf allen vieren strich er voran.

Als er Pira erreichte, legte der Tigermann einen Finger an den Mund und hob sie auf die Arme.

Taren schüttelte verärgert den Kopf. „Für solch noble Taten ist jetzt die falsche Zeit!“, wollte er rufen, doch er biss sich auf die Lippe und schwieg.

Der Tigermann sah auf, über den Kanal hinweg. Als er dort niemanden erspähte, schlich er auf den Chimärier am Strand zu, mit Pira immer noch auf den Armen.

„Was hast Du vor?“, wunderte Taren sich und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.

Als der Chimärier sich umdrehte und den Tigermann sah, hob er hastig die schussbereite Armbrust. Der Tigermann ließ Piras Beine los und hielt sie nur noch an den Schultern fest, sodass sie vor ihm stand. Als der Chimärier gleichzeitig schoss, traf der Armbrustbolzen Pira in die Brust und ließ sie gurgelnd Blut spucken. Der Tigermann sprang darauf den verdutzten Chimärier an, Pira ließ er achtlos fallen.

Taren beobachte, wie Ressus Boot kräftig zu schaukeln begann. Auf einmal wurde Gebrak im Boot sichtbar. „Netter Zaubertrick“, murmelte Taren.

Es war ein offenes Geheimnis, dass magische Ströme Hevas Leib durchflossen und dass manche Personen diese Ströme wenigstens ein bisschen zu nutzen verstanden. Durch die Lehren der Priester wurde Magie als das schlimmste und böseste aller Wissensgebiete verfolgt, war es doch auch das unberechenbarste. Die Prophezeiung von

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104 Theb Nor besagte aus Sicht der Priesterschaft klar, dass Wissen jeglicher Art zum Niedergang von Hevas Leib führen musste – wie es schon einmal beinahe vor vielen Jahrhunderten passiert wäre. Wehe den Sorglosen! Geschichte wiederholt sich unaufhörlich ...

Die Priester sollten diesen Kreislauf durchbrechen, doch konnten sie das überhaupt?

Sterbliche Herrscher bildeten sich ein,

Das Böse kontrollieren zu können

Mit der Macht des Wissens,

Die es doch selbst ihnen gab.

„Keine Selbstzweifel!“, ermahnte Taren sich stumm ... In den wenigen, großen Städten der Menschen war die Kontrolle über Wissen und Zauberei oft so gering, dass gottlose Verräter wie Gebrak ihre Fähigkeiten nahezu ungestört entwickeln konnten, wenn sie nicht unvorsichtig wurden. Taren konnte nicht verstehen, warum die drohenden Folgen manchen Menschen egal sein konnten. War Gebrak nach Melek eine neue Prüfung für Taren – hatte Taren versagt, da Gebrak nun floh?

Wie heute haben Worte auch damals nie

Die Mächtigen und die vor Gier Blinden erreicht.

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105Gebrak tropfte vom Meerwasser, während er die schwere, reglose Chimärierin zu heben versuchte. Mit einem Schrei der Anstrengung zog er sie tatsächlich an Arm und Knie bis auf die Höhe der Bootskante, behielt sein Gleichgewicht und wollte Ressu gerade ins Meer werfen, als ihre Pranke vorschoss und sich um Gebraks Hals schloss. Sofort ließ er das immense Gewicht wieder los.

Der Tigermann und der Chimärier hatten sich inzwischen an den Armen gepackt, rangen miteinander und traten sich gelegentlich gegenseitig vor die Beine – in Ermangelung besserer Ideen, wie der Gegner zu besiegen sein mochte. Der Chimärier brüllte wild, der Tigermann bleckte die Reißzähne und fauchte.

Taren schlich aus dem Eingang und spähte nach oben, falls der Chimärier Verstärkung erhielt. „Ich brauche eine Waffe“, knurrte er zu sich – dann fiel sein Blick auf Pira. Er rannte zu ihr und starrte auf sie hinab. Sie atmete noch immer schwach, obwohl sie von zwei Armbrustbolzen durchbohrt worden war und nun ausgestreckt in ihrem Blut lag. Taren kniete sich neben sie und sah sich noch einmal aufmerksam um.

Gebrak hatte inzwischen ein Paddel in der Hand und ruderte aufs Meer hinaus, während Ressu die Arme und Beine über den Bootsrand hängen ließ und den Kopf im Nacken liegen hatte. Die Armbrustbolzen in ihrem Leib waren fort.

Der Tigermann und der doppelt so schwere Chimärier rangen am Boden miteinander. Sie schienen gleichstark zu sein, und das war für einen Niederen eine unglaubliche Leistung. Immerhin hatte der kleinere Tigermann die

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106 kürzeren Wege mit seinen Gliedmaßen und war dadurch viel schneller. Verstärkung für den Chimärier war immer noch nicht in Sicht, aber das konnte sich auch binnen eines Augenblickes ändern.

Taren schloss die Augen, während er seine Hände auf Piras Bauch und Brustkorb legte und ein leises Stoßgebet an Bruder Mond richtete. „Oh, Bruder Mond! Ich schaue in Deine Sterne und frage mich, ob ich das Schicksal der Kreatur unter meinen Händen dort lesen kann.“

Pira öffnete die Augen und starrte ihn nur an. Bei dem Versuch, etwas zu sagen, hustete sie Blut, das über ihre Lippen hüpfte und ihr Kinn und ihren Mundwinkel hinablief.

„Ich kann nichts mehr für Dich tun“, presste Taren beherrscht hervor. Dann griff er nach einem der Bolzen und riss ihn mit einem Ruck heraus. Piras Handrücken fiel an Tarens Brust, als hätte sie noch nach ihm greifen wollen. Doch jetzt rutschte ihre Hand schlaff an ihm herab und zeichnete eine Blutspur. Ihre toten Augen sahen an ihm vorbei. Zum Abschied blickte Taren noch einmal mitleidig auf ihre viel zu weit ausgeschnittene Tunika und ihre zu engen Beinlinge. Kopfschüttelnd drückte er sich hoch.

Er rannte mit dem Armbrustbolzen zu dem Knäuel am Boden, gerade als der Tigermann auf dem kreischenden Chimärier saß und seine Reißzähne in dessen Hals verbiss. Taren stach dem Chimärier mit dem Bolzen zusätzlich ein Auge aus. Ganz langsam erstarb das Geschrei des Feindes. Sein gelbes, kochendes Blut pulste aus seinem Hals wie eine Fontäne.

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10�Für einen Moment war der Tigermann ein gespenstischer Anblick, wie er sich das Blut vom Mund wischte und seine Reißzähne noch zu sehen waren. Doch dann verschluckte er sich und spuckte mehrmals aus, fluchte etwas über den widerlichen Geschmack von Chimäriern und dass er sich außerdem die Zunge verbrannt hatte, und Taren musste grinsen.

Gleichzeitig blickten beide zum Kanal, auf dem stampfende Schritte zu donnern begannen. Taren griff sich hastig die – für ihn übergroße – Drachenarmbrust und den Köcher des toten Feindes. Ohne ein weiteres Wort rannten er und der Tigermann am Strand entlang hinter einige Felsen, die sich links vom Kanalausgang aus aufzutürmen begannen.

Sie hatten ihre Deckung gerade noch erreicht, als vier weitere Chimärier in Lederrüstungen, bewaffnet mit Kurzspeeren und Schilden, vom Kanal auf den Strand hinabsprangen und sich im engeren Umkreis verteilten. Zu weit auf dem Meer für ihre geschulterten Armbrüste, erspähten die Soldaten das Boot von Ressu und Gebrak. Sie fanden auch Piras Leiche und rätselten über den fehlenden Armbrustbolzen. Taren und der Tigermann hörten den Anführer des Trupps schnauzen: „Die beiden Sklaven sind wichtig für die Arena! Sie müssen gefunden werden! Also sucht nach Spuren!“

Der Blick des Tigermannes floh dem Horizont entgegen und ließ sich auf den rauschenden Meereswogen treiben. Hinter den Felsen rumorten und keiften die Chimärier, doch das Tigerwesen nahm die Ruhe des Ozeans an. Es

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10� atmete die salzig-feuchte Luft im Rhythmus der trägen Wellen, schien mit der Seele des Meeres vereint zu werden und mit jedem fernen Möwenschrei weiter fortzugleiten.

Taren musste sich von diesem Anblick losreißen, um die Chimärier weiter zu beobachten. Er spürte, dass etwas in dem Tigermann vorging; vielleicht bekam er seine Erinnerung wieder. Vielleicht war er wirklich ein wandelndes Götterzeichen für Taren. Sein Herz beschleunigte ein wenig, er fühlte sich geehrt. Oder bin ich jetzt vermessen?

„Ich muss zurück“, murmelte das Wesen.„Was?“, entfuhr es Taren. Er starrte den Tigermann

verblüfft an.„Ich glaube, ich weiß wieder, wieso ich herkam – oder

besser gesagt, wieso die Götter mich hierher führten, obwohl ich gar kein Gedächtnis hatte. Jemand, der mir wichtig ist, wird hier gefangen gehalten. Ich muss ihn befreien.“

„Wer ist es?“, bohrte Taren und hätte unbewusst die Arme vor der Brust verschränkt, hätte er nicht die Armbrust gehalten. Ohne jedes Wissen einer Aufgabe entgegen, das ist wahrlich eine göttliche Fügung im Sinne Theb Nors!

„Ich weiß es noch nicht, aber meine Erinnerung wird besser. Er ist ein Mensch, etwa vierzig Jahre alt. Sein Gesicht sehe ich klar vor mir: ehrlich und stark, Zuversicht spendend und doch selbst gezeichnet von dunklen Jahren.“

Taren blickte kurz zu den Chimäriern, dann baute er sich entschlossen vor dem Tigermann auf. Seine rationale Seite gewann die Oberhand: „Du kannst nicht wegen einer

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10�vagen Ahnung in den Tod laufen. Vielleicht lebt dieser Mensch gar nicht mehr. Wann bist Du aufgebrochen?“

Das Tigerwesen schwieg mit düsterem Blick. „Es ist sehr wichtig“, hauchte es nach einer Weile nur dem Meer entgegen.

Und da sind noch zwei Schatten in meinem Kopf, an die ich mich nicht erinnern kann; wir waren zu viert. Wir müssen uns wiederfinden. Das Menschengesicht vor mir gehört einem großen Krieger. Wir satteln die Pferde, eine Schlacht steht bevor. Die zwei anderen Schatten ... sie gehen, aber um ihre Posten zu beziehen. Nur den Menschen sehe ich deutlich, warum? Weil ich in seiner Nähe bin, weil seine Befreiung meine Aufgabe ist?

Eine Küste ... Das ist hier! Das ist diese Stadt! Wir stehen am Strand und kämpfen mit jemandem, einer schlanken Gestalt in Schwarz, mit weißem Haar; ich kann mich nicht klar erinnern. Ein Elf? Er schleudert mich weg – war das etwa alles? Da liegt ein Schatten am Strand, jemand, den ich kenne. Alles ist vorbei. Der Feind ist nicht hier, der Mensch auch nicht, ebenso wenig die beiden anderen Schemen. Wer liegt da? Ich gehe näher ... aber ich komme nicht hin, ich kann mich nicht erinnern, was dann kommt.

„Hier geht etwas vor. Ich muss bleiben, bis mein Gedächtnis vollständig ist“, murmelte der Tigermann, ohne Taren anzublicken.

Taren nickte. „Ich spüre es auch“, gab er zurück. Überrascht sah der Tigermann ihn an.„Ich bin ein Diener von Bruder Mond, ein Tempelkrieger.

Große Dinge stehen bevor, so wie mein Bauch kribbelt“, erklärte Taren ernst. Zwei Lidschläge später verzog er die

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110 Mundwinkel zu einem Grinsen. Doch dieser Geste blieb ein Beigeschmack der düsteren Vorahnung anhaften, die Taren schon seit Tagen spürte. Auch waren seine Augen hart und kalt geblieben, sie lächelten selten mit. Das ahnungsvolle Gefühl war mit Nenúriels Tod nicht vergangen, also musste es einen anderen Grund dafür geben als den Verlust seiner Gefährtin.

Der Tigermann hatte die Lider geschlossen und saß kerzengerade mit dem Rücken am Fels. „Wieso lassen sie uns nicht endlich gehen?“, flüsterte die blonde Elfin ihm ins Ohr, wie sie am Wasser lag, eine grauenhafte Bauchwunde umklammernd. „Das war das siebte Mal in diesem Jahrhundert!“, grinste sie gequält und setzte sich auf.

Keuchend sprang der Tigermann auf und rieb sich die Wangen.

„Was ist?“, fragte Taren besorgt.Der Tigermann antwortete nur schleppend: „Ich weiß

es nicht. Ich habe mich an eine Einzelheit erinnert, die ich nicht verstehe. Kennst Du eine blonde Elfin, die eine vermeintlich tödliche Bauchwunde lachend überstehen würde?“

Taren sah das Tigerwesen befremdet an und kniff die Augen zu schmalen, düsteren Schlitzen zusammen.

„Wie alt werden Elfen so, kennst Du Elfen?“, fragte das Tigerwesen dann heiser, ohne noch länger auf eine Antwort zu warten.

„Kaum älter als Menschen, glaube ich, aber ich kenne nur sehr wenige Elfen“, erwiderte Taren zögerlich. Sein Blick blieb finster. „Sie haben etwas zu verbergen, was ihre

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112 Vergangenheit betrifft. Einmal sah ich sogar, wie ein Elf einen bemalten Stein vergrub, den er im Wald gefunden hatte; ich fragte ihn danach und er wollte nicht darüber reden. Ich bin sicher, es war elfische Kunst, die er vergraben hat.“

Das Tigerwesen seufzte schwer und fragte dann unvermittelt: „Was machen die Chimärier?“

Taren lehnte sich mit den Händen an den Fels und blickte zurück. Dann raunte er über die Schulter: „Sie schwärmen aus. Wir können hier nicht bleiben.“

„Da hinten ist eine Höhle“, entgegnete das Tigerwesen sofort und zeigte die Richtung, und im nächsten Moment sahen beide sich verwundert an. „Ich war schon mal hier“, dachte das Tigerwesen laut und starrte dabei auf die Stelle am Strand, wo in seiner Erinnerung die rätselhafte Elfin gelegen hatte.

„Komm.“ Taren klopfte dem Tigerwesen auf die Schulter und lief an den Felsen entlang, fort von den Häschern.

„Sie werden unsere Spuren sowieso im nassen Sand sehen“, knurrte das Tigerwesen hinter ihm.

Siedend heiß schoss die Richtigkeit dieses Hinweises durch Tarens Schädel, als er auf die Zehenspitzen-Spuren des Tigermannes zurück blickte, mit seinen eigenen Stiefelspuren daneben. „Was sollen wir dann tun?“, knurrte Taren im Laufen.

Der Tigermann holte Taren ein und trabte neben ihm her. „Wir verschließen den Höhleneingang von innen mit Felsen. Der Eingang ist selbst für uns ziemlich eng, also kommen die Chimärier da nicht freiwillig rein“, schlug er vor.

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113Tarens Miene versteinerte.„Und dann können wir sehen, ob die Höhle irgendwohin

führt“, ergänzte der Tigermann grimmig.Nach weniger als hundert Schritten erreichten sie

tatsächlich ein Loch in der Felswand, durch das sie gebeugt gerade passten. Sie zwängten sich hindurch und krochen in die Schwärze. Im Laufschritt holten sie Steine aus dem Eingangsbereich der Höhle herbei. Mehr als einmal stießen sie sich die Köpfe in der halbdunklen Enge des Eingangs. Gerade als sie ächzend die letzten Brocken auf ihren Steinhaufen im Eingang wuchteten, hörten sie von draußen das Alarmgebrüll eines nahen Chimäriers. Nun standen sie da, ohne Fackel, ohne Nahrung und Wasser, eingeschlossen in einem lichtlosen Felsloch, und sie wussten nicht, wie es weitergehen konnte.

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„Ihr Wissen schuf einen Käfig aus Gold und machte sie alle zu Ratten darin ... Reden ward Silber, Schweigen

ward Gold – Handeln ward ungewollt. So verkünden es die Priester heutzutage. Ich weiß nicht, was Theb Nor

damit gemeint hat ... aber auch die Priester stecken uns in einen goldenen Käfig der Unwissenheit und verbieten uns

jede Diskussion über ihre Auslegung. Ob Theb Nor das gefallen hätte?“

Thalmon, König von Berghaus und Oberster Sklavenjäger,über die Prophezeiung von Theb Nor

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Durch eine zerklüftete Felshalde führte ein kaum erkennbarer Pfad die Wanderin zu einem Höhleneingang. Er konnte leicht mit einem Schatten verwechselt werden, wenn man nicht genau hinsah. Etwas abseits davon lagen zwei Kieshügel, auf denen spärlich Gräser wuchsen. Aus dem linken Hügel ragte ein einfacher Buchenholzstab, aus dem rechten Hügel ein rostiges Eisenschwert mit rotgoldenem Griff.

Vor den zwei Gräbern stand ein gebeugter Gnom mit weißem, langem Haar, das er zum Zopf gebunden hatte. Sein verwilderter, weißer Bart reichte ihm fast bis zum Bauch. In winzigen, faltigen Augenschlitzen lagen zwei reglose Pupillen. Um seinen breiten Rücken spannten sich seine ansonsten weit geschnittenen Lumpen.

Der Gnom hörte die leichten Schritte einer Elfin schon von Weitem. Er hörte das Rascheln ihrer weichen Ärmel, die sich hin und her bewegten, und ihr flaches Atmen. Er roch ihren Duft, mit nur wenig Schweiß darin. Er erkannte sie sofort an Geräusch und Geruch, jedes Jahr besuchte sie ihn einmal, an einem ganz bestimmten Tag – und jedes Mal erst in der Dämmerung.

Die schwarzhaarige, hochgewachsene Elfin trat mit federnden Schritten neben den Gnom an die Kiesgräber und schwieg mit ihm. Nach einem Moment der Andacht bog sie ihre langen Beine, um auf beide Gräber je eine rosige Blüte niederzulegen. Ihr Kleid leuchtete wie ihre großen Augen jadegrün. Leise, mit einer Stimme, die sonst

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11� Härte gewohnt war, sich nun aber um Sanftheit bemühte, begann sie zu sprechen.

„Weißt Du, wie sie Dich im Dorf inzwischen nennen? ,Athónon der Versteinerte‘! Nie sah Dich jemand lächeln, warum? Du hast uns vor den Dämonischen und den Schlangenmenschen gerettet, sogar vor den Chimäriern, Du hast uns in die Freiheit geführt – und dann kommst Du nicht ein einziges Mal in zwanzig Jahren zu unserer Feier zu Deinen Ehren! Was suchst Du denn bloß, worauf wartest Du?“

Der Gnom sah nicht auf. „Du kennst die Antwort, Jade“, wisperte er mit einer alten, verbrauchten Stimme, als knirschten Felsen unter einem Stiefel.

„Ja, ja“, seufzte Jade, „Du wolltest immer nur ein friedliches Leben, aber dann haben die Götter Dir alles genommen. Bitte, Athónon, nimm Dir doch etwas zurück! Die Götter bieten es Dir an!“

Athónons rechter Mundwinkel zuckte nach unten – Jade presste die Lippen fest zusammen und schwieg. „Tut mir leid“, flüsterte sie schließlich und strich sich verlegen eine schwarze Strähne hinter das lange Elfenohr.

Ohne äußere Reaktion raunte Athónon: „Sei nicht so arrogant. Du weißt nicht, was ich alles durchgemacht habe, wie viele Freunde in meinen Armen starben.“

Jade kniete sich neben den Gnom und legte ihm sanft eine Hand auf die breite Schulter. „Ich habe in der Gefangenschaft auch viel durchgemacht, alter Freund. Ich verlor ebenfalls meine damalige Heimat, hast Du das vergessen? Aber ich bekam eine neue, und ich gewann neue Freude am Leben. Ich bekam Laura, die heute

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11�eine gesunde, junge Frau ist. Wieso solltest Du nichts bekommen? Deine Götter kümmern sich vielleicht viel weniger um Dich, als Du glaubst.“

„Verspotte die Götter nicht“, zischte Athónon kalt.Jade senkte erneut verlegen den Blick. „Bitte, Athónon,

ich will doch nur, dass es Dir gut geht. Komm dieses Jahr mit mir ins Dorf. Es sind jetzt genau zwanzig Jahre vergangen, seit ... Diese Trauer war lang genug.“

Athónon schwieg. Jade war in vielerlei Hinsicht keine typische Elfin; doch ihr ausweichendes Verhalten bei Streitfragen war ein höchst elfischer Charakterzug. Elfen kannten keine Probleme, denn sie verschlossen konsequent die Augen davor. Jade biss sich auf die Lippe, atmete tief ein und riskierte nun doch die Konfrontation: „Ich habe Cesius und Xelos nicht gut gekannt. Aber ich glaube, sie würden nicht wollen, dass Du hier an ihren Gräbern den Rest Deines Lebens verbringst.“

Athónons finsterer Blick begann zu lodern, seine Mundwinkel verzogen sich nach unten.

„Tut mir leid!“, rief Jade matt, „doch das ist meine Meinung. Ich respektiere, dass die beiden für Dich irgendwie heilig sind ...“

„Irgendwie?“, knurrte Athónon und wandte sich nun ganz der Nachtelfin zu.

„Ach, Athónon ...“, seufzte Jade, gequält von dem Gefühl, sich einem lange verdrängten Problem zu stellen. Sie richtete sich wieder auf und wich einige Schritte von ihm fort.

Athónons Miene beruhigte sich. „Vielleicht bin ich ja längst verrückt. Sei froh, dass ich Euer Fest nicht verderbe“,

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120 knurrte er düster. Die Falten unter seinen Augenschlitzen zuckten schwach.

Jade schluckte schwer und rieb ihre Hände ineinander. Nachdem sie ein wenig herumgedruckst hatte, sagte sie kurz und schnell: „Es war doch gar nicht Deine Schuld!“

Athónons Kiefer mahlten für einen kurzen Moment, doch dann nahm sein Gesicht wieder den reglosen Ausdruck an, den es an jedem anderen Tag im Jahr hatte.

Jade redete hastig weiter, sie wollte die unbequeme Konfrontation hinter sich bringen: „Es war der Schlangenfluch in der Münze, der Xelos in den Wahnsinn trieb! Außerdem war sein echter Stab nicht hier, um ihn in seinem seelischen Gleichgewicht zu halten – die Chimärier hatten den Zauberstab gestohlen, nicht Du! Du hättest nicht verhindern können, dass Xelos Cesius heimtückisch ermordet. Er war immerhin ein außergewöhnlich starker Hexenmeister und ... Dämonenbeschwörer. Nicht wahr? Das war er doch! Vielleicht hätte er Dich auch getötet, wärst Du da gewesen.“

„Ja, vielleicht“, gab Athónon mit seiner Felsenstimme zu. „Aber ich war nicht an der Seite meines letzten Freundes, wo ich hingehört hätte. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte den Wahnsinn in Xelos spüren können, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Alles wurde so viel, zu viel. Deshalb ging ich jagen, als wäre nichts weiter. Deshalb starb Cesius. Meine Schwäche war sein Tod. Wir hätten auf Xelos aufpassen müssen, insbesondere weil der mächtige Zauberstab nicht da war, um ihn zu beaufsichtigen. Aber ich war jagen und Cesius hatte sich in seine Gebete an seine Göttin Domaore versenkt. Keine Ahnung, wo unser

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121geschätztes Teufelchen Zeeris gesteckt hatte. Xelos konnte völlig frei seine Mordpläne vorbereiten und durchführen. Ich allein bin schuld, also hör auf zu plappern.“

Jade seufzte schwer und blickte finster auf die Kiesgräber. „Miriam ist von ihrer Reise nach Osten zurück und möchte mit Dir reden“, sagte die Nachtelfin plötzlich.

Athónons Mundwinkel begannen abermals herabzuzucken, aber diesmal weiteten sich auch noch seine Augen. So eine starke Gefühlsregung hatte Jade bisher nur einmal bei ihm gesehen, und da hatten sie in unterirdischen Katakomben gegen die Schergen schlangischer, untoter Magierkönige ums Überleben gekämpft, vor zwanzig Jahren.

„Miriam!“, keuchte der Gnom. Er hatte sie beinahe vergessen. Verdrängt.

Miriam war ein Menschenname, der jedoch einer Elfin gehörte; vor zwanzig Jahren war sie ohne Gedächtnis unter Menschen aufgetaucht, und diese hatten ihr einen ihrer Namen gegeben. Bis heute war ihr Gedächtnis nicht wiedergekehrt.

Jade berichtete: „Sie sagt, sie erinnerte sich plötzlich an etwas von den Dingen, die Du damals erzählt hättest, wer sie gewesen sei, vor dieser angebl... vor dieser Zeitreise, die Hevas Leib und auch sie verändert habe. Sie sagt, es ginge etwas vor, sie könne es spüren, und vielleicht kehre deshalb jetzt ihre Erinnerung zurück. Sie möchte unbedingt mit Dir sprechen, und Du möchtest dafür zur Feier kommen.“

Athónon seufzte so schwer, wie eine Gnomenlunge es vermochte. Dann knurrte seine Stimme kraftlos: „Siehst

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122 Du, die Götter haben mich noch lange nicht vergessen. Sie quälen mich weiter und gönnen mir keinen Frieden, solange nicht alle Aufgaben getan sind.“

„Welchen Frieden?“, wollte Jade beißend nachfragen, doch sie schluckte ihren Sarkasmus herunter. „Wirst Du mitkommen?“, fragte sie nur; in ihrer Stimme schwebten Hoffnung und Resignation gleichzeitig.

Athónon nickte bitter und hauchte: „Meiner Erfahrung nach wird es nur schlimmer, wenn ich dem Ruf der Götter nicht folge.“ Damit kletterte er gemächlich, aber geschickt, zum Eingang seiner Höhle hinauf.

„Hurra! Hurra! Endlich wieder ein Abenteuer!“, krähte ein grau-rotes Teufelchen plötzlich direkt neben Jades Ohr und rollte freudig seine großen, gelben Schlangenaugen.

„Das wurde aber auch Zeit!“, fiepte zwischen Jades Füßen ein Chamäleon, das untypische, schwarze Knopfaugen besaß. Beide Kreaturen waren bis gerade eben unsichtbar gewesen.

Die Nachtelfin sprang verschreckt rückwärts und reckte die schlanken, doch abgehärteten Fäuste hoch. „Ach, ihr!“, rief sie nun und entspannte sich, „kein Wunder, dass Athónon wahns...“ Sie biss sich auf die Lippe.

Natürlich hatte der alte Gnom das gehört, auch wenn er sich nichts anmerken ließ.

„Zeeris und Taffi!“, begann Jade tadelnd zu sprechen, um von ihrem Fehlgriff abzulenken. Die Hände stemmte sie dabei in die Hüfte und ihren langen Oberkörper beugte sie leicht vornüber. „Wie oft habe ich Euch beiden schon gesagt, dass ihr nicht direkt neben mir aus dem Nichts auftauchen sollt!“

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123„Vergessen!“, piepste Taffi, das Chamäleon, während Zeeris, der in der Luft auf der Stelle schwebte, zuerst noch eine nachdenklich-unschuldige Miene machte, dann aber eifrig nickte und krähte: „Ich auch!“

Jades Blick fiel auf den seltsamen, hellen Panzer, den das Teufelchen als Rüstung trug. Sie hatte vor Jahren mal dagegen geboxt und sich gewundert, wie ein so leichtes Material so hart sein konnte. Auch dieses Ding stammte angeblich aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit – von einer Zeitreise, die Athónon und seine Freunde im Namen der Götter unternommen haben sollen, kurz bevor sie in Jades altem Dorf aufgetaucht waren. Jade erinnerte sich nicht mehr, was Athónon diesbezüglich noch angedeutet hatte, immerhin war es zwanzig Jahre her, dass er zuletzt darüber geredet hatte; es musste um irgendeinen Erzdämon gegangen sein, und darum, dass die Veränderung der Vergangenheit nicht so verlaufen war wie geplant. Immerhin waren vor allem Cesius, Xelos und Zeeris sehr stolz auf sich gewesen, hatten sie jenen ominösen Dämon doch tatsächlich besiegt.

Die meisten Wesen, egal ob Menschen, Elfen, Zwerge oder von sonst einem Volk, hätten mit einem gönnerhaften Lachen bestritten, dass es überhaupt so etwas wie Dämonen gab. Viele Tagesreisen weit im Westen sollte der Imperator der Chimärier angeblich einen neuen Krieg gegen die anderen Völker angezettelt haben; ihn, den Drachen, konnte man vielleicht einen Dämon nennen. Doch obgleich niemand dessen Existenz bestritt, waren er und sein Imperium weit, weit weg ...

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124 Athónon betrachtete in der engen Höhle seine Habseligkeiten: einen großen Rucksack aus Leder. Der Inhalt war vor Flusswasser und Regen durch eine ordentliche Portion Ziegenfett geschützt. Manche Dinge aus seiner Vergangenheit hatte Athónon in einem früheren Wutanfall fortgeworfen, etwa seine ledernen Arm- und Beinschienen und seinen Helm. Er hatte nie kämpfen wollen, doch das Schicksal hatte ihn immer wieder zum Blutvergießen gezwungen. Vor zwanzig Jahren, als er Xelos hatte töten müssen, bevor der umgekehrt ihn getötet hätte, sollte endgültig Schluss mit dem Töten sein.

Nur sein dickes Lederwams besaß Athónon noch immer; irgendwie hatte er befürchtet, es abermals zu benötigen. Es lag ganz oben im Rucksack, direkt gefolgt von einem kleinen, magischen Bild mit Athónon und seinem lange verstorbenen Freund und Mentor Tugibenn, der ebenfalls ein Gnom gewesen war. Der große Zaubermeister grinste so breit wie immer auf dem perfekt gemalten Bild, das ein seltsamer, kleiner Kasten während der Zeitreise binnen eines Lidschlages herbeigezaubert hatte.

Die wahren Schätze seines Lebens jedoch bewahrte Athónon in seinem Kopf auf; wie viele Gnome, besaß er ein phänomenales Gedächtnis. Doch dies war Fluch und Segen zugleich für ihn, denn auch all die schrecklichen Ereignisse, die Athónon gezeichnet hatten, spukten noch so deutlich in seinen Tag- und Nachtträumen, als seien sie gerade erst geschehen.

Er verzog die Mundwinkel nach unten, schloss den Rucksack und schulterte ihn mühelos. Jetzt war nicht die richtige Zeit, Albträumen nachzuhängen.

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125Mit seinem großen Rucksack auf dem Rücken, wanderte Athónon den Weg ein Stückchen voraus und blieb dann einfach stehen.

Jade, Taffi und Zeeris verstanden und folgten wortlos, worauf der Gnom weitermarschierte. Sein Tempo war so hoch, dass Taffi nach wenigen Schritten kurzerhand an Jades langem Bein hochsauste und sich quer über ihre knochigen Schultern legte. „Du bist immer noch so ein langes Elend!“, piepste Taffi ihr ins Ohr, „wie eine Giraffe!“

„Was ist denn eine Giraffe?“, fragte Jade verwundert, aber Taffi grinste nur verschmitzt. Diese Tiere gab es schon sehr, sehr lange nicht mehr, aber Taffi hatte während der Zeitreise welche gesehen.

Zeeris flatterte neben Athónons Ohr und wisperte: „Sollen wir Galbrint nicht mitnehmen? Den Stab – in Ordnung, der wäre sowieso böse und verbittert gewesen, wäre er hier, aber Galbrint! Galbrint ist doch nett!“

Athónon blieb abrupt stehen und starrte nur geradeaus. „Galbrint gehört zu Cesius. Ich nehme ja auch nicht seine Knochen mit“, raunte Athónon schließlich.

„Ja, aber, ja, aber ...!“, stammelte Zeeris, „aber was so ein kluges, beseeltes Zauberschwert wert ist!“

Athónons Kopf fuhr herum und seine Augen funkelten böse.

„Ups!“, machte Zeeris und flog sofort ein Stückchen höher, außer Athónons Armreichweite.

„Er hat aber recht, alter Freund“, warf Jade mild von hinten ein. „Du kannst es nicht hierlassen. Du hast damals erzählt, Artefakte wie Galbrint oder Xelos’ Stab

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126 hätten eine Bedeutung und bräuchten einen besonderen Träger. Vielleicht ist es Zeit, dass Galbrint einen neuen Träger bekommt.“

Athónon dachte kurz nach, dann brummte er: „Artefakte von solcher Macht suchen ihre Träger selbst. Wer auch immer für Galbrint bestimmt ist, wird ihn hier finden. Gemeine Räuber werden den Fund nicht überleben. Galbrint hat schon einmal eigenmächtig einen Feuerball auf einen Dämon geworfen und ihn damit so schwer verwundet, dass Cesius, Xelos, Lira ... Eláryon und ich ...“ Athónon brach den Satz ab und marschierte weiter. Mitten im Gehen rief er: „Galbrint ist zahllose Jahrhunderte alt. Er weiß, wie man wartet. Auch den Rost wird er einfach abschütteln, wenn es Zeit dafür ist.“

Jade dachte an alte Zeiten zurück, an ihre Abenteuer mit Athónon, Xelos und dem Tempelkrieger Cesius. Vor über zwanzig Jahren, als sie zur Anführerin der Dorfwache gemacht worden war, hatte Jade sich für eine gute Kämpferin gehalten. Sie war nicht so forsch gewesen, wie ihre halbelfische Tochter heute, doch auch Jade hatte keine Vorstellung davon besessen, was ein echter Krieger im Vergleich zu einem elfischen Fechter war.

Cesius war aus elfischer Sicht ein stinkender, hässlicher, haariger Klumpen gewesen. Nicht so groß wie Elfen, aber so breit wie zwei. Seine derbe Art zu sprechen und sein grauenhaftes Elfisch hatten auch seiner Art entsprochen, das Schwert zu schwingen. Zweifellos war ein disziplinierter, gut ausgebildeter Elf so einem Barbaren im Kampf überlegen, hatte Jade wirklich fest geglaubt.

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12�Sie hatte davon gehört, Cesius von Silberberg hätte sogar an der imperialen Grenze gegen Chimärier gekämpft; doch damals hatte sie keinerlei Vorstellung davon besessen, was es hieß, einen Kampf mit einem fünfhundert Pfund schweren Chimärier zu überleben. Die Gerüchte über deren Größe und Gewicht hatte sie für maßlos übertrieben gehalten, bevor die ersten Schuppen in die Elfenwälder vorgedrungen waren. Damals war sie noch weitaus weniger als heute bereit gewesen, sich mit unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen – ganz wie es sich für Elfen geziemte.

Cesius, dieser Mensch – Mensch war ein elfisches Schimpfwort – hatte Jade dringend aufgefordert, mit ihm zu trainieren, um die bevorstehenden Kämpfe gegen die Tiefenweltler zu überleben. Sie hatte ihn angewidert angestarrt und insgeheim in sich hineingegrinst. Doch sie hatte sich darauf eingelassen; sie hatte ihm eine Lektion in elfischer Technik erteilen wollen.

Jade schüttelte im Gehen unmerklich den Kopf; sie konnte einfach nicht mehr verstehen, wie sie damals so naiv und arrogant hatte sein können.

Den ersten Schock hatte sie gleich beim allerersten, einfachen Hieb des Menschen erlitten. Sie war es gewohnt gewesen, halbherzige Stockhiebe von innerlich friedlichen Elfen zu parieren und hatte sich angewöhnt, schnelle Bewegungen aus dem Handgelenk zu machen und kaum die Hüfte oder gar den ganzen Körper zu bewegen – schließlich hätte sie das etwas langsamer gemacht. Der Hieb des Cesius jedoch, erlernt im Kampf gegen mordgierige Chimärier, wischte ihren schwachen Block

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12� mit dem Holzschwert einfach weg. Der Hieb ging fast völlig ungebremst durch Jades Parade und schlug ihr das Knie blau. Sie hatte noch gar nicht geschrien, nur den Mund dafür geöffnet, da sah sie Cesius’ mächtige Faust direkt vor ihrer Nase schweben. „Jetzt wärst Du getötet worden“, hatte der Mensch geknurrt, doch seine Augen hatten nicht etwa vor Spott und Hohn geblitzt, sondern Jade traurig gemustert.

Mit jedem weiteren Hieb des Menschen, mit jedem weiteren „Tod“ der jungen Anführerin der Wache, hatten sich mehr Elfen um den kleinen Kampfschauplatz gesammelt und Jade bei ihrer Blamage zugesehen. Längst hatte sie sich elendig gefühlt, weil sie schnell begriffen hatte, wie wehrlos sie eigentlich gegenüber einem echten Krieger gewesen wäre. Nicht, dass auch nur einer der anderen Elfen es besser gekonnt hätte. Sie hatten alle betroffen geschwiegen. Als es Jade zum ersten Mal gelungen war, Cesius wenigstens an der Schulter zu streifen, waren die Elfen aufgesprungen und hatten gejubelt. Jade hatte sich jedoch überhaupt nicht darüber freuen können – zu viele Tode wäre sie bis dahin schon gestorben.

Die Elfen trainierten untereinander viel zu oft so, dass der Bessere dem Schwächeren Chancen gab, damit der Schwächere sich nicht zu gekränkt fühlte; doch Cesius hatte damals nicht mal im Traum daran gedacht, Jade eine Chance zu geben, um ihr Selbstwertgefühl zu schonen. Er hatte ihr mit jedem Hieb klargemacht, dass es in der Wirklichkeit keinen Platz für Stolz und Eitelkeit gab.

Sie hatte damals so unglaublich viele Fehler gemacht, die durch das weltfremde Training der Elfen entstanden

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12�waren, sie hatte unmöglich so schnell umlernen können, wie es nötig gewesen wäre. Sie hatte nach einem ersten Treffer nie nachgesetzt, obwohl sie nicht hatte wissen können, ob der einzelne Treffer reichte; sie hatte die Augen zugemacht, wenn besonders wuchtige Hiebe auf sie zugekommen waren; sie hatte ihrer Waffe hinterhergesehen und so die Beine des Gegners aus den Augen verloren; sie hatte ihre sonstige Umgebung kaum beachtet, wenn es eng geworden war; sie hatte ihre Fäuste und Füße nicht eingesetzt, selbst wenn sie mit der Waffe nicht weitergekommen war; sie hatte sich rückwärts treiben lassen, wenn sie auch nur angeknurrt worden war, und so weiter und so weiter ...

Als sie das erste Mal eine freie Faust hatte einsetzen wollen, weil sie mit dem Schwert nicht weitergekommen war, hatte sie Cesius vor den Kiefer geboxt. Während der Mensch den Schlag kaum gespürt hatte, hatte Jade erschrocken vor Schmerz geschrien und sich die Hand geschüttelt. Cesius hatte ihr dafür wütend das Holzschwert aufs Ohr geknallt und geknurrt: „Konzentrier Dich! Für Schmerzen ist keine Zeit im Kampf. Du wärst schon wieder tot. Wärst Du wirklich bei der Sache, hättest Du das gar nicht gespürt!“

Als Jade zu schluchzen begonnen hatte und sich abwenden wollte, hatte Cesius sie plötzlich hinterrücks in den Schwitzkasten genommen und sie einfach hochgehoben. Völlig hilflos hatte sie in der Luft gestrampelt. „Willst Du leben? Dann machen wir weiter!“, hatte Cesius ihr ins Ohr geknurrt und so fest zugedrückt, dass er ihr fast das dünne Genick gebrochen hätte. Und Jade hatte gespürt, dass er es hätte zu Ende bringen können. Die immense

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130 Kraft des Menschen war auch etwas, das sie nie wieder vergessen hatte. Achtlos hatte er sie zwei Schritte weit zu Boden geworfen und war mit dem Holzschwert auf sie zugestürmt, noch bevor sie wieder Luft bekommen hatte und auf die Füße gekommen war.

Doch da hatte sie es auf einmal verstanden. Sie hatte nicht dem Impuls nachgegeben, ängstlich zurückzuweichen, und sie hatte ihre schmerzenden Nackenwirbel ignoriert. Mit einem wütenden Schrei war sie dem Tempelkrieger sogar entgegengesprungen, hatte seinen Hieb pariert und sich mit aller Kraft gegen ihn gestemmt. Freilich war sie sofort wieder durch die Luft zurückgeflogen und im Staub gelandet, doch der Mensch hatte anerkennend genickt. „Das ist die richtige Einstellung“, hatte er nur gesagt, „jetzt können wir weiterüben.“

Nach der ersten Übungsstunde mit dem Tempelkrieger der Menschen hatte Jade kaum noch ihre schwachen Handgelenke bewegen können. Ihren Wasserkrug hatte sie mit beiden Händen heben müssen, und selbst das hätte sie fast nicht mehr geschafft. Cesius hingegen hatte die Stunde fast gar nichts ausgemacht. Beim Gedanken an die bevorstehenden, echten Kämpfe hatte Jade vor Angst plötzlich zu zittern begonnen. Doch von da an hatte sie wenigstens gewusst, wie schnell sie ohne die Übungen mit Cesius tot gewesen wäre. Sie hatte fortan Tag um Tag trainiert, stundenlang, mit der blanken Angst im Nacken. Schon nach zehn Tagen hatte sie unter den Elfen keine brauchbaren Kampfpartner mehr gehabt.

Jade dachte an ihre jugendliche Tochter; eine tiefe Sorgenfalte zog sich durch ihre Stirn, während sie

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131schweigend Athónon folgte. Cesius, der beeindruckende Krieger, war nicht mehr da, um der Halbelfin Laura eine Lektion zu erteilen. Und Jade würde nie solch ein Krieger wie Cesius sein können. Sie schaffte es einfach nicht, dass Laura Angst vor den Kämpfen und Abenteuern bekam, von denen die jungenhafte Jugendliche träumte. Laura war genau wie Jade früher: sie dachte, sie wäre als Dorfwache eine gut ausgebildete Kriegerin, und als Halbelfin war sie zudem von Natur aus kräftiger als manch anderer Elf. Doch Jade wusste, dass ihre Tochter kaum eine Chance hatte, sollte sie einem erfahrenen Krieger der Menschen gegenüberstehen.

Wann immer Jade sich mal wieder mit ihrer Tochter darüber gestritten hatte, dass Laura allein eine Reise nach Süden machen wollte, bekam die Nachtelfin blutige Albträume. Doch sie konnte nicht entfernt so hart zuschlagen wie Cesius, damit Laura endlich zur Vernunft kam. Dass Jade in ihrem Dorf als große Kämpferin galt, machte ihre Überzeugungsarbeit bei Laura noch viel schwerer. Elfenmänner waren nicht zu vergleichen mit Menschenmännern, was ihre Kraft betraf, und Jade war eine von viel zu wenigen Elfen, die Kriegserfahrung besaßen.

Jade war auch hin- und hergerissen von Lauras Bitte, endlich Athónon kennenzulernen, von dem sie früher so viele Geschichten gehört hatte. Laura hatte sich instinktiv nicht willkommen gefühlt, zu Athónons Höhle zu wandern; doch wenn er nun seinerseits ins Dorf kam, wollte sie ihn unbedingt treffen, und Jade sollte es dem Gnom möglichst früh sagen, damit die Halbelfin ihn nicht womöglich

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132 verpasste und er gegebenenfalls mit seiner Rückreise auf sie wartete. Doch Lauras Mutter schwieg.

Sie waren noch nicht sehr weit gegangen, als Athónon mitten in der Bewegung einzufrieren schien. Erst ganz langsam setzte er den erhobenen Fuß doch noch ab. Das Flattern von Zeeris’ Flügeln war plötzlich das einzige Geräusch. Kein Tier und kein Vogel war zu hören.

Jade war auf Athónons Reaktion hin ebenfalls erstarrt. Auch Taffi auf ihren Schultern war reglos und still. Das Chamäleon verschwamm mehr und mehr mit dem Grün ihres Kleides und dem Schwarz ihres Haares. Athónons Kopf ruckte leicht, als er ein weiteres Steinchen neben sich klickern hörte. Lautlos wandte er sich zu Jade um. Sein stummer Blick sagte: „Das ist kein Tier.“ Jade nickte unmerklich.

Plötzlich schoss ein breiter Oberkörper hinter einem Felsen hervor und feuerte einen Bogen ab. Der Pfeil traf Jade von der Seite in die Schulter und verfehlte Taffis Kopf um weniger als einen Fingerbreit. Jade schrie mit kräftiger Stimme und rannte auf der anderen Seite in Deckung – genau in einen vermummten Menschen mit einem Dolch, der sofort damit nach ihr stach. Sie prallte im letzten Augenblick zurück, doch der Dolch streifte sie unter den Schlüsselbeinen und hinterließ einen tiefen Schnitt. Jade krachte mit dem Rücken gegen einen Felsen und sah aus dem Augenwinkel, wie der Bogenschütze mit einem zweiten Pfeil auf sie zielte. Gleichzeitig sprang der Dolchkämpfer sie grunzend an.

„Taffi!“, schrie sie im Befehlston – und trat dem Angreifer

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133vor den Oberschenkel, um den Ansturm zu stoppen. Der fluchende Dolchkämpfer flog mit vorgeneigtem Oberkörper auf sie zu, Dolch voran. Sie setzte ihr Bein nach dem Tritt nicht ab, sondern rollte seitlich unter dem Angreifer vorbei, weg von dem Bogenschützen hinter einen Felsen. Sie spürte Taffis Gewicht jetzt an ihrem Rücken hängen und die kleinen Krallen in ihre Haut stechen; das Chamäleon war bei ihrer Rolle längs um ihren Körper herumgerannt, um nicht zerdrückt zu werden. Der vermummte Kämpfer zischte durch die Zähne und hastete Jade nach.

„Halt still!“, piepste es in ihr Ohr. Sie unterdrückte einen Schrei, als der Pfeil in ihrer Schulter von Taffi ergriffen wurde.

„Ich glaube, das ist mehr als eine Fleischwunde“, keuchte Jade und taumelte weiter von dem Dolchkämpfer weg. „Mir wird s...“, seufzte sie, dann knickten ihre langen Beine ein.

„Deine Herzader!“, kreischte Taffi. „Der Pfeil sitzt zu hoch fürs Herz, aber vielleicht hat er eine Deiner dicken Adern getroffen!“ Noch lauter kreischte Taffi: „Athónon! Schnell!“

Mit großen Augen stierte Taffi den Dolchkämpfer an, der Jade gerade erreichte, als ihr Oberkörper mit der gesunden Schulter gegen einen Felsbrocken sank. Jade hielt sich mit flatternden Lidern am Fels fest und tastete nach dem Pfeil. „Athónon!“, flehte sie.

Von dem Gnom war nichts zu hören. Allerdings klangen zwei fremde Todesschreie aus seiner Richtung herüber.

Taffi stellte sich in Jades Nacken auf die Hinterbeine, perfekt im Gleichgewicht, und hob die winzigen Fäustchen

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134 drohend vors Gesicht. „Ich warne Dich, ich hau Dir eine, wenn Du näher kommst!“, fiepte das Chamäleon dem Dolchkämpfer vor sich entgegen.

Der begann mit tiefer Stimme zu lachen und entspannte sich etwas, während er näher kam. Zwar hatte er noch nie ein Wesen wie Taffi gesehen – doch er wusste, dass er auch viele andere Dinge noch nie gesehen hatte. Und Taffi war einfach zu klein, um bedrohlich zu wirken.

Ein weiterer, gellender Todesschrei vom anderen Wegrand her ließ sein Lachen allerdings gefrieren. Blitzartig fuhr er herum.

Hinter ihm stand der weißhaarige Gnom Athónon mit ausdrucksloser Miene und einem bluttriefenden Kurzschwert in der Faust. Brüllend warf der Dolchkämpfer sich auf ihn. Athónon riss erst im allerletzten Moment das Kurzschwert hoch, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Er schlitzte dem Angreifer den Waffenarm der Länge nach auf. Das Blut schoss in Fontänen aus seinem Fleisch, kreischend stürzte er davon und verschwand zwischen den Felsen.

„Er kommt nicht mehr weit“, knurrte Athónon, während er sich zu Jade kniete und mit seinen schmalen, faltigen Augenschlitzen ihre verwundete Schulter betrachtete. „Sitzt tief“, kommentierte er salopp. „Ich nehme an, den Arm kannst Du nicht mehr heben“, versuchte er, witzig zu sein. Doch Jades Gesicht blieb von Angst und naher Ohnmacht gezeichnet.

Zeeris flog herbei und setzte sich neben Athónon auf einen Felsen. Seine kleinen, scharfen Zähne waren voller Blut, ebenso wie seine Hände und Krallen. In jeder Klaue

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135hielt er ein Menschenauge, eins braun, eins grün, und blickte voller Appetit abwechselnd das eine und dann das andere an. „Welches zuerst?“, geiferte er und leckte sich über die blutigen Lippen.

„Oh ...“, machte Jade bei dem Anblick und verdrehte die eigenen Augen.

„Wer waren die Kerle?“, fragte Athónon, als er eine Hand auf Jades Wunde legte. Warmes Blut rann zwischen seinen Fingern hindurch in seinen Ärmel.

„Weiß nicht“, stöhnte die Elfin. Dann biss sie die Zähne zusammen, während Athónon seine Magie fließen ließ. Binnen weniger Lidschläge fiel der Pfeil zu Boden und die Wunde schloss sich.

In einer Welt, in der Magie für viele Völker als verwerflich oder gar dämonisch galt, hatten die Zauberer gelernt, ihre Fähigkeiten so unauffällig wie möglich einzusetzen, insbesondere wenn sie nicht einem anerkannten Tempel angehörten. Zauberei war oftmals eher eine physische Kraftanstrengung als eine Wissenschaft. Heilungen stellten eine der wenigen Ausnahmen dar, denn wenn ein Zauberer nicht wusste, was er an einer Wunde wie verwandeln sollte, richtete er vermutlich nur noch mehr Schaden an, anstatt eine Heilwirkung zu erzielen.

Nachdenklich und verschüchtert betastete Jade die geheilte Schulter. „Schon wieder hast Du mein Leben gerettet“, murmelte sie.

„Würde es mich nicht geben, wärst Du gar nicht in Gefahr geraten“, konterte Athónon. „Wieso hast Du keine Waffe mitgenommen?“

Jade zuckte mit den Schultern. „Bisher war dies eine

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136 völlig friedliche Gegend und der Weg ist ja auch nicht sehr weit. Diese Menschen sind die ersten Räuber seit zwanzig Jahren, die es hierher verschlagen hat.“

Athónon legte Jade die Hand nun knapp oberhalb der Brüste auf, was sie mit einem verdutzten Blick und einem schiefen Grinsen kommentierte. „Der Dolchkratzer“, erinnerte Athónon sie ungerührt.

„Oh“, machte sie, „den hatte ich noch gar nicht gespürt.“

Die Heilung dieser Wunde dauerte nur wenige Lidschläge. Als Athónon die Hand zurückzog, musterte Jade ihn sinnlich. Doch er wandte sich ab und ging zu seinem Rucksack zurück, den er auf den Weg hatte fallen lassen. „Wie geht es Deiner Familie?“, fragte er mit einem seltsamen Ton.

Zeeris hatte mitten in der Kaubewegung innegehalten und die beiden angestarrt. Jetzt krähte er: „Elfen und Gnome, pah! Das könnte sowieso nicht gut gehen!“

Taffi mischte sich ein: „Ach nein? Aber Athónon hatte damals schon fast den Status eines Elfen, im alten Dorf Sakándes und auch in Eláryons Dorf, wie hieß das noch ... Fast wären seine Ohren spitz geworden!“

Jade grinste amüsiert und erhob sich. „Schon gut, ihr beiden, kommt! Es wird immer dunkler.“

Tatsächlich war das letzte Abendrot inzwischen verblüht und die Nacht schlich herbei.

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13�Am Durchgang der wilden Rosenhecke, die als einziger, spärlicher Schutz des Dorfes mitten im Wald die Baumhäuser und Lederzelte umgab, wartete im aufgehenden Mondlicht bereits eine blonde Elfin. Feine Grübchen um den schmalen Mund und graue Strähnen im Haar zeigten, dass sie sich bereits im Herbst oder Winter ihres Lebens befand. Auch hatte sie einige Narben im Gesicht und an den Händen, vielleicht auch am restlichen Körper, unter der grünen Tunika und den braunen Beinlingen. Ein dunkler Ledergürtel hing der geradezu dürren Elfin auf den Hüftknochen. Vermutlich hätte sie ihn mit etwas Anstrengung einfach abstreifen können, ohne die Schnalle zu öffnen.

„Athónon Elfenfreund!“, rief sie dem Gnom freudig entgegen und winkte zaghaft. Nach zwanzig Jahren sahen sie sich zum ersten Mal wieder. Sie hatte ihn nie besucht.

Miriam kniete sich vor Athónon und ergriff mit knochigen, dürren Händen seine Schultern. Ungerührt ließ er es sich gefallen. Allmählich schwand die Freude aus dem Gesicht der alten Elfin, um einer tiefen Sorgenfalte Platz zu machen. „Ihr seht hervorragend aus!“, schmeichelte sie ihm.

„Nein, tue ich nicht. Kommt zur Sache“, grollte Athónon ungeduldig. Die überaus förmliche Anrede in der Mehrzahl strafte seinen Ton Lügen.

Die Elfin nickte etwas traurig. „Ich komme gerade von einer Reise bis zum fernen Norhus zurück, von dem Ihr so oft geschwärmt habt. Ein Mann namens Soras wird sich dort zukünftig darum kümmern, dass selbst so weit im Osten Bündnisse gegen die Chimärier geschmiedet

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13� werden. Die Elfen können nicht ewig die Augen vor den Geschehnissen in der Welt verschließen. Ich erinnerte mich plötzlich bruchstückhaft an Dinge, von denen Ihr mir vor so vielen Jahren schon erzählt habt, dass ich sie doch wissen müsste. Ich träumte sogar von diesem Soras, daher die zurückliegende Reise. Doch Ihr, Athónon Elfenfreund, müsst mir unbedingt noch mehr erzählen, denn ich spüre, dass jeder Tag zählt. Etwas Wichtiges steht bevor.“

Athónon versetzte sarkastisch: „Und natürlich muss ich mich wieder direkt in die Hölle begeben, dort ein Rudel Dämonen mit bloßen Händen erwürgen und ...“

„Shh!“, machte Miriam, unterbrach Athónon und legte ihm den dünnen Zeigefinger auf den Mund. „Davon habe ich nichts gesagt“, flüsterte sie ernst. „Ich möchte nur mit Euch reden, um mein Gedächtnis wiederzuerlangen. Bitte, Athónon Elfenfreund, helft mir dabei. Vor zwanzig Jahren war es Euer sehnlichster Wunsch, dass ich mich erinnere.“

„Vor zwanzig Jahren haben meine letzten Freunde auch noch gelebt“, zischte Athónon eiskalt.

Sichtlich getroffen, senkte die Elfin den Blick. „Gebt Ihr mir die Schuld an ihrem Tod, Athónon Elfenfreund?“, wisperte sie und sah wieder hoch.

„Nennt mich nicht so“, knurrte Athónon und striff ihre Arme von sich. „Reden wir also. Woran erinnert Ihr Euch?“

„Sollen wir nicht ans Feuer g...“, begann Miriam, aber Athónon fiel ihr ins Wort: „Hier ist es recht. Also?“

Miriam ließ den Kopf voll Bitterkeit hängen. Doch

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13�dann atmete sie tief durch, setzte sich im Schneidersitz vor Athónon und berichtete. „Ihr habt erzählt, da wären vier Könige gewesen, die gegen ein Meer von Dämonen gekämpft hätten, aber nicht allein, sondern mit Hilfe von großen Helden wie Euch.“

Athónon schnaubte verächtlich und brummte: „Ich war nie ein Held! Ich war einst bloß ein einfacher Jäger! Ich wollte nur in Frieden leben!“ Er wurde lauter. „Ich wollte ein paar Elfen vor rassistischen Zorm-Priestern warnen, und plötzlich wurde ich von einem alten Hauptmann der Stadtwache irgendwelchen Räuberbanden auf den Hals gehetzt, um mich zu erproben!“ Jetzt schrie er: „Niemand hat mich gefragt, ob ich in den Krieg gegen übermächtige Dämonen ziehen wollte! Ich wurde einfach vor vollendete Tatsachen gestellt! All meine Freunde sind jetzt tot und meine Heimat ist verloren und –“

Miriam sprang auf und nahm ihn fest ihn den Arm. Athónon schrie jämmerlich und vergrub sein Gesicht auf ihrer Schulter. Jade setzte sich mitfühlend neben ihn und legte ihm ebenfalls eine Hand auf den Arm. „Wieso sagst Du das immer, dass all Deine Freunde tot wären?“, flüsterte sie sanft, „bin ich kein Freund?“

„Genau!“, piepste Taffi von der anderen Seite gekränkt, und auch Zeeris schwebte mit verschränkten Armen in der Luft und grummelte etwas.

Athónon schluchzte laut und bebte am ganzen Körper, seine Hände griffen fest um Miriams knochigen Rücken. Die Elfin legte ihren Kopf an seinen und strich vorsichtig über sein weißes Haar. „Lasst es alles raus, Athónon“, flüsterte sie, „Ihr seid doch unter Freunden.“

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140 „Zwanzig Jahre!“, wimmerte Athónon.Miriam schloss die Augen und wiegte sich leicht mit

dem Gnom im Arm. „Ich weiß, mein Freund“, flüsterte sie liebevoll. „Aber ich weiß auch, dass die Götter kein Opfer vergessen werden. Ich fühle es so sicher, wie mein Herz schlägt. Am friedvollen Ende Eures noch sehr langen Lebens werdet Ihr als ein König in den Himmel einziehen. Niemand hätte es mehr verdient.“

Taffi und Zeeris setzten sich still.

„Mit mir wart Ihr enger verbunden als mit den anderen Königen, nicht wahr?“, flüsterte Miriam. Athónon nickte.

„Wir waren wohl Seelenverwandte“, raunte Athónon. „Wir lebten in verschiedenen Welten, Ihr, damals die Königin der Elfen, und ich, der Kundschafter; doch irgendetwas verband uns doch. Und Ihr wusstet noch vor mir, wie hart das Schicksal mich treffen würde, denn so wie eben umarmtet Ihr mich schon einmal. Damals starb mein guter Freund Eláryon, ein Elf, der dort mein letzter Halt in all diesen Wirren gewesen war; das war der Anfang vom Ende. Ihr schenktet mir jene magische Decke mit der großen Heilkraft, die mit Euch jedoch die Albträume von Dämonen teilte, und die so für lange Zeit auch zu meinen Träumen wurden. So wurde ich jedoch auch ein Teil von Euch und vom göttlichen Plan. Damals wart Ihr ein bisschen mehr wie ich jetzt, traurig und gezeichnet vom aussichtslosen Krieg gegen die Dämonen. Die Schlinge zog sich immer enger um unsere Hälse – da schicktet Ihr uns in eine ferne Vergangenheit, noch vor dem Glorreichen Zeitalter, um das Erscheinen

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141des obersten Dämons im Keim zu ersticken. Als wir zurückkehrten, war jedoch alles ganz falsch. Ihr wart nicht einmal auf Hevas Leib, denn die Götter hatten Euch als Diener gegen die Dämonen geschaffen, und die gab es in der Tat nicht mehr. Stattdessen hatten jedoch die Chimärier bereits fast die Hälfte von Hevas Leib erobert, und sie streben wohl auch noch nach der anderen Hälfte. Wir entdeckten eine geheime Grabkammer, wo Eure Seelengefäße bereitlagen, falls man Euch bräuchte. Leider funktionierte die Erweckung nicht wie geplant.“ Athónon funkelte sehr böse zu Zeeris, der betont unschuldig tat. „Ihr kehrtet ohne Gedächtnis – und Eurer wahren Kräfte beraubt – auf Hevas Leib zurück, während wir, die wir Euch erweckt hatten, unsere Gesundheit hergeben mussten und frühzeitig ergrauten. Ich war mit dreißig Jahren schon ein Greis.“

Jade unterbrach ihn schmunzelnd: „Du bist heute noch kein Greis, bloß weil Deine Haare weiß sind. Kein Greis könnte diesen Rucksack tragen!“ Demonstrativ hob sie Athónons Rucksack von seinem Rücken und stellte ihn ächzend auf den Boden. „Der wiegt sicher über 40 Pfund! Das wäre dann vermutlich die Hälfte Deines eigenen Gewichts.“ Als sie beiläufig zu Miriam blickte, erschrak sie auf einmal. „Was ist denn?“, entfuhr es der Nachtelfin.

Miriams Gesichtsausdruck grenzte an Irrsinn, während sie in die Nacht starrte. Abwesend raufte sie sich die Haare.

„Sie erinnert sich bestimmt!“, riet Zeeris aufgeregt.Wortlos öffnete Athónon seinen Rucksack und kramte

eine alte Decke hervor: vielfach geflickt, über und über

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142 von getrocknetem Blut beschmiert und nur noch an wenigen Stellen so grün, wie sie einst gewesen war. Einzig die verblassten, goldenen Ornamente an den Rändern wiesen darauf hin, dass dies nicht irgendein Lumpenstück war. Athónon legte sie ehrfürchtig um Miriams Schultern, wagte es aber nicht, sie seinerseits in den Arm zu nehmen. Für ihn war sie immer noch die unsterbliche, göttliche Königin der Elfen und er nur der einfache Kundschafter.

Das mächtige Artefakt verfehlte seine magische Wirkung nicht. Seit Athónon die Seele des lebendigen Artefaktes erforscht hatte, waren die Albträume vergangen, die man unter dem Wollstoff erlitt. Nun fand man sich auf einer sonnigen Wiese voller spielender Elfenkinder wieder, wenn man die Decke um die Schultern legte oder darunter schlief.

Auch Miriams irrer Gesichtsausdruck wurde erst glasig, dann friedlich, und nach einer Weile rollte sie die Decke selbst wieder zusammen und gab sie Athónon zurück. „Das war wundervoll“, hauchte sie. „Wie habt Ihr das geschafft?“

Athónon zuckte verlegen mit den Achseln. Als er ihr Gesicht betrachtete, seufzte er, denn nun war er wieder da, der wehmütige Ausdruck in ihren Augen. Sie war nicht mehr die unbedarfte, gedächtnislose Miriam. Sie war wieder sie selbst: Mèra, einst Königin der Elfen, unsterbliche Dienerin der Götter, eine Halbgöttin im Krieg gegen die Dämonen. Mèras Gunst erweckte Tote zum Leben, ihre Gefühle erklangen als Musik und ihre Wut vernichtete Legionen. Ihre Erinnerung war endgültig zurück.

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143„Die Dämonen hat es von Neuem in die Nähe von Hevas Leib getrieben. Sie wollen die Naturgöttin Heva und unsere Welt erbeuten“, schloss sie Athónons Gedankengang mit einer schaurigen Endgültigkeit in der Stimme. Athónon und Mèra sahen sich an; kalte Härte traf auf ozeanische Tiefe.

„Ich muss die anderen drei Könige von damals finden, Randolph, Srrig und ... vielleicht auch T’ral. Gleichzeitig muss ich herausfinden, wo die Dämonen sind, wie stark sie sind und was sie vorhaben“, entschied Mèra. Zögernd musterte sie Athónon. „Werdet Ihr mir helfen, Athónon Elfenfreund?“, fragte sie ernst.

Der Blick des Gnomes wurde unendlich finster; nur Mèra konnte die Seelenqual hinter der Fassade erkennen, nur sie konnte so tief durch seine Augen bis zum Grund seiner Seele blicken.

„Natürlich, Hoheit“, kratzte Athónons Felsenstimme erstickt. Man schlug einer Halbgöttin keine Bitte ab, schon gar nicht, wenn es um das Wohl der Welt ging. Athónon hatte nie viel mit der Prophezeiung von Theb Nor zu tun gehabt, um über die Bedrohung von Hevas Leib zu lernen – er war vielmehr direkt in die Bedrohung hineingeschlittert, und in die Vier Könige, von denen die Prophezeiung berichtet. Man brauchte ihm wahrlich nicht zu erklären, wie nah seine Welt sich am Abgrund befand.

Jade starrte Mèra unsicher an. Als ihre Blicke sich trafen, senkte Jade den Kopf und murmelte: „Hoheit ...“

„Nicht doch!“, seufzte Mèra und ergriff Jades Arm. „Ich mag das nicht. Das Dorf funktioniert hervorragend, wir brauchen keine ,Hoheit‘.“

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144 Für einen Moment blieb Mèras undeutbarer Blick an Jades schwarzem Haar hängen. Doch dann stand sie auf und streckte sich. Sie schien ihre Umgebung ganz neu wahrzunehmen und starrte jeden Strauch mit einem dünnen Lächeln an. „Mein wahrer Geist hat viele Jahrhunderte geschlafen“, flüsterte sie, während sie sich umsah. Als sie die Augen schloss und ins Dorf schlenderte, erklang plötzlich Lautenmusik aus der Ferne; Zeeris, das Teufelchen, hielt sich entsetzt die Ohren zu ob der „grässlichen“ Klänge.

Unbemerkt vom restlichen Dorf zog Mèra sich zurück. Sie meditierte fast den ganzen folgenden Tag, um die drei anderen Könige und die Dämonen aufzuspüren. Nur zur Mittagszeit gönnte sie sich eine Pause, in der sie die drängendsten Fragen der neugierigen Dorfbewohner beantwortete, die bis dahin natürlich von dem ungewöhnlichen Ereignis und von Athónons Rückkehr erfahren hatten – trotz Athónons eindringlicher Bitte an Zeeris und Taffi, es für sich zu behalten ...

Mèra vermied es, voreilige Antworten auf die Frage zu geben, ob sie das zersplitterte Elfenvolk vereinen und gegen das Imperium der Chimärier führen würde; zuerst musste das Dämonenproblem im Keim erstickt werden. Es war schon einmal zu groß für die Sterblichen geworden, weil es nicht früh genug gelöst worden war.

Selbst Taten bewirken nichts,

Wenn die Welt nicht bereit ist.

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145In Wahrheit wurde die Welt nicht geändert,

Sie änderte sich selbst, als sie es für nötig hielt.

Doch als die Herrscher endlich verstanden,

dass sie keineswegs mächtig und wichtig waren,

sondern nur Werkzeuge des Bösen,

War es längst zu spät.

Athónon war Laura aus dem Weg gegangen, als sie ihn gesucht hatte. Er hatte jedoch die kaum mehr erkennbaren Reste der Kastanienfiguren, die Laura als Kleinkind für ihn gebastelt hatte, zu Füßen der Strickleiter gebettet, die zum Eichenbaumhaus von Jades Familie hinaufführte.

Mèra wandte sich an Jade: „Ich hätte gern auch eine Nachtelfin dabei. Willst Du mit mir reisen?“

Jade erschrak. Sie hob abwehrend die Hände und stammelte: „Ich ... meine Familie ... Ich bin hier doch als Anführerin der Wache zuständig. Außerdem – wieso solltest Du eine nachtkranke Elfin brauchen?“

Mèra untermalte ihre Schilderung mit gelegentlichen Handbewegungen. „Es wird nicht für lange sein. Und Deine ältere Tochter ist doch schon ausgewachsen und selbstständig. Einen neuen Hauptmann finden wir

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146 außerdem leicht.“ Sie machte eine kurze Pause. „Natürlich kannst Du nicht wissen, was es mit der ,Krankheit‘ der Nachtelfen auf sich hat, also will ich es Dir sagen: Die Nachtelfen kündigen das Auftauchen von Dämonen an – aber nur, weil die Nachtelfen eine göttliche Waffe gegen unsere Feinde sind. Nur ein Nachtelf kann Dämonen ohne besondere Waffen oder Zauber verletzen. Nimm einen Stein und Du kannst ihnen damit den Schädel einschlagen. Die Gabe kann so weit trainiert werden, dass Du sogar ein gewöhnliches Schwert so einsetzen könntest, auch wenn es eine Weile dauert, diesen Punkt zu erreichen. Niemand, der nicht solchen Blutes ist, vermag das, nicht einmal Athónon. Außerdem spüren Nachtelfen die Nähe von Dämonen von Natur aus, ohne Zauberei, und auch das vermag nicht einmal Athónon. Hast Du nicht immer ein komisches Gefühl in der Nähe des Teufelchens?“

Jade nickte ungläubig und legte die Hände nervös ineinander.

„Siehst Du, diese Wesen sind zum Teil dämonischer Natur.“

Jade nahm etwas Mut zusammen und fragte: „Wieso vertragen wir dann die Sonne nicht, wenn wir göttliche Geschöpfe sind?“

Mèra senkte den Blick und strich sich mit einer Hand über den anderen Arm. Sie antwortete erst nach einigen Lidschlägen, mit einer leisen, fast kleinlauten Stimme. „Besser habe ich es damals nicht hinbekommen, ich war noch so jung, sterblich ...“

Jade brauchte einen Augenblick, bis sie verstand, und wich mit offenem Mund zurück. „Darum sind die Götter

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14�kein Teil unserer Kultur?“, hauchte sie, bekam jedoch keine Antwort.

„Ich brauche Dich hierbei, Jade. Die Göttin Heva braucht Dich, so unglaubwürdig das auch klingen mag“, flüsterte Mèra und musterte Jade traurig.

Jade stürmte mit gesenktem Kopf durch das Walddorf. Machte riesige Schritte mit ihren langen Beinen und ließ bewohnte Buchen, Eichen, Pappeln und Kastanien hinter sich. Überall plapperten die Elfen schon wieder von der bevorstehenden Feier und wie sie die Blütengirlanden am besten aufhängen sollten. „Ihr begreift einfach gar nichts“, zischte Jade verärgert bei sich.

Die Nachtelfin kletterte die dicke, knotige Strickleiter in ihre Wohneiche hinauf. Ein kräftiger Elf lächelte ihr darin entgegen und rief: „Hallo, meine Liebste! Das Essen ist gleich fertig.“ Der Elf saß im Schneidersitz an einem kleinen Tischchen, das aus dem Eichenstamm zu wachsen schien, und schnitt duftende Kräuter, hauptsächlich Waldmeister und Minze. Stein- und Weißklee lagen bereits geschnitten in einer Honigschale bereit; sie machten sich weniger duftend bemerkbar, doch insbesondere Steinklee galt unter Elfen als Delikatesse.

„Endáruel“, seufzte Jade und konnte nicht recht lächeln.

Endáruels Miene gefror. „Was ist los?“, hauchte er und ließ das kleine Messer aus der Hand rutschen.

Verlegen druckste Jade herum, blickte nach links und

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14� rechts, nur nicht ins Gesicht ihres Gefährten, und fragte schließlich: „Wo sind unsere Töchter?“

„Hast Du geweint?“, fragte Endáruel erstaunt, stand auf und nahm sie in den Arm. Sie senkte nur den Blick.

„Ich muss für eine Weile fort“, flüsterte sie.„Doch nicht mit Miriam, ich meine Mèra und Athónon?

Sag, dass Du diesen Irrsinn nicht mitmachst! Deine Familie und Dein Dorf brauchen Dich!“, redete Endáruel auf sie ein.

Vom Dach der Hütte sprang eine Halbelfin mit kurzen, blonden Locken durchs Fenster ins Innere. „Ich komme auch mit!“, rief sie wild entschlossen, baute sich vor Jade auf und stemmte die Hände in die Hüften. Ihre Ähnlichkeit mit Jade war an Gesicht und Statur nicht zu übersehen, auch wenn ihren großen, hellbraunen Augen und ihrem Haar der elfische Glanz fehlte und sie ein paar Pfund mehr auf den Rippen hatte.

Jade seufze kopfschüttelnd, winkte schwach ab und sagte müde: „Das hatten wir doch schon so oft, Laura. Du wirst auf keinen Fall das Dorf verlassen, um irgendein Abenteuer zu riskieren. Das bringt nur Ärger und Qualen hervor.“

„Dann darfst Du auch nicht gehen“, antwortete Laura und grinste keck. Doch schon im nächsten Moment wurde ihre Miene trauriger. „Außerdem bin ich doch nicht nur Ärger und Qualen, oder, Mutter?“

Erschrocken blickte Jade hoch und starrte Laura mit offenem Mund an.

„Laura ist wieder gemein!“, quietschte es vom Dach der Hütte.

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14�Endáruel sah hoch, als könne er durch das Dach sehen. „Komm sofort wieder hier rein, Lishárial!“ Zu Laura sagte er vorwurfsvoll: „Wieso ermutigst Du sie immer zu so was? Wenn sie da runterfällt!“

Laura neigte angriffslustig den Kopf und erwiderte: „Du machst Dir zu viele Sorgen um die kleine Prinzessin. Sie ist mehr Elfin als ich, schon vergessen? Ihr Elfen habt die Natur doch im Blut.“

Ein junges Elfenmädchen kletterte zum Fenster hinein, weitaus weniger geschickt als Laura. Plötzlich rutschte sie mit einem Fuß ab und knallte mit dem Bauch auf die runde Fensterkante. Sofort fing sie an zu weinen und keuchte in Lauras Richtung: „Das ist alles Deine Schuld! Halbmensch! Trampel!“

Laura stemmte kokett eine Hand in die Hüfte und grinste böse: „Wer ist hier der Trampel?“

„Schluss jetzt!“, rief Jade und wischte sich über die Augen. Sie eilte zu Lishárial und umarmte sie innig. Alle schwiegen. „Ich muss Euch für eine Weile verlassen“, sagte Jade dann in die Stille, mühsam beherrscht.

„Ja, und ich komme mit“, wiederholte Laura ernst.„Nein!“, schrie Jade laut, beruhigte sich aber sofort

wieder.„Immerhin bin ich die beste Kämpferin meines

Jahrgangs bei der Dorfwache“, protestierte Laura.„Ich dachte, Du hättest Deine Lektion inzwischen

gelernt“, knurrte die Nachtelfin darauf.Lauras Miene verfinsterte sich; sie erinnerte sich nur

ungern daran, wie sie vor versammelter Mannschaft von ihrer Mutter binnen zweier Lidschläge entwaffnet und

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150 mit einem schmerzhaften Fausthaken zu Boden geschickt worden war, als sie das letzte Mal dachte, sie sei ja schon eine große Kämpferin. „Ich gehe doch nicht allein“, murrte sie schließlich kleinlaut.

„Es ist viel zu gefährlich für Dich. Du bleibst hier“, befahl Jade mit schneidendem Ton. Sanfter fuhr sie fort: „Es wird ohnehin kein Kämpfer benötigt. Mèra braucht mich, weil ich eine Nachtelfin bin. Nachtelfen spüren ... Feinde.“ Ihre Lippen begannen zu zittern. Sie erwähnte mit keinem Wort, dass ihre Gabe in Wahrheit darin bestand, Dämonen zu spüren. Dass sie gebraucht wurde, um infernalische, ebenso mächtige wie grausame Kreaturen aufzuspüren, die eine sterbliche Elfin ganz beiläufig töten konnten und von denen die meisten Zweibeiner annahmen, dass es sie gar nicht gab, außer in den dunkelsten Schauermärchen.

„Ich würde so gern bei Euch bleiben!“, rief Jade, „Ihr wisst gar nicht, wie viel Angst ich habe! Aber Mèra sagt, es geht um unser ganzes Volk, um sämtliche freien Völker, und ich glaube ihr.“ Niemand sagte etwas, quälende Stille. Plötzlich grinste Jade schief und wisperte: „Ich reise mit einer Halbgöttin und einem großen Helden, was soll mir schon passieren?“ Sie biss sich auf die Lippe, denn niemand konnte mitlächeln. Und niemand hatte ihr die Begründung geglaubt, warum eine Nachtelfin gebraucht wurde.

Jade und Athónon erklärte Mèra später am Abend: „Ich habe Srrig aufgespürt und glaube, dass ein weiterer Freund ganz in dessen Nähe ist, aber von einem magischen Feld verborgen wird. Ob er sich selbst tarnt oder getarnt wird,

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151kann ich nicht sagen. Ich versuche, so wenig Magie wie möglich fließen zu lassen – nicht mehr, als andere es auch könnten, sodass ich nicht auffalle. Ich darf die Dämonen nicht vorwarnen und auch nicht auf meine Fährte locken, falls sie zu stark für mich sind. Ich konnte sie nicht finden, aber ich konnte – zumindest während der magischen Suche – deutlich spüren, dass sie da sind, direkt im Nacken der Göttin Heva. Als ob die plötzliche Rückkehr meiner Erinnerung nicht Zeichen genug wäre. Wir werden konventionell auf Pferden reisen müssen, denn wenn ich uns teleportiere, wäre das wie ein Leuchtfeuer in dunkler Nacht. Wohl aber kann ich unsere Pferde verzaubern, dass sie besonders schnell und ausdauernd werden.“

So machten sich also nach Einbruch der Dunkelheit die Halbgöttin, der Gnom und die Nachtelfin auf, die imperiale Grenze unbemerkt zu überqueren und den versprengten Freund im Feindesland zu finden. Drei Rappen, ein intelligentes Chamäleon und ein Teufelchen begleiteten sie. Die Zwanzig-Jahr-Feier des Elfendorfes fand ohne sie statt.

Jade verbarg ihr Gesicht, während sie sich vom Dorf entfernten. Über der Schulter trug sie Endáruels ausgehängten Jagdbogen. Sie hatte ihr Kleid gegen ein Lederwams und ebensolche Beinlinge getauscht, außerdem trug sie ein eisernes Kettenhemd unter dem Wams.

Mit feuchten Wangen sah Endáruel den Gestalten nach. Lishárial weinte in seinem Arm.

Auch Laura seufzte traurig. Immerhin hatte sie nun einen Blick auf den legendären Athónon Elfenfreund

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152 erheischt, selbst wenn sie nicht mit ihm hatte reden können. Irgendwie war sie enttäuscht von ihm.

Athónons Miene war völlig versteinert. Die Götter hatten ihm vor fast dreißig Jahren die Gabe der Vorhersehung verliehen, die ihm manchmal Träume oder gar kurze Visionen bescherte – und was er vor seinem geistigen Auge sah, wenn er an die Zukunft dachte, gefiel ihm überhaupt nicht.

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1536

Die kleine Reisegruppe um Mèra trabte schweigend gen Westen. Furcht und düstere Ahnungen verbanden sie, es gab keinen Anlass zum Reden. Jade wurde schon jetzt von Heimweh und der Angst um ihre Familie ergriffen, so als packte sie eine kalte Hand an der Kehle. Manchmal sträubten sich ihre Nackenhaare.

„Heda, wieso sitzt Du ganz allein hier?“, fragte ein junger, kräftiger Waldläufer sie. Fast zwanzig Jahre war das nun her.

Jade saß am plätschernden Dorfbach und tauchte gedankenverloren die nackten Füße ins Wasser. Mit den Armen umschlang sie einen gewundenen, dicken Buchenast, der schon seit Langem am Bachufer seine letzte Ruhe gefunden hatte. Das Abendrot verblich am Horizont, zwischen der duftenden Wiese und den dunklen Wäldern dahinter. Mildes Blätterrauschen stimmte die Nachtelfin schläfrig und melancholisch. Der inbrünstige Dämmerungsgesang der Vögel zerriss ihr fast das Herz.

Herabhängende Birkenzweige hatten Jades empfindliche Haut vor den letzten Sonnenstrahlen geschützt. Jetzt kreuzten die Wolkenschiffe bereits durch den tiefblauen Himmel über dem Bach. Nur in der Ferne blühte noch eine milde Spur der majestätischen Sonnenröte nach. Jade erinnerte sich ganz genau an diesen Abend.

„Was?“, hatte sie plötzlich nur erschrocken zurückgefragt, als der Waldläufer schon etwas betreten wieder hatte gehen wollen, da er keine Antwort auf seine Frage erhalten hatte.

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154 „Ich fragte, wieso Du hier ganz allein sitzt“, wiederholte der Waldläufer. „Wir anderen sitzen alle am großen Grillplatz. Ich kam vorhin von der Jagd, ich habe einen Bären erwischt. War ganz schön anstrengend, das Tier herzuschleppen, dabei war der Bär noch recht jung.“

„Du hast einen Bären bis ins Dorf geschleppt? Allein?“, staunte Jade und betrachtete das Gesicht des Waldläufers, und auch seine breiten Schultern.

Der Waldläufer grinste dünn zurück und erwiderte: „Du hast mir abermals nicht geantwortet.“

Jades Lächeln verblühte im selben Moment, in dem auch der letzte, rosige Schimmer der Abendsonne verging. „Sieh doch mal genau hin“, hauchte sie und strich durch ihr schwarzes Nachtelfenhaar. Dann strich sie über ihren Bauch, der deutlich gewölbt war und sicher nicht zu ihren schlanken Armen und Beinen passte.

„Ich kann keinen Grund entdecken, wieso Du einsam und traurig sein müsstest“, sagte der Waldläufer sanft und legte Jade ganz vorsichtig die Hand auf die Schulter.

Erschreckt sah die Nachtelfin in den Bach und schwieg. Der Elf setzte sich zu ihr, aber nicht so nah, dass ihre Schenkel sich berührt hätten; er wusste durch die Gerüchteküche des Dorfes, dass sie das nicht mochte. Er zog sich ebenfalls die Stiefel aus und tauchte seine Füße ins glucksende Wasser.

Nach einer kurzen Weile brach Jade das Schweigen. „Sie reden über mich, als hätte ich etwas verbrochen“, berichtete sie niedergeschlagen. „Sie halten nicht mehr allzu viel von mir. Als sie mich zur Anführerin der Dorfwache gemacht hatten, um der Verräterin Talákir nachzufolgen, wussten sie ja noch nicht, dass ich ein paar Tage später mein blondes Haar gegen

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155ein schwarzes Leichentuch eintauschen würde, und auch noch schwanger von ... aus der Tiefenwelt heimkehren würde. Aber das hast Du ja sicher alles schon ganz oft von denen gehört.“

„Ja, allerdings“, stimmte der Waldläufer zu und kramte in einem kleinen Ledertäschchen an seinem Gürtel. Wortlos hielt er Jade ein kleines Kupferfläschchen mit einem Korken aus gerollter, fettiger Rinde hin.

Jade starrte es an wie eine Maus die Schlange. „Was ist das?“, fragte sie bebend, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.

„Wenn die Gerüchte stimmen, wie Du ...“, druckste der Waldläufer herum, „ich meine ... Also, Du musst es nicht bekommen. Du hast noch ein paar Wochen Zeit, bevor Du dies hier spätestens trinken musst. Doch wenn Du es bis zum nächsten Neumond nicht trinkst, ist es zu spät. Dann könnte Dich der Trank vielleicht umbringen. Jetzt würde es Dir nur ein paar Tage schlecht gehen, aber ...“

Jade umklammerte ihren Bauch und sah den Waldläufer mit einer Mischung aus Angst und Abscheu an, aber auch mit einer gewissen Dankbarkeit. Sie schüttelte jedoch den Kopf. „Nein, ich kann mein Kind nicht töten!“ Verzweifelt starrte sie den Waldläufer an. „Es lebt und bewegt sich in mir!“, rief sie leise, „ich kann es doch nicht töten!“ Was er ihr vorschlug, galt unter Elfen gemeinhin als Scheußlichkeit.

Der Waldläufer schaute mit gepresster Miene in den Bach. Ohne Jade anzublicken, raunte er: „Es ist aber nicht wirklich Dein Kind. Es ist ...“

„Ein Monster?“, schluchzte Jade und schlang die Arme noch enger um den Bauch. „Die anderen sagen das. Ich weiß es aber nicht!“, wisperte sie unglücklich und zog die Beine an.

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156 „Meine innere Stimme sagt, dass es ein unschuldiges Kind ist“, beharrte sie.

Der Waldläufer seufzte ganz leise. Mit ernstem Ton erklärte er dann: „Das Gerede wird nicht unbedingt besser, wenn Du das Kind bekommst. Und wenn es wirklich unschuldig ist – willst Du dem Kind ein Leben in diesem Dorf antun, mit diesem Gerede?“

Jade zog die Schultern hoch und schloss die feuchten Augen. „Was geht es Dich überhaupt an? Ich kann es nicht töten“, murmelte sie. „Aber fortgehen will ich auch nicht. Diese Sippe hier ist doch meine Heimat! Ich habe nichts falsch gemacht, wieso sind alle nur so eingefahren?“

„Einen Vater wird Dein Kind auch nicht haben, wenn Du weiter allein am Bach sitzen bleibst“, versetzte der Waldläufer, anstatt eine Antwort zu geben.

Als Jade gerade einen böswilligen Kommentar von sich geben wollte, spürte sie seine warme, kräftige Hand auf ihrem Rücken. Unschlüssig schaute sie zur Seite, wo der Waldläufer sie zaghaft anlächelte. „Wie heißt Du überhaupt?“, fragte sie etwas unwillig.

„Endáruel. Und Du heißt wie Deine Augen, Jade. Ein Menschenname, nicht? Aber er passt wundervoll zu Dir“, flüsterte der Waldläufer.

Jade musste gerührt lächeln und stammelte leise einen Dank. „Wieso gibst Du Dich mit mir ab? Du wirst Dir Deinen Status ruinieren“, raunte sie sarkastisch.

„Ich habe Dir schon immer gern zugesehen, bei was auch immer“, begann Endáruel geheimnisvoll. Als Jade ihn etwas seltsam musterte, wechselte er schnell das Thema. „Du sagst, es bewegt sich schon? Darf ich ’s mal fühlen?“, fragte er.

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15�Jade nickte mit einem verlegenen Strahlen. Zärtlich ergriff sie Endáruels Hand und legte sie auf ihren Bauch. Anders als Menschen, kannten Elfen kaum soziale Rituale und gingen offen und direkt miteinander um, folgten ausschließlich ihren Gefühlen, ohne viel zu denken.

Die Berührung ließ sie wohlig schaudern, auch wenn sie ihre Reaktion zu unterdrücken versuchte. „Ich glaube, es wird ein Junge. Er hat mich schon ein paarmal getreten“, flüsterte sie, während sie sich in Endáruels liebevollen Augen verlor und das berauschende Knistern seiner Nähe genoss. Sie schloss die Augen und legte den Kopf ein wenig in den Nacken, als seine Hand ihr Brustbein emporstrich.

Als Endáruel sie jedoch umarmen wollte und ihrem Gesicht näher kam, erschrak sie plötzlich – sie hatte ihre qualvollen Erinnerungen aus der Gefangenschaft der Tiefenweltler doch noch nicht unter Kontrolle. „Verzeih!“, schluchzte sie. „Ich sehne mich so sehr danach, aber ...“ Ihre Lippen wurden ein weißer, zitternder Strich.

Endáruel fuhr mit dem Zeigefinger die geschwungenen Linien ihres Ohres nach, während sie furchtsam von der Seite in sein Gesicht schielte. „Ich werde Dich schon ablenken und Dir neue Erinnerungen schenken“, flüsterte er und küsste nur ihre Hand.

Zu Tränen gerührt, wagte sie sich abermals in seine warmen Arme vor; als sie Angst bekam, hielten sie sich einander noch fester umschlossen, bis Jade sich in Endáruels Armen entspannen konnte.

Doch gerade als Jades Herz vor neuer Leidenschaft zu rasen begann und sie raubtierhaft Endáruels Blick fixierte, näherten sich Schritte. Jemand räusperte sich. „Wir essen

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15� schon. Kommst Du, Endáruel?“, fragte ein Elf, der Jade keines Blickes würdigte. Sichtlich pikiert musterte er jedoch den Waldläufer, wie er die Nachtelfin umschlungen hielt.

„Wir ... kommen gleich“, betonte Endáruel demonstrativ.Der Elf rührte sich für zwei Lidschläge überhaupt nicht.

„Wie Du meinst“, antwortete er dann hochnäsig und verschwand wieder.

„Geh nur“, seufzte Jade und löste sich von Endáruel.Er zog sie mit sanfter Bestimmtheit zu sich zurück. „Was

wäre ich für ein Vater, wenn ich so wenig zu Dir und dem Kind halten würde?“, fragte Endáruel achselzuckend. „Außerdem ist es jetzt eh zu spät, in wenigen Lidschlägen weiß das ganze Dorf Bescheid.“

Jade hielt die Spannung nicht mehr aus. Sie grub ihre Hände in Endáruels Haar und küsste ihn.

Die Nachtelfin schluchzte plötzlich laut genug, dass Mèra und Athónon sich ihr alarmiert zuwandten. „Was hast Du?“, fragte der Gnom mit so viel Anteilnahme in der Stimme, wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.

Jade schüttelte knapp den Kopf und winkte mit einem traurigen Lächeln ab. „Bloß Heimweh“, erwiderte sie sehnsüchtig und wischte sich über die Augen.

„Ich heiße Srrig“, sagte das Tigerwesen in der Dunkelheit.

„Du erinnerst Dich jetzt an mehr?“, fragte Taren. Er war unschlüssig, ob dies ein gutes oder schlechtes Zeichen war; rationale und gläubige Seite rangen in dem Tempelkrieger

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15�miteinander. Trotz der Dunkelheit spürte er, wie Srrigs gefährliche, tierhafte Ausstrahlung wuchs.

„Langsam aber sicher kommt mehr und mehr zurück, ja. Der Mann, den ich finden muss, heißt Randolph. Kennst Du diesen Namen?“

„Nein, nie gehört“, antwortete Taren nachdenklich.„Du bist also der Diener eines Gottes. Kannst Du

Deinen Gott bitten, uns eine Fackel zu schicken?“, fragte Srrig.

Taren schnaubte verächtlich und brummte: „Normalerweise würde er wohl antworten, dass niemand eine Belohnung verdient, der so dumm ist, dass er in eine stockdunkle Höhle ohne Fackel läuft, aber ... He!“

„Was ist?“, fragte Srrig aufgeregt.Mit einem seltsam gepressten Ton antwortete Taren: „Ich

habe gerade eine Fackel gefunden, bin draufgetreten.“ Der Tempelkrieger murmelte etwas – und die ölig riechende Fackel entzündete sich mit einer zischenden Stichflamme.

„Dein Gott ist mir sympathisch!“, meinte Srrig zufrieden.

Taren murmelte ein Dankesgebet, bevor er mit der Fackel über dem Kopf vorausging, die schwere Armbrust in der anderen Hand haltend, hinein in die Tiefe der Höhle.

Ein Schwarm Fledermäuse rauschte wie aus dem Nichts über ihre Köpfe hinweg, doch weder Srrig noch Taren war besonders schreckhaft, und so warteten sie einfach einen Moment, bis die Tiere fort waren.

„Wer hier wohl sonst noch wohnt?“, wunderte sich Srrig und klang beinahe neugierig, während Taren der Gedanke

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160 überhaupt nicht gefiel, dass sie hier vielleicht nicht mit den Fledermäusen allein waren.

„Wenn Vater das erfährt, wird er Dich in der Hütte festbinden!“, rief Lishárial und blickte zu ihrer Halbschwester hoch.

Laura wirbelte herum und sprang so dicht auf ihre kleine Schwester zu, dass diese erschrocken zurückwich. „Vater ist nicht da!“, rief sie und drückte Lishárial den Zeigefinger auf die Stirn. „Ich bin fort, bis er wiederkommt. Petz ihm ruhig alles, aber er wird mich nicht einholen!“, giftete Laura das Mädchen an. Etwas ruhiger fügte sie hinzu: „Geh endlich ins Bett, es ist schon spät.“

Lishárial zog einen Schmollmund und stampfte zornig mit dem Fuß auf.

Die Halbelfin warf sich einen vollgepackten Lederrucksack auf den Rücken und band sich um die dunklen Lederbeinlinge einen breiten Gürtel, an dem eine lederne Schwertscheide baumelte. Andächtig ergriff sie dann ein eisernes Kurzschwert, eine Menschenwaffe, und betrachtete es.

Die Klinge war nicht sehr breit und schien nicht sehr spröde. Laura kannte sich mit Eisen nicht aus, hatte aber mal gehört, dass nur mehrfach gefaltetes Eisen eine solche Qualität erreichte. Ungefaltete Eisenklingen waren oft handbreit, somit schwerer, und brachen schneller.

Der Griff bestand aus zwei Hälften eines prächtigen Hirschhorns, die das Eisen umschlossen. Vier Eichenstifte

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161waren mit einem Holzhammer durch die Griffhälften und die vorgesehenen Löcher im Eisen getrieben worden, um den Griff unlösbar an die Waffe zu binden, ganz egal wie hart damit zugeschlagen wurde. Am Knauf teilte sich das Horn, und obgleich die sich verjüngenden Hälften unterschiedlich waren, besaßen sie die natürliche Ästhetik des Hirschgeweihs, von dem sie stammten. An der Oberseite des Griffes diente ein massiver Bronzeklotz als Handschutz und Parierscheibe. Laura empfand die Eisenklinge trotz der Faltung noch als breit und dick. Der Lohn für die schwere Klinge war ihre Stabilität. Die Seiten der Klinge waren dünner als der Rest, aber nicht wirklich scharf. Sie dienten dazu, feindliche Hiebe zu parieren oder eine Metallrüstung zu durchschlagen, nicht so sehr dem Schneiden. Die Spitze der Waffe dagegen, in Form eines Dreiecks, war bestens geschärft. Sie diente dazu, Leder, Kleider und ... Fleisch zu durchbohren und mit Leichtigkeit zu zerteilen.

Laura schluckte schwer. Diese Waffe war kein Übungsgerät aus Holz mehr; sie war auch kein Werkzeug und keine Jagdwaffe für Tiere. Sie diente einem einzigen Zweck: einem anderen Zweibeiner das Leben zu nehmen. Selbst wenn er dagegen vorbereitet war. Wenn Laura diese Waffe wirklich einsetzte, waren Spiel und Übung vorbei und tödlicher Ernst hatte begonnen. Niemand würde dann „Stopp!“ rufen und alle – gespielte – Gefahr wäre vorbei, wenn sich jemand einen Knöchel verstauchte oder sich einen blutigen Finger holte.

Die Waffe gehörte ihrem Vater. Laura fragte sich unwillkürlich, woher die Kerben in den Klingenseiten

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162 und in der Spitze stammten, und ob schon einmal Blut am Eisen gehaftet hatte. Überhaupt konnte sie sich nicht vorstellen, weshalb ihr Vater ein Mordinstrument der Menschen besaß. Sie hatte ihn nie zu fragen gewagt. Vielleicht wollte sie es nicht wissen, war ihr Vater für sie doch der Inbegriff alles Reinen und Guten und niemand, der in der Lage sein konnte, das Blut anderer Elfen, oder auch nur Menschen zu vergießen.

Die Halbelfin wollte unbedingt eine große Kriegerin werden und Abenteuer erleben – wie ihre Mutter. Doch jetzt plötzlich zog sich ihr Magen zusammen und sie stellte sich vor, wie dieses Mordwerkzeug in ihrer Hand warmes Blut verspritzte, Knochen brach oder das Fleisch eines anderen Elfen zerschnitt und zerriss.

Lishárial holte mehrmals Luft, als wollte sie etwas sagen, doch sie tat es nicht. Sie war konfliktscheu wie die meisten Elfen.

Lauras Miene wurde entschlossen und hart, als sie die wertvolle Menschenwaffe einsteckte. Ohne ein Wort wandte sie sich zum Gehen, obwohl ihre Knie weich geworden waren und sie Übelkeit im Hals spürte.

Lishárial wisperte leise: „Ist das Mutters zweites Kettenhemd, was Du da unter der Tunika trägst? Ist das auch aus diesem grau glitzernden, stinkenden Metall gemacht?“

Laura sah ihre kleine Schwester überrascht an und nickte. „Ja, auch aus Eisen“, antwortete sie. „Nicht alles, was von Menschen stammt, ist schlecht für Elfen, ob Du ’s glaubst oder nicht.“ Sie betastete demonstrativ ihre Ohren,

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163die zu kurz und zu rundlich waren, als dass es reinblütige Elfenohren hätten sein können. Und auch ihr oftmals ungestümes Verhalten galt im Dorf als höchst unelfisch.

Lishárial druckste herum und schlang die Arme um ihren eigenen, dünnen Körper. Laura beugte sich zu ihr herab und küsste sie hastig auf die Stirn. „Ich komme wieder, und Mutter bringe ich mit. Gib Vater einen Kuss von mir. Sag ihm, ich leihe mir seine Waffe selbstverständlich nur aus.“

Eilig hangelte die Halbelfin sich die Strickleiter aus der Hütte hinab und sprang in den Sattel des paratstehenden Rappens. An kurzen Zügeln, beinahe Kopf an Kopf mit dem Tier, sprengte sie aus dem Dorf. Einige verdutzte Elfen konnten sich gerade noch aus der Bahn werfen.

Als Jade zusammengerollt schlief und Athónon mit der Nachtwache an der Reihe war, setzte er sich zu Mèra und fragte leise: „Wieso habt Ihr Jade erzählt, Ihr würdet sie wegen ihres Dämonengespürs brauchen? Ihr könnt das selbst viel besser, ohne aufwendige Magie.“

Mèra setzte sich auf und nickte. „Wir werden sie brauchen, wenn auch nicht dafür. Vertraut mir, mein Freund.“

„So wie Meister Tugibenn damals ,gebraucht‘ wurde?“, zischte Athónon kalt.

Mèra sah überrascht in das wutverzerrte Gesicht des Gnoms. Plötzlich wurde sie distanziert. Sie fuhr sich mit den Händen langsam durch das graublonde Haar, bevor

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164 sie weiterredete. „Die Antwort ist ,Ja‘, Athónon, und es tut mir wirklich – “

Athónon wirbelte auf der Stelle herum und rüttelte Jade wach. „Reite sofort zurück zu Deiner Familie! Sonst wird dies Deine letzte Reise! Bitte höre auf mich!“

„Was?“, murmelte Jade nur verschlafen und rieb sich die Augen.

Auf Athónons Rucksack schlafend lag Taffi. Das Chamäleon erwachte nun, hob den Kopf und horchte, was vorging. Von Zeeris war nichts zu sehen oder zu hören.

Athónon packte Jades Gesicht mit beiden Händen und sah sie eindringlich an. Seine faltigen Augenschlitze wurden etwas größer. Er wiederholte: „Reite sofort zurück! Sie will Dich opfern, aber das lasse ich nicht zu.“

Erschrocken starrte Jade zwischen Athónon und Mèra hin und her. Mèras Blick auf Jade war hart wie Stein.

„Was geht hier vor?“, flüsterte Jade ungläubig.„Reite nach Hause!“, rief Athónon abermals und ließ

sie nun los.Jade erhob sich. „Mèra?“, fragte sie unsicher in deren

Richtung und rieb unbewusst die Hände ineinander.Mèra stand jetzt ebenfalls auf. Sie schloss die Augen

und legte den Kopf in den Nacken. Ihre Arme hingen reglos herab. Nach einem kurzen Moment flüsterte sie, ohne die Augen zu öffnen: „Meine Vision ist unverändert. Geh nach Hause und lebe mit Deiner Familie, noch für ein paar Jahre. Dann werdet Ihr alle sterben. Oder geh mit uns und finde auf der Reise den Tod. Aber rette dadurch Deine Familie und die freien Völker.“ Nun öffnete Mèra die Augen und sah Jade ungerührt ins Gesicht. „Ich wollte

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165Dir diese Gewissheit ersparen, weil ich Dein Herz und Deine Wahl kenne.“

Jade taumelte zurück und starrte furchtsam ins Leere. Langsam hob sie die Hände vor ihr Gesicht und stürzte rücklings zu Boden. Athónon setzte sich neben sie, mit seiner Miene aus Stein, und nahm sie in den Arm.

Jades leises Schluchzen schien Mèra nicht anzurühren, sie wandte sich ab. Sie roch Jades Angst und Athónons Zorn, so deutlich, als hätten sie es ihr ins Gesicht geschrien. Mèras Blick striff über den Nachthorizont, über die dunklen Wolkenschiffe und zu den Sternen empor, zu den Göttern, denen Zeit noch weniger als ihr bedeutete. Sie flüsterte uralte Worte, die Athónon zwar hörte, aber nicht verstand. Die Worte klangen wütend, gleichzeitig aber distanziert. Wie von jemandem, der die Wut nicht ehrlich fühlte.

Taffi sah die Zweibeiner im steten Wechsel stumm an.Plötzlich erschien Zeeris neben Mèra und schwebte vor

ihrem Gesicht. Das grau-rote Teufelchen verschränkte im Fliegen die Arme und zog einen Schmollmund. Mèra legte nur abwartend den Kopf schräg.

„Also, ich finde das gemein von Dir, so was zu sagen!“, krähte Zeeris. „Cesius hat mal gesagt, dass es immer eine Wahl gibt! Weil das Schicksal nie feststeht!“

Mèra hauchte eisig zur Antwort: „Ja, richtig, es gibt immer eine Wahl. Die Frage ist jedoch, ob uns die Alternative besser gefallen würde.“

„Du entscheidest einfach so über unser Leben und fragst vorher nicht mal kluge Wesen wie Athónon oder Taffi!“, protestierte Zeeris unbeholfen.

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166 Mèra konnte nicht recht lächeln. Sie wusste, dass Zeeris innerlich durchaus klar war, dass die Halbgöttin auf viele Jahrhunderte Lebenserfahrung zurückgriff.

Laura hatte das Dorf inzwischen weit hinter sich gebracht und ließ ihren Rappen gehen, damit er sich etwas ausruhen konnte. „Wie weit sind die denn noch gekommen, verdammt?“, murmelte sie zu sich. Der Rucksack der Halbelfin schaukelte hinter ihr ein wenig am Sattel, wo sie ihn festgebunden hatte. Hin und wieder drehte sie verschreckt irgendeinem Gebüsch am nächtlichen Wegrand das Gesicht zu, weil sie ein Geräusch gehört hatte. Doch oft genug ließ das monotone, dumpfe Klopfen der unbeschlagenen Pferdehufe sie abschweifen.

Sie stellte sich vor, wie sie mit dem wertvollen Eisenschwert ihres Vaters und mit dem Kettenhemd ihrer Mutter einem Chimärier gegenüberstand. Malte sich mit grimmigem Lächeln aus, wie sie die Bestie in einem harten Kampf voller heldenhafter Manöver endlich erschlug und alle Elfen sie dann bewundern würden, wenn sie den Drachenkopf mit in ihr Dorf brachte. Daran, dass sie ihre Eltern bestohlen hatte und wie sie sich diesbezüglich erklären würde, dachte sie kaum, solche Einzelheiten verdrängte sie konsequent.

Sie war nie ein beliebtes Kind gewesen. Als sie noch zu jung für die Wahrheit gewesen war, hatte sie ganz besonders darunter gelitten, denn sie hatte einfach nicht verstehen können, was sie falsch machte, und ihrer Mutter

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16�nie geglaubt, dass es nichts sei: Wenn sie kaum jemand richtig leiden konnte, musste doch etwas nicht stimmen. Sollten das wirklich nur die etwas zu kurzen Ohren sein? Mit vierzehn Jahren erst hatte sie die Wahrheit erfahren, seit fünf Jahren lebte sie nun damit. Wirklich leichter geworden war ihr Dasein in dem kleinen Dorf dadurch nicht. Sie war die beste Dorfwache ihres Jahrgangs und gewann dank ihrer starken Menschenhälfte im sportlichen Ringkampf sogar gegen die meisten Jungen ihres Alters. Nicht wenige Elfen benutzten das allerdings erst recht, um sie hinter vorgehaltener Hand als Monster und Barbarin hinzustellen.

Laura hatte von ihrer Mutter schon früh gelernt, nicht nur auf Technik und eine Waffe allein zu setzen, sondern auch zu ringen und zu raufen und Schläge und Tritte einzusetzen, wenn sie mit der Waffe nicht weiterkam. Die anderen Elfen betrachteten solch eine Kampfweise als barbarisch, untechnisch und ineffektiv, selbst wenn sie Jade diese Kampfweise als Kriegserfahrung zugestanden. Doch jedes Mal, wenn jene Elfen gegen Laura im Übungskampf verloren, schoben sie ihre Niederlage auf die blendende Sonne, auf einen Kiesel im Schuh oder sonst etwas. Oder auf Lauras „barbarisches Erbe“. Laura schmunzelte in sich hinein. Es genügte ihr meist, dass sie und ihre Mutter es besser wussten.

Richtig unbeliebt war Laura aufgrund ihrer dreckigen Kampfweise jedoch erst vor zwei Jahren geworden, als sie der schönsten und beliebtesten Elfin der Dorfwache versehentlich die Nase gebrochen hatte. Laura hatte ihren Fausthieb abstoppen wollen, doch die Gegnerin

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16� war genau hineingerannt und dann betäubt und weinend niedergesunken. Bis hierhin wäre Laura der Unfall vielleicht von ihren Altersgenossen noch verziehen worden. Doch da die Halbelfin ihre Gegnerin aufgrund ihres affektierten Gehabes – und ihres weitaus größeren Erfolgs bei den Jungen – nicht leiden konnte, war ihr zu allem Unglück ein überaus schadenfroher Kommentar herausgerutscht.

Egal wie richtig und vorsichtig Laura fortan in einer Übungskampfsituation reagiert hatte, sobald sie die Füße oder Fäuste auch nur andeutungsweise eingesetzt hatte, war das Geschrei groß gewesen.

„Pah, neidisches Pack! Ich kehre als Heldin zurück, dann habt ihr alle den Mund zu halten!“, knurrte sie leise zu sich. Schon schweiften ihre Gedanken wieder ab.

Plötzlich standen zwei bärtige Männer auf dem Weg, äußerst kräftige Menschen. Sie hatten Muskeln wie Laura sie bei Elfen nie gesehen hatte, nicht einmal bei ihrem Ziehvater Endáruel. Laura hatte immer geglaubt, ihre Mutter wollte ihr mit solchen Geschichten bloß Angst machen. Nun schien es, als hätte sie recht gehabt. Auch Bärte hatte Laura noch nie gesehen, denn Elfenmänner bekamen keine und Athónon hatte sie bloß kurz von hinten gesehen.

Der dunkelhaarige Mensch hielt einen Bogen in der Hand und hatte einen Pfeil mit Kupferspitze locker auf der Sehne liegen. Zum Wegreiten war es also zu spät, sollten diese Männer feindlich gesonnen sein. Der andere, blonde Mensch hielt einen dicken Speer mit einer langen, grün angelaufenen Bronzespitze vor sich. Durch die nächtlichen

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16�Schatten sahen ihre haarigen, verschmierten Gesichter noch brutaler und furchteinflößender aus.

„Na sieh mal einer an! Eine Elfin ganz allein unterwegs, mitten in der Nacht“, spottete der Dunkelhaarige mit dem Bogen. Sein Elfisch war derb und breit, aber verständlich. Sein Fellwams wies einige kleine Löcher auf, umrandet von getrocknetem Blut.

Der Blonde, der mehrere Narben im Gesicht hatte, fügte mit demselben Akzent hinzu: „Ja, lecker, aber was das Pferd erst wert sein muss!“ Er stellte den Speer auf den Boden und stemmte eine Hand in die Hüfte, als sei er zum Plaudern hier.

Der Dunkelhaarige redete weiter: „Erzähl mal, was Du da so im Rucksack hast, Elfin!“

Laura zog das eiserne Kurzschwert langsam aus der Lederscheide. Ihre Lippen bildeten einen schmalen, weißen Strich. Die Augen waren weit aufgerissen. Ihr Herz jagte so wild, dass sie es in der Kehle noch schlagen spürte; Übelkeit kroch herauf. Die Gewissheit schlug in ihr Bewusstsein ein: Feinde!

Die beiden Menschen wurden ernst. Der Dunkelhaarige spannte den Bogen und zielte auf Laura. „Sei nicht dumm“, knurrte er.

Wie hätte Lauras Vater Endáruel reagiert, der Besitzer der Waffe in ihrer Hand? Und wie ihre Mutter, die große Kriegerin?

Laura schwang ohne erkennbare Eile ein Bein über den Kopf ihres Rappens und registrierte mit stiller Belustigung, wie die Blicke der Männer dabei zwischen ihre Schenkel glitten. Die Halbelfin rutschte vom Sattel und tätschelte

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1�0 mit der freien Hand den Hals des Pferdes. Sie lächelte kühl und wartete ab.

Innerlich jedoch raste ihr Herz in Panik. Sie hielt das Mordwerkzeug in der zitternden Faust. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der tödliche Ernst hatte sie eingeholt und übermannt.

„Ihr wollt mich doch noch gar nicht töten“, wollte Laura den Männern spöttisch zurufen. Doch ihre Stimme brach und versagte nach drei Worten. Bei den Übungen der Dorfwache war das viel leichter gewesen.

Die beiden Männer sahen sich kurz an und lachten gehässig. „Wirf die Waffe weg, dann tut es nicht weh“, rief der Blonde.

Laura schluckte mehrmals schwer und fühlte, wie ihre Beine immer weicher und tauber wurden, aber auch leichter. Das Blut rauschte lautstark in ihren Ohren. Sie sah keinen Ausweg. Tränen begannen in ihren Augen zu brennen und ihre Lippen verzogen sich, so sehr sie sich auch zu beherrschen versuchte.

Der Blonde meinte im Plauderton zu seinem Kumpan: „Du könntest ihr auch ins Bein schießen, ich fange dann das Pferd ein.“

„Gute Idee!“, sagte der Dunkelhaarige und schoss.Gleichzeitig mit Lauras Schmerzensschrei ging wiehernd

der Rappen durch und galoppierte davon.„Verdammt, das schöne Pferd!“, fluchte der Blonde und

gab seinen Sprint schon nach wenigen Metern wieder auf. Jenseits der Elfendörfer waren Reitpferde dieser Größe äußerst selten, anderswo gab es oft nur Ponys oder Esel.

„Ja, und wer weiß, was in dem Rucksack gewesen wäre.

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1�1Na, wenigstens haben wir das Mädchen“, brummte der Dunkelhaarige und beobachtete Laura. Die Halbelfin wandte sich vor Schmerzen am Boden und umklammerte den Pfeil in ihrem Bein mit beiden Händen. Das Schwert lag neben ihr.

„Bist ganz schön kräftig für eine Elfin!“, meinte der Blonde und kam näher.

„Hat man zur Abwechslung mal was in der Hand“, warf der Dunkelhaarige ein. „Du bist ’n Bastard, nich’? Ein Mischling!“

Wütend und ängstlich zugleich starrte Laura die Angreifer an. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass man Schmerzen erst nach einem Kampf richtig spürte, nicht, während es noch um Leben und Tod ging – da erlaubte der Körper dem Geist das Denken und Fühlen nicht. Aber wie es ihr schien, befand Laura sich schon nach dem Kampf – und hatte verloren.

„Kommt nur her! Ich beiße Euch alles ab, womit Ihr mich berühren wollt!“, zischte sie verzweifelt und weinerlich, ohne die Augen von ihrer Wunde zu nehmen.

„Oho!“, rief der Blonde und „Hört, hört!“ sein Kumpan.

Der Blonde packte den Speer und hielt Laura die scharfe Spitze an die Kehle. Er war dennoch so weit weg, dass Laura ihn nicht mal mit dem großen Zeh hätte erreichen können. Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich mit aller Kraft, nicht laut loszuschluchzen.

Der Dunkelhaarige schlenderte neben sie und hob das Schwert auf. „Eisen! Sehr beeindruckend. Woher hat eine Elfin gefaltetes Eisen, frage ich mich? Ihr bearbeitet doch

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1�2 gar keine Metalle.“ Der Mensch kniete sich neben sie. „Rede! Woher hast Du diese Waffe?“

Laura funkelte ihn feindselig an. In einem Anflug von Mut spuckte sie ihm ins Gesicht, trotz des Speeres an ihrer Kehle. Sofort verstärkte der Blonde den Druck, ritzte ihre Haut, und Laura versteifte sich wieder ängstlich. Mied erneut jeden Augenkontakt.

„He, und was ist das? Ein Kettenhemd aus Eisen!“, rief der Dunkelhaarige begeistert und schob Lauras Tunika hoch. „Vermutlich etwas zu eng um die Schultern, aber könnte meine Größe sein! Sehr aufmerksam, mir das zu bringen, Mädchen.“

„Finger weg!“, zischte Laura verzweifelt und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Hiflose Panik tobte in ihrem Geist, doch sie konnte nichts tun und war gelähmt vor Angst. Verlor sie jetzt die wertvolle Waffe ihres Vaters und das ebenso teure Kettenhemd ihrer Mutter? Wie konnte sie sich im Anblick von Qual und Tod darüber Sorgen machen?

„Finger weg? Sonst was?“, spottete der Dunkelhaarige böse und schob seine verschmierten Hände unter die dritte Kleidungsschicht, unter den Leinenstoff, der das Kettenhemd von der Haut trennte. „Oho, sind das etwa Bauchmuskeln?“, höhnte er und nickte anerkennend. Sein gieriger Blick und seine Finger strichen langsam unter ihren Hosenbund, eine schwache Schmutzspur auf ihrer Haut hinterlassend. Seine andere Hand, verdreckt und nach Erde und Metall riechend, rieb er übertrieben in Lauras Haar und auf ihrer Wange, bevor er sich demonstrativ auf ihrem Solarplexus abstützte.

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1�3Die Halbelfin presste die bebenden Lippen aufeinander und starrte stur in den Himmel. Sie nahm allen Mut zusammen, schnaufte immer schneller. Die Männer wurden stutzig. Plötzlich schlug Laura mit der flachen Hand den Speer zur Seite, mit der grünbraunen Spitze direkt ins Gesicht des Dunkelhaarigen. Blut spritzte, der Mann hielt sich kreischend die Hände über die Augen und fiel zappelnd auf den Rücken.

Der Blonde versuchte mit grimmiger Miene, den Speer zurückzudrücken, um Laura zu erstechen. Doch ohne näher zu kommen, war der Hebel einfach zu lang für ihn. Lauras Kraft und blanke Angst reichten zusammen aus, den Speer von sich fortzudrücken. Der Blonde sprang vor und trat Laura gegen das verwundete Bein, knackend brach der Pfeil ab.

Die Halbelfin schrie kläglich und bäumte sich auf, was dem Blonden ein genussvolles, sadistisches Grinsen entlockte. Er trat ihr in Bauch und Rippen. Noch während sie vor Schmerz und Atemnot hilflos zitterte, stach er ihr den Speer in die linke Schulter. Laura schrie noch jämmerlicher, aber der Blonde bekam nicht genug. Er trat Laura mit vollem Gewicht auf den Brustkorb, sodass sie atemlos röchelte und die Augen weit aufriss. Hoch über ihr aufgerichtet, packte der Blonde den Speer fester und rammte ihn dann mit seinem gesamten Körpereinsatz durch Lauras Schulter in den Boden, um sie festzunageln. Laura zuckte nur noch tonlos und verdrehte die Augen. Der Blonde starrte sie lüstern an und schob den Unterkiefer vor.

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1�4 Der Dunkelhaarige lag inzwischen still auf dem Rücken und hielt sich noch immer die blutigen Finger vors Gesicht. „Meine Augen! Das Biest hat meine Augen erwischt!“, heulte er leise durch die Hände.

„Sie wird bitter bezahlen!“, knurrte der Blonde und hockte sich neben seinen Kumpan, Laura hinter sich lassend.

Widersinnigerweise fühlte die Halbelfin jetzt weniger Schmerzen als zuvor, in der Tat so, wie es ihre Mutter beschrieben hatte. Laura fühlte allerdings auch sonst nicht mehr viel, außer dass sie abzudriften begann. Sie verlor allmählich das Bewusstsein. Gerade als sie loslassen und aufgeben wollte, bäumte sich ihr Wille noch einmal auf. Sie spürte, dass der Speer in ihrem Fleisch steckte und sie ihren linken Arm kaum bewegen konnte. Aber ihr Blut rauschte so wild und kampfbereit in ihren Ohren, dass ihr schierer Überlebenswille die Schmerzen überlagerte. Sie wusste, dass sie Schmerzen hatte und verletzt war, dass sie blutete – aber sie konnte jetzt nicht mehr denken. Sie konnte nur noch kämpfen. Jeder Gedanke wurde gewaltsam abgewürgt. Ihr jagendes Herz drohte ihr aus dem Hals zu springen. Ihr Körper schob jede Empfindung und jeden Gedanken zur Seite, der sie am Überleben hätte hindern können. Ihr menschliches Erbe sollte ihr das Leben retten, wo eine reinblütige Elfin in diesem Augenblick aufgehört hätte zu atmen.

Als der Blonde das scharrende Geräusch und das unterdrückte Stöhnen hinter sich registrierte, bäumte Laura sich bereits brüllend auf und ließ ihren Dolch aus Feuerstein niederrasen. Hinter dem Rücken im Gürtel

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1�5hatte sie ihn versteckt mit sich getragen. Der Speer steckte noch immer in ihrer Schulter, sie hielt ihn mit der anderen Hand fest. Sie hatte kaum Kontrolle über ihren Angriff und beobachtete sich selbst etwas überrascht.

Der Blonde warf sich erschrocken und ungläubig zurück. Laura war jedoch schneller und schnitt ihm tief in die Schulter. Sie kroch dem rücklings kriechenden, aufschreienden Gegner wutschäumend nach. Ihre Pupillen waren nur noch winzige Pünktchen. Laura holte erneut aus, aber der Blonde warf sich jetzt mit Schwung ganz auf den Rücken, und den Schwung ausnutzend, trat er Laura mit der Spitze des schweren Stiefels vor den Kopf. Die Halbelfin stürzte ohne Schmerzensschrei auf die Seite. Betäubt blieb sie liegen, der lederne Dolchgriff lag in ihrer schlaffen Hand.

„Jetzt bring ich Dir Manieren bei!“, grunzte der Blonde und packte gierig Lauras Hüfte, wie ein Verhungernder, der plötzlich ein saftiges Steak vom Feuer greifen konnte. Mit seinem Körpergewicht stieß er sie ungestüm auf den Rücken. Dann riss er den Speer brutal aus der spritzenden Wunde und schob mit seinen Füßen Lauras Beine auseinander. Gerade als er den Speer achtlos weggeworfen hatte und ihre Hand mit dem Dolch packen wollte, zuckte Lauras Waffe unter seinem Daumen hinfort und rammte den scharfen Feuerstein in seine Leiste. Das Blut schoss wie eine Fontäne aus seiner Beinschlagader. „Du ...“, knurrte er und holte mit der Faust aus, unfähig, den nahen Tod zu erkennen. Laura stach wieder und wieder zu, warme Blutstrahlen schossen auf ihren Bauch und ihre Beine. Ihr

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1�6 Geist war ausgeschaltet und verstand nichts davon mehr, die Halbelfin war bloß noch ein Körper, der mit tierhafter – menschlicher – Wildheit ums Überleben kämpfte. Und da war noch etwas ... doch sie verdrängte es.

Endlich brach der Blick des Blonden und er kippte auf die Seite. Seine erschlaffte Faust fiel auf Lauras Hüfte, als wollte er sie selbst im Sterben noch zu packen bekommen.

Der Dunkelhaarige sprang blind auf und rannte weg, doch er knallte prompt mit der Stirn gegen einen Baum direkt vor sich. Hysterisch fluchend drehte er sich im Kreis, warf sich auf alle viere – und ertastete zufällig seinen Bogen samt Köcher. Hastig legte er einen neuen Pfeil auf und zielte nach Gehör. „Dich kriege ich, verfluchtes Miststück!“, flüsterte er außer Atem. Gleichzeitig spitzte er die Ohren und drehte den Kopf ruckartig mal hierhin, mal dorthin, um zu lauschen.

Laura saß nur zwei Schritte von ihm entfernt. Sie wollte vor Schmerzen schreien, die jetzt ihr zurückkehrendes Bewusstsein überfluteten. Oder gleich aufgeben, sich einfach fallen lassen. Doch sie hielt den Atem an. Irgendwoher hatte sie noch immer Kraft ... Sie saß genau vor dem Pfeil, gerade zu weit weg, um ihn zu berühren. Ihr linker Arm hing nutzlos und taub herab. In der Rechten hielt sie zitternd den Dolch.

Der Dunkelhaarige horchte angestrengt. Laura wankte vor Schwindel durch das Luftanhalten. Andere Elfen in ihrem Zustand hätten nicht mal mehr gelebt.

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1��Der Pfeil würde ihre Brust durchbohren, wenn der Dunkelhaarige einfach nur losließ. Laura konnte den Atemreflex bei aller Willensstärke nicht länger unterdrücken. Sie sog gierig Luft ein – der Dunkelhaarige schrie triumphierend und ließ den Pfeil los. Laura ließ sich im selben Moment auf die Seite fallen, doch der Pfeil erwischte sie. Durchbohrte ihre Hüfte.

Die Halbelfin wimmerte elendig und krampfte sich vor Schmerz am Boden zusammen. „Jetzt ist es endgültig vorbei!“, dachte sie.

Der Dunkelhaarige brüllte irrsinnig, als er aufsprang und wahllos auf dem Boden herumstampfte, bis er Lauras Bauch traf und sie zum Würgen brachte. Sie konnte sich durch den Pfeil nicht wegrollen und sie konnte nicht mehr aufstehen. Ihre zitternde rechte Hand hielt sie mitsamt Dolch vors Gesicht. Sie konnte nur noch verzweifelt auf ein Wunder hoffen und sich ihrer Panik überlassen. Wieder entfernte sich alles von ihr, sie fühlte immer weniger. Ihr Bewusstsein drohte ins Nichts zu driften, trotz all ihrer unelfischen – unnatürlichen – Reserven.

Der nächste Tritt traf sie am Kopf. Eine innere Explosion zündete und betäubte Laura vollends. Sie riss die Augen mit Gewalt auf, doch ihr Blick war unscharf und glasig. Sie wusste nicht, weshalb sie das Bewusstsein nicht endgültig verlor ... Sie wusste nicht, wie viel Glück sie hatte, dass der nächste Tritt danebenging. Aber sie wusste, dass sie verschwommen den Dolch in ihrer Hand sah. Laura fühlte nichts mehr, ihr Körper war am Ende. Sie stach einfach zu, sie konnte nur noch diesen Arm bewegen.

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1�� Sie traf die Wade des Dunkelhaarigen – was nichts zu bewirken schien. Sein nächster, besonders ungestümer Tritt ging wieder daneben, doch diesmal stach Laura ihm ins Knie des anderen Beines. Der Dunkelhaarige warf sich rückwärts von Laura fort und kreischte vulgäre Flüche. Auf allen vieren kroch, zuckte und rutschte er davon, so schnell er noch konnte.

Fast augenblicklich mit der Erkenntnis, dass der Kampf vorbei war, loderten unsägliche Schmerzen in Lauras Körper auf – oder jedenfalls konnte die Halbelfin sie jetzt wieder bewusster wahrnehmen. Sie wollte schreien, stöhnte jedoch nur jämmerlich. Übelkeit würgte sie.

Allmählich konnte sie ihre Umgebung wieder erahnen, wenn auch von bunt flackernden Schlieren durchzogen. Bebend und zitternd vor Hass, mit allerletzter Kraft, schob sie sich auf die Knie und kroch auf den blinden, unentwegt wimmernden und fluchenden Feind zu. Dieser versuchte, sich um eine umgestürzte Buche herumzutasten. Er konnte nicht mehr aufstehen. Wälzte sich vor Wut und Panik am Boden. Er fand keinen Weg um den langen Baumstamm.

Laura erholte sich zwei Lidschläge lang. Staunte selbst über ihre Zähigkeit. Dann kroch sie Handbreit für Handbreit weiter auf den Feind zu. Ein Bein konnte sie wegen des Pfeiles kaum anziehen. Doch schließlich war sie neben ihm.

Der Dunkelhaarige hörte plötzlich Lauras schweren, hassbebenden Atem an seinem Ohr und erstarrte. „Oh, verd...“

Laura rammte ihm den Dolch in die Kehle. Warmes Blut spritzte ihr über Hand und Arm, dabei verlor sie

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1��beinahe wieder das Bewusstsein und fühlte ihren Magen rebellieren. Kein Gedanke über die Kaltblütigkeit dieses Momentes entstand in ihr, auch kein Zweifel über ihr moralisches Recht zu dieser Hinrichtung.

Sie rollte sich stöhnend auf den Rücken und flüsterte zu sich selbst: „Ich habe gewonnen! Ich kann jetzt nicht plötzlich aufgeben!“ Ihre tauben Finger ließen den Dolch los und umklammerten die durchbohrte Schulter, in der etwas Grünspan zurückgeblieben war. Laura erschrak, als sie das warme Blut durch ihre Finger strömen fühlte. Unter ihr quoll es bereits bis an ihren Nacken. Es kitzelte mit einer seltsamen Todesgewissheit. Als sie ihre Beine kaum noch spürte, wusste sie endgültig, dass sie nicht überleben konnte und verbluten musste. Tränen brannten in ihren Augen, aber selbst jetzt war sie noch zu stolz, um laut zu schluchzen. Ihre elfische Seite hingegen konnte nicht fassen, was sie getan hatte und vor allem wie sie es getan hatte. Doch ihre elfische Seite wäre auch schon lange vorher gestorben und hatte sich gefälligst nicht zu beschweren – nicht während der wenigen Lidschläge, die Laura noch blieben, um zu triumphieren.

Wenigstens würde man sie neben den Leichen zweier muskelstrotzender, bewaffneter Menschenkrieger finden, die sie allein besiegt hatte. Sie war nicht mehr die kleine, jugendliche Tochter der Anführerin der Dorfwache. Und auch nicht mehr die barbarische, ungeliebte Halbmenschin. Sie war ganz allein eine respektierte, richtige Kriegerin geworden. Jedenfalls redete sie sich ein, dass man sie im Dorf nun so sehen musste. Sie war so gut

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1�0 wie tot, sie hatte das Recht, sich ihre letzten Gedanken angenehm zu gestalten. Sie bäumte sich schwach auf, als sie sich übergeben musste, verschluckte sich, spuckte die Essensreste neben sich. Schlagartig erschlaffte sie danach, ihre allerletzte Kraft war aufgebraucht.

Sie fror, als ihr Schweiß und das Menschenblut überall auf ihr kalt wurden und sich mit ihrem eigenen Blut mischten. Sie wollte schreien vor hilfloser Wut, oder fortkriechen, irgendwohin, wo man sie vielleicht sah. Doch sie konnte nur noch leise stöhnen, während ihre bleiernen Lider zufielen und der Wind immer leiser und ferner zu rauschen schien. Ein Hauch von Flieder tröstete sie für die wenigen Herzschläge, die sie ihn noch wahrnahm.

Als Laura die Augen wieder aufschlug, wurde sie von mildem, rotem Morgenlicht gestreichelt. Sie sah einen jungen Elfenmann über einer kleinen Grube knien und verzweifelt Holz reiben, um ein Feuer zu entfachen. Nicht alle Elfen konnten zaubern. Der Fremde trug nur einen Lendenschurz und Lederstiefel, ansonsten war er nackt. Laura vermutete, sie hätte ihn durchaus im Ringen besiegen können, so wie er gebaut war. Jedenfalls, wenn sie gesund und ausgeruht gewesen wäre.

Kraftlos hauchte sie: „Wieso hast Du Stiefel, aber keine Hose?“

„Oh, Du bist wach! Der Natur sei Dank, bist Du jung und sehr stark!“, rief der Elf, ließ seine vergeblichen Versuche des Feuermachens links liegen und hockte sich

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1�1zu der Halbelfin. „Wieso ich keine Kleidung trage, fragst Du?“, grinste er.

Laura nickte, sie konnte kaum die Lider offenhalten.„Na, weil“, er zeigte mit dem Finger auf sie, „Du jetzt

meine Kleidung trägst. Deine eigene war über und über mit Blut beschmiert. Aber ich musste Dich ja warm halten“, berichtete der Elf und hob die offenen Handflächen.

Lauras dünnes Lächeln erstarb. Sie tastete an sich herab. „Das Kettenhemd ...“

„Das habe ich zu einem Kissen zusammengerollt. Du liegst mit dem Kopf drauf.“

Laura schwieg und starrte an dem Elfen vorbei.„Ich heiße übrigens Beléothvel, und wer bist Du?“,

plauderte der Elf und setzte sich bequemer hin.„Laura“, hauchte die Halbelfin und schluckte schwer.„Ich tu’ Dir nichts“, erklärte Beléothvel sanft. „Ich habe

Deine Wunden gesäubert und verbunden und aufgepasst, dass die Tiere Dich nicht anknabbern!“ Dabei zeigte er auf die zahlreichen Stellen, an denen sie verwundet worden war. „Die Schulter sah besonders schlimm aus.“ Er wurde leise. „Ich bin nicht sicher, ob Du den Arm irgendwann wieder richtig bewegen kannst. Aber immerhin hat sich die Wunde trotz des Schmutzes nicht entzündet, sonst würden wir jetzt nicht mehr miteinander reden können.“

Laura wäre auch ohne diese Nachrichten nicht nach Lächeln zumute gewesen. Endlich sagte sie, was sie bedrückte: „Du hast mich ausgezogen? Ganz?“

Beléothvel schwieg für einen Lidschlag und legte die Hände zusammen. Dann sagte er mit einem Achselzucken: „Ich habe Deine Wunden versorgt. Das geht schlecht

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1�2 durch dieses Kettenhemd-Dings. Ja, ich habe Deinen Körper bewundert. Na und? Ohne mich wärst Du tot! Ich verlange ja auch gar nichts für meine Hilfe, ich finde es schön, dass Du noch lebst. Sicher hast Du eine interessante Geschichte zu erzählen!“

„Nur bewundert?“, fragte Laura mit belegter Stimme.Beléothvel rümpfte die Nase. „Hey, Du bist hier

diejenige mit dem Menschen-Anteil! Elfen würden so etwas Widerwärtiges nie tun!“

Wie geohrfeigt drehte Laura das Gesicht weg.„Entschuldige, das war gemein von mir“, raunte

Beléothvel, „aber Du musst Dir wirklich keine Sorgen machen. Ich bin ein Freund, kein Feind. Hast Du Hunger? Ich habe verschiedenste Beeren gesammelt, Brombeeren und Erdbeeren vor allem. Wasser und ein paar Pilze sind auch noch reichlich da. Wieso warst Du eigentlich ganz allein und ohne Gepäck hier unterwegs? ... Wolltest Du Abenteuer erleben oder so was?“

Laura wusste nicht, ob sie auf diese Frage lachen oder weinen sollte, also tat sie einfach beides ein bisschen.

Bruchstücke aus seiner Erinnerung schossen Srrig durch den Kopf, doch er konnte sie nicht festhalten. Er sah eine helle Klosterwand in einem sandigen Innenhof. Mit den Füßen nach oben lehnte er an der Wand. Zahlreiche Längsspuren von Fußkrallen hatten den Putz fast völlig zerstört.

Einen Arm hatte Srrig auf den Rücken gelegt, den anderen Arm hatte er zur Faust geballt und auf einen flachen Stein

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1�3am Boden gestellt. Mehrmals drückte er sich auf dieser Faust nach oben und ließ sich wieder langsam heruntersinken, bis sein Arm so sehr zitterte, dass er von allein einknickte und Srrig sich von der Wand wegrollte.

„Still!“, zischte Srrig plötzlich und drückte sich mit dem Rücken an den Fels.

Taren folgte seinem Beispiel und hielt die Fackel hinter sich, um den Schein wenigstens etwas zu begrenzen. Hören konnte er allerdings nichts.

Es dauerte wenigstens drei Lidschläge, bis auch Taren die unregelmäßigen Schritte wahrnahm. Ein schwaches Licht tanzte aus der Ferne des Höhlengangs auf sie zu, noch kaum erkennbar.

Die Schritte kamen näher. Taren konnte heraushören, dass es sich um zwei Personen handelte, die schnell liefen. Auch sie schienen eine Fackel zu benutzen, dem Lichtschein nach zu urteilen.

„Weg!“, flüsterte Srrig und schob Taren zurück in den Gang, aus dem sie gekommen waren.

In der Ferne drangen in diesem Moment jedoch zwei Gestalten in ihr Sichtfeld. Eine Männerstimme rief Srrig und Taren auf Elfisch zu: „Hier sind wir!“ Leiser zischte die Stimme dann: „He! Das sind sie nicht!“

„Was jetzt? Wir können nicht zurück!“, wisperte eine hellere Stimme, ebenfalls auf Elfisch.

Srrig und Taren sahen sich kurz an, dann hob Srrig den Kopf und rief in fließendem, doch etwas altmodischem Elfisch: „Wir sind keine Feinde! Kommt herüber, wir helfen uns gegenseitig.“

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1�4 „So, Elfisch kannst Du also auch?“, wunderte sich Taren leise.

Nun wunderte sich auch Srrig für einen kurzen Augenblick darüber.

Gleichzeitig hielt Taren die Fackel über seinen und Srrigs Kopf, damit die Elfen sie gut sehen konnten – ohne dass Srrig oder Taren andererseits direkt ins blendende Feuer blicken mussten.

Die beiden Elfen am anderen Ende des Ganges tuschelten miteinander und berührten sich gegenseitig besorgt an den Armen. Doch schließlich schritten sie misstrauisch zu Srrig und Taren herüber.

Sie waren ein Mann und eine Frau, beide mit langen schwarzen Haaren und in dreckige, zerrissene Kleidung gehüllt. Etwas scheu sahen sie zu Srrig und seinen Muskelbergen auf, und auch Tarens grimmiges, bärtiges Gesicht schien ihnen nicht geheuer zu sein.

Srrig erkannte dies ebenso schnell wie der Mensch und machte den ersten Schritt, indem er sich mit einer Hand auf der Brust verneigte und erklärte: „Wir sind Srrig und Taren. Wir waren auf der Flucht vor Chimäriern und haben kein anderes Versteck gefunden. Kennt Ihr Euch vielleicht in diesen Gängen aus? Wir müssen nach Harkýior zurück, um einen Kameraden zu befreien.“

Taren ließ sich nicht anmerken, dass er von diesem Plan des Tigermenschen noch immer nicht viel hielt. Er verneigte sich ebenfalls ein wenig vor den Elfen, ohne sie jedoch aus den Augen zu lassen.

Der Elf nickte auf Srrigs Begrüßung nur knapp und misstrauisch, die Elfin reagierte gar nicht. Nach einem

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1�5weiteren Lidschlag des Schweigens erklärte der Elf: „Wir kennen die Höhlen hier. Doch im Moment werden wir von Schlangenblütern verfolgt, der Weg ist versperrt. Wir müssen warten.“

„Schlangenblüter?“, wiederholte Taren, „meint Ihr Schlangenmenschen?“

„Nein“, antwortete der Elf, „Schlangenblüter sind Mischlinge aus Schlangenmenschen und anderen Völkern, durch Magie gezeugt und aus Eiern geschlüpft. Es gibt eine Enklave von ihnen hier in der Nähe, sie betrachten dies als ihr Gebiet. Die Hohepriesterinnen der Schlangenmenschen hatten bei der Erschaffung dieser Wesen wohl ihre Finger im Spiel. Vielleicht aber auch die Matriarchin Tebaarsha, eine Chimärierin, die hier unten so ziemlich alles kontrolliert, was nah am Zentrum von Harkýior liegt. Es heißt, sie kollaboriert mit den Schlangenmenschen in den Tiefen dieser Gänge, unter anderem, um herauszufinden, warum es so wenig weibliche Chimärier gibt. Gut möglich, dass die Schlangenblüter einfach nur ein ,Abfallprodukt der Forschung‘ waren.“

„Auf jeden Fall benehmen sie sich wie Abfall und sehen meist auch so aus“, fügte die Elfin giftig hinzu.

„Wie viele Verfolger habt ihr denn, und wie sind die bewaffnet?“, fragte Taren und betrachtete demonstrativ seine Drachenarmbrust.

Der Elf musterte Taren, dann blickte er noch einmal auf Srrigs Muskeln.

Die Elfin gab an seiner Stelle die Antwort: „Es sind drei Frauen. Die eine ist eine halbe Elfin namens Harpyie. Sie trägt ein kupfernes Kurzschwert und einen bronzenen

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1�6 Buckelschild, und auch noch ein paar andere Rüstungsteile aus Leder und Kupfer. Ihre Zähne sollen sehr giftig sein, habe ich gehört. Die zweite Feindin ist eine Hexe, die üble Flüche ausstoßen kann. Sie ist mit einem bösen Geist im Bunde, sagt man, also nehmt Euch vor ihr in Acht. Lasst sie keinesfalls einen Fluch ausstoßen – er würde zweifellos in Erfüllung gehen, wenn die Gerüchte wahr sind! Auf sie solltet Ihr wohl als Erstes schießen. Ihren Namen weiß ich nicht, aber wen interessiert der schon. Die dritte Schlangenblüterin ist eine starke Menschenfrau mit einer großen Eichenkeule. Sie trägt keinerlei Rüstung, ist aber sehr flink, trotz ihres Gewichts von sicherlich 160 Pfund. Sie lebte früher in einem Sumpf an der Oberfläche und riecht auch heute noch so. Ihr Name ist Karva, glaube ich.“

Der Elf konnte kaum abwarten, dass seine Begleiterin ausgeredet hatte, da platzte es aus ihm heraus: „Ihr seid Kämpfer, nicht wahr? Wir haben kleine Waffen, zwei Dolche, die geben wir Euch, wenn Ihr diese drei Schlangenblüter für uns tötet! Ihr würdet uns einen großen Dienst erweisen.“

Bei den letzten Worten trat die Elfin ihm auf den Fuß, sehr wenig unauffällig.

„Was macht Ihr eigentlich hier?“, fragte Srrig ungerührt.

Die beiden Elfen sahen sich schweigend an. Schließlich fragte der Elf einfach noch einmal: „Werdet Ihr diese drei Schlangenblüter töten gehen?“

Taren schüttelte den Kopf. „Erst will ich mehr über sie wissen, und auch über Euch.“ Er verschränkte die Arme

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1��vor der Brust und ließ die Armbrust dabei in der Beuge ruhen.

Srrig hob plötzlich alarmiert den Kopf. „So viel Zeit bleibt vielleicht nicht“, knurrte er und blickte ernst zu Taren. Der Mensch nickte nur.

„Gebt uns die Dolche und haltet dafür die Fackeln“, verlangte Taren gepresst, „wir kämpfen für Euch.“

Dankbar gaben die Elfen ihre beiden Kupferdolche heraus und nahmen die Fackeln entgegen.

Srrig und Taren eilten in die tiefere Dunkelheit des Ganges voraus und drückten sich in eine Nische im Fels. Sie warteten auf die Träger des neuen Fackelscheins, die hinter einer Biegung eilig näher kamen. Taren knetete missmutig den Ledergriff seiner weichen Kupferklinge in der Faust. „Elfen und Waffenbau, pfff...“, dachte er.

„Mmh! Augen!“, frohlockte Zeeris und riss den zwei frischen Menschenleichen die Augäpfel aus den Höhlen. Seine feine Nase hatte sie ein gutes Stück zurück in Richtung des Elfendorfes entdeckt. „Und sogar noch ein bisschen warm!“, schmatzte das Teufelchen mit halb vollem Mund. „Wo kommen die wohl her?“, überlegte Zeeris und kaute plötzlich nur ganz langsam weiter. Während er das nächste Auge in den Mund steckte, stieg er höher und höher. Er winkte Mèra, Jade und Athónon zu, die ihn jedoch bei der enormen Entfernung nicht sehen konnten. Eigentlich konnte Zeeris sie auch nicht sehen, doch er wusste ja, auf welcher Lichtung sie sich befanden.

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1�� Die Gruppe um Mèra wollte jeden Moment ihre Rast abbrechen und bei Tag weiterreisen, solange sie die Grenze des Imperiums noch nicht erreicht hatte; Jade als Nachtelfin war zwar lieber nachtaktiv, doch mit einer tiefen Kapuze und Handschuhen kam sie auch zurecht.

Ganz in seiner Nähe entdeckte Zeeris eine zweite Rauchfahne. „Mmh! Geröstete Augäpfel!“, krähte das Teufelchen und ging in den Sturzflug über, auf das fremde Feuer zu.

„Hallo!“, rief Zeeris freundlich und winkte, als er am Feuer eines halb nackten, mageren Elfen landete.

Beléothvel sprang entsetzt von seinem kleinen Grubenfeuer zurück und starrte um sich. „Ein Geist!“, rief er entsetzt.

Laura öffnete mühsam die Augen. Bei dem Versuch, sich aufzusetzen, explodierten überall in ihrem Körper Schmerzen; stöhnend gab sie den Versuch sofort wieder auf.

„Oh“, machte Zeeris. Dann ließ er seine magische Unsichtbarkeit fallen. Auf Beléothvels ungläubigen Gesichtausdruck hin stellte das grau-rote Teufelchen sich vor: „Ich bin Zeeris! Kann ich mal Dein Feuer benutzen? Danke!“

Ungeniert hielt Zeeris seine Hand mitsamt den zwei verbliebenen Augäpfeln ins Feuer. An Beléothvel gewandt, erklärte er: „Lecker, geröstete Augäpfel! Willst Du auch einen?“ Die Flammen schienen seiner Hand nichts anzuhaben.

„Wer ... bist Du?“, stammelte Beléothvel heiser, als habe

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1��er die vorigen Aussagen des Teufelchens nicht gehört.„Zeerisrisrisrisris!“, machte Zeeris und verputzte dabei

gierig die beiden Augäpfel. Beiläufig sah er zu Laura hinüber, und mitten im Kauen hielt er plötzlich inne. „Du siehst aus wie Jade! Kennst Du Jade?“, krähte Zeeris. „Kennst Du Jade?“, fragte er auch Beléothvel, ohne eine Antwort abzuwarten. Er war nur selten unsichtbar im Elfendorf gewesen, Athónon hatte es ihm untersagt.

Beléothvel antwortete unsicher: „Jade ist die Anführerin unserer Dorfwache. Sie ist eine große Kriegerin, sagt man. Aber woher kennst Du sie?“

Zeeris setzte sich ans Grubenfeuer und ließ die nackten Füße direkt hineinhängen. „Och ...“, begann er und druckste herum. „Sie war mal in Schwierigkeiten und ... ich! ... habe sie gerettet“, rief Zeeris freudestrahlend. „Ich habe auch Mèra gerettet!“, fügte er stolz hinzu und schob die Brust mit seinem Panzer vor.

Ungläubig starrte Beléothvel das Teufelchen an. „Klar“, machte er dann nur, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ich habe die Geschichte anders gehört“, flüsterte Laura, „Jade ist meine Mutter.“

Zeeris und Beléothvel starrten die Halbelfin beide mit großen Augen an.

„Soll ich Dich heilen? Dann kannst Du zu ihr gehen!“, rief Zeeris plötzlich und sprang auf. „Sie ist nur ein paar Flug-Momente weit weg! Ich kann heilen! Cesius hat ’s mir beigebracht!“

Laura starrte das Teufelchen furchtsam an, als es auf sie zu sprang. „Nein!“, keuchte sie und hob abwehrend die Hände.

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1�0 „Ich kann heilen!“, rief Zeeris beleidigt.„Seid ruhig!“, flüsterte Beléothvel plötzlich, „ich höre

etwas! Hufe!“„Ah!“, schrie Zeeris entsetzt und wurde auf der Stelle

unsichtbar.Beléothvel hängte die Sehne seines kleinen Bogens ein

und legte einen Pfeil auf, während er sich neben Laura hockte.

„Miriam, ich meine, Mèra!“, rief Beléothvel dann jedoch freudig, als die Reiterin den kleinen Lagerplatz erreichte.

Mèra nickte bloß und sprang leichtfüßig aus dem Sattel ihres Rappens. Ohne ein Wort kniete sie sich zu Laura und legte ihr prüfend eine Hand auf die Stirn. „Das war sehr dumm von Dir“, raunte Mèra ohne Ärger in der Stimme. Bevor Laura etwas erwidern konnte, erstarrte sie plötzlich ob der magischen Energien, die ihren Körper durchstürmten. Aus der Ferne schien ein lieblicher Gesang an Lauras Ohren heranzuwehen. Nach wenigen Lidschlägen war das wohlige Gefühl schon wieder vorbei und Mèra richtete sich auf. Für einen Moment schwankte sie jedoch irritiert. „Was z...“, flüsterte sie zu sich und wischte sich über die feuchte Stirn. „Komm, wir haben es eilig“, befahl sie dann, ohne Laura anzusehen, und schwang sich aufs Pferd.

Verdutzt richtete Laura den Oberkörper auf. „Es tut gar nicht mehr weh“, staunte sie und betastete sich. „So schnell!?“, stammelte sie ungläubig.

„Du hast Glück, dass ich Dich auf der Suche nach Zeeris hier fand, Mädchen“, antwortete Mèra streng. „Apropos

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1�1Zeeris, wo steckst Du?“, fragte sie in keine bestimmte Richtung. „Wir wollten eigentlich schon weiter“, fügte sie hinzu.

Beléothvel half Laura auf die Füße und murmelte dabei: „Deine Sachen sind ruiniert, aber behalte meine ruhig. Ich laufe so ins Dorf zurück.“

Laura blickte irritiert zwischen Mèra und Beléothvel hin und her. „Ich ... kann mitkommen?“, fragte sie Mèra.

„Offensichtlich bringst Du Dich selbst mehr in Gefahr, wenn wir nicht auf Dich aufpassen“, antwortete Mèra scharf.

Schuldbewusst senkte Laura den Kopf. Dann warf sie sich energisch das Kettenhemd über und rammte das Schwert in die Scheide. Die Tunika behielt sie in der Hand. Direkt vor Beléothvel baute sie sich noch einmal auf, so bebend vor Energie, dass der Elf den Impuls unterdrücken musste, zurückzuweichen. „Du hast mir das Leben gerettet“, flüsterte Laura, warf ihm ihre Tunika um den Nacken und zog ihn damit zu sich, um ihn auf den Mund zu küssen.

Als sie sich endlich voneinander fortrissen, lächelte Laura zum Abschied und rief: „Wir sehen uns wieder.“ Dann sprang sie hinter Mèra auf den Rappen und die beiden galoppierten davon. Ohne sich festzuhalten, striff Laura nun im Reiten die Tunika über das Kettenhemd.

„He! Wartet auf mich!“, krähte Zeeris. Ohne dass Beléothvel ihn hätte sehen können, spürte der Elf, dass er nun wieder allein war.

Athónon und Jade waren am Lager zurückgeblieben und

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1�2 warteten auf Mèra, die einen kurzen Rundritt auf der Suche nach dem chaotischen Teufelchen Zeeris hatte machen wollen. Vielleicht wollte sie auch nur einen Moment allein sein. Sie war mit jeder Reisestunde stiller geworden und ihr Blick hatte sich mehr und mehr verfinstert.

Athónon stutzte sich den weißen Bart auf eine gepflegtere Vollbartlänge.

Jade lag mit dem Rücken im Gras, die Arme hinter dem Kopf. Ihre Wangen waren etwas gerötet, ein einsetzender Sonnenbrand dank ihrer Lichtempfindlichkeit. Mit wechselnden Ausdrücken im Gesicht blinzelte sie unter ihrem Kapuzenrand hervor in den Himmel; sie musste durchgehend die Augen angestrengt zusammenkneifen, da sie das Tageslicht schon lange nicht mehr gewohnt war. Vom tiefen Türkis des Himmels und den vorbeiziehenden Wolken war sie so fasziniert wie ein kleines Kind. Allerdings lenkten alte Erinnerungen sie immer wieder von jenem erhebenden Anblick ab. Beinahe schien es, als zöge ihr ganzes Leben noch einmal an ihr vorbei ...

Jade schrie vor Schmerzen und bäumte sich auf. Jemand hielt sie fest. „Pressen!“, zischte ihr ein alter Elf ins Ohr. Sie lag an ihrem Lieblingsplatz am Bachufer, wo die Wehen sie überrascht hatten. In etwas Entfernung standen einige Elfen; sie wussten, wie scharf Jades Gehör war, vermutlich wollten sie, dass die Nachtelfin ihr Getuschel hörte: „Das hat sie nun davon. Sie wird es nicht überleben, dieses fette Mischkind zu bekommen.“

Jade schrie verzweifelt. Für einen Moment glaubte sie dem Getuschel, doch da ergriff jemand ihre Hand. „Endáruel!“, keuchte sie glücklich.

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1�3„Schneller ging es nicht!“, flüsterte der Waldläufer und küsste ihre Stirn, während sie wieder schrie.

„Athónon?“, fragte Jade, richtete den Oberkörper auf und faltete die langen Beine zum Schneidersitz zusammen.

Der Gnom putzte gerade sein Rasiermesser und sah nur stumm zur Nachtelfin auf.

„Wenn ich nicht zurückkehre von dieser Reise ...“, hauchte sie düster, „bring bitte meiner Familie etwas von mir.“ Sie schluckte schwer.

Athónon sah sie nur an, hielt aber inne, das Messer zu putzen. Nach einem schweigsamen Moment antwortete er: „Du kannst immer noch umkehren. Auch Mèra irrt sich manchmal. Manche Visionen sind klar, doch andere sind symbolisch und schwer zu deuten. Ich weiß nicht, was sie sieht.“

„Aber wenn es wahr ist, was sie sagt?“, fragte Jade bitter. „Wenn meine Wahl ist: Nur ich – oder meine ganze Familie, mein Dorf und ich?“

„Ja – wenn“, raunte Athónon bloß. Schließlich schüttelte er den Kopf und knurrte: „Ich weiß es auch nicht besser.“

„Würdest Du mir diesen Gefallen also tun und meiner Familie etwas von mir zurückbringen?“, bat Jade abermals und sah den Gnom eindringlich an.

„Natürlich“, raunte Athónon und putzte mit mahlendem Kiefer sein Messer weiter. Er hatte in der Nacht eine blutige Vorahnung gehabt, von der er hoffte, dass sie sich abwenden ließ. Er war bereit, sich für Jade zu opfern, mit ihr die Rollen zu tauschen, damit sie zu ihrer Familie zurückkehren könnte; Athónon war schließlich allein und nichts hielt ihn noch wirklich im Leben, nichts außer dem

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1�4 Glauben, dass die Götter ihren Diener noch brauchten.Er spürte auch, dass noch größere Ereignisse sich

anbahnten. Doch um diese zu erkennen, reichten seine seherischen Kräfte bei Weitem nicht.

Sie schwiegen noch einige Augenblicke, dann hörten und sahen sie Mèra zurückkehren. Als Jade erkannte, wen Mèra außer Zeeris noch mitbrachte, stürmte sie ihrer Tochter mit langen Schritten entgegen.

„Mutter, ich ...“, begann Laura schon auf halbem Weg schuldbewusst. Als Jade sie erreichte, fing Laura sich eine schallende Ohrfeige ein. Im nächsten Moment drückte Jade ihre Tochter fest an sich und wisperte ihr ins Ohr: „Ist Dir auch nichts passiert?“

Laura grinste gequält und schüttelte den Kopf, doch ihre Augen verrieten sie.

Jades Miene gefror, sie starrte ihre Tochter alarmiert an.

„Mir fehlt nichts“, hauchte Laura.Fragend blickte Jade zu Mèra.Diese berichtete knapp: „Ich fand sie schwer verwundet,

aber ein junger Elf hatte ihre Wunden versorgt und sie so vor dem Verbluten gerettet.“

Jade ohrfeigte ihre Tochter gleich noch einmal, noch härter.

Laura taumelte einen Schritt zur Seite und hielt sich erschrocken die Wange. „Hast Du etwa auch eine Menschenseite?“, keuchte sie ganz leise.

Schluchzend wirbelte Jade herum und stürmte ein paar Schritte von Laura fort. Genauso stürmisch machte sie auf

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1�5dem Absatz kehrt und stampfte sofort wieder zurück. „Wieso konntest Du nicht auf mich hören?“, schrie sie

ihre Tochter mit erschreckender Stimmgewalt an. Laura ließ nur den Kopf hängen und schwieg.

„Sie hätte auch ohne mich überlebt. Allerdings nur, weil dieser junge Elf sie fand, der kein Feind war“, raunte Mèra noch in Jades Ohr. Dann setzte die Elfin sich zu Athónon ans Feuer und ließ Mutter und Tochter allein, etwas abseits vom Lager. Mèra hielt sich die Schläfen und schüttelte schwach den Kopf, als Athónon sie fragend musterte.

„Ich habe zwei Menschenmänner getötet, wahre Bären“, hauchte Laura, ohne aufzusehen.

Jade holte ein drittes Mal zu einer Ohrfeige aus, aber diesmal beherrschte sie sich und ließ die Hand ganz langsam wieder sinken. „Du hast es immer noch nicht begriffen“, flüsterte sie.

Laura hob nun wieder den Kopf und streckte den Rücken ganz gerade. „Ich habe ja noch die ganze Reise Zeit, um von Dir zu lernen, Mutter“, knurrte sie mit einem Glitzern in den Augen.

Jade ballte die Fäuste und schluckte. Ihr Blick fiel auf ihr Kettenhemd, das Laura unter der Tunika trug. Wortlos ging die Mutter zum Feuer zurück und ließ ihre Tochter einfach stehen.

„Wenigstens lerne ich jetzt den berühmten Athónon Elfenfreund kennen“, murmelte Laura zu sich.

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1�6 Der Fackelschein kam gefährlich nahe. Srrig und Taren erwarteten jeden Moment, dass die Feinde um die Ecke bogen, und pressten sich so tief wie möglich in die Nische. Ganz passten sie jedoch einfach nicht hinein, mussten sie nun im Fackelschein erkennen. Aber ein besseres Versteck gab es nicht, und selbst wenn – es wäre zu spät gewesen, es zu erreichen.

Nur wenige Schritte entfernt bog eine muskulöse Menschenfrau mit der Fackel in der einen und einer mächtigen Eichenkeule in der anderen Hand um die Ecke. Ihre Haut schien seltsam ungesund, mit einem schwachen Grünschimmer. Außer einem Lendenschurz und ein paar Lederfetzen um den Brustkorb war sie nackt. Ihr blondes Haar war sehr dünn und filzig, teilweise stach ihre Kopfhaut deutlich heraus. Ihre Beine waren genauso muskulös wie Tarens; zweifellos trainierte sie sehr hart.

Genau an der Biegung des Ganges blieb sie stehen und schnupperte misstrauisch. Wortlos streckte sie den Arm mit der Fackel hinter sich. Die Schritte, die ihr bis gerade eben noch gefolgt waren, verstummten.

Brüllend hechtete Srrig aus dem Versteck hervor und stach mit dem Dolch nach der Kriegerin, die ihm als Karva genannt worden war. Sie ließ sich nicht überrumpeln und sprang weit zurück. Wie ein Tier bleckte sie drohend die Zähne.

Taren folgte Srrig auf dem Fuße, den Dolch im Gürtel und die Armbrust im Anschlag.

Die Frau, die ihnen als Harpyie genannt worden war, stand genau vor der dritten Frau, vor deren Flüchen sie besonders gewarnt worden waren.

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1��Srrig fauchte Karva ebenfalls mit gebleckten Reißzähnen an – gleichzeitig trat er Harpyie, die Taren fixierte, von der Seite her in den Bauch. Harpyie krümmte sich und taumelte fort, Taren schoss im selben Moment.

Die dritte Frau wurde von Tarens Bolzen jedoch nicht in die Brust getroffen, wie er zu zielen versucht hatte, sondern nur in die Schulter. Wild kreischend stolperte die Hexe in der braunen Robe aus dem Fackelschein.

Karva hatte die Fackel fallen gelassen und schwang die Keule. Sie verfehlte Srrig, der im allerletzten Moment den vorgereckten Kopf einzog. Er hatte mit seinem Kopf ein Ziel seiner Wahl geboten – eine seltene Kunst meisterlicher Kämpfer, die einen entscheidenden Reaktionsvorteil bot: wusste er doch von vornherein, wohin der Gegner schlagen musste.

Noch bevor Karva ihre schwere Keule wieder in Position bringen konnte, sprang Srrig sie mit dem Dolch an. Sie hatte allerdings damit gerechnet und riss ein Bein hoch, das sie zwischen sich und Srrigs Brustkorb stemmte. Mit aller Kraft brüllend, versuchte sie den Tigermann zurückzuschieben, gleichzeitig hob sie die Keule zum Schlag auf Srrigs Schädel.

Srrig war ihr jedoch weit voraus. Er verkrallte sich in ihrem Knie, schnitt ihr tief durch die Wade und rammte ihr danach den Dolch in den Innenschenkel. Karva schrie irrsinnig und schlug mit der Keule zu. Wieder wich Srrig mit einer präzisen Seitwärtsdrehung erst im letzten Moment aus, die Keule striff bloß sein Brustfell.

Er drehte den Dolch aus Karvas Wunde. Die Kriegerin

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1�� wimmerte und stürzte mit dem Rücken an die Wand, obendrein verlor sie die Waffe. Erst jetzt ließ Srrig ihr Bein los. Der Tigermann war so ruhig im Gesicht, am ganzen Körper, dass nichts seine Angriffe oder Absichten verriet.

Als er ihrer Bewegung folgte, wollte sie ihn von sich drücken und in seine Augen greifen. Doch der Tigermann reagierte wieder schneller und biss ihr mit voller Kraft in die Hand. Während Karva jämmerlich schrie, spuckte Srrig ihr zwei ihrer Finger ins Gesicht.

Dieser zusätzliche Schock wäre nicht mehr nötig gewesen; Srrig wusste, dass sie den Kampf in dem Moment bereits verloren hatte, als sie sich durch den Biss in ihre Hand hatte schockieren und aus dem Rhythmus bringen lassen.

Srrigs weiche Kupferklinge unterbrach Karvas Schrei abrupt und versank bis zum Griff unter ihrem Brustkorb; die Spitze zeigte empor in ihr Herz. Fassungslos starrte sie den Tigermann an und tastete mit einer Hand nach der Wunde, die Srrigs Handfell mit ihrem Blut überströmte. Srrig würdigte sie ihrerseits keines weiteren Blickes mehr, sondern drehte sich zu Taren um.

Der Tempelkrieger hatte die Armbrust fallen gelassen und den Dolch gezogen, um die röchelnde Harpyie zu töten, solange sie sich noch nicht von Srrigs Tritt erholt hatte. Als er zustach, taumelte Harpyie jedoch zurück und schlug Tarens Hand aus der Drehung mit der scharfen Kante des Buckelschildes zur Seite. Taren starrte für einen Lidschlag entsetzt auf das Blut, das aus der Innenseite seines Armes pulsierte. Sein Dolch war zu Boden gefallen. Bevor

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1��Harpyie ihn jedoch überrumpeln konnte, presste er den Arm an seinen Bauch, um die Blutung zu bremsen, und funkelte die Feindin lauernd an. Harpyies Schwerthieb, der von oben in Tarens Kopf hätte einschlagen sollen, zischte knapp an ihm vorbei, als er sich im letzten Moment wegdrehte. Gleichzeitig schleuderte er die linke Faust nach vorn, um Harpyie niederzuschlagen – ein Konter, mit dem er schon viele Faustkämpfe gewonnen hatte. Diese Gegnerin ließ sich jedoch nicht überraschen und pendelte den Oberkörper blitzschnell nach hinten aus, sodass Taren sie verfehlte. Abermals sprang sie vor, um Taren mit dem Kurzschwert aufzuspießen.

Srrig trat ihr von der Seite unter den Ellbogen, wo ihre kupferne Armschiene aufhörte. Der Knochen gab ein dumpf berstendes Geräusch von sich, Harpyies Schwert glitt widerwillig aus ihrer Hand. Ihr gellender Schrei verstummte sofort wieder, als Taren ihr diesmal die Faust in die Zähne schlug.

Karva und Harpyie sanken fast gleichzeitig zu Boden, mit dem Unterschied, dass Harpyie vermutlich noch lebte und nur ein paar Zähne weniger hatte. Karva jedoch lag mit starren Augen auf der Seite. Von ihrer blutverschmierten Hand, die kraftlos an dem Dolch in ihrem Herzen hängen geblieben war, fiel ihr Blut in dicken Tropfen auf den Fels.

Taren verließ sich auf Srrig, was die letzte Gegnerin betraf; er musste sich um die lebensbedrohliche Wunde in seinem Arm kümmern. Er kniete sich hin, um ein weiteres Gebet an Bruder Mond zu richten.

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200 Die dritte Schlangenblüterin war trotz des Bolzens in ihrer Schulter nicht untätig geblieben. Sie hatte leise zu murmeln begonnen und eine stechend riechende Flüssigkeit aus einer Kupferflasche an die Wände gespritzt. Die vermeintlich willkürlichen Spritzer formten stachelige Runen, während die Tropfen dem Boden entgegenrannen. Schon blitzten erste Lichtfunken in den Runen auf und giftiger Dampf begann von der Wand in den Gang zu schießen – nur die Hexe aussparend, die mit geschlossenen Augen fremde Worte flüsterte.

Sie bekam erst mit, was geschehen war, als Srrig sie am Hals packte, ihr die Flasche aus der Hand schlug und ihre Zaubervorbereitung damit unterbrach. Ein Bein stellte er zwischen ihre Beine und drehte sich seitlich, sodass sie ihn kaum sinnvoll treten konnte. Sie boxte ihm keifend in den Magen, erzielte jedoch nicht die geringste Wirkung. Furchtsam starrte sie den Tigermann nun an und streckte die offenen Hände leicht von sich.

Srrig zog ihr die Kapuze vom Kopf und sah in ein verwachsenes, doch junges Gesicht voller Angst.

„Ihr müsst sie alle drei töten!“, rief der Elf, der inzwischen ebenfalls den Kampfschauplatz erreicht hatte. Seine Begleiterin stand dicht hinter ihm.

Srrig schaute wieder in das ängstliche Gesicht der jungen Frau vor sich. Er spürte, wie sie unter seinem Griff bebte. Noch immer streckte sie die Hände von sich, sie ergab sich. Doch Srrig roch auch die Reste ihres bösartigen Zaubers an der Wand, den er gerade noch rechtzeitig unterbrochen hatte.

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201Der Blutgeruch überall beeinflusste ihn hingegen kaum: Anders als die meisten seiner Artgenossen, hatte er N rracorr, den Dämon des Blutdurstes, für immer aus seiner Seele verbannt und geriet nicht in Versuchung, zuzubeißen. N’rracorr hatte sich nach dem Glorreichen Zeitalter vor den Göttern in die Tigerseelen geflüchtet.

Der Tigermann drückte ihren schlanken Hals etwas fester zu. Die Frau versteifte sich und keuchte, doch sie unterdrückte den Reflex, nach Srrigs dicken Handgelenken zu greifen.

„Wer bist Du, wieso hast Du diese beiden Elfen verfolgt?“, fragte Srrig auf Elfisch.

Die Frau schielte zu den beiden herüber, verweigerte jedoch standhaft die Antwort.

Die Elfin trat energisch vor und hob das Kurzschwert von Harpyie auf. Taren saß direkt neben ihr, schien durch sein Gebet aber so abwesend zu sein, dass er nichts mitbekam. Nur seine Lippen bewegten sich unmerklich.

Srrig funkelte die Elfin böse an, ließ allerdings die Schlangenblüterin nicht los.

Beidhändig, mit der Klinge nach unten, holte die Elfin weit aus, um die bewusstlose Harpyie kaltblütig zu erstechen. Sie zögerte nicht einen Lidschlag und donnerte das kupferne Schwert – auf den Fels, denn Harpyie rollte im letzten Moment zur Seite weg und sprang auf die Füße. Sie hatte alle mit ihrem Zustand getäuscht, auch wenn sie ihre Waffe nicht hatte retten können.

Nervös wischte sie sich das Blut vom Mund, spuckte Zahnreste aus und funkelte abwechselnd zwischen Srrig

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202 und der Elfin hin und her, tief geduckt stehend und jederzeit bereit, in die entgegengesetzte Richtung zu springen, taxierend, wer sie zuerst attackierte.

Srrig rührte sich nicht und hielt weiterhin die junge Hexe an der Kehle fest, behielt aber auch Harpyie im Auge. Diese bleckte mit einem wütenden Fauchen ihren verbliebenen Giftzahn und hob langsam die Finger der freien Hand wie Krallen in Richtung der Nachtelfin. Die Kupferspitze des Schwertes war nach dem verfehlten Hieb gegen die vermeintlich Bewusstlose abgebrochen.

Der Nachtelf trat grimmig neben seine Gefährtin und hob die Fäuste. Für einen Moment belauerten die drei Gegner sich finster und reglos. Durch Tarens Wunde wussten die beiden Elfen nun, dass Harpyies Buckelschild ebenfalls eine gefährliche Waffe war.

Die Elfin hob das Schwert über den Kopf und sprang zischend vor. Harpyie war viel schneller, sprang ihr noch in der Bewegung entgegen und trat ihr in den Solarplexus. Doch von rechts, um dem Schild zu entgehen, rammte der Elf die Schlangenblüterin gegen die Felswand und schlug ihr die Fäuste ins Gesicht und in die Niere. Harpyie drehte sich stöhnend, um mit dem Schild zuzuschlagen – da packte der Elf sie an den Handgelenken und presste sie gegen den Fels. „Stich sie ab!“, rief er hinter sich.

Seine Gefährtin kam gerade erst wieder keuchend auf die Füße. Harpyie riss das Knie hoch, aber der Elf verstand es, mit seinem Bein das ihre zur Seite zu lenken, sodass sie ihn verfehlte.

Ihre Zähne kamen durch ihr Strampeln seinem Arm nah; als sie schlagartig ruhig wurde und den Elfenarm

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203anstarrte, hatten beide denselben Gedanken im selben Moment. Harpyies Biss ging jedoch ins Leere, der Elf ließ sie los und wich zurück. Gleichzeitig sprang nämlich seine Gefährtin mit dem Schwert vor und stach zu. Harpyie drehte sich fluchend zur Seite, sodass nur die schwache Brustwölbung ihres Lederwamses vom Kupfer gestriffen wurde. Der Elf war nun jedoch in ihrem Rücken und schlug seine Fäuste wie zwei Hämmer in ihre Nackenseiten. Sie hatte nicht aufgepasst, wohin sie ausgewichen war.

Harpyie hing stöhnend in der Luft, konnte nicht recht stehen, fiel aber auch nicht um. Die Elfin hielt das Schwert mit beiden Fäusten und hackte es der Schlangenblüterin in den Rücken. Harpyie wirbelte stumm herum und schlug ungelenk nach der Elfin, verfehlte sie und stürzte rücklings zu Boden. Die Elfin sprang mit einem heiseren Schrei hinterher und versenkte die Klinge beim Landen in Harpyies knirschenden Brustkorb. Für einen Moment starrten beide Frauen sich animalisch an. Harpyie zitterte und öffnete den Mund, doch plötzlich brach ihr Blick. Ihre Glieder erschlafften und ihr Hinterkopf fiel mit einem dumpfen Knall auf den Fels.

Srrig hielt noch immer die Hexe am Hals gepackt und hatte den Kampf mit finsteren Blicken verfolgt – wie die Hexe, die aber den Kopf abgewandt hatte, unmittelbar bevor das Schwert in Harpyies Rücken gehackt worden war. Vielleicht hätte er eingreifen sollen, überlegte er; doch weder hatte er echtes Mitleid empfunden, noch interessierte er sich letztlich für den Ausgang des blutigen Streits.

Die Elfin riss die Waffe frei und trat einen Schritt vor.

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204 Böse funkelte sie den Tigermann an. „Töte Du jetzt die Hexe, oder ich tue es“, sagte sie eisig. Aus irgendeinem Grund schien ihr der Tod aller drei Schlangenblüter sehr wichtig zu sein.

Wieder schaute Srrig in das angstbebende Gesicht der Schlangenblüterin. Eine Träne lief ihre Wange hinab, unmerklich schüttelte sie den Kopf.

„Lass Dich doch nicht um den Finger wickeln von einem so billigen Trick!“, schnauzte der Elf. „Das ist eine böse Hexe! Sieh Dir die Säurerunen an der Wand an!“ Er nahm der Gefährtin die blutige Waffe aus der Hand und kam näher.

Srrig ließ sich keineswegs um den Finger wickeln – aber er ließ sich auch nicht von den Worten des Elfen manipulieren. Er streckte ihm den Arm entgegen und rief entschieden: „Halt! Erst will ich wissen, was hier vorgeht.“

„Wir führen Krieg“, röchelte die Schlangenkriegerin auf Elfisch, „aber ich will trotzdem nicht sterben! Ich biete –“

Der Elf sprang vor und wollte zustechen, doch direkt vor der Schlangenblüterin packte Srrig seine Hand und hielt ihn eisern fest. Als der Elf Anstalten machte, fester zu drücken, quetschte und drehte Srrig seinen Daumen so sehr, dass der Elf schreiend auf die Knie fiel und die Waffe fallen ließ.

„Ihr führt also Krieg“, seufzte Srrig. „Wieso und wofür? Wer hat angefangen? Erzählt mir die ganze Situation. Vorher lasse ich Euch beide nicht los.“

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205Die Elfin erspähte Tarens Kupferdolch. Sie hob ihn auf und hielt ihn Taren an die Kehle.

Der Mensch war noch immer tief in sein Gebet versunken, um seine gefährliche Blutung am Arm zu stoppen.

„Du wirst Sundári loslassen und die Schlangenblüterin töten. Oder ich töte Deinen Freund hier“, befahl die Elfin mit schneidender Stimme. Ihr Gesicht, farblos durch das Leben in Höhlen, war jetzt kalt und hart geworden; zusammen mit ihrer elfischen Schönheit erinnerte sie Srrig plötzlich an weißen Marmor. Jedoch war sie nicht halb so stabil wie jenes Gestein.

Srrig ließ beide Personen los, Elf und Hexe, und trat einen Schritt zurück. „Wenn Du Taren ein Haar krümmst, bist Du die Nächste, die den Tod findet“, knurrte Srrig, blieb aber entspannt stehen.

Die Hexe zögerte nicht länger und rannte um ihr Leben.

Seufzend traten die beiden Elfen von Srrig und Taren zurück. „Wir sollten uns jetzt alle wieder beruhigen“, schlug der Elf vor und hob beschwichtigend die Hände.

„Einverstanden“, knurrte Srrig, lauernd und bedrohlich.

Den ganzen Vormittag über sprachen weder Mèra noch Athónon, Jade oder Laura ein Wort. Nur Taffi und Zeeris plapperten miteinander oder führten Selbstgespräche über die „Trauerklöße“, mit denen sie zu reisen gezwungen

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206 waren. Laura wagte es nicht, den finster blickenden Gnom nach seinen Abenteuern auszufragen, so neugierig und forsch sie sonst auch war. Athónon hatte selbst im tiefsten Schweigen eine Ausstrahlung, die im wahrsten Sinne des Wortes erdrückend war.

Laura fragte sich vergeblich, wie das möglich war, wie ein Wesen, ohne ein Wort zu sagen, ohne jemanden anzublicken, doch solch eine Präsenz besitzen konnte. Was hatte Athónon alles erleben müssen, um sich so unsäglich viel weiter zu entwickeln als alle anderen Personen, die Laura kannte?

Die Gruppe entschied sich zu einer kurzen Essenspause, als die Sonne am höchsten stand. Jade sagte zu ihrer Tochter: „Wir müssen trainieren. Hier, nimm den Stock. Du wirst erst essen, wenn Du mich besiegt hast.“ Damit legte sie sich ihren starken, rechten Arm auf den Rücken und hob mit der Linken einen weiteren Stock auf. Ihre Unterarme waren dünner und drahtiger als Lauras, auch ihre Hände waren etwas zierlicher, und doch war sie stärker und zäher.

Noch während Laura etwas unschlüssig ihren eigenen Stock in der Hand hielt, holte Jade plötzlich aus und schlug auf Laura ein.

„Au! He! Übertreib doch nicht gleich so!“, schrie Laura erschrocken und wich zurück. So „unelfisch“ kannte sie ihre Mutter nicht.

„Rede nicht, wehr Dich!“, rief Jade mit ihrer kraftvollen, befehlsgewohnten Stimme. „Wenn Du an Flucht denkst, obwohl Du kämpfen müsstest, hast Du schon verloren und bist tot!“ Abermals schlug die Nachtelfin mit voller

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20�Entschlossenheit zu. Laura parierte den Schlag zwar, doch waren ihr Blick und ihre Bewegungen von Unsicherheit durchdrungen. Der nächste Schlag war noch stärker und Laura spürte plötzlich die Belastung im Handgelenk.

„Mehr aus dem Körper! Halt das Handgelenk gerade“, mahnte Jade scharf und schlug einige einfache Angriffe, die Laura immerhin das Üben der Anweisung ermöglichten.

„Wir sind nicht mehr im Dorf! Ich dachte, Du hättest das gestern schon gelernt!“, rief die Mutter böse. „Denk dran, dies ist ein Schwert! Und hinter mir kommen vielleicht schon die nächsten Gegner!“ Wieder schlug sie auf ihre Tochter ein, doch diesmal wich Laura nur aus.

„Ich will Dich aber nicht verletzen!“, protestierte Laura und behielt den Stock unten. „Du schlägst viel zu wild!“ Laura hatte sich gerade erst angewöhnt, eben nicht zu wild zuzuschlagen, um nicht schon wieder jemandem die Nase zu brechen. Doch jetzt auf einmal wollte ihre Mutter, dass sie genau so kämpfte?

„Und ich will nicht, dass Du stirbst!“, schrie Jade sie an und drang noch wilder auf sie ein. „Halt den Oberkörper ruhig, beweg Dich aus den Beinen! Wenn Du zu viel pendelst, verlierst Du Ruhe und Überblick und erschöpfst zu schnell! Wenn Dein Bauch Deine Glieder nicht zusammenhält, hast Du außerdem keine Kraft. Wir haben das schon so oft geübt, verdammt!“

Laura wusste, dass sie das beinahe tödliche Erlebnis mit den zwei Menschen nicht vor sich selbst herunterspielen durfte und es auch noch keineswegs verarbeitet hatte. Eine leise innere Stimme rief ihr zu, dass ihre Mutter völlig recht hatte, sie so hart zu trainieren.

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20� Laura wich einigen Hieben aus, andere parierte sie im letzten Moment. Plötzlich wurde sie am Kopf gestriffen. Ihr Blick verriet, dass sie wusste, was das bei einem Schwert bedeutet hätte. Doch sie machte gleich den nächsten Fehler: Sie dachte darüber nach. Jades Stiefelspitze traf sie mit voller Wucht in den Bauch. „Sieh auf mich, nicht auf die Waffen!“, schnauzte die Kriegerin. Würgend stürzte Laura auf die Knie und verlor ihre Waffe.

Jade zerschlug ihren Stock auf Lauras Hinterkopf.Benommen brach die Halbelfin nun ganz zusammen

und röchelte leise am Boden.Jade ertappte sich dabei, wie sie schon nachtreten

wollte, so sehr hatte sie sich in eine tödliche Kampfszene hineinversetzt. Athónons Hand an ihrem Bein hielt sie zurück. Stumm blickten die schmalen Augenschlitze des Gnomes zu ihr auf.

Wie ausgewechselt hockte Jade sich plötzlich zu Laura und nahm sie in den Arm. „Es tut mir leid! Ich habe doch solche Angst um Dich!“, jammerte Jade und streichelte immer wieder über Lauras blonde Locken.

Laura erwiderte die Umarmung zaghaft und flüsterte zurück: „Ich weiß, Mutter.“ Sie schüttelte sich und rappelte sich auf. „Aber wenn Du mich jedes Mal erst bewusstlos schlägst, bleibt nicht viel Zeit zum Üben“, scherzte sie und rieb sich den Hinterkopf.

Verlegen grinste Jade und hob einen neuen Stock auf. Mit wesentlich mehr Kontrolle, dennoch verbissen, führten die beiden dann weitere Übungen aus. Jades Vorgabe, Laura müsse ihre Mutter erst besiegen, bevor sie essen durfte, konnten die beiden allerdings nicht einhalten; als

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20�sie die Übungen aus Zeitmangel beendeten, stand es elf zu null für Jade. Immerhin hatte sie ihren rechten Arm zwischenzeitlich vom Rücken genommen.

„Beim Training der Dorfwache hast Du nie so gekämpft!“, stöhnte Laura beim Essen. „Mir tut einfach alles weh!“

Jade konnte nicht mitlächeln. Sie wechselte bittere Blicke mit Athónon und Mèra.

„Ich heiße Sundári, und das ist meine Gefährtin Safáydra“, begann der Elf seinen Bericht. „Wir liegen in der Tat im Krieg mit den Schlangenblütern, weil das Gebiet, das sie seit Kurzem beanspruchen, auf dem Weg von der Stadt und einigen Ausgängen in unsere eigene Enklave liegt. Früher ließen sie uns passieren und wir handelten sogar ein wenig, doch plötzlich sind sie feindselig geworden. Erst wollten sie Wegzoll, dann wollten sie uns gar nicht mehr passieren lassen. Wir sind jedoch auf die Passage angewiesen, da wir sonst überhaupt keinen brauchbaren Zugang mehr zur Außenwelt haben.“

Sundári verstummte und hob das Kinn.„Wieso sollte ich das jetzt glauben?“, fragte Srrig und

legte die Hände auf dem Rücken zusammen – eine unbewusste Bewegung, über die er sich im nächsten Moment unmerklich selbst wunderte.

„Weil es die Wahrheit ist“, antwortete Safáydra und unterdrückte ganz bewusst den Reflex, abweisend die Arme zu verschränken. „Wir haben die Schlangenblüter

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210 nie gemocht, das stimmt, aber wir waren höflich. Sie verbergen etwas in ihrem Gebiet, deshalb wollten sie uns nicht länger passieren lassen.“

Taren, der inzwischen zu sich gekommen war und sich nur noch nicht bemerkbar gemacht hatte, fragte darauf: „Und was könnte das sein?“

Leicht überrascht blickten die Elfen den Menschen an, wie er sich langsam erhob, sich den Schweiß von der Stirn wischte und über seinen verheilten Unterarm rieb.

Sundári erwiderte auf Tarens Frage: „Wir wissen es wirklich nicht. Es würde mich wundern, wenn diese Leute etwas von Wert besäßen. Wahrscheinlich haben sie einfach einen neuen Götzen aufgestellt, der sie nicht mehr beschützt, wenn Fremde ihn sehen ... Die Schlangenblüter sind außerordentlich abergläubisch, müsst Ihr wissen.“

Srrig und Taren schwiegen darauf. Nach einigen Lidschlägen fragte Taren leise: „Besteht Eure Enklave nur aus Nachtelfen?“

Safáydra atmete erschrocken ein und starrte Taren mit großen Augen an. Sundári fragte überrascht: „Woher wisst Ihr ... das?“

Tarens Blick glitt ins Leere, während er schwieg. Als die Elfen gerade dachten, er würde nicht mehr antworten, murmelte Taren: „Ich weiß eben davon.“

Sundári seufzte schwer: „Ja, wir sind dort alle Nachtelfen.“

„Könnt Ihr uns Unterschlupf gewähren?“, bat Taren. „Wir müssen uns über unser weiteres Vorgehen erst selbst klar werden, außerdem könntet Ihr uns derweil die Gänge erklären.“

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211Srrig wollte zunächst widersprechen und öffnete den Mund, doch er schloss ihn einfach wieder, auf Tarens eindringlich bittenden Blick hin.

Die beiden Elfen sahen sich ebenfalls stumm an. Schließlich nickte Sundári. „Das wird möglich sein“, versprach er, „kommt, hier entlang.“ Sundári ging voraus, dicht gefolgt von Safáydra. Die beiden verschlangen im Gehen ihre Finger miteinander und schmiegten kurz die Schultern aneinander.

„Ja, Meister!“, hörte Srrig sich verlegen sagen, doch seine Stimme klang ungewohnt – jung. Er sah sich wieder in diesem Kloster-Innenhof, mit wesentlich weniger Muskeln am Körper als er heute besaß. Ein anderer Tigermann stand vor ihm und drückte ihm einen Strohbesen in die Hand. „Dass das nie wieder vorkommt!“, sagte der ältere Tigermann. Der junge Srrig nahm den Besen entgegen ohne aufzusehen. Der Meister schob die Hände in die weißen Ärmel und wandte sich zum Gehen. Srrig verbeugte sich tief und begann die sinnlose Aufgabe, den Wüstensand in eine Ecke zu fegen, während der Wind ihn immer wieder zurückwehte. Das alles geschah in der glühenden Mittagssonne, wo andere Tigermenschen sich am liebsten das Fell vom Leib gerissen hätten, keinen Handschlag taten und im Schatten dösten. Ihre Vorfahren waren durch Kriege immer weiter nach Süden vertrieben worden, unfähig, ihre angestammte Heimat zurückzuerobern.

Die Gruppe betrat eine schmale, hohe Höhle, deren Decke im Fackelschein nicht mehr zu sehen war. Unvermittelt blieb Srrig stehen. „Ich habe ein ungutes Gefühl“, flüsterte er. „Raus hier!“, brüllte er plötzlich,

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212 packte Taren am Kragen und zog ihn hinter sich her wie eine Fahne.

Die beiden Elfen blickten sich verwirrt um und tauschten irritierte Blicke. Dann wurde Sundári von einem Pfeil in den Hals getroffen. Gurgelnd stürzte er zu Boden und stierte Safáydra an, die entsetzt zurückprallte. „Nein!“, schrie sie verzweifelt und stand einfach da, mit den Händen vor dem Mund.

Sundáris stumme Lippen formten nur ein Wort: „Lauf!“

Safáydra schüttelte heftig den Kopf und schrie: „Ich lass’ Dich nicht zurück!“ Sie trat auf Sundári zu, um ihn zu packen und zu ziehen, da streifte ein neuer Pfeil ihr Schienbein.

„Lauf doch!“, würgte Sundári kaum verständlich hervor, während ein Blutschwall über seine Lippen sprang. Seine Augen wurden glasig.

„Nein!“, schrie Safáydra panisch.„Komm hierher!“, brüllte Srrig hinter der Biegung

hervor, wo er und Taren in Deckung gegangen waren. „Sonst sterbt Ihr beide!“

Ein weiterer Pfeil schoss auf Safáydra zu, bohrte sich durch ihren Oberschenkel und ließ die Nachtelfin schreiend zu Boden stürzen. Doch anstatt endlich in Sicherheit zu kriechen, robbte sie mit Hilfe des gesunden Beines ganz neben Sundári, dessen Blick inzwischen gebrochen war. Schluchzend legte Safáydra ihren Kopf auf seine stille Brust, sah in seine toten Augen und blieb liegen.

„Tja, dann sterben sie eben beide“, presste Taren tonlos hervor.

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213„Ja, sieht so aus“, seufzte Srrig. Als wäre Randolph persönlich hier, konnte der Tigermann für einen Moment den strafenden Blick seines Freundes vor sich sehen. Nie hätte der nobelste und weiseste der vier Könige Unschuldige zurückgelassen. Randolph war das vielleicht einzige Wesen auf Hevas Leib, dessen Meinung Srrig stets blind zu akzeptieren bereit war.

Auf allen vieren sprengte der Tigermann mit übermenschlicher Schnelligkeit in die Höhle zurück. Beinahe hätte man ihn für einen echten Tiger gehalten, der im Sprung angreifen wollte. Srrig packte die kreischende Safáydra wie ein Spielzeug und sprintete nur auf den Hinterbeinen zurück in die Deckung.

Die Elfin schrie und schlug wild um sich. Srrig packte sie an den Handgelenken und schubste sie unsanft an die Felswand. Er trat ihr auf den Fuß, von dem er spürte, dass sie ihn trotz des Pfeiles damit hatte treten wollen. „Hör mir zu! Sundári ist tot, aber das ist kein Grund für Dich, ihm zu folgen! Beruhige Dich! Wir müssen hier weg, und nur Du kennst einen anderen Weg!“

Elendig schluchzend sank die Elfin an Srrigs Schulter. Schließlich brachte Safáydra hervor: „Wir müssen den Gang zurück und dann bald links.“

„Gehen wir“, sagte Srrig darauf und ergriff die Elfin an der Taille. Mühelos wie einen leeren Rucksack legte er sie sich über die Schulter, nur vorsichtiger.

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214 7

Im Gehen legte Taren Safáydra die Hand auf die Beinwunde und murmelte ein Gebet. Plötzlich fiel der Pfeil zu Boden und die Wunde schloss sich. „Jetzt wirst Du zumindest nicht mehr verbluten“, sagte Taren und wischte sich umständlich die Hand an einem alten Tuch ab, gleichzeitig die Armbrust festhaltend, während die Elfin ihn von Srrigs Schulter herab undeutbar musterte. „Wenn wir in Sicherheit sind und ich mehr Ruhe habe, kann ich mich auch noch besser um die Wunde kümmern“, fügte Taren hinzu. „Aber allmählich werden die vielen Gebete anstrengend. Ich bin zwar kein Zauberer, doch auch Bruder Mond fordert Tribute für seine Gunst, wie alle Götter.“

Er wischte sich über die nasse Stirn und versuchte vergeblich, seinen unsicheren, schleppenden Gang zu verbergen, der von seiner Erschöpfung durch die wundersam wirkenden Gebete herrührte. „Zaubervorgänge“ aller Art mochten subtil und unscheinbar verlaufen, egal ob bei Tempelkriegern, Zauberern oder sonst jemandem – die schädlichen Wirkungen auf den Körper taten dies nicht.

„Du bittest einen Gott, für Dich die Arbeit zu machen, und dafür erschöpft er Dich?“, fragte Safáydra irritiert von Srrigs Schulter herab.

Etwas pikiert funkelte Taren die Nachtelfin an und antwortete: „Ja, genau so ist das. Durch meine Gebete lenke ich einen winzigen Teil der Kraft von Bruder Mond.“

„Wir Elfen nennen das Zauberei“, erwiderte Safáydra vorsichtig.

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215„Zauberei ist götterlästerlich unter Menschen“, knurrte Taren reflexartig. „Es ist eine dunkle und verbotene Frucht. Nur was die Götter uns bereitwillig geben, dürfen wir benutzen. Jegliches andere Wissen ist dämonischen Ursprungs. Schade, dass ihr Elfen diese Wahrheit in Sachen Zauberei missachtet oder vergessen habt.“

„Das glauben die Menschen?“, wunderte sich Safáydra, ehrlich bemüht, nicht spöttisch zu klingen.

„Ja, allerdings“, knurrte Taren und starrte noch finsterer drein. „Die Prophezeiung von Theb Nor lehrt uns seit jeher, dass Wissen an sich zunächst ,böse‘ ist und den Dämonen im vergangenen Glorreichen Zeitalter den Dolchstoß in den Rücken Hevas ermöglichte, um sie zu überwältigen. Wir verloren das schlechte Wissen glücklicherweise wieder und schlugen die Dämonen zurück, und nun passen die Götter genau auf, was wir besitzen dürfen und was nicht.“

Schließlich verbannten sie den Widersacher,

Doch mitsamt des bösen Wissens ihrer Zeit.

Die Welt blieb zerstört und leer zurück, sie sah

Das Ende des Glorreichen Zeitalters.

Fort geschritten vom Fortschritt,

Sollte die Welt in die Wirklichkeit zurück.

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216 Safáydra unterdrückte ein Grinsen und schwieg. Ihr Volk betrachtete die genannte Prophezeiung, die Wissen aller Art verteufelte, als Aberglauben der Jungen Völker, die noch an Götter glauben mussten, um sich zu orientieren und einen Halt im Leben zu haben. Sie konnten nach elfischer Meinung noch nicht allein auf eigenen Füßen stehen.

Ihre Gesichtszüge verzogen sich wieder gequält; das Gespräch hatte sie nur kurz vom Tod ihres Gefährten ablenken können. Sie befühlte ihr Bein, während Srrig sie weiterhin so mühelos trug, als sei sie bloß ein kleines Wanderbündel.

Nachmittags erreichte Mèras Reisegruppe ein Menschendorf mit strohgedeckten Bruchsteinhäusern. Eine breite Straße lud sie ein und führte ihre Blicke bis direkt vor die Tür eines großen Hauses, das eine Herberge zu sein schien: Zwei Reihen Fensteröffnungen mit grün bemalten Läden zeugten von vielen kleinen Zimmerchen auf zwei Etagen. Ein übermächtig dickes Strohdach bedeckte das Haus; nur ein rauchender Steinkamin ragte daraus noch hervor.

„Wir werden viel Zeit verlieren, wenn wir hier bleiben, statt später in der Wildnis zu übernachten“, murmelte Mèra. „Ich habe sowieso das Gefühl, wir werden viel zu viel Zeit verbrauchen, bis wir unser Ziel erreichen. Ich fühle im Nacken, wie die Dinge sich zuspitzen.“

„Laura und ich brauchen keine Herberge, meinetwegen

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21�können wir auch noch weiterreisen“, erklärte Jade und zupfte an ihrer Kapuze. Ihre Wangen waren inzwischen tiefrot und ein wenig Haut schälte sich ab.

„Vor allem in einem Menschendorf brauchen wir keine Herberge“, brummte Laura abfällig.

Mèra senkte den Blick und murmelte noch leiser: „Das wird alles nicht reichen. Die Zeit läuft mir schneller davon, als ich gedacht hätte.“ Etwas lauter entschied sie dann: „Wir bleiben hier. Ich werde einen Zauber vorbereiten und gegen feindliche Spürzauber tarnen; dieser Zauber wird uns unbemerkt bis zu dem Gefährten bringen, den ich in der Ferne spüren kann. Das geht immer noch schneller, als wenn wir über Land weiterreisen, zumal Jades Pferd nun zwei Frauen tragen muss. Spätestens ab der Grenze der Chimärier wäre das Ganze obendrein genauso gefährlich wie der Zauber.“

Leiser fügte sie hinzu: „Damit die Dämonen meinen Zauber nicht aufspüren können, muss ich eine sehr starke Tarnung aufrechterhalten. Das wird lange dauern und ich werde in dieser Zeit abwesend und verwundbar sein. Ich hoffe, ich kann mich auf Euch verlassen, mich zu schützen – während der nächsten ein bis zwei Tage.“

„Natürlich“, nickte Jade sofort. Auch Laura schien sich auf die Aufgabe zu freuen und lächelte. Nur Athónons Steinmiene rührte sich nicht, verdüsterte sich sogar eher noch. Sein Blick traf sich mit Mèras Blick; traurig und verlegen sah die geheimnisvolle Elfin weg.

Auch Taffi waren die subtilen Blicke zwischen Athónon und Mèra nicht entgangen. Das Chamäleon krabbelte nun ganz aus Athónons Rucksack, aus dem es bisher nur

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21� den Kopf gesteckt hatte. Es hängte sich mit den Krallen in Athónons Wams, vor seine Brust.

„Ja, Taffi?“, fragte Athónon ohne Lächeln.Taffi sagte gar nichts und blickte den Gnom nur

durchdringend mit seinen seltsamen, schwarzen Augen an, während die Gruppe langsam von den Pferden zur Herberge getragen wurde.

„Die Herberge ist doof!“, krähte Zeeris’ Stimme aus dem Nichts. „Die haben gar keine eingelegten Augäpfel! Ich habe schon mal geguckt ...“ Trübsal blasend setzte er sich rücklings auf Athónons Pferd und lehnte sich an den breiten Gnomenrücken.

Nervös schaute Laura sich um, als die Gruppe von den Rappen gestiegen war. Sie führten ihre Tiere an den Zügeln zum Stall direkt neben der Herberge.

Jade berührte ihre Tochter am Ellbogen und raunte ihr ins Ohr: „Halt Dich an Athónon, wenn Du mit Menschen zu tun hast. Er kennt sich noch viel besser als ich mit diesen Wesen aus, außerdem beherrscht er deren Sprache am besten von uns, abgesehen vielleicht von Mèra.“

Athónon trat vor, auf den höchst pickeligen Stallburschen zu, der am Eingang stand und die Reisegruppe mit offenem Mund anstarrte. „Hier, Junge, kümmere Dich um unsere Pferde“, sagte Athónon trocken und drückte dem Stallburschen eine halbe Goldmünze in die Hand.

Mit großen Augen stierte der Junge das Geschenk an, von dem er vermutlich mehrere Wochen bequem leben konnte. Er nickte eifrig und ergriff die Zügel der Rappen. „Natürlich, Herr! Ihr werdet absolut zufrieden sein!“,

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21�versicherte der Jugendliche mit krächzender Stimme. Die Münze verschwand in seiner Faust.

„Lektion Nummer eins über Menschen: Egal was sie sagen, Gold ist ihr höchster Gott“, wisperte Jade spöttisch zu Laura.

„Wirklich?“, flüsterte Laura irritiert, die den Scherz nicht verstanden hatte.

Die Gruppe betrat den großen Schankraum der Herberge, wieder ging Athónon voran. An mehreren klobigen Eichentischen saßen sicherlich zwanzig Menschen, die mit schäumenden Trinkhörnern und dampfenden Fichtenholzschalen beschäftigt waren oder sich unterhielten. Auf einem großen Tisch vor der Kaminseite des Schankraumes lag ein halb gegessenes gebratenes Schwein; um den Braten herum saßen derbe, laute Menschengestalten, die grölten und lachten, sich das Bier in die Bärte laufen ließen und große Schweißflecken unter den Ärmeln hatten. Gerade warf einer von ihnen einen Holzscheit ins prasselnde Kaminfeuer. Alles in allem hing eine feuchtwarme Dunstwolke im Schankraum, die insbesondere die drei Elfinnen dazu brachte, die zierlichen Nasen zu rümpfen.

Laura versuchte, eine gewisse Scheu zu verbergen. Sie schielte verstohlen zu den Seiten, während Jade eher angewidert den Blick stur geradeaus richtete. Mèra folgte Athónon teilnahmslos.

Einige Gäste starrten die drei Elfinnen und den Gnom mit offenem Mund an, was insbesondere Laura sichtlich unangenehm war. Die Tavernengeräusche verebbten

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220 jedoch nicht ganz; nicht alle Gäste sahen zum ersten Mal Elfen und Gnome, und nicht alle waren von so schlichtem Gemüt, dass sie jedes fremde Gesicht nur mit einem dumpfen Schafsblick begaffen konnten.

Gerade als Athónon den Wirt ansprechen wollte, der bereits lächelnd hinter der rustikalen Eichentheke – einem sehr langen, schmalen Tisch – auf die Neuankömmlinge wartete, sprang ein junger Mann mit einem bunten Stirnband auf. Er ging geradewegs auf Laura zu.

„Na, so eine Freude! Was für ein betörender Anblick!“, rief der junge Mann auf Elfisch und zog sich das Stirnband vom Kopf; auch er war ein Halbelf. Sein Gesicht war ehrlich und fröhlich und besaß ein paar hellbraune Barthärchen. Ohne abzuwarten, ergriff er Lauras Hand und schüttelte sie kräftig. „Willkommen in der Herberge ,Schwanenteich‘ im Dorf der Reisenden, Felswegheim!“, rief der Halbelf. „Mein Name ist Wenndur, ich bin hier der hauseigene Barde. Setz Dich doch zu mir, ich brauche dringend eine neue Geschichte für meine Lieder, und Du siehst mir aus, als könntest Du sie mir erzählen!“ Sein Menschendialekt machte sein Elfisch etwas hart, aber im Prinzip sprach er es fließend und fehlerfrei.

Wenndur zog Laura mit sanfter Gewalt an seinen Tisch, der aus zwei dicken, langen Stammscheiben dunklen Eichenholzes zusammengefügt war und auf vier Beinen aus dünnen Buchenstämmen stand. Die Halbelfin starrte verlegen grinsend hinter sich, wo noch immer Jade, Mèra und Athónon standen. Offensichtlich spürte der Barde nicht im Geringsten, wen er in Lauras Begleitung vor sich hatte. Er hatte die drei anderen keines Blickes gewürdigt.

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221Laura ließ sich die dreiste Einladung etwas scheu gefallen und alle Umstehenden sahen sofort, dass das junge Mädchen sich durchaus gern schmeicheln ließ und zudem die forsche Art des Barden keineswegs verteufelte.

„Mutiges Bürschlein“, zischte Jade leise und legte eine Hand ans Schwert. Sie wollte auf Wenndur losgehen und ihn zurechtweisen, doch Mèra hielt sie kopfschüttelnd am Arm zurück.

Die Elfin flüsterte: „Er ist reichlich dreist, aber doch nur ein harmloser Barde; lass ihn und Deine Tochter ruhig gewähren. Wer weiß, vielleicht erhalten wir auf diese Weise sogar nützliche Informationen über den Ort.“ Jade funkelte die Elfin aufgebracht an. „Natürlich ist es am Ende Deine Entscheidung“, beschwichtigte Mèra sie daraufhin.

Mèra schob Athónon zur Theke weiter, beide zeigten keine erkennbare Regung im Gesicht.

Jade blieb einen Moment unschlüssig stehen und sah zu, wie Wenndur ihrer Tochter einen Schemel an den Tisch rückte. Laura nahm Platz und lächelte vergnügt dabei.

Die nachtelfische Kriegerin schlenderte in Wenndurs Rücken und legte ihm locker ihre schlanke Hand in den Nacken. Dann beugte sie sich mit einem kühlen Lächeln über seine Schulter, um ihm mit melodiösem Akzent in der Menschensprache ins Ohr zu raunen: „Sie ist übrigens meine Tochter, Freundchen. Du benimmst Dich lieber. Ich habe schon gefährlichere Männer als Dich getötet. Dies ist kein Spiel.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, folgte Jade Mèra und Athónon an die Theke. Ihr Blick verriet den Begleitern Jades aufgewühlte Sorgen.

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222 Wenndur war für einen Moment das Grinsen vergangen, doch als Jade verschwand, verbreiterte sich sein Mund wieder fröhlich und er zwinkerte Laura zu. „Ich liebe diesen Dialekt, wenn Elfen ,Mensch‘ sprechen“, raunte er in elfischer Sprache, grinste breit und rollte mit den Augen.

Laura hatte kein Wort der Menschensprache verstanden, aber sie kannte ihre Mutter und schaute ihr wütend nach.

Es saßen noch zwei Menschen am Tisch, ebenfalls junge Männer, die Wenndur als Tommo den Hufschmied und Finngrad den Zimmermann vorstellte. „Sie sind Flüchtlinge der heimischen Kinderherden und herrschsüchtiger Weiber!“, lachte Wenndur. Nachdem er seinen Scherz auch in Menschensprache vorgetragen hatte, schlug er seinen dicken Bierkrug an die ebenfalls hoch gehaltenen Krüge der beiden, während Laura unsicher zusah. Sie wagte nicht zu fragen, wie der Menschenscherz gemeint war und lächelte dünn mit. Sie versuchte sich einzureden, dass Menschen genauso wenig alle gleich waren wie Elfen. Dass die Menschen hier nicht automatisch ihre Feinde waren.

„Ich bin Laura“, stellte sie sich dann selbst in beiden Sprachen vor, wobei ihre Sprachkenntnis für kaum mehr als das reichte. Sie versuchte, möglichst souverän dabei zu wirken, trotz der fremden Umgebung, die sie verschüchterte.

„Noch einmal willkommen, Laura! Was willst Du trinken?“, fragte Wenndur laut und erfasste ihre Schulter.

„Was trinkt man hier denn so?“, fragte sie unsicher auf Elfisch zurück und streifte Wenndurs Hand ab.

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223„Na, einen Gerstensaft natürlich!“, entgegnete Wenndur; ein eigenes Wort für Bier gab es im Elfischen nicht. „Heda, Wirt, ein Bier für unseren neuen Gast!“, rief er über die Schulter, wieder in Menschensprache.

Jade drehte sich auf dem Absatz herum und funkelte ihre Tochter vorwurfsvoll an. Laura zog zur Antwort nur die Schultern hoch und grinste schief, was Jade wiederum seufzend den Kopf schütteln ließ.

„Sie weiß hoffentlich, was Alkohol ihrem Körper antut“, murmelte Mèra zu Jade.

„Sie hat Geschichten darüber gehört“, seufzte Jade besorgt. „Ach, man sollte meinen, sie hätte aus ihrem Fehler gestern gelernt. Jetzt lässt sie sich sogar freiwillig mit diesen Wesen ein!“

„Sie sind nicht alle böse“, entgegnete Mèra, „sonst dürften wir gar nicht hier sein.“

Jade musterte Mèra noch für einen Augenblick. Dann grinste sie plötzlich dünn, hielt die gefalteten Hände vor den Mund und wisperte: „Er sieht gut aus, oder? Für einen Halbelfen jedenfalls ...“

Mèras Lächeln jedoch war kaum sichtbar, sie senkte den Blick ein wenig. „Ja, ein charismatischer Jüngling“, hauchte sie.

Jades Lächeln gefror. Sie spürte, dass Mèra etwas verschwieg. „Betrifft es meine Tochter?“, fragte sie nur mit einem Kloß im Hals.

Leicht überrascht sah Mèra sie an. Die Halbgöttin verneinte und sah verlegen wieder weg.

Jade nickte betreten und mit großen Augen.

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224 Nachdem Athónon beim Wirt Topta eine weitere Goldmünze hinterlassen hatte, erklärte der eifrig seinen vermeintlich reichen Gästen den Weg die dunkle Holztreppe hinauf zu den bestellten Einzelzimmern. Die Treppenbohlen bogen sich in der Mitte durch und waren abgewetzt von zahllosen Füßen. Während Jade, Mèra und Athónon sich anschickten, die Zimmer zu beziehen, brachte Topta Lauras Bier an den Tisch.

„Darf man wissen, was Euch in unser ehemaliges Flüchtlingsdorf treibt?“, fragte Topta mit breitem Grinsen und blickte auf Laura hinab.

Die musterte den Wirt jedoch nur fragend und schielte dann hilfesuchend zu Wenndur hinüber. Der übersetzte Toptas Frage, und übersetzte auch Lauras zögerliche Antwort: „Wir sind auf der Durchreise, um einen Freund zu besuchen.“

„Und dafür braucht Ihr sogar unelfische, eiserne Kettenhemden? Oder ist die Gegend hier wirklich schon so gefährlich geworden?“, fragte Topta mit einem leichten Lauern in der Stimme. Sein Lächeln wurde falsch. Bevor Wenndur überhaupt die Frage übersetzen konnte, fügte Topta eilig hinzu: „Nun, das ist Eure Angelegenheit. Zu viel Neugier haben die Götter ohnehin verboten. Und eigentlich seht Ihr ja auch nicht so aus, als wolltet Ihr Ärger machen. Aber ich warne Euch trotzdem: Wenn Ihr in meinem Haus einen Streit anzettelt, hole ich auf der Stelle die Dorfwache!“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Topta und kehrte hinter seinen Tresen zurück. „Abenteurer, pah. Allesamt Verlierer!“, spottete er im Gehen leise.

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225„Was hat er denn gesagt?“, wollte Laura wissen, „es klang irgendwie feindselig.“

„Er hat sich nur gewundert, wieso Du in seiner wunderschönen Heimat ein Kettenhemd zum Reisen trägst“, übersetzte Wenndur sehr frei. Auch der Barde kannte die Gebote der Menschengötter wider jegliches Wissen, das nicht für den Alltag benötigt wurde; Neugier war ein überaus verpönter Wesenszug unter Menschen. Obgleich dem eher unreligiösen Wenndur das egal war, war er es doch gewohnt, seine Mitmenschen nicht in Verruf zu bringen und im Zweifel zu ihren Gunsten zu reden.

Lauras Miene verfinsterte sich. „Die Rüstung hatte mich bereits einmal gegen zwei Menschenkrieger beschützen müssen. Außerdem war dies vor zwanzig Jahren noch ein Kriegsschauplatz gegen Chimärier und Tiefenweltler. Meine Mutter und der Gnom in unserer Begleitung, Athónon, haben hier auch gekämpft und die Gegend erst zu dieser ,wunderschönen Heimat‘ gemacht!“

„Wirklich?“, platzte es aus Wenndur heraus und er strahlte bis über beide Ohren. „Das musst Du mir alles erzählen! Daraus mache ich ein Lied! Oder besser gleich zwei Lieder!“, rief er und beugte sich erwartungsvoll vor. „Na los, zier Dich doch nicht! Und gib ruhig ordentlich an, das macht das Lied sowieso viel besser! Und vergiss Dein Bier nicht! Geschichten sind mein täglich Brot, ich muss so neugierig sein!“

Mit einem dünnen Lächeln begann Laura zunächst von ihrer eigenen Heldentat zu berichten, während Wenndur leise für Tommo und Finngrad übersetzte. Die drei

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226 Zuhörer sahen Laura mit einer Mischung aus Skepsis und Respekt an, während sie erzählte. Sie zog den Kragen ihrer Tunika und des Kettenhemdes von ihrer Schulter und präsentierte ihre rosige, gut verheilte Narbe. Sie wunderte sich still, dass sie ihren Arm nach solch einer Verletzung wieder ganz normal bewegen konnte.

Von einem Nachbartisch schielten wieder zwei gepflegte Menschen in hellen Roben herüber, ein Mann und eine Frau, die nur sehr langsam ihr Hundefleisch aßen und an dem Wein in ihren noblen, blauen Krügen aus Keramik bloß nippten. Laura bemerkte die Blicke in ihrer Begeisterung über ihren Kampf nicht.

„Ich fange gleich mit der Vorbereitung an“, erklärte Mèra, kaum dass das Trüppchen den engen, weiß verputzten Flur am Ende der Treppe erreicht hatte. „Es wäre schön, wenn immer einer von Euch beiden Wache halten könnte, direkt in meinem Zimmer.“

„Ich komme sofort“, erwiderte Athónon darauf und verschwand in seinem eigenen Zimmer.

Taffi streckte nun wieder den Kopf aus dem Rucksack. „Ja, ja, ich bleibe hier und passe auf die Sachen auf. Wie immer“, maulte das Chamäleon, ohne dass Athónon etwas gesagt hätte.

„Danke“, antwortete Athónon freundlich und schloss die Tür wieder hinter sich.

Auf dem Flur vor Mèras Tür hielt Jade den Gnom noch einmal auf. Sie beugte sich zu ihm herab und erfasste seine Schultern. Leise wisperte sie: „Meinst Du, ich sollte nach unten gehen? Vielleicht sollte lieber ich zuerst wachen und

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22�Du behältst an meiner Stelle diesen halbelfischen Streuner im Auge?“

Athónon dachte einen Moment lang nach. Dann entgegnete er: „Nein, Du wärst im Moment vermutlich zu abgelenkt, um zu wachen. Geh Du nur hinunter in irgendeine Nische, dann wird Deine Tochter sich schon nicht allzu beobachtet fühlen.“

„Na gut“, brummte Jade und schlich die Treppe hinab, während Athónon in Mèras Zimmer trat.

Vorwurfsvoll musterte der Gnom die Elfin.„Was habt Ihr, Athónon?“, fragte sie sanft, während sie

in ihrem Rucksack kramte.Der Gnom schilderte: „Ich erinnere mich daran, wie

ihr Euch mit einem Dämonenschwert durchbohrt habt und nicht daran sterben konntet, so sehr ihr das auch zu jenem Zeitpunkt herbeigesehnt hattet. Wieso habt Ihr den anderen gesagt, ihr wäret verwundbar und bräuchtet Wachen? Was führt Ihr im Schilde? Ich sehe manchmal Dinge in meinen Träumen, wie Ihr wisst ... Und die gefallen mir im Moment gar nicht.“

Mèra hielt inne, ihren Rucksack auszupacken, und wandte sich Athónon zu. Seufzend erklärte sie: „Ich sehe auch Dinge in meinen Träumen. Einiges hat sich geändert. Wenn mich diesmal ein Schwert durchbohren sollte ... werde ich sterben. Der Suchzauber, dann Lauras Heilung, all das hat mich schon jetzt weitaus mehr angestrengt, als es normal für mich gewesen wäre. Ich ... bin wohl etwas außer Form.“ Sie sah Athónon nicht mehr an, sondern packte weiter ihren Rucksack aus.

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22� Jade versuchte, nicht zu sehr zum Tisch ihrer Tochter zu schielen. Sie setzte sich an einen wackelnden Ecktisch neben der Treppe. Ein zerzauster Mensch schnarchte dort mit dem Kopf auf dem Tisch und umklammerte einen halb leeren Krug mit schal gewordenem Bier. Der Gestank des Mannes und seines Bieres schnürte Jade die Kehle zu, aber wenigstens saß sie so nicht im Blickfeld ihrer Tochter und des anderen Halbelfen.

„Da ist ihre Aufpasserin“, sagte Tommo der Hufschmied grinsend zu Wenndur.

Wenndur schielte kurz über die Schulter und übersetzte dann für Laura: „Deine Mutter macht sich wohl Sorgen um Dich.“ Grinsend deutete er mit dem Kopf in Jades Richtung.

Verärgert ließ Laura den Blick sinken und seufzte leicht. „Ich verlasse unser Dorf zum ersten Mal“, erklärte sie kleinlaut und umfasste ihren Krug mit beiden Händen. Zuversichtlicher sagte sie: „Aber ich habe schließlich meinen eigenen Willen und meine Begleiter verstehen nichts vom Feiern.“

Unsichtbar über ihr schwebend dachte Zeeris schnippisch bei sich: „So, ich verstehe also nichts vom Feiern? Püh!“

„Na, wie auch immer“, rief Wenndur lauter, „ich hole jetzt meine Laute und dann probieren wir unser neues Lied aus!“ Begeistert sprang er auf.

„Nein!“, rief Laura erschrocken, sprang ihm hinterher und hielt ihn am Arm fest. „Ich will das nicht. Das muss nicht gleich jeder hier hören.“

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22�„Wen genau meinst Du mit ,jeder‘?“ Wenndur grinste und schielte unmerklich in Jades Richtung.

„Komm schon, lass das“, bat Laura verärgert.Seufzend setzte der Barde sich wieder und brummte: „Na

gut, vielleicht später. Später muss ich sowieso auftreten, sonst bringt Topta mir nichts zu essen!“

Jade vergaß für einen Moment ihre Sorgen und musste lächeln, wie sie ihre neugierige Tochter am Tisch des Barden und seiner Freunde beobachtete. Auch Jade hatte sich als blutjunge, damals noch blonde Elfin und Rüstungsmacherin, geradezu magisch zu Athónon, Cesius und Xelos hingezogen gefühlt. Zu einer Zeit, noch bevor Jade je wirklich ihr Dorf verlassen hatte, waren diese fremden Wesen in der elfischen Taverne eingekehrt und hatten in einer seltsamen Sprache miteinander geredet, mal ernste Mienen machend, mal tief und ehrlich aus dem Bauch lachend. Auch Jade war damals beleidigt gewesen und hatte nicht verstanden, wieso die drei Fremden ihre Begleitung in die Wildnis, zu irgendeiner feindseligen Höhle, nicht gewollt hatten.

Jades Lächeln verging. Laura schlug scheinbar denselben Weg wie sie ein, konnte Jade das zulassen? Konnte sie es ändern? Laura hielt das schmerzvolle, entbehrungsreiche Abenteurerdasein tatsächlich für erstrebenswert – oder hatte es zumindest bis gestern getan. Jade sah das jedoch anders und hoffte, Laura würde dieselben Schlüsse ziehen, bevor sie einmal weniger Glück als gestern hatte. War Jade etwa alt geworden, bloß weil sie so dachte?

Manche Entscheidungen erkannte der nüchterne,

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230 berechnende Geist vielleicht als falsch; doch die Seele, der Sitz der Wahrheit, bestand auf ihnen, um sich frei und lebendig zu fühlen. Und jene Elfen, die völlig ohne Risiko ihre Lebenszeit nur absaßen, anstatt wirklich zu leben, mochte Jade auch nicht. Doch welches Risiko war lebenswert, welche Erfahrungen waren es wert, selbst gemacht zu werden, und welche Risiken und Erfahrungen waren tödlich? Konnte Laura das erkennen, seit sie hoffentlich eine Lehre aus dem Überfall zog, den sie nur haarscharf überlebt hatte? Auch Jade hatte damals nicht verstanden, warum sie nicht ernst genommen worden war.

„Nun, aber einen gleichaltrigen, gutaussehenden Barden kennenzulernen, ist vermutlich ein erträgliches Risiko und eine annehmbare Erfahrung“, schmunzelte Jade im Stillen.

Das stinkende, schnarchende Menschending vor ihr hob träge den Kopf und unterbrach ihre Gedanken. Es lallte mit rauer Stimme: „He ... wer bist ’n Du? Von Dir habe ich gerade geträumt!“

Jade starrte den Mann mit leichtem Entsetzen an und versteifte sich auf ihrem Schemel. „Dagegen war Cesius ja mindestens ein Halbelf!“, dachte sie angewidert. Glücklicherweise fiel der Kopf des Mannes schon im nächsten Moment wieder auf den Tisch und gab weiter Schnarchgeräusche von sich.

„Was darf ’s sein?“, fragte Topta die Nachtelfin von der Seite, mühsam sein Grinsen unterdrückend.

„Nichts!“, rief Jade eilig, sprang auf und rannte die Treppe hinauf.

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231Kopfschüttelnd zog Topta sich wieder hinter die Theke zurück. „Elfen, pah. Magere Hungerhaken und Kostverächter. Schlechte Gäste“, grummelte er. Still grübelte er weiter: „Besonders die schwarzhaarigen sind immer so düster drauf, kommen oft auch nur bei Nacht raus, pfff.“ Was ein Nachtelf war, wusste jenseits des Elfenvolkes so gut wie niemand.

Melek hatte den Ausbruch des Tigerwesens und Tarens nicht mitbekommen, weil er noch mit Alynde beschäftigt gewesen war. Fassungslos hatte er den reglosen Körper angestarrt. Allmählich hatte er begriffen, was er getan hatte ... oder hatte es Ressu getan? Wie auch immer, er war dem Bösen wieder anheimgefallen, wie vor vielen Jahren schon einmal, als ein böser Geist ihn verflucht hatte.

Als Melek Messer war er bekannt geworden. Der jüngste Mörder der ganzen Region, der seine eigene Familie kaltblütig erstochen hatte. Ein Tempelkrieger aus irgendeiner großen Stadt war sein Erzfeind und ständiger Verfolger geworden, doch Melek hatte dessen Namen nie bewusst gehört und ihn auch nie gesehen. Gozbad, der Geist, der an den verfluchten Wurfdolch gebunden war, hatte Melek stets gewarnt und fliehen lassen. Der Tempelkrieger auf seinen Fersen hatte ihn nie erwischt.

Melek war aus seinen dunklen Gedanken hochgeschreckt und von Alynde fortgesprungen, als er das Gebrüll von Chimäriern gehört hatte. Er war so knapp noch durch das herabrasselnde Tor gesprungen, dass das Gitter einen

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232 Kratzer an seiner linken Wade hinterlassen hatte. Als Melek schon die Füße der Chimärier auf der Treppe nach oben gesehen hatte, war er in Deckung gesprungen – und auf dem Zwerg gelandet, der zu Gebraks Gefolge gehört hatte. Die beiden hatten sich nur giftig angefunkelt, aber keinen Ton gesagt, bis die Chimärier durch die Gänge ausgeschwärmt waren.

Als die schweren Schritte der Riesen verklungen waren, wagten sie es endlich, durchzuatmen.

„Nett, wie Du mit Frauen umgehen kannst“, spottete Brommil leise.

Melek sah schuldbewusst zu Boden. „Halt ’s Maul, Zwerg“, raunte er ohne große Überzeugungskraft.

„Mach Dir nichts draus, Junge, auch Monster brauchen Liebe“, bohrte Brommil weiter in der Wunde.

„Wer ist hier das Monster?“, wollte Melek den Zwerg anbrüllen, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken und er brachte nur ein heiseres Würgen hervor.

„Sollen wir das Tor für die anderen Sklaven öffnen?“, überlegte Brommil laut.

Melek dachte kurz nach. „Nein, das scheppert viel zu sehr. Da oben stehen bestimmt noch Wachen herum. Lass uns wenigstens unsere eigene Haut retten, anstatt gemeinsam mit den anderen Sklaven zu sterben.“

Brommil nickte ernst. „Sehe ich auch so. Helden beißen einfach zu früh ins Gras für meinen Geschmack.“

Mit finsteren Mienen schlichen sie vom Gitter und von der Treppe fort, durch den pechschwarzen Gang.

„Ich taste die linke Wand entlang, Du die rechte“, flüsterte Brommil.

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233Melek nickte unsichtbar im Dunkeln. Mit der freien Hand tastete er nach der Tonscherbe, die er als Messer im Gürtel trug.

Taren von Silberberg ... Silberberg. War das vielleicht der Name der Stadt, aus der damals dieser Tempelkrieger gekommen war? Bruder Mond, natürlich! So hieß der Kult, zu dem der Kerl gehört hatte! Der Dummkopf, dem Melek stets einen Schritt voraus gewesen war, da Gozbad ihn immer rechtzeitig gewarnt hatte. Sollte das Taren gewesen sein? Der war eigentlich ein ganz netter Kerl, auch wenn er etwas distanziert schien.

Es hatte Jahre gedauert, bis Melek trotz des Fluches einen Funken eigenen Willen entwickelt hatte und Gozbads Ratschläge, wer alles den Tod finden musste, infrage zu stellen begann.

Melek wusste bis heute nicht, ob es eine Gnade oder eine Strafe für ihn war, dass Gozbad sich deshalb eines Tages kurzerhand einen anderen Träger gesucht hatte. Wie aus einem dunklen Fiebertraum war Melek erwacht, nach Jahren des Massenmordens. Der neue Träger war einfach verschwunden und hatte Melek nicht angerührt.

Melek hatte sich das Leben nehmen wollen, doch ohne Gozbad war er wieder nur ein willensschwacher dummer Junge, dem der Mut dazu gefehlt hatte. Er war ziellos durchs Land gestriffen, hatte jeglichen Kontakt gemieden und sich jede Nacht in den Schlaf geweint, halb wahnsinnig vor Schuld und Einsamkeit.

Während er wieder einmal überlegt hatte, sich endlich umzubringen, war das Dorf, in dem er sich gerade versteckt

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234 gehalten hatte, von einem Spähtrupp der Chimärier geplündert worden. Völlig teilnahmslos hatte er sich als Sklave mitnehmen lassen.

Als die Chimärier erfahren hatten, dass sie Melek Messer gefangen hatten, dessen Name selbst bei ihnen bekannt war, hatten sie ihn sofort in die Arena der fernen Küstenstadt Harkýior bringen lassen, tief im Imperium. Dort sollte er kämpfen. Melek hatte sein Schicksal bereitwillig in die Hände der Götter gelegt und war davon ausgegangen, dass er im Kampf sterben würde, zur Strafe für seine Taten. Doch nun ...

„Hier geht ein Gang ab“, flüsterte Brommil und riss Melek aus seinen Gedanken. „Sollen wir den nehmen?“, fragte der Zwerg unschlüssig.

„Ich kenne mich hier genauso wenig aus wie Du“, gab Melek zurück, „und hören kann ich auch von nirgendwo etwas.“

„Also abgemacht, wir gehen links“, raunte Brommil und bog in den Gang ein. Melek folgte ihm stumm. Neben den Schritten des Zwerges schien er lautlos zu schweben.

Nach einigen weiteren Biegungen seufzte Safáydra traurig und murmelte: „Lass mich jetzt runter Srrig. Ich glaube, ich kann humpeln. Die Wache sollte mich zuerst sehen, die sind alle nervös.“

Srrig setzte die Nachtelfin behutsam auf den Boden und versicherte sich, dass sie wirklich stehen konnte, bevor er sie losließ.

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235Safáydra humpelte einige Schritte weit und blieb dann stehen. „Goldkatze!“, rief sie das elfische Losungswort in die Dunkelheit.

„In Ordnung“, kam die Antwort halblaut zurück.„Ich bringe zwei Fremde mit, die zwei Schlangenblüter

für uns getötet und eine dritte verjagt haben“, rief Safáydra und winkte Taren und Srrig zu sich.

„In Ordnung. Wo ist Sundári?“, fragte die Wache aus der Dunkelheit.

Safáydras Augen schimmerten feucht, ihre Lippen zitterten kurz und ihre Finger gruben sich in den Stoff ihrer Kleidung. Sie riss sich abrupt wieder zusammen und antwortete mit vibrierender Stimme: „Er hat es leider nicht zurückgeschafft.“

„Tut mir leid“, rief die Wache mitfühlend. Lauter fügte die Stimme hinzu: „Kommt alle rein. Willkommen in Quirmó, der einzigen Stadt der Nachtelfen weit und breit.“

„Eine gute Nachricht habe ich doch für Dich, Safáydra“, sagte beim Passieren der Nachtelf, der mit gespanntem Bogen hinter einem Fels wachte.

Safáydra musterte die Wache traurig.„Es mag Dich nicht wirklich trösten, aber ... Egal.

Wir haben eine Schlangenblüterin mit einem Bolzen der Chimärier in der Schulter gefasst. Sie wird gerade verhört“, berichtete der Elf mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen. „Ich glaube, es war eine der Hexen, jedenfalls war sie ziemlich hässlich; sie trug eine braune Robe und hatte keine Waffen dabei.“

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236 Undeutbar musterte Safáydra die Wache. Erst nach mehreren Lidschlägen reagierte sie mit einem Nicken. „Gut“, sagte sie knapp und hinkte weiter. „Kommt mit“, seufzte sie, ließ den Kopf hängen und winkte Srrig und Taren hinter sich her.

„Safáydra?“, rief die Wache den dreien nach.Die Elfin wandte sich noch einmal um. „Ja?“„Habt ihr denn nun herausgefunden, was die

Schlangenblüter verbergen?“, wollte die Wache wissen.„Nein, leider nicht“, seufzte Safáydra mit kraftloser

Stimme und humpelte weiter.Kaum hörbar flüsterte Srrig auf ‚Mensch‘ in Tarens

Ohr: „Sie ist äußerst angespannt. Sieh, wie sie ständig den Impuls unterdrückt, die Fäuste zu ballen. Etwas stimmt nicht.“

Auch Taren war das nicht entgangen, er nickte stumm.Abrupt blieb Safáydra stehen und wirbelte herum. Sie

lächelte verlegen zu Boden und zeigte nur auf eins ihrer langen, spitzen Elfenohren. Elfen waren in der Tat für ihre enorme Sinnesschärfe bekannt, wenn auch nicht unbedingt dafür, die Menschensprache zu kennen. Srrig und Taren hielten inne und schauten drein wie zwei Jünglinge, die bei einem Streich ertappt worden waren.

Plötzlich blickte die Nachtelfin böse und angriffslustig, doch genauso schnell brach ihr Wille wieder und sie sackte sichtlich zusammen. Schluchzend setzte sie sich auf einen Stein und vergrub das Gesicht in den Händen. Taren und Srrig schauten sich ernst an.

Unter Tränen berichtete die Elfin: „Sundári und ich wissen, was die Schlangenblüter verbergen. Wir wollten

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23�einen Handel mit ihnen machen und dieses armselige Dorf hier verraten und verlassen. Doch irgendwie ... konnten wir es dann nicht. Wir zogen unseren Handel zurück; damit waren die Schlangenblüter leider nicht einverstanden. Sie wollten aus uns herausholen, durch welche Tunnel sie Quirmó finden konnten, und jagten uns, bis wir auf Euch beide trafen. Den Rest kennt ihr. Die drei Schlangenblüter, die uns auf den Fersen gewesen sind, waren mittlere Anführerinnen einer Splittergruppe aus ,Amazonen‘, mit denen wir ins Geschäft kommen wollten.“

Die Wache am Eingang des Ganges sprach als Erstes: „Das solltest Du lieber dem Rat erzählen, bevor sie es von der Hexe erfahren müssen.“

Safáydra nickte unglücklich. Sie erhob sich wieder und schlurfte mit einer Hand auf der Beinwunde voraus.

Völlig unvermittelt sprengte sie dann an Srrig, Taren und der Wache vorbei in die Dunkelheit, erstaunlich schnell für ihr verwundetes Bein. Niemand versuchte sie aufzuhalten; Taren machte keine Anstalten, die Armbrust zu heben.

„Kann sie da draußen überleben?“, fragte Taren die Wache; seine Stimme verriet nicht allzu viel Anteilnahme.

„Keine Ahnung“, entgegnete der Elf, „aber wenn unser Rat sie des Verrats für schuldig befunden hätte, wäre sie sowieso hingerichtet worden. Ich weiß ja nicht, was genau sie den Schlangenblütern schon gegeben oder erzählt hat. Wenn Ihr bei uns beliebt werden wollt, solltet Ihr den Wachen weiter hinten im Gang davon erzählen, damit ich meinen Posten dafür nicht verlassen muss.“

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23� „Natürlich“, nickte Taren knapp. Er und Srrig marschierten tiefer in den Gang.

Srrig murmelte beiläufig: „Sie hat nicht gesagt, was es nun war, das diese Schlangenblüter verheimlichen.“

Taren stutzte, zischte dann etwas Unverständliches und biss sich auf die Lippe.

„Goldkatze!“, hörten sie hinter sich abermals Safáydras Stimme, diesmal jedoch zitternd und ängstlich.

„Komm ins Licht!“, rief die Wache misstrauisch und blickte kurz zurück zu Srrig und Taren, die stehen blieben und sich umdrehten.

Eine stark lispelnde, zischelnde Kriegerin in einer Lederrüstung knurrte: „Wirklich nedd von ihr, unsss herzzzuführen, an den Nebeneingang midd nur einer Wache.“ Sie schob Safáydra mit einem Kupferdolch an der Kehle vor sich her. Die Kriegerin war offensichtlich eine Schlangenblüterin mit menschlichem Anteil: Zuerst wirkte sie wie eine schwarzhaarige Menschenfrau, doch ihre Haut glitzerte silbergrün und ihre Giftzähne und ihre gespaltene Zunge waren nicht zu übersehen. Und sie kam nicht allein. Im Halbdunkel folgten ihr etliche gerüstete Gestalten, die sich die Stiefel mit Stoff umwickelt hatten, um weniger Geräusche zu machen.

Der wachestehende Elf starrte für einen Moment auf die Angreifer, dann brüllte er „Alarm!“ Er wirbelte herum und lief los, doch ein Pfeil durchbohrte ihn schon nach zwei Schritten. Mit einem schrillen Schrei brach er zusammen. Die Angreifer begannen nun ebenfalls zu laufen und trampelten über ihn hinweg. Safáydra wurde noch immer mit dem Dolch an der Kehle vorweggeschoben.

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23�Srrig und Taren zögerten nicht länger und sprengten den Gang entlang, Alarmrufe und „Nicht auf uns schießen!“ auf den Lippen. Zwei Pfeile sausten ihnen nach, einer striff Tarens Stiefel und einer ritzte Srrigs Ohr.

Glahnir wünschte seinem letzten Kunden einen schönen Abend. Dann warf er hinter ihm die Brettertür zu und riss den schwergängigen, breiten Bronzeriegel vor den Türrahmen im Bruchstein. Durch die kleine Fensteröffnung sah er im Haus gegenüber eine junge Frau mit zwei Kindern lachen und spielen. Glahnir seufzte gepresst und schlug die Fensterläden mit einem energischen Ruck zu. Auch hier zerrte er verbissen an einem breiten Bronzeriegel, bis das Metall sich widerwillig durch den Bügel bewegt hatte und das Fenster verschloss.

Glahnir stapfte am dunklen Holztresen seines Krämerladens vorbei ins Hinterzimmer, wo ein kleines, niedriges Kohlenbecken neben dem Durchgang für Licht und Wärme sorgte. Reihum verschloss Glahnir die drei weiteren Fensterläden mit ihren unwilligen Bronzeriegeln.

In der hintersten Ecke des kahlen Raumes stand ein Wassereimer. Glahnir beugte sich darüber und streckte die Hände zum Wasser aus, zögerte jedoch, kurz bevor seine Fingerkuppen die Wasseroberfläche berührt hätten. Er betrachtete sein Spiegelbild im Halbdunkel: das Bild eines allmählich alternden, hageren Mannes mit dunklem Haar.

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240 Er rasierte sich jeden Tag und schnitt regelmäßig um seine Ohren herum das Haar weg, sodass er als sehr gepflegt in seinem Dorf galt, fast schon übertrieben reinlich. Mit einer Hand fuhr er sich von den Schläfen aus durchs Haar und betrachtete den höher werdenden Ansatz. Mit der anderen Hand strich er sich über die tiefer werdenden Falten um seinen Mund herum. Einst hatte man ihm fröhliche Augen nachgesagt, doch er konnte sie nicht mehr im spiegelnden Wasser entdecken.

Ruckartig stieß er die Hände in den Eimer und schaufelte sich Wasser ins Gesicht. Prustend rieb er sich über Augen und Wangen und den Hals hinab. Ohne noch einmal in den Eimer zu blicken, erhob er sich und eilte zu seinem Schlaflager, einem großen Strohhaufen mit einer dicken Wolldecke. Eine zweite, dünnere Decke lag bereit, von ihm ergriffen und über ihn gezogen zu werden. Doch Glahnir stutzte mitten in der Bewegung und starrte mit offenem Mund auf seinen Schlafplatz.

Eine schwarzhaarige Schönheit mit einem dünnen Kleid räkelte sich darauf und blickte lasziv zu Glahnir auf. Mit dem Zeigefinger lockte sie ihn zu sich, doch er blieb stehen. „Wer bist Du? Wie bist Du hier hereingekommen?“, stammelte der Krämer.

„Ist das etwa wichtig?“, raunte die Schöne und strich mit ihren roten Fingernägeln über ihren Bauchnabel, der sich unter dem Stoff abzeichnete. Langsam spreizte sie Glahnir einen Schenkel entgegen und zog den Saum ein wenig höher, sodass ihre makellosen Unterschenkel sichtbar wurden.

Glahnir begann zu schwitzen und sein Herz schlug

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241höher. Er ballte die Fäuste und grinste hilflos. „Das ist ein Scherz!“, stammelte er. „Jemand hat Dich bezahlt, um sich über mich lustig zu machen!“

Die Schöne schürzte die Lippen und schüttelte langsam den Kopf. „Ich mag Dein Gesicht!“, hauchte sie lustvoll, „massiere meinen Nacken, bitte.“ Geschmeidig glitt sie auf den Bauch und rieb ihre Wange auf der Wolldecke, während sie Arme und Beine von sich streckte und wohlig raunte.

Glahnir begann zu zittern und starrte die Schöne fassungslos an. Er wischte sich mit dem Handgelenk über die Stirn, schluckte schwer und rannte plötzlich in den Verkaufsraum. „Wo bist du, Scherzbold? Willst du mein dummes Gesicht sehen? Oder ist das ein Trick, mich insgeheim auszurauben? Was soll das?“ Der Krämer rannte hinter den Tresen und griff unter einen doppelten Boden. Seine Hand fand ein klimperndes Säckchen; beruhigt zog er die Finger zurück, doch dafür sah er sich nun weiter fieberhaft im Halbdunkel um.

„Komm schon her zu mir!“, schnurrte die Schöne aus dem Hinterzimmer.

Glahnir blickte gehetzt zu ihr, eilte jedoch in genau die entgegengesetzte Richtung. In einem Holzregal lagen einige Kupfermesser in verschiedenen Größen. Glahnir griff sich das längste und hielt es entschlossen vor sich. „Was immer du willst, du wirst mich nicht übertölpeln, Frau! Ich werde nicht auf deinen Körper hereinfallen!“

Die Frau drehte sich auf die Seite und musterte Glahnir spöttisch. „Siehst du, deswegen bist du immer noch allein“, raunte sie, „du greifst einfach nicht zu, wenn sich dir mal

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242 eine Gelegenheit bietet. Wirklich schade für mich ... und dich.“

Glahnir leckte sich hektisch über die Lippen und wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn. „Das ist keine Gelegenheit!“, rief er schließlich.

Die Frau erhob sich. „Du bist ein Dummkopf und ein Schwächling“, sagte sie kalt und stolzierte auf nackten Füßen zu ihm. Glahnir hob mit zitternder Hand das Messer vor sich und starrte die Schöne furchtsam an. Langsam hob sie ihre Hand und strich mit den Fingern Glahnirs Unterarm bis zum Handgelenk empor. Hilflos sah der Krämer zu, wie sie ihm das Messer aus der Hand nahm und es dann demonstrativ neben sich zu Boden fallen ließ. „Das habe ich mir leichter vorgestellt“, sagte sie enttäuscht.

Mit den roten Fingernägeln beider Hände strich sie ihm über die Brust und kam mit ihren Lippen den seinen näher. Stocksteif stand Glahnir da und starrte die Schöne nur an. Sie stutzte, legte den Kopf schräg und verdrehte schließlich die Augen ein wenig genervt. Sie packte Glahnirs Hände und drückte sie auf ihre Taille, dann strich sie wieder mit den Nägeln über seine Brust. Glahnirs Finger striffen unwillkürlich weiter über ihre weiche Haut unter dem hauchdünnen Kleid, während er die Fremde noch immer ängstlich anstarrte. „Du bist so süß, mein kleiner Schwächling!“, flüsterte die Fremde und stieß ihn mit einem plötzlichen Ruck gegen das scheppernde Regal. Sofort drückte sie sich dort wieder an ihn und küsste ihn wollüstig. Abermals rieben sich ihre Nägel auf seiner Brust.

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243Glahnir verstand nicht, was er fühlte: Sie küsste ihn, doch sie schien raue Bartstoppeln zu haben, wenn er nicht hinsah. Seine Hände glitten unter ihr Kleid und ihre Schenkel hinauf – ihre Beine sahen glatt aus, fühlten sich jedoch wie haarige, muskulöse Männerbeine an. Allmählich begann Glahnirs Brust zu brennen, während die seltsame Fremde weiter darüber rieb und kratzte.

„Was geht hier vor?“, keuchte Glahnir und wollte die Fremde von sich stoßen, doch er drückte wie gegen eine Wand, sie war viel stärker als er.

Sie legte den Kopf neben sein Ohr und murmelte fremdartige Worte.

„Geh weg von mir!“, schrie Glahnir panisch und begann zu strampeln, doch die Fremde packte seine Handgelenke und hielt ihn eisern fest. Seine Brust brannte immer heißer, allmählich wurde sengender Schmerz daraus. Er wollte um Hilfe schreien, doch die Fremde zog ihn an den Haaren nach unten und rammte ihm ein Knie mit solcher Macht in den Bauch, dass er würgend zusammenbrach. Während er sich noch krümmte und keinen Ton herausbrachte, schleifte die Fremde ihn mühelos ins Hinterzimmer und setzte sich grinsend auf ihn. Sie rutschte auf seinen Lenden hin und her und musterte ihn dabei enttäuscht.

Der Schmerz in Glahnirs Brust wurde unerträglich. Er wandte sich verzweifelt hin und her und bäumte sich auf, doch die Frau hielt ihn unerbittlich fest. Glahnir roch brennendes Fleisch und sah Rauch von seiner Brust aufsteigen. Er wollte wild losschreien, doch die Frau schlug ihn mit einem einzigen Fausthieb bewusstlos. Plötzlich hatte sie die Stimme eines Mannes, als sie sagte: „Was für

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244 eine bemitleidenswerte Kreatur du doch warst. Hast mir gar keinen Spaß gemacht. Warst gerade gut genug, um mir als Opfer zur Anrufung meiner Götter zu dienen.“ Lauter und leicht singend, fuhr die Männerstimme fort: „Möge deine ,Kraft‘ auf mich übergehen, möge dein brennendes Blut die dunklen Herrscher erfreuen und eine andere Kreatur meiner Wahl unverwundbar machen! Darum bitte ich, oh dunkle Herrscher von Bedhârva! Nehmet mein Blutopfer an, sehet die Euch heiligen Runen in seinem brennenden Fleisch, und wisset, dass Eure Gunst stets nur zu Eurem Vorteil eingesetzt werden wird!“

Glahnirs Körper zuckte unkontrolliert am Boden, während seine Brust in einem schwarzen Feuer aufloderte. In der Ferne schienen infernalische Stimmen zu kreischen, während die Frau sich erhob und allmählich wieder ihre wahre Gestalt annahm: Die Gestalt eines grauhaarigen, breitschultrigen Mannes. Der Mörder verschränkte die Arme vor der Brust, grinste zufrieden und stand stolz da. In seinen bösartigen Augen spiegelte sich das Höllenfeuer wider, das er beschworen hatte.

„Wenn du nur nicht so ein Schwächling gewesen wärst, Glahnir, dann hätte das Ganze noch viel aufregender sein können, und hätte noch mehr dunkle Energie produziert. Aber es wird schon reichen. Und meine Vergnügungen kann ich mir auch woanders holen.“

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2458

Tommo und Finngrad waren gerade gegangen, Laura saß nun allein mit Wenndur am Tisch. Die beiden Halbelfen schwiegen für einige Augenblicke und lächelten dünn in sich hinein. Sie hatten über eine Stunde nur geredet, entweder von Lauras großem Kampf oder von Wenndurs kleinen Reisen auf der Suche nach Liedern.

Laura hatte sich gewundert, dass Wenndurs Lieder allesamt einfache Unterhaltung ohne große Anliegen oder Lehren waren. Wenndur hatte lächelnd erwidert, dass er wichtige Dinge lieber ohne Schnörkel äußerte, während er seine Kunst nur zur Freude seiner Zuhörer verwenden wollte und nicht, „um ihnen den mahnenden Zeigefinger unter die Nase zu halten.“

Der Bratengeruch, der ständig von der großen Tafel am Kamin herüberschwebte, ließ Lauras Magen leise knurren. Die Menschen, die an jenem klobigen, großen Tisch saßen, waren inzwischen ebenfalls ruhiger geworden und sahen satt, müde und zufrieden aus. Ihr Schweißgeruch, die stickige Luft des Schankraums fielen Laura inzwischen nicht mehr auf. Das Murmeln der Gäste war leiser geworden, da sie weniger geworden waren.

Laura sah in ihren Krug. „Schon wieder leer“, murmelte sie mit gespielter Trauer und vermied es, Wenndur dabei anzublicken. Sie wollte keinen zu dreisten Eindruck bei dem Barden hinterlassen – auch wenn sie in der Tat hoffte, er würde ihr ein weiteres Bier spendieren, nicht zuletzt gegen den Hunger. Sie hatte vergessen, ihre Mutter

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246 oder Athónon um Münzen zu bitten; sie besaß keine, da unter Elfen nur getauscht wurde und kein Münzhandel existierte.

Die Halbelfin hatte in ihrem Heimatdorf erzählt bekommen, wie schädlich der Alkohol der Menschen für Elfen sei; aber sie fühlte nur einen gewissen, gleichmäßigen Schwindel, der sie eher fröhlich stimmte, als dass sie dies als Vergiftung empfand. Vielleicht war ihr menschliches Erbe der Grund, dass sie Alkohol besser vertrug als reinblütige Elfen.

Wenndur blickte mit einem wissenden, gönnerhaften Grinsen in Lauras junges Gesicht. „Wenn Du ein drittes Bier trinkst, denkt Deine Mutter, ich will Dich betrunken machen, falls ... sobald sie wiederkommt“, raunte er verschwörerisch und zwinkerte Laura zu.

„Betrunken?“, fragte die Halbelfin mit einem Stirnrunzeln, da sie den Ausdruck nicht kannte. Ein ganz klein wenig wunderte sie sich über ihre schwere, unwillige Zunge.

Wenndur grinste breit; er überspielte damit jedoch nur die gewisse Sorge, vielleicht wirklich Ärger mit den Fremden zu bekommen, wenn er die Naivität und Unwissenheit des Mädchens noch weiter ausnutzte.

Wenndurs Masche war vielleicht dreist, aber er war kein Narr. Er war nicht viel älter als Laura, doch erfahren genug, um entschlossene Kämpfer zu erkennen, wenn er sie vor sich hatte. Und Jade und Athónon waren sicher welche, nicht nur, weil Laura das erzählt hatte. In Wenndurs Ohr klangen noch Jades Worte nach, sie hätte schon gefährlichere Männer als ihn getötet ... Er glaubte

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24�ihr das ohne Vorbehalt. Sowohl Athónon als auch Jade sahen nicht unbedingt stark aus, aber Kraft allein machte keinen großen Kämpfer aus, das hatte Wenndur jeder erzählt, der es wissen musste und den er danach für seine Lieder befragt hatte.

Wenndur hatte in den Augen der Fremden unzweifelhaft erkannt, wie erfahren sie waren, dass sie dem Tod schon oft ins Auge gesehen haben mussten. Zweifellos wären sie noch weitaus interessantere Quellen für neue Lieder als die junge Laura, doch Wenndur war realistisch: Zwischen ihm und Personen wie Jade und Athónon lagen Welten, sie würden sich nicht mit ihm abgeben. Bloß aus der alten Elfin, die noch zu der Gruppe der Fremden gehörte, wurde er nicht schlau; sie erschien ihm widersprüchlich, aber er hatte sie nur kurz gesehen, und Laura hatte ebenfalls nicht viel von jener Mèra erzählt. Vielleicht würde ja sie Wenndur ein paar Geschichten erzählen, wenn sie mal im Schankraum saß.

„He, Barde, hast Du nicht was vergessen?“, rief Topta in diesem Moment.

„Tut mir leid, ich muss jetzt arbeiten. Nicht weglaufen!“, raunte der Halbelf Laura verschmitzt zu. Er drückte ihre Hände, die auf dem Tisch lagen, und stand auf. Lauras aufleuchtender Blick folgte ihm die Treppe hinauf.

Während sie vorhin ihr Erlebnis mit den Räubern in

Ruhe noch einmal erzählt hatte, war ihr erst richtig klar geworden, wie viel Glück sie eigentlich gehabt hatte und wie gefährlich so ein Abenteuer eigentlich war. Und wie groß und wertvoll ihr menschliches Erbe, die unelfische

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24� Zähigkeit. Falls nicht noch mehr dahintersteckte, als sie zu denken bereit war ...

Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen, sie hatte ein Abenteuer erlebt. Im Nachhinein hätte sie gern darauf verzichtet. Sie rieb ihre Hüfte, wo der Pfeil sie durchbohrt hatte. Mèra hatte die Wunden geheilt, doch selbst ihre Magie war nicht allmächtig; sie hatte Laura gesagt, dass ihre Hüfte vielleicht nie wieder ganz die alte Beweglichkeit zurückerlangen würde – anders als ihre Schulter, obwohl die immerhin von einem Speer durchbohrt worden war. Laura hob probeweise das linke Bein ein paarmal. Sie spürte, dass die Sehne nur unwillig mitspielte und einen dumpfen, ziehenden Schmerz erzeugte, wenn Laura genau darauf aufpasste, was sie in der Hüfte fühlte. Das war nichts, was sie im Kampf bemerken würde, aber doch eine erste Warnung ihres Körpers; wie würde es sein, wenn sie immer wieder verletzt würde und sich die Blessuren ansammelten? Sie würde außerdem nicht immer eine leibhaftige Mèra neben sich haben, die über eine so grandiose Heilmagie verfügte.

Wie musste Athónon sich fühlen, der drei Jahrzehnte lang ständig wieder verletzt worden war?

Laura verstand nicht, weshalb ihre Mutter ihr verboten hatte zu erzählen, wer Mèra eigentlich war. Oder wer jemandem wie Mèra gefährlich werden sollte. Doch die Halbelfin hatte auch gespürt, dass man ihr nicht alles sagte. Sie hatte sich an das Verbot gehalten und gewisse Einzelheiten gegenüber Wenndur ausgelassen. Ihre Mutter hatte auch mit den Muskeln von Menschenmännern recht

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24�gehabt und damit, dass Abenteuer und Kämpfe alles andere als spaßig und heroisch waren ... und Laura war momentan noch zu verschüchtert, um ihren Dickkopf schon wieder durchsetzen zu wollen.

Wenndur rannte kurze Zeit später in den Schankraum zurück, in frischer, gelb-blauer Kleidung und mit einer Laute in der Hand. Niemand machte eine besondere Ankündigung; Wenndur begann einfach leise zu singen und zu zupfen, während er gemächlich von Tisch zu Tisch schlenderte. Nun, bei Laura kam er vielleicht ein bisschen öfter vorbei und wurde an ihrem Tisch auch stets etwas langsamer als bei den anderen. Wenndurs Lieder waren allesamt dezent-fröhlich; nicht zu aufdringlich, aber dennoch zu einem Schankraum passend. Sein Charisma wuchs mit seiner Musik und seiner sanften Bewegung.

Laura schloss manchmal die Augen, um dem filigranen Lautenspiel und den ergreifenden Akkordwechseln zu lauschen. Die Worte der Menschensprache verstand sie ohnehin nicht.

Als Wenndur beim Singen und Spielen gerade wieder einmal um Laura herumstrich und ihr zuzwinkerte, betrat eine junge Menschenfrau die Herberge. Sie funkelte Wenndur sofort böse an, kaum dass sie ihn sah. Wenndurs Lächeln verblasste ein wenig, er schlenderte auffällig eilig zum nächsten Tisch.

Die Frau trug weite, grüne Reiterhosen, jedoch eine enge Tunika in Blassblau. Ihre braunen Locken waren gekonnt geschnitten, sodass Laura erst im zweiten Moment auffiel, dass diese Wellen nicht von Natur aus perfekt Gesicht und

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250 Schultern umspielten. Die Frau setzte sich unaufgefordert zu Laura.

„So, Du bist also die Nächste“, sagte sie in der Sprache der Menschen.

Laura starrte sie nur irritiert an und antwortete langsam: „Ich verstehe nicht Deine Sprache.“

Die Frau hob verstehend das Kinn und redete in gebrochenem Elfisch weiter: „Ah so, noch besser, eine Fremde. Ich sagte: Du bist also die Nächste. Wusstest Du, dass Du schon seine dritte in diesem Jahr bist?“ Zwar galt unter Menschen auch Geheimniskrämerei als Sünde, doch andererseits hielt die Frau ihr Handeln für einen noblen Gefallen gegenüber dem scheinbar naiven Mädchen, und für eine gerechte Strafe gegenüber Wenndur.

Laura starrte die Frau für einen Moment entgeistert an, bevor sie erwiderte: „Ich bin nicht ,die Nächste‘. Ich bin sowieso nur auf der Durchreise. Was willst Du von mir? Ich bin nicht allein hier. Meine Freunde sind oben, aber ich will keinen Ärger.“

„Ach, wirklich?“, fragte die Frau etwas spöttisch und gedehnt. „Meine Mutter ist Wahrsagerin und ich kann auch in den Händen lesen, jedenfalls von Menschen. Wenn es stimmt, was Du sagst, hast Du gewiss nichts dagegen, dass ich in Deinen Handlinien Deine Zukunft lese, wie die Götter sie für Dich offen vorzeichnen?“

Laura starrte ihr Gegenüber mit offenem Mund an. Ihr Konkurrenzdenken stand der Menschin förmlich auf die Stirn geschrieben, fand Laura, also was hatte sie vor?

„Du kannst die Zukunft vorhersagen?“, fragte Laura zweifelnd, aber auch neugierig.

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251„Ich kann verstehen, was die Götter deutlich sichtbar vorzeichnen“, erklärte die Frau mit Worten, die sie unter Menschen nicht in religiöse Schwierigkeiten bringen konnten. „Erwarte keine Einzelheiten. Aber ich kann zum Beispiel sehen, ob Du bald sterben musst oder bald ein Kind bekommst oder andere einschneidende Dinge eben.“

„Das will ich wissen!“, rief Laura aufgeregt und legte ihre Hände mit den Handflächen nach oben auf den Tisch. „Wie heißt Du eigentlich?“, fragte die Halbelfin mit einem vorsichtigen Lächeln.

„Mariella“, antwortete die Frau und beugte ihr Gesicht über Lauras Hände. „Du bist zu neugierig, um unter Menschen zu leben … Du wirst bald ein Kind bekommen, das Du nicht wolltest. Es wird Dich in Trauer und Armut stürzen“, erzählte sie sofort. Doch dann wurde sie plötzlich still. Ihre Augen weiteten sich mehr und mehr. Ganz langsam sah sie zu Laura auf, die sie verwundert musterte. „Erzähl mir von Deinem Vater“, hauchte Mariella mit ungläubigem Blick.

„Er ist ein elfischer Waldläufer und ziemlich stark. Was ist mit ihm?“, fragte Laura nervös.

Mariella blickte wieder in Lauras Handflächen, dann hob sie langsam abermals den Kopf und raunte: „Ich meine Deinen leiblichen Vater. Erzähl mir von dem.“

Lauras Miene wurde düster und sie zog die Hände zurück. „Nein“, antwortete sie schlicht und funkelte Mariella böse an. „Wieso willst Du das wissen?“

Unheilvolle, quälende Gedanken drängten sich ihr auf – erneut musste sie an ihre unelfische Kraft im Kampf

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252 gegen die zwei Räuber denken. Sie kniff die Augen zu und zischte durch die Zähne, zwang sich so, ihre Ahnung weiter zu verdrängen.

Mariella lehnte sich seufzend zurück und faltete die Hände im Schoß. Plötzlich grinste sie gehässig und knurrte: „Ich weiß nicht, wer mir mehr leidtun soll, dieser untreue Streuner Wenndur oder Du.“ Sie stand auf und verließ die Herberge wieder.

Laura blieb mit aufgerissenen Augen zurück. „Ich kriege bald ein Kind?“, wisperte sie ängstlich und verknotete die Finger ineinander. Sie starrte Wenndur nun mit einer wahren Flut aus Gefühlen an, guten wie schlechten.

Laura wollte schon aufstehen und sich auf ihr Zimmer zurückziehen, da trabte Athónon die Stufen hinab in den Schankraum. Er nickte Laura kurz zu und bemerkte sofort ihre verwirrte Miene. Doch bevor er zu ihr kam, ließ er sich von Topta einen Bronzetopf mit Wasser geben, den er auf einem Gitter im Kamin platzierte.

„Deine Mutter hält jetzt für die nächsten Stunden Wache bei Mèra“, berichtete der Gnom.

Das war der mit Abstand längste Satz, den er seit Beginn der Reise zu Laura gesagt hatte.

Mit einer geschmeidigen, wenn auch nicht schnellen Bewegung setzte er sich auf den für ihn großen Schemel an Lauras Tisch. „Amüsierst Du Dich unter den Menschen?“, wollte der Gnom dann wissen und lächelte sogar fast ein bisschen. „Dein Gesichtsausdruck sieht etwas belämmert aus“, fügte er hinzu.

Laura überspielte zunächst ihre neuen Sorgen. Sie

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253schaute in ihren leeren Bierkrug und antwortete dann: „Ja, ich amüsiere mich durchaus. Liegt nur ein bisschen schwer im Magen das Zeug, und irgendwie ist mir schwindelig.“

Athónon erwiderte gedehnt: „Das habe ich nicht gemeint.“

Mit kecker Miene antwortete Laura darauf: „Ich weiß ...“ Doch danach fiel ihre dünne Fassade zusammen, düster fügte sie hinzu: „Sie sind halt nicht alle gleich – Menschen, meine ich. Wenndur ist in Ordnung. Aber eben war eine Frau da, die angeblich die Zukunft vorhersagen kann und die meinte, ich würde bald ein Kind bekommen!“

Athónon antwortete ernst und ruhig: „Du solltest nicht alles glauben, was Dir jemand sagt. Ich nehme außerdem an, Du weißt, wie Du vermeiden kannst, ein Kind zu –“

„Ja, ja“, winkte Laura ab, „es ist nur ... Ach, ich weiß auch nicht. Ich kann nicht nachdenken wegen dieses Gerstensafts. Außerdem hab ich Hunger.“

Ein Mundwinkel Athónons zuckte leicht nach oben, doch seine Augen schauten ein wenig besorgt. „Ich hole was zu essen“, sagte er, rutschte vom Schemel und ging zu Topta.

Mit zwei dampfenden Fichtenholzschalen und zwei großen Holzlöffeln kam der Gnom zurück. „Toptas Eintopf von gestern Abend“, kommentierte er. „Stand jetzt schon wieder seit dem frühen Abend auf dem Feuer, aber ich habe etwas Wasser nachgeschüttet.“ Achselzuckend ergänzte er: „Wird satt machen. Halt Dir nur die Nase zu.“

Lauras Hunger kämpfte einen Moment lang mit dem braungrauen Anblick und dem beißenden Geruch des

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254 Eintopfes. Dann stach sie den Löffel hinein und verschlang das fremdländische Gericht.

Athónon aß wesentlich langsamer und hörte Laura nun geduldig zu, während sie mit träger Zunge erzählte: „Weißt Du, diese Frau war vielleicht neidisch auf mich und wollte mir nur Angst machen – ich bin ja nicht blöd! Aber nicht alles, was von Menschen stammt oder mit ihnen zu tun hat, ist automatisch schlimm, finde ich. Sieh mich an, ich bin zur Hälfte Mensch, und mein leiblicher Vater ...“ Ihre Miene wurde hart und düster. „Sie hat mich ganz unvermittelt nach meinem Vater gefragt!“

Athónon legte den Kopf ein wenig schräg und seine Augenschlitze wurden noch schmaler. Sein gefüllter Löffel sank wieder zur Schale zurück.

Plötzlich hatte Laura einen Kloß im Hals. Schon wieder dachte sie an den Überfall zurück, den sie beinahe nicht überlebt hatte. Ihre Mutter hatte nie richtig davon erzählt, doch ihr muss es in der Tiefenwelt vor zwanzig Jahren ähnlich ergangen sein; damals war sie von Athónon und dessen Gefährten gerettet worden, denen sie aus Abenteuerlust nachgelaufen war – weil sie ernsthaft gedacht hatte, sie könnte der überaus erfahrenen Gruppe helfen. Genau wie Laura heute.

Plötzlich wurde ihr kochend heiß und sie wusste, dass ihr Kopf hochrot angelaufen war.

Athónon wechselte das Thema, als Lauras Blick immer finsterer wurde. Ohne eine Miene zu verziehen, jedoch ein wenig mit dem Löffel gestikulierend, gab er zu bedenken: „Dir ist hoffentlich bewusst, dass Du keine Chance hast,

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255die Mimik oder Absicht eines Nicht-Elfen zu durchschauen, da Du noch nie mit ihnen zu tun hattest.“

Eigentlich hatte er sie aufmuntern wollen. Lauras Blick erhellte sich allerdings keineswegs. „Ich bin auch ein Nicht-Elf“, brummte sie niedergeschlagen.

Athónon ließ sich seinen Fehlgriff in keiner Weise anmerken. „Du weißt genau, was ich meine. Deine Mutter macht sich nicht zu Unrecht Sorgen, und auch Du müsstest es inzwischen besser wissen, als so völlig sorglos zu sein“, wies er sie zurecht. „Wir wissen nicht, ob uns nicht vielleicht schon jemand auf den Fersen ist, der Mèras Zauberei im Dorf aufgespürt hat.“

Laura starrte den Gnom überrascht an. „Was?“, entfuhr es ihr mit kribbelnden Nackenhärchen.

„Natürlich sprechen Mèra und Deine Mutter das Dir gegenüber nicht aus, es ist ja ohnehin nur eine Vermutung“, erklärte Athónon und faltete die Hände auf dem Tisch; sein Löffel lag nun in der leeren Holzschale. „Deshalb solltest Du ja auch nichts von Mèra erzählen. Das hast Du doch nicht, oder, Mädchen?“

Laura beugte sich vor und tuschelte: „Nein, habe ich nicht. Sag, wie können wir rechtzeitig erkennen, ob uns jemand verfolgt? Du bist doch Kundschafter, Du musst das doch wissen! Sicher wurdest Du außerdem bei Deinen Abenteuern schon ganz oft von Feinden belauert!“

„Wir können wachsam sein. Wir können Fehler vermeiden, junges Mädchen“, gab Athónon nur zurück.

Verlegen senkte Laura den Blick. „In wie große Schwierigkeiten habe ich Euch wirklich gebracht?“, fragte sie ganz leise.

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256 „Noch in gar keine“, antwortete Athónon, „aber gegen wie viele Dämonen hast Du schon gekämpft?“

Laura schwieg. Erst im zweiten Moment wurden ihre Augen immer größer. „Dämonen?“, wisperte sie und sah ungläubig in Athónons Gesicht.

„Siehst Du, Du wirst uns vermutlich keine Hilfe sein. Aber wir werden womöglich auf Dich aufpassen müssen, das heißt auf jemanden, der gar nicht weiß, was auf ihn zukommt.“

„Meine Mutter hat gegen Dämonen gekämpft?“, hauchte Laura nur mit neuer Ehrfurcht.

„Gegen ,Dämonische‘ – Halbdämonen –, gegen Schlangenmenschen, gegen Chimärier und gegen einige weitere Tiefenweltler“, zählte der Gnom ohne Gefühlsregung auf. „Also gegen so ziemlich alles, was uns begegnen könnte, außer einem leibhaftigen Geist oder Dämon. Und dann kommt noch dazu, dass sie als Nachtelfin solche Wesen verletzen kann, Du aber nicht. Ich habe wenigstens eine verzauberte Waffe, welche diese Fähigkeit für mich besitzt. Du hingegen könntest gar nichts ausrichten.“

„Ich könnte im Weg stehen“, sagte Laura bitter und verschränkte die Arme, „dann stirbt wenigstens keiner von Euch großen Helden, sondern nur ich.“

„Dein Sarkasmus hilft uns jedenfalls auch nicht. Verstehst Du jetzt, wieso Deine Mutter wollte, dass Du daheim bleibst?“, konterte Athónon trocken.

Laura biss sich auf die Unterlippe und ließ den Kopf hängen. Wieder dachte sie an die traurigen Teile der Geschichte ihrer Mutter und an ihr eigenes Erlebnis.

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25�Schließlich raunte sie kleinlaut: „Was soll ich jetzt tun? Zurückreiten?“

„Das wäre vermutlich sicherer für uns alle, als wenn Du uns noch weiter begleitest“, erwiderte Athónon ruhig.

„Ach, Athónon!“, jammerte Laura, „ich habe doch Angst um Mutter! Ich will irgendetwas tun, um ihr bei dieser Bürde zu helfen!“

„Und nebenbei willst Du als große Heldin dastehen“, entlarvte Athónon sie mit einer beiläufigen Handbewegung. „Ich kenne Deine Mutter ein bisschen. Glaub mir, sie würde viel lieber ihre ganze Erfahrung und ihren Status im Dorf aufgeben, wenn sie sich ihre Abenteuer dafür erspart hätte. Genauso wie ich auch übrigens. Sie sieht genau, wie Du ihre eigenen Fehler Schritt für Schritt wiederholst, und das erträgt sie selbstverständlich nur schwer.“

„Ja, und mich hätte sie auch nie bekommen, ohne ihre Fehler“, flüsterte Laura mit erstickter Stimme und sah weg. Sie zog die Schultern hoch, als könnte sie sich dahinter verstecken.

„Du denkst, Du bist nicht wertvoll genug, nicht geliebt, nicht willkommen, ist es das?“, fragte Athónon sanft.

Laura nickte mit glitzernden Augen.„Deine Mutter liebt Dich über alles. Würde sie sich sonst

solche Sorgen machen?“, beschwichtigte Athónon sie. „Du hast ihren Stolz und ihre Sturheit geerbt. Ich bin sicher, sie findet Stolz für eine große Seele wichtig, denn nur wer stolz ist, hat auch Antrieb – alles andere sind Ausreden der Schwächeren. Vom lethargischen Elfentum hält auch sie nicht viel. Aber Du musst die Kontrolle über Deinen Stolz behalten, sonst wirst Du selbst schwächer.“ Dass Athónon

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25� selbst schon lange allen Stolz verloren hatte, verschwieg er. Seine einzige Absicht war, Jades Sichtweise zu erklären und Laura zu trösten. Wie immer tat Athónon nur das, was nötig war – ohne einen Gedanken an sich selbst.

„Hey, ihr Trauerklöße! Was ist los? Ich gebe mir hier Mühe!“, rief Wenndur von der Seite und stimmte ein schnelles Trinklied an, zu dem er besonders laut sang und besonders schnell durch den Schankraum tanzte. Einige Menschen, insbesondere die am Tisch vor dem Kamin, sangen aus voller Kehle mit und hoben begeistert die Bierkrüge.

„Will ich den Text verstehen, Athónon?“, fragte Laura mit einem dünnen Grinsen.

„Ich glaube nicht“, erwiderte Athónon, und Laura war sich sicher, dass seine beiden Mundwinkel kurz nach oben gezuckt waren – was bei Athónon sonst nur an großen Feiertagen üblich war, wie in Lauras Dorf gescherzt wurde.

Der Gnom schlenderte noch einmal zum Kamin. Seine Tunika als Schutz gegen die heiße Bronze benutzend, trug er eilig den Kessel mit dem sprudelnden Wasser zum Tisch zurück. „Teezeit“, sagte er nur und knotete einen kleinen Lederbeutel von seinem Gürtel ab.

Laura war aufgefallen, dass Athónon ganz leicht hinkte, doch sie wollte nicht danach fragen. Sie wollte jetzt nicht noch mehr über Blut und Kämpfe hören. Sie beäugte die verschiedenen Blättchen, Kräuter und Krümel, die Athónon in den Bronzekessel streute, nachdem das Wasser sich beruhigt hatte, und roch auch eingehend

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25�daran. Die Tochter eines elfischen Waldläufers erkannte Minze, Schafsgarbe, Steinklee, Hainbuche, Weißdorn und Hagebutte – doch das war bestenfalls die Hälfte der Zutaten, die Athónon mit konzentrierter Miene in den Kessel streute. Aus einem anderen Beutel entnahm der Gnom dann vorsichtig einen einzelnen, winzigen Krümel, um ihn andächtig ins Teewasser fallen zu lassen.

Laura hatte die Nase in die Nähe des Krümels gehalten, bevor er ins Wasser gefallen war. Sie hatte aber nur feststellen können, dass der Krümel ein wenig scharf gerochen hatte und vermutlich nicht mehr taufrisch gewesen war. Doch worum es sich handelte, konnte sie nicht mal raten. Sie hatte zwar im ersten Moment einen Verdacht gehabt, doch sie musste sich irren, denn Athónon würde kaum eine tödliche Giftpflanze in den Tee werfen.

„Was sind das alles für Zutaten? Wird das irgendein Zaubertrank?“, grinste Laura neugierig. „Das letzte hat wie ,Elfentod‘ gerochen, aber das war sicher etwas anderes, oder?“

Athónon sah auf, ein Mundwinkel zuckte nach oben. „Es kommt bei vielen Pflanzen nur auf die Dosis an, ob sie giftig oder anregend sind.“

Lauras Lächeln wich, sie starrte Athónon mit offenem Mund an. Ihre Hände umklammerten die Tischkante. „Du hast gerade Elfentod in den Tee geworfen?“, fragte sie heiser.

Athónon hielt nur prüfend die Nase über den Kessel, schloss genussvoll die Augenschlitze und rührte den Tee mit einem kleinen Holzstab um, den er ebenfalls in einem Ledertäschchen am Gürtel getragen hatte.

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260 „Du bist ja nur eine halbe Elfin“, sagte er staubtrocken. Bevor Laura darauf reagieren konnte, fügte er hinzu: „Das war ein Scherz.“

Athónon holte demonstrativ Luft und erzählte dann: „Das Rezept und die Kräuter stammen von einem alten Zwergendruiden, den ich mal traf, sein Name war Steinwolf. Du musst Dir wirklich keine Sorgen machen. Schon viele Menschen, Elfen und Tigermenschen waren von diesem Tee sehr begeistert. Gnome und Zwerge natürlich auch. Deine Mutter hat ihn früher ebenfalls getrunken. Einige der Kräuter stammen aus dem tiefen Süden, aus Steppen und Wüsten. Man bekommt sie hier nicht, wenn nicht gerade mal ein Tigermensch mitsamt seiner Teeblätter sich bis hierher verirrt.“

Laura rümpfte skeptisch die Nase und ging auf die Ablenkung nicht ein. „Die Elfentod-Sträucher sind das Erste, was unsere Kinder zu meiden lernen. Eine Handvoll der Blätter reicht, um einen erwachsenen Elfen binnen einiger Stunden zu töten.“

„Ja, aber ich habe etwas von der Wurzel in den Tee getan, und auch nur einen Krümel“, entgegnete Athónon ruhig.

„Und was ist da sonst noch drin?“, fragte Laura unwillig, „Hexenkraut? Wolfsbohnen? Blätter vom Todesbaum? Hey, Todesbaum würde helfen, dass ich garantiert niemals ein Kind bekomme, dann hätte diese Mariella sich wirklich geirrt.“

Athónon blickte sie nur kurz ohne sichtbare Regung an, dann steckte er die Nase noch tiefer in den Kessel und sog den Dampf ein. „Für diese Teemischung würden reiche

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261Menschen sicher ein oder zwei Goldstücke hergeben. Probier ihn wenigstens.“

Ohne Worte und etwas missmutig schob Laura ihren leeren Krug in Athónons Richtung. „Ist das viel, eine Goldmünze?“, fragte sie.

Ein Mundwinkel des Gnomes zuckte nach oben, während er den Kessel kurz hochhob, um Lauras Krug aufzufüllen. Dann stellte er den Kessel schnell wieder ab und lutschte an seinen verbrannten Fingern.

„Du zuerst“, sagte Laura angriffslustig.Athónon stand auf und holte sich einen leeren Krug von

Topta, der dem Gnom kopfschüttelnd nachsah. Athónon schüttete den Krug randvoll mit dem würzigen Kräutertee und schlürfte so viel, wie die Temperatur schon zuließ.

Laura nippte kurz an ihrem Tee und wollte demonstrativ die Nase rümpfen, doch nachdem die ersten Tropfen ihre Zunge hinabgelaufen waren, schaute sie den Gnom mit neuem Respekt an.

„Wieso machst Du ausgerechnet jetzt und hier so einen aufwendigen, wertvollen Tee?“, wunderte sich Laura.

„Trink“, antwortete Athónon nur. Er sprach nicht mehr über Sympathien – zu oft waren die Gemeinten kurz darauf gestorben.

„Wer war mein leiblicher Vater?“, fragte Laura plötzlich ganz leise.

Athónon verschluckte sich und wischte sich über den Mund. Seine Finger strichen über seinen dampfenden Krug, während er Laura finster anblickte. „Ich habe ihn erschlagen, und das war kein Verlust“, sagte er kalt.

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262 Laura biss sich auf die Lippe, doch sie wollte sich nicht so schnell abspeisen lassen. „Wieso ist diese Mariella zusammengezuckt, als sie meine Handflächen sah? Sie hat mich unumwunden nach meinem leiblichen Vater gefragt.“ Fordernd starrte sie Athónon ins reglose Gesicht. Es kostete sie viel Kraft, ihren Blick gegen das subtile Charisma des Gnomes durchzuhalten.

„Ich bin der Falsche, um Dir davon zu erzählen. Trink Deinen Tee“, blockte Athónon und setzte seinen Krug an die Lippen.

„Er war kein gewöhnlicher Mensch aus der Tiefenwelt, nicht wahr? Mutter hat manchmal solche Andeutungen gemacht ...“, flüsterte Laura.

„Konzentriere Dich darauf, wer Du bist. Horche in Dich hinein: Gibt es etwas Böses, Dämonisches in Dir? Nein. Also trink jetzt Deinen Tee“, brummte Athónon.

„Ach nein, gibt es nicht?“, schoss es Laura schmerzvoll durch den Kopf. „Und woher willst Du wissen, was in mir ist?“, hauchte sie geheimnisvoll, doch Athónon schüttelte nur unmerklich den Kopf und trank weiter.

Lauras Herz krampfte sich zusammen, plötzlich fröstelte sie. „Gibt es etwas Böses, Dämonisches in Dir?“

„Kennst Du Dich mit Flüchen und Magie gut aus? Immerhin besitzt Du ein magisches Tier“, wechselte Laura das Thema und nippte am heißen Kräutertee. Sie sah auf der dampfenden Oberfläche des Tees, dass ihre Finger leicht zitterten. „Gibt es etwas Böses, Dämonisches in Dir?“

„Ich besitze Taffi nicht“, erwiderte Athónon. „Er ist ein eigenständiges Lebewesen mit eigenem Willen.“

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263„Woher kommt Taffi, was ist das für ein Wesen?“, fragte Laura weiter. „Er ist ein verfluchter Zweibeiner, nicht wahr? Ich habe solche Geschichten am Lagerfeuer gehört. Sucht Ihr zu zweit nach einer Möglichkeit, Taffi in seine wahre Gestalt zurückzuverwandeln?“

Athónon blickte etwas irritiert auf. Er hatte Taffi nie gefragt, woher er eigentlich kam und zu welcher Art er gehörte. Das Chamäleon begleitete Athónon, seit der Zaubermeister Tugibenn verstorben war, bei dem Taffi zuvor gelebt hatte. „Taffi ist ganz sicher kein verfluchter Zweibeiner“, antwortete Athónon jedoch überzeugt.

„Du wirst ja rot!“, lachte Laura mit einem gewissen Erstaunen.

Athónon schwieg beklommen. Er wollte nicht zugeben, wie peinlich ihm war, dass er in fünfundzwanzig Jahren nie ernsthaft gefragt hatte, woher Taffi kam und was genau er eigentlich war. Taffi war eben Taffi, das Faktotum eines verstorbenen, genialen Zaubermeisters; nie hatte sich jemand darüber gewundert.

Laura hielt sich förmlich an ihrem Krug fest und schwieg. „Gibt es etwas Böses, Dämonisches in Dir?“ Athónon hatte ihr indirekt eine Antwort auf die Frage nach ihrem leiblichen Vater gegeben, aber sie wünschte sich, sie hätte nie gefragt. Der Ungewissheit war blanke Angst gewichen, die sie nur mühsam unterdrücken konnte – Angst davor, welches Erbe in ihr schlummerte und vielleicht eines Tages freibrach. Sie registrierte hilflos, dass ihre Augen brannten und dass ihr Herz schon die ganze Zeit viel zu schnell und zu hart schlug.

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264 „Was hast Du denn?“, hörte sie Athónons besorgte Stimme plötzlich und schreckte hoch.

Leise schniefend, schüttelte sie zur Antwort den Kopf. „Langsam wird mir einiges klar“, hauchte sie traurig.

Athónons Augenschlitze lagen fragend auf ihrem Gesicht.

„Woher willst Du wissen, was in mir ist?“, fragte sie den Gnom noch einmal. „Du kennst mich doch gar nicht.“

Ein Mundwinkel Athónons zuckte leicht nach oben. „In meinem Alter erzählen einem die Gesichter Geschichten, ganz ohne Worte“, versicherte er ihr. Seine Augenschlitze wurden dabei etwas größer und Laura sah zum ersten Mal die bernsteinbraune Iris um seine Pupillen. Er legte seine faltigen, kleinen Hände auf Lauras. „Es ist nichts Böses in Dir“, wiederholte er. Natürlich wusste er genau, was sie bewegt hatte; er hatte die Andeutung keineswegs zufällig gemacht.

Taffi döste auf Athónons Rucksack, als plötzlich ein Falke zum Fenster hereinschoss und schrie. Taffi sprang in die Höhe und fiepte erschrocken, doch der Falke griff ihn nicht etwa an – er landete etliche Falkenfußbreit entfernt auf dem Boden und beäugte das magische Wesen, das die Farbe des Rucksacks angenommen hatte. Die Tür wurde aufgerissen und schloss sich wieder. Erst dann wurde Zeeris sichtbar; das Teufelchen fletschte die Zähne, hob drohend die Krallen und knurrte den Falken an. Dieser stand jedoch nur ruhig da und musterte Taffi und Zeeris.

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265Auf telepathische Weise sprach der Falke mit nobler Stimme in den Köpfen der beiden: „Grüße! Ich bin Botschafter Skar. Ich suche alle klugen Tiere auf, damit sie mir zur untergehenden Sonne folgen, solange, bis der salzige Wasserrand kommt. Wir klugen Tiere sammeln uns dort, um den einzig wahren Gott anzubeten, ihn, der alles hört und sieht und uns Stärke und eine gemeinsame Sprache schenkt. Sogar das große Rudel des Wolfes Lon und der ehrwürdige Bär Nam gehören unserem Heer an.“

„Ich bin aber kein Tier!“, krähte Zeeris beleidigt. Skar ignorierte das Teufelchen und schaute Taffi an.

„Ihr betet einen Gott an, wie die Zweibeiner?“, fragte Taffi reserviert.

„Nein, nicht wie die Zweibeiner“, erklärte Skar, „die Zweibeiner nehmen nur und vernichten immerzu. Sie denken nicht richtig. Sie haben keinen Einklang mit der Natur, sie sind Falsche, sie sind eine Krankheit, eine Plage und Seuche. Sie jagen und töten uns. Sie töten unsere Wälder, um sich zu wärmen und eckige Höhlen zu bauen, nur weil ihnen das Fell ausgefallen ist – als wäre das unsere Schuld. Sie wissen nicht einmal, wie klug manche Pflanzen sind und welch schöne Gedichte sie zum Sonnenaufgang singen können. Die Zweibeiner benutzen unseren Gott wie ein Werkzeug, ob er das mag oder nicht. Sie fragen gar nicht.“ Skar reckte den Kopf stolz in die Luft und breitete die Flügel ein wenig aus, bevor er weiterredete: „Wir wollen jetzt Rache für all die Toten, und unser Gott wird uns helfen. Es wird Krieg geben gegen die Zweibeiner.“

„Krieg? Wer ist Euer Gott?“, fragte Taffi leise.„Die Zweibeiner nennen ihn Magie, aber er hat keinen

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266 Namen. Er ist überall und durchdringt alles. Er ist ein Teil der Natur, er ist in allen lebenden und toten Dingen, auch in Dir und mir. Er will auch nicht länger so schlecht von den Zweibeinern behandelt werden. Er wird uns Stärke geben und uns in die Schlacht führen. Er wird uns Flüche lehren, die grausamer als die der Zweibeiner sein werden. Ihre gigantischen Rudel werden im Chaos versinken und sich gegenseitig zerfleischen, ganz ohne Hunger.“

Taffi und Zeeris starrten sich betreten an. Schließlich antwortete Taffi: „Einige Zweibeiner sind meine Freunde, ich kämpfe nicht gegen sie. Und einen Krieg werdet Ihr verlieren! Sie werden Euch mit ihren Pfeilen töten, selbst wenn es stimmt, dass die Magie auf Eurer Seite ist.“

Skar seufzte. „Wie Du meinst. Doch bedenke, dass dann auch Dich unsere Flüche treffen können.“ Damit schoss er aus dem Fenster hinaus gen Himmel.

„Das sollten wir den anderen erzählen!“, rief Zeeris aufgeregt.

„Nein“, widersprach Taffi. „Wir müssen sie nicht beunruhigen. Tiere wie Skar oder ich sind extrem selten. Skar wird nur eine Handvoll ,Krieger‘ zusammenbekommen und seinen Krieg wieder vergessen. Die Tiere werden sich verbittert in die Wälder zurückziehen, Nachkommen haben, die nicht so klug wie sie sind, und irgendwann einsam sterben, ohne irgendetwas verändert zu haben.“

Zeeris schwebte für einen Moment auf der Stelle und starrte Taffi überfordert an. „Woher weißt Du das?“, fragte das Teufelchen schließlich.

„Ich hatte Glück, weil ich mich mit Zweibeinern anfreunden konnte und sie inzwischen gut genug kenne,

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26� um sie zu verstehen, anstatt sie zu hassen. Aber nicht alle meine Seelenverwandten sind dazu gewillt. Es gibt sehr viel Hass unter ihnen. Zum Glück sind sie so wenige.“

Zeeris dachte angestrengt darüber nach. „Ich fliege wieder runter und passe auf Athónon und Laura auf“, sagte er dann nur und verschwand.

Mèras Herbergszimmer war spartanisch mit einem Strohlager, einem kleinen Tisch mit Schemel und einer winzigen, quadratischen Truhe aus Kirschbaumholz eingerichtet. Die hell verputzten Wände verdeckten die dicken Eichenbalken in den Raumecken nicht ansatzweise, doch der Kontrast zwischen hellem Putz und dunklem Holz verlieh dem Raum einen gewissen Charme. In der Mitte der Wand gegenüber der Tür stand ein kleines Fenster mit grün bemalten Holzläden offen. Es ließ die letzten, orangeroten Sonnenstrahlen des Abends herein.

Mèra kniete reglos auf einem Stofftuch in einer freien Raumecke. Ihre Hände lagen locker aufeinander, mit den Handrücken nach unten. Die einzigen Anzeichen für Magie, die Jade beim Wachehalten ausmachen konnte, waren das Luftflimmern um Mèra herum, die Schweißperlen auf ihrer Stirn und ihr hypnotischer, seltsamer Gesang.

Der leise Gesang schien uralte Fragmente elfischer Lieder zu beinhalten, folgte aber keinem festen Rhythmus oder Schema. Einige Stellen berührten Jades Seele so tief, dass sie schauderte. Andere fand sie bloß seltsam, trotz

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26�Mèras göttlich schöner Stimme. Manchmal hielt die Elfin einen Ton sehr lang, dann folgten andere Töne, die so schnell wieder verklangen, dass Jade der Melodie kaum zu folgen vermochte. Auch hatte der Gesang keine Sprache und bestand nur aus verschiedenen Klängen; die meisten erzeugte Mèra mit fast geschlossenem Mund. Manche Klänge schienen keinen natürlichen Ursprung zu haben, auch wenn sie aus ihrer Richtung kamen.

Jade lag mit verweinten Augen an der Wand gegenüber von Mèra, neben dem Strohlager. Nur Jades Schultern und ihr Kopf lehnten an der Wand; die langen Beine hatte sie angezogen, nicht zuletzt, damit sie nicht in der Abendsonne lagen. Die Arme und Hände ließ sie neben dem Körper liegen, ebenso wie ihr Schwert zu ihrer Rechten. Ihren Mantel hatte sie nicht mit ins Zimmer zum Wachen genommen, doch ihr Kettenhemd trug sie noch immer unter dem Lederwams. Ihr langes Haar, das sie im Kettenhemd sonst zum Zopf trug, hatte sie geöffnet und ausgekämmt. Manchmal spielten ihre Finger gedankenverloren mit einer Strähne, bevor ihr Arm wieder schlaff neben ihren Körper fiel.

Jade starrte die alte Elfin schon die ganze Zeit wütend an. Die Nachtelfin glaubte ihre Todesgewissheit inzwischen sogar selbst zu spüren, auch ohne Träume oder Visionen. Doch sie war bereit, ihre Pflicht zu erfüllen und ihr Dorf und ihre Familie dadurch zu beschützen – insbesondere, da nun ihre Tochter auf der Reise dabei war. Jade wagte es nicht, Laura zurückzuschicken; der Weg war offensichtlich gefährlich und Laura nicht gewillt, im Dorf zu bleiben. Vielleicht hatte die Jugendliche etwas dazugelernt, aber

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2�0 vielleicht noch nicht genug. Lieber passte Jade auf ihre Tochter selbst auf – solange sie das noch konnte. Ihre Augen brannten wieder kurz, doch sie riss sich zusammen. Äußerlich lag sie vielleicht nur da, doch innerlich war sie hellwach und lauschte auf jedes Geräusch, egal ob von der Straße oder vom Flur.

Ihr Magen knurrte und sie wusste, sie durfte nicht schlapp werden, wenn es plötzlich zu einem Kampf kam. Momentan hatte sie eigentlich gar keine Lust, etwas zu essen. Sie hatte ihren Rucksack ins Zimmer mitgebracht und zog ihn nun zu sich. Nach kurzem Wühlen holte sie ein kleines Lederbündel hervor und wickelte es aus. Darin befanden sich vor Honig klebende Reiskörner, Mandeln, Haselnüsse und verschiedene Getreidekörner, Weizen, Hafer und Roggen hauptsächlich. Gelangweilt kaute Jade die Kraftnahrung vor sich hin, so leise, dass sie noch immer hörte, wie die Menschen auf der Straße über die elfischen Neuankömmlinge tuschelten und gelegentlich auf dem Flur ein Gast ihre Tür passierte.

Der Wasserschlauch an Jades Rucksack war leer, doch sie durstete lieber ein wenig, als Mèra einen Augenblick allein zu lassen. Ihr überragendes Pflichtbewusstsein hatte sie zur Anführerin der Dorfwache gemacht und sie ihren Status zurückerlangen lassen, obwohl sie in der Tiefenwelt zur Nachtelfin geworden war. Manche Elfen wurden so geboren, andere wachten über Nacht mit schwarzem Haar auf, und Jade hatte dieses Opfer gebracht, um die bösartigen Kreaturen der Tiefenwelt verletzen zu können, egal welche Aberglauben über Nachtelfen damals noch in ihrem Dorf kursierten. Dass sie Dämonen im Allgemeinen

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2�1verletzen konnte, nicht nur jene speziellen Tiefenweltler, war ihr jedoch neu gewesen. Bevor Mèra ihr die ganze Wahrheit verraten hatte, war Jade nicht bewusst gewesen, dass sie jene Tiefenweltler nicht hatte bekämpfen können, weil es sich um dämonische Kreaturen gehandelt hatte.

Jades Leben zog an ihr vorbei, so als schliche der Tod bereits in ihrem Rücken auf und ab. Immer wieder musste sie Erinnerungen zurückzwingen, um ihre Wachschicht ernsthaft zu betreiben. Das Bild, das sich ihr am meisten aufdrängte, war die fünfjährige Laura, die strahlend ihre kleinen Hände nach der Mutter ausstreckte und mit großen Augen zu ihr aufsah – während Jade Bärenblut von ihrem Schwert gewischt hatte.

Die Nachtelfin zog die grüne Wolltunika aus dem Rucksack, die Laura damals getragen hatte; Jade hatte sie selbst gewoben. Inzwischen wusste sie, weshalb ihre innere Stimme ihr gesagt hatte, das alte Andenken mit auf die Reise zu nehmen, obwohl Athónon und Mèra ihr Schicksal erst unterwegs für sie offenbart hatten. Die Tunika hatte ein paar Flicken bekommen, aber Laura hatte sie nie hergeben wollen, bis sie hoffnungslos herausgewachsen war. Jade knotete die Tunika um ihre Taille. Dort würde Athónon sie sofort sehen, um seinem Versprechen nötigenfalls nachzukommen, Jades Familie etwas von ihr zurückzubringen. Mit Laura konnte sie darüber unmöglich reden.

Wenndur sah durch Zufall zur Tavernentür, als diese

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2�2 gerade aufschwang. Mitten im Gesang stockte er, auch die Laute verstummte. Nur ganz langsam fand er ins Lied zurück, beendete es aber mit einer letzten Wiederholung des Refrains und stimmte dann wieder etwas Ruhigeres an, von der Tür abgewandt.

Auch Laura starrte entgeistert den beeindruckenden Menschen an, der die Herberge betreten hatte.

Der neue Gast war ein zernarbter Hüne mit einem braunen, schmalen Haarstreifen in der Kopfmitte. In der Seite seiner Nase befand sich eine riesige Kerbe. Seine Arme waren dicker als Lauras Beine. Eine schwere Eisenscheide baumelte an seiner Seite, zweifellos war das Schwert darin auch aus Eisen. Seine kleinen Schweinsäuglein funkelten kalt und böse. „Wirt! Bier!“, brüllte er durch den Schankraum, weitaus lauter als Wenndurs Gesang war. Der Hüne stieß einen Betrunkenen vom Schemel und setzte sich an dessen Platz. Der Betrunkene krabbelte eilig davon und verließ die Taverne.

Athónon raunte zu Laura: „Wenn Du ihn noch einen Lidschlag länger anstarrst, wird er Ärger machen.“

Erschrocken wandte Laura das Gesicht ab. Sie beugte sich über den Tisch und wisperte: „So habe ich mir einen Ork oder Troll vorgestellt!“

„Ein richtiger Troll hätte sich den Kopf an der Decke gestoßen und wäre nur längs durch die Tür gekommen“, gab Athónon achselzuckend zurück. Natürlich hatte er auch solche Wesen schon gesehen.

Topta brachte dem neuen Gast wortlos ein Bier und verschwand hastig wieder hinter die Theke.

Ein weiterer Gast trat ein, nicht so groß und stark wie

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2�3der Hüne, und mit einer eher geduckten und weniger stolzen Haltung. Aber mit ebenso unsympathischen, kalten Augen. Den Augen eines Mörders. Er brummte etwas und setzte sich zu dem Hünen. Die beiden tuschelten miteinander, nicht sehr ernst, aber durchgängig.

Athónon sah nicht zu den beiden hin, aber Laura glaubte an der konzentrierten Miene des Gnoms zu erkennen, dass er sie zu belauschen versuchte. Seine Hände lagen flach auf den Tisch gedrückt.

Laura warf gelegentlich verstohlene Blicke zu den unheimlichen Gestalten. Sie hätte gern Wenndur nach ihnen befragt, doch der hielt sich so weit wie möglich von den beiden Menschen fern, sodass er auch Athónons und Lauras Tisch nebenan nicht mehr erreichte.

Lauras Herz blieb fast stehen, ihr Blut rauschte plötzlich wild in ihren Ohren, als der Hüne mit dem Kopf in genau ihre Richtung deutete. Die andere Gestalt, mit den Augen eines Mörders, sah sie direkt an. Dann stand der Riese sogar auf und kam auf sie zu.

Laura versteifte sich, zog die Schultern an und hauchte furchtsam Athónons Namen.

Der Gnom nickte nur, eine Hand wanderte unter den Tisch.

„He, Du! Was starrst Du so, hä?“, pöbelte der Mensch sie in grauenhaftem Elfisch an. Er stank auf mehr als eine Armesweite beißend nach Schweiß und Stall.

„Ich starre gar nicht!“, schoss es wie ein Pfeil aus Laura heraus, während sie vor sich auf den Tisch starrte.

Der Mensch packte sie am Haarschopf und riss ihren Kopf zur Seite.

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2�4 „Au!“, schrie Laura wie ein kleines Kind und hielt still.Athónon sprang auf, sein Schemel fiel um. Seine Hand

lag am Schwertgriff. Kalt funkelte er den Menschen an.„Ist nur ’ne Halbelfin, Fujesh“, brummte der Mensch

an den Hünen gewandt, ohne jedoch Laura loszulassen.Wenndur hatte zu spielen aufgehört und stand wie

versteinert neben der Theke. Topta stand kreidebleich dahinter und rührte sich ebenfalls nicht.

„Lass sie sofort los und verschwinde“, knurrte Athónons alte Stimme.

Den weißhaarigen, kaum über den Tisch ragenden Gnom ignorierend, hielt der Mensch seinen Mund direkt an Lauras Ohr und zischte: „Hast Du eine blonde Elfin gesehen? Sie hat graue Strähnen im Haar. Mmh?“ Laura zitterte am ganzen Körper, ihre Lippen bebten und sie starrte Athónon verzweifelt an, aber sie schwieg.

„Antworte!“, brüllte der Mensch speichelspuckend in Lauras Ohr und zog kräftig an ihren kurzen Locken.

Laura fuhr zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus, doch sie antwortete noch immer nicht und starrte nur weiter flehend Athónon an.

Der zog sein eisernes Kurzschwert.Der Mensch bei Laura schüttelte sich kurz und ließ die

Halbelfin los. „Magie!“, zischte er dann an den Hünen gewandt und trat einen Schritt zurück. Der Hüne sprang auf, beide standen nun drohend vor Athónon.

Etwas enttäuscht starrte der Gnom für einen Lidschlag auf seine Zauberwaffe, die Gegner mit schwächerem Willen schon beim Ziehen betäuben konnte. „Lauf hoch“, knurrte Athónon zu Laura.

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2�5Als habe sie nur auf den Startschuss gewartet, sprengte Laura davon und überschlug sich auf den Stufen beinahe. Der kleinere der beiden Feinde zog ein eisernes Wurfmesser und holte in Lauras Richtung aus.

Athónon bekam große Augen und sprang auf den Tisch, um den Feind anzugreifen. Doch in dem Moment warf er bereits.

Athónon, der als guter Schütze ein exzellentes Augenmaß besaß, sah sofort, dass die Bahn genau stimmte. Er schloss die Augen.

Mit einem lauten Knall fiel das Wurfmesser mitten in der Bahn scheppernd zu Boden.

„Au!“, schrie Zeeris und wurde sichtbar. In seinem hellen Panzer befand sich eine minimale Kerbe. „Das gibt ’nen blauen Fleck!“, krähte er vorwurfsvoll und stemmte die Fäuste in die Hüfte, auf der Stelle schwebend.

Die beiden Menschen starrten das Teufelchen an, jedoch mehr verärgert als überrascht. Offensichtlich kannten sie solche Wesen – ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Tavernenbesuchern, die bleich und mit großen Augen auf Zeeris starrten.

Der Messerwerfer zuckte im allerletzten Moment zurück, gerade als Athónon wie aus dem Nichts mit dem Kurzschwert nach seiner Kehle stach.

Der Hüne zog sein mächtiges Schwert und riss kurzerhand den ganzen Tisch um, auf dem Athónon gestanden hatte. Der klappernde Bronzekessel und die berstenden Krüge verbreiteten am Boden eine dampfende Teepfütze. Athónon rollte sich elegant ab und stand schon wieder, kaum dass der Tisch zum Liegen gekommen war.

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2�6 „Bist ’n erfahrenes Kerlchen, was?“, knurrte der Mensch mit den Augen eines Mörders. „Ich sehe in Deinem Blick, dass Du auch schon oft getötet hast. Doch wir sind zu zweit, und wir haben ein wenig längere Arme als Du ... Außerdem bist Du nicht mehr gerade der Jüngste! Das Beste für Dich wäre, wenn Du schnell verschwindest, Zwergen-Opa!“

„Ich bin ein Gnom und kein Zwerg“, erwiderte Athónon trocken und rührte sich nicht.

Laura polterte durch Mèras Tür und schrie: „Wir brauchen sofort –“

Jade sprang auf und hielt den Zeigefinger an die Lippen. Ganz leise flüsterte sie: „Nicht so laut, Du störst den Zauber! Was ist denn los?“

Laura zischte völlig aufgelöst: „Da sind zwei riesige Menschenkrieger, die Ärger machen! Athónon braucht sofort Hilfe!“

Jade packte wortlos ihr Schwert und rannte mit Laura die Treppe hinab; ihr Haar wehte wie ein schwarzes Tuch hinter ihr auf.

„Noch eine Elfin!“, knurrte der Hüne, als er Jade auf der Treppe sah.

„Aber nicht blond“, winkte sein Kumpan ab.Jade und Laura stürmten mit gezogenen Waffen zu

Athónon, der reglos vor den beiden Kriegern stand. Zeeris schwebte über ihm.

„Vier halbe Portionen gegen zwei ganze? Klingt fair!“, grinste der Hüne teuflisch aus seinen Schweinsäuglein.

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2��„Ach, schon gut“, fluchte er dann jedoch und steckte das Schwert weg. Er setzte sich wieder zu seinem Bierkrug, als sei nichts gewesen. Sein Kumpan folgte seinem Beispiel.

Athónon raunte zu Jade empor: „Sie suchen eine blonde Elfin mit grauen Strähnen im Haar. Sagt Dir das was?“

Jade schluckte und verstand gerade noch rechtzeitig, bevor sie einen verräterischen Kommentar gemacht hätte. Sie verneinte knapp und schüttelte unmerklich den Kopf. Hastig stapfte sie dann die Treppe wieder hinauf, zurück zu Mèra.

Zeeris wurde unsichtbar; das Letzte, was Athónon von ihm gesehen hatte, war das Grinsen, welches das Teufelchen immer dann aufsetzte, wenn es etwas ausheckte.

Topta half Athónon und Laura, den Tisch wieder aufzustellen. Wenndur musizierte weiter, als sei nichts gewesen.

„Der Ärger ist noch nicht vorbei“, raunte Athónon beiläufig, so leise, dass Laura es fast nicht hörte. Die Halbelfin und der Gnom blieben noch eine kurze Weile sitzen, doch mit den beiden zwielichtigen Gestalten im Nacken fühlten sie sich einfach nicht wohl.

Laura winkte auf der Treppe noch zaghaft zu Wenndur hinüber, der noch immer musizierte. Er lächelte ihr etwas wehmütig hinterher.

Im oberen Flur angekommen, winkte Athónon Jade aus dem Zimmer und flüsterte, um Mèra nicht zu stören: „Wir sollten besser alle im selben Zimmer bleiben, um uns gegenseitig Schutz bieten zu können. Ich hole meine Sachen rüber.“

Jade nickte und bat Laura, auch ihre Sachen

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2�� mitzubringen. Die Tochter gehorchte zögerlich, während sie mit großen Augen auf ihre alte, geliebte Wolltunika starrte, die ihre Mutter um die Hüfte trug. Jade entging der Blick natürlich nicht, aber sie schwieg und zog sich wieder in Mèras Zimmer zurück.

„Schon gut, wir haben das Gespräch gehört. Kommt schnell in Deckung“, rief eine Stimme auf Elfisch, deren Besitzer Srrig und Taren nicht sehen konnten.

Die beiden rannten auf eine Barrikade im Gang zu, die aus zwei Eichenturmschilden von Chimäriern bestand und beinahe doppelt so hoch wie Taren aufragte. Die Schilde mussten uralt sein, die Schuppen benutzten seit Jahrzehnten keine Holzschilde mehr. Ein kleiner Spalt stand offen, durch den Srrig und Taren sich hindurchzwängten.

Direkt hinter den beiden wuchteten einige Nachtelfen die Schilde wieder aneinander. An die Schilde gelehnt, standen einfache Holzleitern, auf denen je zwei Bogenschützen warteten und durch die Sichtschlitze in den Gang zielten.

Ein kräftiger Nachtelf in einer schäbigen Lederrüstung nahm Srrig und Taren in Empfang. „Habe ich das richtig verstanden, Safáydra ist eine Verräterin?“

Taren presste die Lippen aufeinander, während Srrig zu dem Menschen hinabfunkelte. „Das geht uns nichts an“, brummte Taren und schüttelte den Kopf.

Srrig berichtete jedoch ohne weiteres Zögern: „Ja, sie hat Euch verraten. Ich weiß allerdings nicht, ob sie die

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2��Schlangenblüter bewusst hergeführt hat oder ob sie nur verfolgt worden ist. Auf jeden Fall wäre es klug, sofort zu schießen, sobald die Feinde ankommen. Safáydra lebt zwar noch, aber ihr würdet sie ja sowieso hinrichten lassen, wenn ich das richtig verstanden habe.“

Taren blickte den Tigermann sprachlos an.Der Nachtelf verbarg seine gewisse Überraschung über

diesen ausführlichen Bericht nur leidlich und erwiderte: „Nun, lebend wäre sie mehr wert, wenn sie weiß, was die Schlangenblüter zu verbergen haben. Vielleicht kriegen wir es aus der gefangenen Hexe nicht heraus. Außerdem kann ich Safáydras Hinrichtung nicht allein entscheiden. Das muss der Rat zunächst untersuchen, falls sie wenigstens teilweise unschuldig ist.“

Srrig legte den Kopf schräg und fragte provokant: „Und dafür wollt Ihr das Leben der anderen Elfen hier riskieren?“ Noch böswilliger knurrte er: „Safáydra ist eine Verräterin. Sie bekommt, was sie verdient.“

Tarens Blick wurde immer verwunderter über die plötzliche Wut des Tigermannes. Beim Stichwort „Verrat“ schweiften seine Gedanken für einen Moment ab.

Noch während Nenúriel im Silberberger Tempel von Bruder Mond ihre Wunde auskuriert hatte, waren zwei Kontaktpersonen in der Stadt aufgetaucht und hatten sich dezent nach Freiwilligen umgehört, die vielleicht gewillt waren, sich mit einem zivilen Chimärier-Paar zu treffen – einem Paar, das mit der Herrschaft des Imperators nicht einverstanden war. Die Vision war einfach: Nur gemeinsam konnte man den Imperator stürzen. Der Tempelvorstand, der von Tarens wechselhaftem Abenteurer- und Kopfgeldjäger-

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2�0 Leben wusste, war sofort damit einverstanden gewesen, dass Taren der Sache nachging. Und wenn er schon dort war, erfuhr er vielleicht auch, warum Silberberg nicht entschlossener angegriffen wurde.

Nenúriel sollte ihn vorwändig deshalb begleiten, weil sie durch ihre Abwesenheit am sichersten vor weiteren Anfeindungen in der Menschenstadt war, insbesondere vor der unmittelbar drohenden Rache des Hauptmannes Swefan, den sie verraten hatte.

Jetzt kam Taren sich unglaublich dumm vor. Darrakos, der Initiator dieser Vision gegen den Imperator, war selbst verraten worden von seiner listenreichen Gefährtin Ressu – was immer diese ihrerseits im Schilde führte.

Auf der Reise waren Taren und Nenúriel sich immer nähergekommen: Weitab vom Tempel und dessen moralischen Vorgaben in Bezug auf Nicht-Menschen, hatte Taren sich nicht länger gegen die Anziehungskraft der Elfin gewehrt, die mehr als nur seine Beschützerinstinkte geweckt hatte.

Srrig rüttelte an Tarens Schulter und zischte: „He! Träumst Du? Der Tanz geht los.“ Zu den Nachtelfen rief Srrig: „Schießt doch! Sie ist eine Verräterin!“

„Wieso willst Du unbedingt, dass sie stirbt?“, fragte Taren verärgert.

Mit großen Augen musterte ihn Srrig. Schließlich knurrte der Tigermann: „Verrat ist das Letzte. Außerdem könnte der Ansturm ganz leicht aufgehalten werden, wenn diese Elfen einfach schießen würden.“

„Ein Leben ist nicht viel wert für Dich, was?“, brummte Taren und sah weg.

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2�1„Nicht das Leben von Verrätern“, erwiderte Srrig.Normalerweise stellte Taren sich solchen philosophischen

Diskussionen, doch bei Srrig wagte er es nicht; er war sich nach wie vor nicht sicher, ob er einen Göttergesandten vor sich hatte.

Jenseits der Barrikade hörten sie die Schlangenstimme der Anführerin wieder: „Ergebdd Euch, und wir lassssen Euch alle am Leben, auch die Verrädderin. Wehrdd Euch, und Ihr werdedd alle sssdderben!“

Srrig und Taren sahen nicht, was vorging. Doch plötzlich ging ein furchtsames Raunen durch die Reihen der Nachtelfen.

„Was ist?“, fragte Srrig scharf nach oben, an die Elfen bei den Sehschlitzen gewandt.

„Ein Chimärier in Eisenrüstung, mit einer riesigen Keule. Er wird unsere Barrikade einfach eintreten!“, flüsterte der Nachtelf hysterisch zurück.

„Dann schießt, ihr Schwächlinge!“, schrie Srrig. Er sprang auf und rannte unruhig hin und her.

Die Anführerin rief triumphierend von der anderen Seite: „Wenn Ihr ssschießssdd, tödde ich die Verrädderin!“

„Na und?“, schrie Srrig zurück.Taren fasste ihn am Arm und raunte: „Das ist nicht

Deine Entscheidung, mein Freund.“„Wir werden hier auch sterben, wenn diese Nachtelfen

einen Fehler machen“, knurrte Srrig eindringlich zurück.Wie ein Tiger im Käfig rannte Srrig hin und her. „Habt

Ihr Nahkampfwaffen für uns?“, fragte er plötzlich einen Nachtelfen. Der schüttelte jedoch nur den Kopf und zuckte mit den Achseln.

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2�2 „Habt Ihr schon nach Verstärkung geschickt?“, fragte Taren einen anderen Nachtelfen.

Der Nachtelf nickte knapp, doch dann spähte er sofort wieder an einem Spalt zwischen Schild und Gangwand nach draußen, sichtlich verängstigt.

„Ich habe diese Armbrust, soll ich zum Schießen an den Spalt?“, fragte Taren denselben Nachtelfen; der nickte darauf und ließ Taren an den Spalt.

Srrigs stummer Blick forderte Taren auf: „Töte die Verräterin und rette die Elfen.“ Taren wandte sich ab.

Ein Nachtelf auf der Leiter raunte zu den anderen: „Das sind alles Frauen! Das müssen diese Amazonen sein! Vielleicht greifen sie ohne Wissen oder Billigung der anderen Schlangenblüter an!“

Einer der Nachtelfen hatte schon die ganze Zeit reglos in einer Ecke gesessen, wie schlafend, aber stark schwitzend. Um seinen Hals hing ein silbernes Amulett mit mehreren Saphirsplittern darauf. Der Mann fiel Taren und Srrig erst auf, als er plötzlich leise zu singen begann und sich wie in Trance hin und her wiegte. Aus einer mitgebrachten Ledertasche neben sich zog er ein Kupferfläschchen, aus dem er sich noch nicht geronnenes Blut auf den linken Arm schüttete. Er malte mit dem Zeigefinger einige Symbole ins Blut, während es seinen Arm hinabtropfte. In seinem Schoß lag ein einzelner Pfeil, um den herum die Luft für einen Moment flimmerte. Das frische Blut auf seinem haarlosen Arm floss jetzt in falsche Richtungen oder tropfte vom Boden zum Arm zurück.

Plötzlich nahm er den Pfeil, sprang auf und flüsterte

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2�3dem kräftigen Nachtelfen mit der Lederrüstung etwas ins Ohr. Beide grinsten sich geheimnisvoll an. Sie reichten einem der Bogenschützen auf der Leiter den Pfeil, versehen mit einer gepolsterten Spitze.

„Was geht da vor?“, knurrte Srrig leise und kniff die Augen zu schwarzen Strichen zusammen.

Der Bogenschütze zielte sehr sorgfältig und ließ sich vom ansteigenden Gebrüll der Feinde nicht ablenken. Er schoss, und plötzlich erschien Safáydra mitten unter den Nachtelfen.

„Schießt!“, brüllte der Nachtelf in der Lederrüstung nun.

Helle Todesschreie erklangen, während die Bogenschützen ungezielt, dafür ziemlich schnell, in den Gang feuerten. Auch das Brüllen eines Chimäriers war darunter – beängstigend nah vor der Barrikade. Taren hatte ihm einen Bolzen ins Herz verpasst; zusammen mit fünf Pfeilen der Nachtelfen hatte das gerade so gereicht, ihn zu Fall zu bringen.

„Rückzssug!“, hörten die Nachtelfen die Anführerin aus dem Geschrei heraus.

Srrig verschränkte die Arme und blickte etwas verlegen drein. Er brummte: „Ein Teleportationszauber, in einem Pfeil gespeichert, ausgelöst beim Treffen des Zieles. Sehr clever, sehr fähiges Kerlchen, auch wenn es nur ein paar Schritt weit war.“

Taren stand bei ihm und klopfte ihm auf die Schulter. „Willst Du mir vielleicht erzählen, wieso Du so empfindlich auf Verräter reagierst?“, fragte er, „falls Du Dich genauer erinnerst.“

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2�4 Einige Nachtelfen versammelten sich um die unglückliche Safáydra und fesselten ihre Hände.

Keiner hatte schlafen können. Athónon, Jade und Laura saßen einfach schweigend da. Athónon trug inzwischen sein dickes Lederwams. Laura hatte mit einer eindeutigen Frage in den Augen auf die Wolltunika um Jades Hüfte gestarrt, doch ihre Mutter weigerte sich standhaft, diese stumme Frage zu beantworten. Sie konnte ihrer Tochter unmöglich den Grund nennen.

Mèra kniete noch immer reglos auf ihrem Tuch und summte fremdartige Melodien. Nach einer Weile schien es, als würde auf einzelne Töne Mèras eine fremde Stimme antworten. Als die vermeintlich fremde Stimme auch noch aus einer anderen Raumecke zu singen schien, wurde es allen unheimlich, zumal Mèra inzwischen sehr stark schwitzte und sichtlich zitterte.

Als Mèra nach einer Weile verstummte, verschwand der Spuk und sie regte sich in ihrer knienden Position. Sie streckte sich, gähnte leise und kam schließlich ächzend auf die Füße. Das Stofftuch, auf dem sie ihre Knie gebettet hatte, blieb liegen. Es gab nun keinerlei Anzeichen mehr für Zauberei, keine Ritualkreise, keine geheimnisvollen Zutaten. Keine Spuren.

„Ich brauche eine Pause“, murmelte Mèra, mehr zu sich, und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Leicht verwundert sah sie sich dann um und erkundigte sich, wieso nun alle im selben Zimmer saßen. Athónon

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2�5berichtete ihr von den beiden Kriegern und wen die zwei suchten. Mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn, die Lippen zu einem weißen Strich gepresst, sah Mèra zum Fenster hinaus in die junge Nacht.

Taffi sprang aus Athónons Rucksack auf Mèras Schulter und wisperte: „Ich halte die erste Wache.“

Mèra nickte sorgenvoll und legte die Fingerspitzen auf den Fensterrand. „Ist Euer Bogen gespannt, Athónon?“, fragte sie abwesend.

„Gleich“, murmelte Athónon und kramte aus einem Lederbeutel in seinem Gepäck eine Bogensehne.

Auch Jade hatte inzwischen den Bogen ihres Gefährten gespannt und einige Pfeile paratgelegt.

Nachdem Athónon seinen Kurzbogen gespannt hatte, sah er zu Laura hinüber. „Wie gut kannst Du schießen, Mädchen?“, fragte Athónon sie.

Sie schaute böse. „Jedenfalls kann ich besser mit dem Schwert –“

Athónon trat energisch auf sie zu und knurrte: „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für Ruhm oder Stolz! Nimm den Bogen! Du schießt über mich hinweg, wenn jemand durch diese Tür angreift. Verstanden?“

Laura öffnete trotzig den Mund, doch sie schluckte die Worte hinunter. Sie atmete tief durch, nickte und nahm den Bogen samt Pfeilköcher entgegen.

„Probier, ob Du ihn genug spannen kannst“, verlangte Athónon.

Laura sah ihn skeptisch an; er reichte ihr kaum über die Gürtelschnalle, auch wenn er für seine Größe breite Schultern besaß. Sie legte einen Pfeil auf und zielte

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2�6 zur Probe auf die Tür. Die letzten Fingerbreit fand sie tatsächlich anstrengend, doch sie konnte die Sehne ruhig halten zum Zielen. Ihre Überraschung über die Kraft des Gnomes behielt sie für sich.

„Ziel lieber zu hoch als zu tief“, versuchte Athónon zu scherzen, doch es klang ranzig.

Jade hatte die ganze Zeit zugesehen und funkelte ihre Tochter eindringlich an. Sie musste nichts sagen, Laura verstand genau, was alle von ihr erwarteten. Sie wusste eigentlich auch selbst, dass ihr Stolz unangebracht war, doch es war die Natur des Stolzes, dass er sich immer im falschen Moment einbrachte.

„Wo ist eigentlich Zeeris?“, fragte Taffi. Niemand wusste es.

„Der verschwand früher auch schon oft auf der Jagd nach Augen. Er kam aber auch immer wieder“, murmelte Athónon.

Mèra erklärte: „Ich muss etwas schlafen. Ich lege mich in die Mitte, dann kann ich jedem helfen, wenn es sein muss. Ich schlage vor, Jade und Athónon legen sich an die Tür und Laura ans Fenster.“

„Klar“, murrte Laura leise und schleifte ihre Sachen unter das Fenster. Auch Athónon und Jade räumten ihre Lager wie vorgeschlagen um.

Taffi sprang auf Lauras Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Die Bösen kommen oft durchs Fenster. Du hattest Deine Lektion; sei bitte nicht leichtfertig oder nachlässig. Für jeden mäßigen Kletterer wäre es kein Problem, bis zu unserem Fenster zu kommen.“

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2��Laura entgegnete schnippisch: „Du kannst ja auf der Fensterbank schlafen, nachdem ich die Fensterläden geschlossen habe.“

Taffi sprang vor ihre Brust und hing nun mit den Krallen in ihrem Kettenhemd, um ihr direkt ins Gesicht zu sehen. Die untypischen, schwarzen Knopfaugen des kleinen Wesens funkelten ernst und klug zu Laura auf. Plötzlich sprach Taffi telepathisch in Lauras Kopf: „Du bist so ein naives, junges Ding! Vielleicht passiert gar nichts, aber vielleicht bekommst Du diese Nacht auch viel mehr, als Du wolltest. Vielleicht sterben wir alle heute Nacht! Vielleicht nimmst Du mich nicht ernst, weil ich so klein bin, aber es sei Dir versichert, ich habe schon mehr Kämpfe erlebt, als Jade und Athónon zusammen. Du wirst Deine Aufgabe todernst nehmen! Und Du hast nur einen Versuch. Wenn durch Deine Schuld jemand zu Schaden kommen sollte, kratze ich Dir die Augen aus!“

Laura wurde erst bleich, dann rot. Sie starrte das Chamäleon ungläubig an. „Geh weg von mir!“, stammelte sie. „Geh aus meinen Kopf!“, rief sie halblaut, sodass die anderen plötzlich zu ihr herübersahen.

Taffi gehorchte kommentarlos und sprang auf die Fensterbank, und von dort an einen der Fensterläden. „Kannst jetzt zumachen“, sagte Taffi.

„Das war doch nur ein Scherz“, stammelte Laura und hob die Handflächen, als wollte sie Taffi eine bessere Landefläche bieten.

„Nein, es war eine gute Idee“, widersprach Taffi, „nur sollte dann jemand anderes die erste Wache übernehmen.“

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2�� Laura trat ans Fenster. „Du willst wirklich auf diesem kleinen Vorsprung schlafen?“, versicherte sie sich noch einmal. „Hör zu, ich habe das nicht so gemeint ...“, wisperte sie.

„Nein, nein, ich halte das wirklich für eine gute Idee. Wer würde schon irgendein kleines Tier für einen Wachposten halten oder es auch nur aus der Ferne sehen?“, beharrte Taffi.

„Also gut“, sagte Laura und schloss die Fensterläden. Taffi hielt sich zuerst außen fest, und als die Läden geschlossen waren, legte das Chamäleon sich auf die Fensterbank.

„Dann halte ich an Taffis Stelle die erste Wache, wenn niemand was dagegen hat“, schlug Laura vor.

„Einverstanden“, stimmte Mèra zu, und auch Jade und Athónon nickten.

„Ich mache die zweite“, meldete sich Athónon.„Dann ich die dritte und letzte“, schloss Jade die Planung

ab, „so kann Mèra sich von ihrer Magie ausruhen.“Mèra nickte dankbar und legte sich mit leerem Magen

zum Schlafen; keine gute Basis, wenn man Kämpfe erwartete.

Laura setzte sich im Schneidersitz auf ihr Lager, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und mit dem Kopf unter dem Fenster. Den Bogen hielt sie locker in ihrem Schoß, ein Pfeil lag auf der Sehne. Das Schwert hing an ihrem Gürtel. Einerseits hoffte sie in ihrer Abenteuerlust und Neugier, dass etwas passierte – andererseits hatte sie unsägliche Angst zu versagen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hing wirklich etwas von ihr allein ab, und zwar

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2��nicht weniger als das Leben ihrer Gefährten und das ihrer Mutter.

Laura war hellwach und lauschte auf jedes nichtige Geräusch. Diesmal gestattete sie sich nicht, in Träumereien zu versinken, wie auf dem Weg aus dem Dorf, als die Männer plötzlich vor ihr gestanden hatten.

Es war noch nicht viel Zeit vergangen, da kratzte Taffi am Fensterladen. „Pst! Ich sehe was! Mach auf und schau selbst!“, zischelte das Chamäleon.

Leise legte Laura den Bogen neben sich, richtete sich mit einer Hand am Schwert auf, damit es nicht klapperte, und öffnete das Fenster. Das Quietschen der Läden kam ihr entsetzlich laut vor, doch das ruhige Atmen hinter ihr veränderte sich nicht.

Im blauen Glühen der Nacht bewegte sich ein Schatten zwischen zwei gegenüberliegenden Häusern. „Zu groß für Katzen oder Hunde“, wisperte Taffi nüchtern.

„Aber soll ich deswegen schon die anderen wecken?“, flüsterte Laura zurück und blickte Taffi fragend an.

Nach kurzem Überlegen antwortete Taffi: „Nein, aber behalte die Schatten im Auge – hinter einem der Fensterläden, falls ein Pfeil daherkommt.“

Laura nickte. Sie blieb am Fenster stehen, zog aber einen der Läden wieder zu.

Dann knirschte eine lose Holzbohle im Flur, die Laura bei ihrer Ankunft schon aufgefallen war. Die Halbelfin erstarrte vor Schreck und das Blut rauschte wie ein Wasserfall in ihren Ohren. Ihr Herz begann wild zu hämmern. Sie atmete immer schneller und ballte die

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2�0 Fäuste, aber sie rief noch keinen Alarm aus. „Ganz ruhig. Es gibt noch mehr Gäste hier“, flüsterte sie zu sich. Ihre Mutter, Mèra und Athónon schienen fest zu schlafen und atmeten tief und ruhig weiter.

Das Knirschen der Holzbohle wiederholte sich, jedoch langgezogen, als bewegte sich jemand sehr langsam darauf.

„Ich wecke erst einmal nur Athónon“, schlug Taffi leise vor, „der wäre sowieso bald als Wache dran.“

Laura nickte und war dankbar für den Vorschlag.Athónon wachte sofort auf, als Taffi auf seinen Bauch

sprang und ihn mit der langen Zunge unter der Nase kitzelte.

„Geräusche vom Flur, Schatten beim Haus gegenüber. Außerdem ist langsam Wachwechsel“, wisperte Taffi. Athónon setzte sich auf.

In dem Moment zersplitterte die Holztür und die beiden Krieger vom Abend sprengten ins Zimmer.

Laura stieß einen Alarmruf aus und bückte sich hektisch nach dem Bogen. Natürlich verrutschte der sorgsam aufgelegte Pfeil, und bis sie ihn richtig aufgelegt und den Bogen gespannt hatte, war das Schwert des Hünen bereits auf Jade niedergesaust.

Laura gefror das Blut, ihre Knie wurden weich, Übelkeit stieg auf. Doch Jade hatte überragende Reflexe, sie rollte gerade noch zur Seite und sprang mit dem eigenen Schwert in der Faust auf die Füße.

Jetzt spannte Laura den Bogen, zielte und schoss. Der Hüne, der sie gesehen hatte, warf sich zur Seite und trat

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2�1Athónon mit dem Knie aus dem Weg, das Kurzschwert des Gnoms ignorierend.

Der andere Krieger konnte Lauras Pfeil jedoch nicht mehr ausweichen und wurde in die Brust getroffen. Mit einem gellenden Schrei taumelte er an die gegenüberliegende Flurwand.

Ohne sich über ihren Triumph zu freuen, schnappte Laura den nächsten Pfeil und legte ihn auf.

Athónon hatte dem Hünen beim Zusammenprall das Kurzschwert vor das Schienbein gestochen, hatte die Beinschiene, die unter dem Hosenstoff versteckt war, jedoch nicht durchbohren können.

Der Hüne schlug mit voller Kraft nach Athónon. Der Gnom, der eben erst das Knie des Kriegers vor den Kopf bekommen hatte, riss das Kurzschwert zwar noch rechtzeitig hoch, doch ihm fehlte die Kraft. Der Hüne schlug ihm die Waffe aus der Hand und streifte mit der Schwertspitze gleichzeitig seinen Kopf. Mit einem heiseren, abrupt abreißenden Schrei ging Athónon zu Boden und erschlaffte.

Laura wollte gerade schießen, als etwas durch das Fenster auf sie zusprang. Sie schrie entsetzt und warf sich auf den Rücken – anders hätte sie gar nicht mehr ausweichen können. Zwei riesige Klauen mit dolchgleichen Krallen verfehlten sie um Haaresbreite. Ein schwarzhäutiger Albtraum mit rot brennenden Augen beugte sich brüllend über sie.

Laura war vor Angst gelähmt. „Schieß doch!“, schrie Taffi telephatisch in ihrem Kopf, erst da spannte sie den Bogen.

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2�2 Der Pfeil schoss durch das Monstrum hindurch wie durch Luft.

Gleichzeitig hörte sie ihre Mutter kläglich schreien.„Hilf Deiner Mutter!“, zischte Mèra und baute sich über

Laura auf, sie stellte sich dem Albtraum in den Weg.Laura reagierte ohne zu denken, sprang hinter Mèra

hoch und zog das Kurzschwert.Jade stand mit dem Rücken an der Wand und hielt

mit beiden Händen und aller Kraft den Waffenarm des Hünen fest, dessen Schwertspitze sich bereits durch das Kettenhemd in ihre Seite zu bohren begann. Langsam hob der Krieger die riesige linke Faust; Jade starrte verzweifelt darauf, während ihr Blut unter dem Kettenhemd hervorquoll und ihre Arme zitterten.

Laura holte wütend aus und machte einen Satz auf den Krieger zu, um ihm den Schädel zu spalten. Doch als hätte er ein Auge im Hinterkopf, glitt er im letzten Moment einfach zur Seite und donnerte Laura den Faustrücken ins Gesicht. Die Halbelfin verdrehte sich im Stürzen und blieb bäuchlings liegen.

Unvermittelt trat der Hüne Jade von der Seite her ins Knie. Sie zuckte zusammen, dadurch glitt das Schwert des Gegners tiefer in ihren Körper. Jade bäumte sich stöhnend auf, dann bogen sich ihre Beine allmählich durch und sie stürzte auf die Knie.

Ein infernalischer Schrei drang plötzlich durch das ganze Gebäude. Der Albtraum, der durch das Fenster gesprungen war, löste sich in einem wilden Flammentanz auf, nichts als Rauchschwaden und bestialischen Gestank hinterlassend. Mèra stand noch immer auf ihrem Platz,

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2�3die Augen geschlossen; ihre erhobenen Hände zitterten und waren schwarz verkohlt.

Der Hüne riss Jade das Schwert aus der Wunde und schubste sie achtlos zur Seite. Sie schrie nicht und blieb so verdreht liegen, wie sie gestürzt war. An Mèra gewandt, grunzte der Gegner: „Die beiden Elfinnen sind die Belohnung für später, aber Dich soll ich ausdrücklich töten und Deinen Kopf als Beweis mitbringen. Fünfhundert Goldmünzen! Ich muss schon sagen! Du musst wirklich einiges angestellt haben.“

Mèra schwankte vor Schwäche. Die stundenlange Zaubervorbereitung, der leere Magen, die Vernichtung des Monsters und ihre verbrannten Hände, außerdem hatte sie ihre Kräfte erst kürzlich überhaupt wiedererlangt – all das war zu viel auf einmal geworden. Sie taumelte zurück und fiel auf ein Knie. Ein Blutfaden lief ihr aus der Nase.

Auf dem Flur rannten Schritte herbei. Verärgert blickte der Hüne über die Schulter; er hatte bereits eine Drohung auf den Lippen liegen, sich besser wieder zu verziehen, statt neugierig die Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Doch er blickte auf die Pfeilspitze des gespannten Bogens in Wenndurs Händen, der den Pfeil in genau diesem Moment losließ.

Er schoss daneben.Lachend sprengte der Hüne auf Wenndur zu, der

furchtsam zurückwich und nach dem Dolch in seinem Gürtel tastete.

Plötzlich kreischte der Hüne. Taffi war ihm wie aus dem Nichts ins Gesicht gesprungen und hatte ihm die Krallen in die Augen geschlagen. Der Hüne schlug wild mit dem

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2�4 Schwert um sich und brüllte verzweifelt, doch auf einmal verstummte er: Wenndur hatte die Verzögerung genutzt, um einen zweiten Pfeil abzuschießen, und diesmal hatte er genau ins Herz getroffen.

Taffi starrte zitternd direkt unter sich, wo der Pfeil aus dem Menschenkörper ragte. Vorwurfsvoll blickte er hinter sich auf Wenndur, doch der zwinkerte Taffi nur unschuldig zu.

Mit einer zähen Bewegung kippte der Hüne zu Boden und starb mit einem letzten Röcheln.

Wenndur lief in den Raum, warf den Bogen achtlos zur Seite und kniete sich neben Laura. Seine gehetzte Miene verriet, dass er nur selten Blut sehen musste.

„Sie ist nur betäubt. Kümmere Dich um ihre Mutter und den Gnom, die sind ernster verletzt“, raunte Mèra mit letzter Kraft, dann ließ sie sich seufzend niedersinken und schloss die Augen. Ihre Hände rauchten noch immer und verbreiteten nun, zusätzlich zum Gestank des besiegten Höllenwesens, den Geruch verbrannten Fleisches.

Unter Taffis wachsamen Augen machte Wenndur sich ans Werk. Er hatte in einer Gürteltasche sogar Verbandszeug dabei. Auf dem Flur sammelten sich derweil einige Herbergsgäste, um neugierig zu sehen, was dort geschah. „Was ist das für ein unmenschlicher Gestank?“, wunderten sie sich immer wieder.

„Hörst Du das auch?“, zischte Melek dem Zwerg zu und blieb stehen.

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2�5Brommil hielt an, stieß aber nur einen leisen, fragenden Grunzlaut aus und hielt sich eine Hand hinters Ohr.

Dann hörte er es tatsächlich: ein tiefes, kehliges Singen in einer kantigen Sprache.

„Das ist ein Chimärier!“, wisperte Melek und tastete fieberhaft nach einer Deckung in der lichtlosen Schwärze.

„Chimärier singen nicht“, grollte Brommil und ging entschlossen auf den Gesang zu.

„Bist Du irre?“, zischte Melek. „Ich sage Dir, das ist ein Chimärier! Vielleicht ist er betrunken oder so was.“

„Chimärier trinken auch nicht“, brummte der Zwerg und bog um eine Ecke. Seine Schritte hielten abrupt an. „Da ist Licht. Komm, Junge! Schlimmer kann es ja nicht werden.“

Melek folgte dem Zwerg mit etwas Abstand. Tatsächlich flackerte in der Ferne ein Lichtschein.

Die beiden Flüchtlinge erreichten eine kleine Höhle, von der mehrere Gänge weiterführten. In der Mitte der Höhle loderte ein kleines Lagerfeuer, und um das Feuer herum torkelte ein singender, oder besser gesagt grölender Chimärier.

Brommil und Melek hatten sich an die Wand gepresst, um nicht entdeckt zu werden. „Verstehst Du den Text?“, wisperte Melek, worauf Brommil kurz den Kopf schüttelte. „Ist irgendein Dialekt.“

Der Chimärier trug einen zerbeulten Eisenpanzer, auf dem vor langer Zeit vermutlich ein schwarzes Wappen auf rotem Grund zu erkennen gewesen war; heute waren nur ein paar schwarze und rote Farbreste übrig. Ein zerschlissener, schwarzer Umhang flatterte gefährlich nah

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2�6 am Feuer entlang, während der grölende Chimärier um die Flammen herum hüpfte und tanzte. Neben dem Feuer lag ein Rucksack, und darauf ruhte ein riesiges Eisenschwert, das trotz aller Scharten noch äußerst tödlich aussah. Vermutlich musste selbst ein Chimärier es zweihändig führen. Lang genug dafür war der mit Fell umwickelte Griff allemal.

Plötzlich hielt der Chimärier an, jedenfalls versuchte er es; er torkelte noch ein paar Schritte weiter, bis er ganz zum Stehen kam. Hin- und herwankend schnüffelte er und hielt die längliche Nase empor.

„Lauwarmes Fleisch!“, lallte er in der Menschensprache. „Kommt ruhig ans Feuer, ich beiß heut’ nich’! Kommt! Leistet ’nem alten Mann Gesellschaft.“ Der Chimärier rülpste laut, was ihn sichtlich amüsierte. „Prost!“, rief er, „is’ noch mehr von da, von dem Zeuch.“ Er wankte zu seinem Rucksack und brauchte eine Weile, bis er den Knoten des Lederbandes geöffnet hatte. Sein Drachenschwanz zuckte ständig hin und her, auch wenn der Rest von ihm einigermaßen still stand.

„Hier!“, rief er dann laut und hielt eine große, bauchige Kupferflasche hoch. Er zog den Korken, warf ihn achtlos weg und setzte die Flasche an den Hals. Mit einem unartikulierten Grölen lobte er den Geschmack, torkelte ein paar Schritte und spie dann plötzlich einen Feuerstrahl unter die Decke. „Ja, das is’ der richtige Stoff! Los, jetzt kommt endlich raus und trinkt was!“, rief der Chimärier mit schwerer Zunge.

Dann fiel er der Länge nach neben das Feuer und begann beeindruckend laut zu schnarchen. Die Flasche

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2��war ihm aus der Hand gefallen und lief aus.Mit großen Augen sprintete Brommil zu der Flasche.

Erst als er sie in Händen hielt und nicht noch mehr auslief, atmete er erleichtert durch. Er schloss genussvoll die Augen, setzte die große Flasche mit beiden Händen an den Mund und nahm einen Schluck.

„Ah! Saufen!“, grunzte der Zwerg und setzte sich auf einen Stein am Feuer.

Melek schüttelte nur verächtlich den Kopf, kam aber langsam auch ans Feuer geschlichen.

„Das Vieh hat recht, der Stoff ist gut!“, krächzte Brommil mit heiserer Stimme und hielt Melek die Flasche hin.

„Nein, danke. Ich lebe lieber weiter, wenn die Saufkumpane von dem Monstrum herkommen“, knurrte Melek und starrte finster ins Lagerfeuer.

Brommil winkte nur ab und nahm den nächsten Zug.„Was stinkt hier so?“, fragte Melek plötzlich gequält

und verzog das Gesicht. „Faule Eier?“Selbst Brommil starrte angewidert drein, erhob sich

und setzte sich auf einen anderen Stein, weiter weg vom schnarchenden Chimärier.

„Sollten wir den Kerl nicht fesseln oder töten, oder wenigstens sehen, was in seinem Rucksack ist?“, fragte Melek nach einer kurzen Weile genervt.

„Mach doch“, gab Brommil spitz zurück. „Ich habe mich schon einmal direkt drangetraut, um die Flasche zu retten. Du bist dran.“

Meleks Augen weiteten sich etwas.Brommil versetzte lakonisch: „Außerdem sehe ich

hier nichts, womit man einen Chimärier wirksam fesseln

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2�� könnte. Wenn, dann solltest Du ihn gleich töten. Dann erfahren wir allerdings nicht mehr, wo wir hier eigentlich sind und wie wir hier wieder rauskommen. Oder wo es noch mehr von diesem vorzüglichen Teufelsgebräu gibt.“

Inzwischen war auch die Verstärkung der Nachtelfen eingetroffen: zwanzig Kämpfer in Lederrüstungen, bewaffnet mit kurzen, dicken Kupferschwertern und Kurzbögen. Der Barrikadentrupp erstattete Bericht, dann blieb ein Teil der Verstärkung gleich als Wachwechsel zurück, während die anderen Nachtelfen die Barrikade wieder verließen. Die gefesselte, hinkende Safáydra wurde unsanft vorausgeschubst, während Srrig und Taren höflich, aber bestimmt eskortiert wurden.

Unvermittelt nahm Srrig das Gespräch mit Taren wieder auf: „Ich weiß nicht, wieso ich so empfindlich auf diese Verräterin reagiert habe. Ich kann mich nach wie vor nur bruchstückhaft an mein Leben erinnern. Ich glaube aber, dass ich verraten wurde und deshalb überhaupt in diese missliche Lage geraten bin. Ist nur so ein Gefühl.“

„Erstaunlich viele Elfen sind in der Zauberei bewandert, viel mehr als bei den anderen Völkern“, berichtete Taren und kratzte sich am Bart. „Vielleicht gibt es hier einen, der einen Heilzauber für Dein Gedächtnis kennt.“

„Für Tigermenschen? So weit im Westen?“, brummte Srrig missmutig und ballte unmerklich die Fäuste.

„Den Versuch ist es doch wert, oder?“, ermunterte Taren ihn. Er wollte Gewissheit. Bei einem göttlichen Gesandten

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2��würde die Zauberei eines Sterblichen entweder abprallen oder das zurückgekehrte Gedächtnis würde für Klarheit sorgen. Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte Taren einen der Nachtelfen: „Habt Ihr einen Zauberer unter Euch, der ein verlorenes Gedächtnis zurückbringen könnte?“

Der Nachtelf antwortete, ohne nachdenken zu müssen: „Der alte Velýthoel kann solche Dinge. Er ist unser bester Zauberer und Lehrer. Vielleicht empfängt er Euch.“

„Vielleicht?“ Taren drehte irritiert den Kopf.„Nun, er befasst sich eigentlich nur mit wichtigen

Angelegenheiten unserer Stadt, weil das schon mehr als genug Aufgaben für nur eine Person sind. Wenn ich es mir recht überlege, solltet Ihr es wohl zuerst bei einem anderen Zauberer versuchen, zum Beispiel Myándirel; wenn der Euer Problem nicht lösen kann, es aber für wichtig erachtet, wird er Euch sicher an Velýthoel weiterempfehlen.“

„Gut, wo finden wir Myándirel?“, fragte Taren höflich.„Oh, das weiß so ziemlich jeder bei uns, fragt Euch

einfach durch; ich könnte Euch den Weg auch beschreiben, aber Ihr müsst oft abbiegen. Das ist schwer, sich zu merken“, führte der Elf mit einigen kreisenden Gesten aus.

Taren bedankte sich mit einem Nicken und blickte vielsagend zu Srrig. Der machte eine finstere Miene und hing seinen Gedächtnislücken nach.

„Ich weiß, dass ich wieder gesund werde, weil ich immer treu und den Göttern gefällig war! Wofür sollten sie mich bestrafen wollen? Ich habe doch nichts falsch gemacht!“ Srrig hielt die Hand einer wunderschönen Tigerfrau mit beiden Händen fest, während er an ihrem Bett saß. Seine Augen schimmerten, während er nur klägliche Versuche zustande

Page 302: Schattenwacht-Zyklus 1: Böses Erwachen

300 brachte, zu lächeln. Er küsste hilflos ihre Hand, er wusste nicht, was er sonst noch hätte tun können.

„Pass auf unsere Söhne auf “, hatte seine Gemahlin noch geflüstert, bevor sie an jener seltsamen Krankheit gestorben war, für die es keine Heilung zu geben schien.

Als er ihren Körper zur Feuerbahre gebracht hatte und die traditionellen Worte hätte sprechen müssen, die ihre Seele zu den Göttern hätten geleiten sollen, brachte er sie nicht heraus. Die anwesenden Tigermenschen begannen befremdet zu murren und Srrig anzustarren, doch er stand einfach nur da, seine Kiefer knirschten wütend aufeinander. Schließlich stieß er einen wilden Schrei aus und ballte die Faust gen Himmel: „Verräter!“ An das heillose Chaos, das dieses Sakrileg hervorgerufen hatte, erinnerte er sich jedoch kaum.

Die grauenhafte Armee des DämonengottesSchlachtete die Sterblichen mit Leichtigkeit ab.Selbst die Götter wollten zunächst nicht helfen,

Um die Sterblichen zu strafen,Aus vermeintlicher Gerechtigkeit.

Nur vier Könige sahen die FehlbarkeitIn der Wahl der einst allmächtigen Götter und Dass selbst die Höchsten beeinflusst wurden.Sie wagten es trotz himmlischer Warnungen,

Die Götter selbst anzuprangern.

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301Die Stadt der Nachtelfen erstreckte sich in einer riesigen Höhle und bestand aus etwa vierzig einfachen Hütten, die einige wenige Steinhäuser in der Mitte weitläufig umringten. Mehrere weitere Gänge verliefen in alle Richtungen im Dunkeln. Zahlreiche magische Lichtkugeln schwebten lautlos über den Hütten und an den Gängen. Sie sorgten für eine sonnenfarbene, manchmal jedoch auch bunte Beleuchtung; grasgrün und hellblau schienen die beliebtesten Farben nach der gleißenden Sonnenfarbe zu sein. Auch der Rauch einiger Kohlenbecken zog in diversen Spalten in der Höhlendecke ab, aber nicht sehr schnell, sodass eine dünne Rauchwolke über der Stadt schwebte. Es war taghell und angenehm warm in der großen Stadthöhle.

„Vermutlich löschen sie die magischen Lichter über Nacht, um einen Rhythmus zu haben“, spekulierte Taren.

Der Nachtelf, den Taren nach Myándirel gefragt hatte, hatte ihm geraten, zunächst links am Rand der Stadt entlangzulaufen und dann in den zweiten Tunnel einzubiegen; dort ginge die Stadt nämlich noch weiter.

Der Nachtelf in der Lederrüstung, der an der Barrikade das Kommando gehabt hatte, blieb noch einen Moment bei Srrig und Taren stehen und erklärte ihnen: „Ihr seid uns willkommen, solange Ihr unsere Gesetze achtet. Die sind nicht kompliziert, benehmt Euch einfach friedlich. Wir haben nichts von Wert und auch nichts zu verbergen. In der Mitte dieser Höhle wohnen unsere Ratsmitglieder; wenn es dringende Probleme gibt, wendet Euch direkt an sie. Ich denke, alles Weitere findet Ihr ganz schnell heraus. Bleibt, solange Ihr mögt. Wenn Ihr rechts an

Page 304: Schattenwacht-Zyklus 1: Böses Erwachen

302 den Hütten entlanglauft und dem ersten Tunnel nach dem Eingang folgt, kommt Ihr in eine kleine Höhle mit mehreren Nischen; das ist unsere Gästehöhle, wo Ihr euch zurückziehen könnt. Wir haben auch eine Taverne, aber die ist klein und besitzt keine Gästezimmer. Habt Ihr noch Fragen?“

Srrig und Taren blickten sich an und schüttelten dann den Kopf. „Danke für Eure Hilfe und Gastfreundschaft“, erwiderte Taren diplomatisch.

„Keine Ursache“, lächelte der Nachtelf, verneigte sich knapp und folgte dann seinem Trupp, der die Verräterin zur Stadtmitte brachte, zu den Häusern der Ratsmitglieder.

„Tja, dann auf zu diesem Zauberer“, seufzte Srrig beherzt.

Als Laura zu sich kam und nichts weiter spürte als nur ihre pochende, gebrochene Nase, begann sie leise zu lachen. Sie hatte nicht damit gerechnet, überhaupt wieder aufzuwachen, doch sie befand sich noch immer in Mèras Zimmer.

Athónon, dessen rechtes Auge von einem dicken Verband umwickelt war, funkelte sie jedoch böse an; ihr Lachen erstarb sofort wieder.

„Mutter?“, flüsterte Laura und bekam schlagartig Angst. Sie richtete sich ein wenig zu schnell auf und sah Sternchen, doch dann entdeckte sie Jade auf einem Lager neben sich, friedlich schlafend, von Kettenhemd und Lederwams befreit und fachmännisch verbunden. Ihr

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303blassrotes Unterhemd, das die Haut vor dem Kettenhemd geschützt hatte, wurde von zwei gekreuzten Stick-Schwertern über dem Brustkorb verziert und brachte Laura zum Schmunzeln. Sie wurde jedoch wieder sehr ernst, als ihr Blick auf die kleine, grüne Wolltunika fiel, die sie als Kleinkind getragen hatte und die ihre Mutter noch immer um die Hüfte trug.

„Deine Mutter hat eine Fleischwunde in der Seite, nichts allzu Ernstes“, erklärte Athónon mit hängenden Armen und unterbrach damit Lauras aufsteigende, vage Ahnung, wieso ihre Mutter sich diese Tunika umgebunden hatte.

„Und Mèra?“, fragte Laura besorgt und sah zu der anderen schlafenden Elfin herüber.

„Sie ist sehr schwach“, berichtete Athónon gedämpft. „Was immer das für ein Biest war, das da durchs Fenster gekommen war – Mèra hatte Mühe, es zu besiegen. Es hat ihre Hände verbrannt, aber ich nehme an, meine magische Decke kann das heilen.“

„Was ist passiert, nachdem der Hüne mich niedergeschlagen hatte?“, wollte Laura wissen. Ihre Finger zupften an ihrer Decke.

„Taffi und Wenndur haben ihn besiegt“, erzählte Athónon, fast hätte sein Mundwinkel nach oben gezuckt. „Wenndurs erster Bogenschuss war danebengegangen, aber Taffi hat dem Hünen die Augen zerkratzt, und dadurch hatte Wenndur Zeit für einen zweiten Schuss. Der hat dann genau gesessen.“

„Wird Dein Auge auch wieder gesund?“, fragte Laura leise.

Athónon antwortete nicht sofort. „Wir werden sehen“,

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304 sagte er tonlos. „Wenn Mèra die Decke nicht mehr braucht, kann ich mich ja wieder selbst drunterlegen, dann wird das schon“, fügte er zuversichtlich hinzu. „Mit meiner eigenen Heilmagie traue ich mich so etwas Kompliziertes jedenfalls nicht“, murmelte er.

„Werden wir jetzt noch einmal angegriffen ...“, wisperte Laura.

Athónons Miene verfinsterte sich. „Ja, irgendwer muss das Vieh wohl beschworen haben, das uns angegriffen hat; nicht einmal Xelos hätte so etwas vermocht, soweit ich weiß. Außerdem hat Mèra etwas von einem Kopfgeld gemurmelt, das auf sie ausgesetzt worden sei – von wem auch immer.“ Athónon unterdrückte den Reflex, schon wieder nach seinem Augenverband zu tasten, wie er es in der letzten Stunde ständig getan hatte.

„Athónon? Hätte ich früher Alarm geben müssen?“, flüsterte Laura; ihre Stimme war kurz davor zu brechen, und in ihren Augen schimmerten kleine Seen.

Athónon verzog wie gewohnt keine Miene, doch er antwortete mit sanfter Stimme: „Du hast Deine Sache sehr gut gemacht. Du hast einen der Gegner getötet, noch bevor er richtig im Raum gestanden hatte. Du hättest mir den Rücken freigehalten, hättest Du diese Höllenbrut mit Deinem Bogen verletzen können. Glaub mir, Du hast nichts falsch gemacht. Wir hätten Deine Pfeile passend verzaubert, hätten wir geahnt, dass wir einem dämonischen Vieh begegnen würden. So etwas dürfte es gar nicht mehr geben ... Du konntest unmöglich mehr ausrichten, als Du getan hast. Bedenke, man geht aus keinem ernsten Kampf ohne Verletzungen heraus. Dass niemand von uns sterben

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305musste, ist ein großer Triumph. Vielleicht verstehst Du ja jetzt noch etwas besser, was Deine Mutter Dir ersparen wollte. Und dann stell Dir erst vor, wie Du Dich fühlen würdest, wenn ein Kamerad gefallen wäre, auch ohne die Schuld von irgendwem.“

Laura nickte mit einem Kloß im Hals und legte die Hände auf den Bauch. „War das wirklich ein Dämon?“, wollte sie wissen und musterte Athónon eindringlich. „Ich dachte, die gibt es nur in Geschichten! Oder dass sie unsere Welt zumindest nicht persönlich betreten könnten.“

Athónon knurrte mürrisch: „Wäre das ein echter Dämon gewesen, wären wir jetzt alle tot. Nein, das war nur irgendein geistloses Vieh, ein sogenannter Dämonischer, beschworen durch verbotenes Wissen aus dem Glorreichen Zeitalter; entweder war das ein ehemaliger Sterblicher, der sich mit den falschen Mächten eingelassen hat, oder es war ein niederes Monstrum aus der Geisterwelt. Im letzteren Fall müssen wir befürchten, dass sein Beschwörer davon noch mehr rufen kann, wenn er nur genug Zeit hat. Doch auch im ersteren Fall kann es noch viel mehr davon geben.“

„Hoffen wir das Beste“, raunte Laura.„Ja ... Hoffnung“, spottete Athónon verächtlich und

wandte sich ab, um nach Mèra zu sehen.

Mèra hob müde die Lider und ließ ihre ozeanischen Augen auf Athónon ruhen. „Du hättest es mir sagen müssen“, flüsterte sie kraftlos und war überraschend zum Du übergegangen.

Athónon stutzte und fragte irritiert: „Was sagen?“

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306 Mèra flüsterte: „Was schiefgelaufen ist, als Du und Deine Freunde mich auf Hevas Leib zurückholten. Das Seelengefäß ... es war zerbrochen, nicht wahr? Daher bin ich jetzt so schwach, daher die grauen Strähnen. Daher hat die Tarnung nicht funktioniert. Ich lebe, aber ich bin nicht die alte, nicht die echte Mèra. Meine Erinnerungen gehören nicht zu diesem schwachen Körper. Jeder Pfeil, jede Klinge könnte mich töten, auch wenn ich noch die Gedanken und das Wissen dieser Halbgöttin namens Mèra habe. ,Miriam‘ gefällt mir sowieso besser.“

Athónons Kehle schnürte sich unwillkürlich zu. Er schwieg.

Etwas lauter fuhr Mèra fort: „Da die Tarnung nun dahin ist, werde ich uns direkt teleportieren, sobald ich wieder die Kraft dazu habe. Mit Srrig an unserer Seite werden wir sicherer sein als jetzt. Außerdem müssen die Feinde uns dann erst neu aufspüren.“ Ihr Blick wurde kalt, kaum hörbar hauchte sie: „Seine Seelenkugel habt ihr doch nicht auch zerbrochen, oder?“ Für einen kurzen Moment loderten ihre Augen vor feurigem Zorn.

Athónon schüttelte den Kopf. „Nein, Hoheit, nur Eure ... fiel zu Boden. Durch die besondere Kristallstruktur waren diese Gefäße extrem empfindlich, daran hatte sich anscheinend auch mit Zauberei nichts ändern lassen.“

„Nenn mich nicht Hoheit“, knurrte Mèra leise und wandte das Gesicht ab. „Wie ich schon sagte, die Königin starb vor zwanzig Jahren, als ihre Seelenkugel zerbrach. Nur ein schwacher Schatten blieb von ihr zurück.“ Mit harter Miene starrte sie zur Decke.

Athónon ließ den Kopf hängen, seine Mundwinkel

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30�verzogen sich nach unten. „Ich bringe Euch etwas zu essen“, murmelte er, ging zu seinem Rucksack und kramte darin.

„Heda, wie geht es Euch?“, rief Wenndur fröhlich und trat durch die Trümmer der Tür ins „Krankenzimmer“. Ein Rest des Gestanks von dem dämonischen Wesen hing noch immer in der Luft, bemerkte er mit einem unmerklichen Naserümpfen.

Mèra und Athónon reagierten nicht auf ihn, doch Wenndur störte sich nicht daran. Er ignorierte die beiden ebenfalls und setzte sich neben Laura, die inzwischen am Lager ihrer schlafenden Mutter saß.

„Wird sie wieder gesund?“, raunte er mitfühlend in Lauras Ohr und legte ihr einen Arm um die Schultern.

Laura ließ es sich gefallen und lächelte den Barden zaghaft an. Sie ignorierte die Tatsache, dass ihr Herz sofort schneller schlug. „Ich habe gehört, Du hast uns mit einem heldenhaften Bogenschuss gerettet?“, fragte sie.

„Ach, na ja“, winkte Wenndur mit falscher Bescheidenheit ab. „Willst Du mit zum Krämer kommen?“, fragte er dann sofort und umschloss ihre Schultern noch etwas fester, beinahe streichelte er sie mit den Fingern.

In Jades schlafendem Gesicht zuckte ein kleines Grübchen ihrer Mundwinkel.

Laura sah verlegen weg und errötete leicht, doch bevor sie antworten konnte, fügte Wenndur hinzu: „Er ist übrigens tot. Er ist letzte Nacht bestialisch aufgeschlitzt worden. Auf seiner Brust prangt ein seltsames Brandmal, das irgendwie unheimlich aussehen soll, heißt es. Da

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30� dieses Dämonending letzte Nacht genau dieses Zimmer angegriffen hat, hätte man gern, dass einer von Euch sich das mal ansieht. Jemand von der Dorfwache wartet schon im Haus des Krämers.“

Laura starrte dem Barden erschrocken ins Gesicht. Dann sah sie zu Athónon hinüber, der noch immer vor seinem Rucksack kniete und darin wühlte.

„Wir sollten uns nicht aufteilen“, murmelte der Gnom finster, ohne innezuhalten.

Laura richtete sich auf und atmete tief durch. Egal was Athónon gesagt hatte, egal dass sie einen Feind erschossen hatte, sie erinnerte sich gerade nur sehr schmerzhaft daran, dass sie nichts gegen das Dämonenwesen hatte tun können und nicht mal hinterrücks den Krieger hatte niederschlagen können, der ihre Mutter fast getötet hätte. Etwas frostiger und trotziger, als sie gewollt hatte, erwiderte sie in Athónons Richtung: „Aber wie Du schon sagtest, ich bin euch allen hier keine Hilfe. Da gehe ich lieber Informationen sammeln, das ist eine Aufgabe, die ich vielleicht eher bewältigen kann. Ich werde das Brandmal abzeichnen, dann kannst Du es Dir mit Mèra auch ansehen.“

„Pass auf Dich auf“, antwortete Athónon nur, mangels einer besseren Abschiedsformel.

Laura nickte und lächelte etwas beschämt, doch sie sagte nichts weiter. Gemeinsam mit Wenndur verließ sie das Zimmer. Sie achtete jedoch darauf, gerade so schnell vorwegzulaufen, dass sie Wenndurs Arm an ihrer Schulter unauffällig entkam.

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30�„Wusstest Du, dass Halbelfen seltener als Goldmünzen sind?“, grinste Wenndur auf der Treppe. „Nur selten bringt die Liebe zwischen Menschen und Elfen ein Kind hervor, wenn es überhaupt mal so eine Liebe gibt.“

Laura antwortete nicht und sah zu Boden.„Du bist bald fort, und dann sehen wir uns nie wieder“,

raunte Wenndur etwas traurig. Er unterdrückte den Impuls, sie schon wieder zu berühren.

„Na und?“, fragte Laura kalt zurück, doch ihr gequälter Blick verriet sie. Beléothvel, der sie nach ihrem Räuberkampf vor dem Tod gerettet hatte, hatte sie zwar schon halb vergessen, aber sie hatte andere Gründe, so abweisend zu sein. Sie hörte Athónons und Taffis Warnungen wieder im Hinterkopf, vorsichtig und wachsam zu sein, sich nicht ablenken zu lassen und keine Fehler zu machen – die schließlich jemanden das Leben kosten konnten. Sie hatte die Übungen der Dorfwache stets wie Spielereien empfunden, wie einen Sport, in dem sie oft gewann. Doch jetzt plötzlich wusste sie, wie der Ernst eines echten Kampfes sich im Vergleich dazu anfühlte – weit jenseits davon, bloß um Trophäen zu kämpfen.

Die beiden Halbelfen durchquerten den leeren Schankraum, in dem Topta den Boden fegte. Sie grüßten den Wirt knapp und verließen die Herberge. Schon an der Ecke des Hauses sahen Laura und Wenndur am Ende der Seitenstraße die große Menschentraube vor dem Haus des Krämers.

Sie waren noch keine drei Schritte weit gekommen, da fasste Wenndur Laura am Arm. Er blickte ihr ernst

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310 in die Augen. „Willst Du mir weismachen, es wäre nicht schade, würden wir uns nicht wiedersehen? Wie viele andere Halbelfen kennst Du, die Dich wirklich verstehen können?“

Laura erwiderte den Blick zuerst kühl, doch dann wurden ihre Augen weich und sanft. Geradezu hilflos stand sie da, als Wenndurs Finger zärtlich über ihre Wange und ihren Hals hinabstrichen. Sie hörte nur Rauschen und Prickeln und fühlte nur Hitze, Knistern und ihr rasendes Herz. Vorsichtig wanderten Wenndurs Hände um ihre Taille. Sie schluckte und ließ die Lider hinabsinken, ihre Lippen reckten sich seinen entgegen – doch plötzlich riss sie sich los. Feuer und Eis wüteten in ihr, deutlich zu sehen in ihrem Gesicht.

Sie brauchte ein paar Lidschläge, um wieder richtig zu sich zu kommen, ihr war, als wäre sie geschlagen worden. Im Gehen, ohne über die Schulter zurückzublicken, sagte sie: „Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. Das Leben meiner Reisegefährten und meiner Mutter könnte davon abhängen, dass ich keine Fehler mache und keine Zeit vertrödele.“

Wenndur holte sie schweigend ein. Erst kurz vor der Menschentraube raunte er Laura noch ins Ohr: „Wir wissen aber beide, was wir gerade gefühlt haben. Nicht dass Du denkst, ich würde immer nur an das eine denken, aber ich will auch keine Chance verpassen, verstehst Du?“

Laura schnaufte genervt durch die Nase und blieb stehen. „Ja, ja, aber im Moment existiert keine Chance, klar?“, zischte sie zu Wenndur, dann drängelte sie sich durch die Menschentraube ins Haus des Krämers.

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311Selbst die bunten Keramiken in den Holzregalen und die gebrauchten Kleider auf einem Holzständer in der Ecke waren nicht angerührt worden. Alle Fässer und Kisten mit unbedeutenden Alltagswaren, Löffeln, Schalen, Götterstatuetten, Kettchen, Döschen und Fläschchen aller Größen und weiterer Plunder standen noch wohlsortiert an ihren Plätzen. Das Chaos, das Laura im Inneren des Hauses erwartet hatte, existierte nicht. An der Stirnseite des Raumes, an einem großen Tresen, standen weitere Menschen, einer davon mit einem Speer in der Hand. Sie verstummten, als Laura und Wenndur hereinkamen, und musterten die beiden Halbelfen. Einer der Menschen flüsterte seinem Nachbarn etwas zu.

„Ah, Laura!“, krähte Zeeris direkt über ihr und wurde sichtbar.

„Ein Dämon! Da!“, schrien die Dorfbewohner und spritzten in Windeseile auseinander, auf Zeeris zeigend.

„Ah! Was? Wo?“, schrie Zeeris und flog panisch im Kreis, „die gibt es doch gar nicht mehr!“

Laura stemmte die Fäuste in die Hüfte und blickte tadelnd zu Zeeris auf. Sie hatte vielleicht die Worte nicht genau verstanden, doch was vorging, verstand sie sehr wohl.

„Sie meinen Dich, Du Dummerchen!“, rief Wenndur lachend. Zu den Dorfbewohnern, die rings um Laura und Wenndur herum in Deckung gegangen waren, sagte Wenndur beschwichtigend: „Das Wesen ist alles andere als ein Dämon. Es heißt Zeeris und ist harmlos, es ist sogar ein Freund der Reisenden, die angegriffen worden sind.“

Wenndur überhörte einige murrende Stimmen hinter

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312 vorgehaltener Hand, die über Fremde lästerten und darüber, welche Probleme die Fremden ins Dorf geschleppt hätten. Noch wagte es scheinbar niemand, der Reisegruppe um Mèra gar die indirekte Schuld am Tod des Krämers zu geben. Auch übersetzte der Barde das Gemurre nicht für Laura, um sie nicht unnötig zu beunruhigen. Er sah außerdem in ihren Augen, dass sie den Ton und die Blicke der Menschen schon zur Genüge verstand.

Im Hinterzimmer des Hauses entdeckte Laura zwei nackte Füße, die hinter dem Durchgang hervorlugten. Als sie darauf zuging, flog ihr Zeeris bis kurz vors Gesicht und druckste mit seinem lückenhaften Elfisch herum: „Äh, also, weißt Du ... Die Augen waren ja zuerst noch drin, aber ich dachte, wo er sowieso tot ist, und bevor die Augen schlecht werden ...“

Enttäuscht und wütend blieb Laura stehen und funkelte das Teufelchen vorwurfsvoll an. Sie hob ruckartig die flache Hand und drohte Zeeris auf unelfische Weise mit einer Ohrfeige.

„Öh, ich geh dann mal!“, rief Zeeris hastig und flog blitzschnell zum Fenster hinaus. Wie ein Pfeil schoss er gen Himmel und außer Sicht.

Kopfschüttelnd ging Laura weiter und fuhr sich mit der erhobenen Hand durchs Haar, dicht gefolgt von Wenndur. Laura stellte fest, dass ihre Locken von Schweiß, Schmutz und Straßenstaub bereits widerspenstig geworden waren, doch dieses Problem vertagte sie auf viel später.

Der Mensch mit dem Speer wandte sich ihr zu, als sie ihn passierte. Er sagte: „Ist kein schöner Anblick. Ihr gehört zu dieser Reisegruppe, die letzte Nacht angegriffen worden

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313ist? Man sagte mir, dass zwei Elfen und eine Halbelfin sowie ein Gnom dazugehören.“

Laura nickte nur, sie hatte die Sprache gar nicht verstanden. Sie betrat das Hinterzimmer. Der Anblick der verstümmelten Leiche ließ ihren Magen rumoren, doch sie beherrschte sich. Sie hatte schon oft Tiere ausgenommen; bei Zweibeinern war der Anblick jedoch unangenehmer, vor allem bei so brutalen Verstümmelungen. Wenigstens war der Krämer kein Elf gewesen, dann hätte sie der Anblick wohl noch stärker berührt.

Sie hasste sich für einen Moment dafür, das gedacht zu haben. Sie wollte die Arroganz ihres Dorfes gegenüber Nicht-Elfen nicht unbewusst übernehmen.

Wenndur war anscheinend weniger abgebrüht; totenbleich stand er neben Laura und musste krampfhaft ein Würgen unterdrücken.

Durch ein Fenster in diesem Zimmer kam Zeeris wieder hereingeflogen. Er rief in Menschensprache: „Ich habe übrigens gesehen, wer das war!“ Stolz reckte Zeeris die Brust vor.

„Du hast was?“, stutzte Wenndur ungläubig. Auf einmal lächelte er bis über beide Ohren und rief: „Und das sagst Du jetzt erst?“

Der Mensch mit dem Speer blickte neugierig über Lauras Schulter. „Rede schon, Du ... Ding. Was immer Du bist. Wer hat das getan?“, verlangte er zu wissen.

Wenndur übersetzte Zeeris’ Bericht für Laura.Zeeris beschrieb einen alten Menschen mit kalkweißer,

runzliger Haut und halb kahlem Schädel, trotz des Alters groß und kräftig. Laura, die Pergament und Kohlestift

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314 dabei hatte, zeichnete ein grobes Bild anhand seiner Angaben.

Der Mann mit dem Speer nahm das Bild mit und gab es einigen weiteren Speerträgern, die draußen warteten. Niemand kannte ihn, aber Wenndur hörte bruchstückhaft, dass die Dorfwache notfalls jedes Haus einzeln durchsuchen wollte.

Laura zeichnete derweil auf einem weiteren Pergamentbogen das Brandmal von der Brust des Krämers ab.

Von der Seite raunte Wenndur gespenstisch auf Elfisch: „Das war ein Blutopfer für eine Beschwörung. Ich habe mal einen Reisenden davon erzählen hören. In einer großen Stadt hat das mal ein neidvoller Händler für einen Fluch gegen einen Konkurrenten so ähnlich angefangen. Doch er hatte sich mit den falschen Mächten eingelassen, der Fluch traf ihn selbst, außerdem verfolgte ihn der Geist des Opfers fortan, bis der Händler völlig wahnsinnig wurde und sich eine Schlucht hinabstürzte. Die Geschichte ist leider viel zu düster für ein Tavernenlied.“

„Toll“, kommentierte Laura nur unwillig. Es hatte sie alle Kraft gekostet, so unwirsch und abweisend ihm gegenüber zu klingen, und es tat ihr noch im selben Moment schon wieder leid.

Gekränkt blickte Wenndur sie an und zog sich etwas von ihr zurück, um den Raum zu inspizieren.

Laura machte beim Zeichnen immer wieder Pausen, weil sie immer wieder Wenndurs hübsches und zärtliches Gesicht vor sich sah, so sehr sie dieses Bild auch abzuschütteln versuchte. Sie würde gerade eigentlich

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315nichts lieber tun, als seine Bartstoppeln zu berühren, denn so etwas hatte sie noch nie berührt. Doch sie hatte weitaus zu viel Angst davor, ihre Gefährten und ihre Mutter im Stich zu lassen, nur um sich mit einem „dahergelaufenen“ Barden zu vergnügen.

„Wie kommst Du voran?“, flüsterte ihr Wenndur ins Ohr, als er neben ihr hockte. Die warme Nähe seiner Lippen an ihrem Gesicht ließ ihre Hände zittern. „Geh weg, Du störst mich!“, log sie mit bebender Stimme. Wenndur lächelte wissend und erhob sich wieder.

Auf dem Rückweg sprang plötzlich ein wolfsähnlicher Hund aus einem Fenster auf Laura und Wenndur zu. Er überschlug sich förmlich vor Bellen neben ihnen.

Laura prallte erschrocken zurück, aber Wenndur lachte. „Das wird hier gerade Mode, sich Hunde zu halten, für die Schafherden beispielsweise. Leider sind die Hunde nicht besonders helle, nehmen sich zu wichtig und glauben ständig, ihr Revier verteidigen zu müssen. Manche Clans in der Wildnis verhalten sich so ähnlich, hörte ich von einem Reisenden.“

Der Hund bellte immer noch wie wild geworden.„Wenn Du nicht sofort wieder verschwindest, landest

Du über dem Kochfeuer!“, schnauzte Laura den Kläffer böse an.

Für einen Lidschlag hielt das Tier inne. Dann bellte es erneut voller Inbrunst.

Laura stampfte mit dem Fuß auf, machte sich groß und knurrte laut. Mit einem Winsellaut sprang der Hund zurück. „Feigling!“, lachte Wenndur über den Hund. Mit

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316 finsteren Blicken kam der Besitzer endlich aus dem Haus, ergriff sein Tier und verschwand mit ihm von der Straße. Drinnen kläffte der Hund Laura und Wenndur wieder nach.

„Wir hätten ihn doch braten sollen. Wie soll ein so dummes Vieh denn bei irgendetwas hilfreich sein?“, wunderte sich Laura im Gehen.

„Keine Ahnung!“, lachte Wenndur, „aber andere Hunde mit stärkeren Herren sind besser erzogen.“

Er wollte die Gelegenheit nutzen, nach Lauras Fingern zu tasten. Energisch und mit einem feindseligen Seitenblick zog sie ihre Hand jedoch weg.

„Ich brauche zwei Leibwächter, die mit mir in die Herberge gehen, um die alte Elfin zu töten“, rief ein Mensch; eine Hand thronte auf dem goldenen Knauf seines Gehstockes. Die andere Hand hatte er als Faust in die Hüfte gestemmt. Er war der Mann aus Zeeris’ Beschreibung: bleich, faltig, halb kahl und trotz seines Alters groß und kräftig. In einer von Feuern erleuchteten Höhle stand er vor einem Dutzend unheimlicher Krieger, die in Fetzen und Leder gehüllt waren. Ihre Gesichter waren entstellt und ihre Augen blitzten mordgierig.

„Ihr geht selbst?“, grunzte einer der Krieger.„Fujesh war mein bester Mann und ist gescheitert. Also

muss ich es selbst in die Hand nehmen, das Kopfgeld zu verdienen. Wenn dieser weißhaarige Elf die Wahrheit gesagt hat, ist die Elfin alt und schwach, und ihr einziger Schutz

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31�sind die Anführerin irgendeiner Elfen-Dorfwache und ein alter Gnom mit kurzen Armen. Wenn das so stimmt, weiß ich nicht, wie Fujesh und sein Kumpan scheitern konnten, insbesondere, da ich ein irrsinniges Wesen der Tiefenwelt mit dämonischen Kräften ausgestattet hatte, um Fujesh zu unterstützen. Offensichtlich ist der Auftrag doch nicht ganz so leicht, aber ich werde auch nicht den Fehler des Hochmutes begehen, den Fujesh vermutlich beging. Die Informationen des Auftraggebers könnten falsch oder veraltet sein, und wer weiß, es mag wider Erwarten auch Elfen und Gnome geben, die richtig kämpfen können. Wie auch immer – wer begleitet mich nun für jeweils fünfunddreißig Goldmünzen?“

Manche der Nachtelfen, denen Srrig und Taren begegneten, starrten die Fremden furchtsam an, insbesondere Tarens riesige Armbrust, und wichen den beiden weiträumig aus. Andere nickten ihnen mit vorsichtiger Freundlichkeit zu. Jene fragte Srrig nach dem Weg zu Myándirel dem Zauberer.

In einigen der kleineren Höhlen standen ebenfalls Kohlenbecken anstelle magischer Lichtkugeln zur Beleuchtung, doch hier zog der Rauch noch schlechter ab, kratzte im Hals und machte das Atmen unangenehm und schwer.

„Wenn diese Elfen so gut zaubern könnten, würden sie sich doch überall magische, rauchlose Lichter beschwören, oder?“, grummelte Taren. „Ihre Zauberer müssten doch

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31� problemlos Licht für alle herbeizaubern können.“Srrig lachte freudlos: „Und Du willst sogar, dass sie in

meinem Geist herumpfuschen.“Srrig und Taren mussten noch einige weitere Male in

immer neue Tunnel abbiegen und durchquerten noch drei weitere, kleinere Höhlen mit vereinzelten Gruppen von Hütten. Viele der Nachtelfen, die so weit außen lebten, husteten die ganze Zeit und sahen krank aus; inzwischen biss der Rauch der Kohlenbecken schon in den Augen. Die Zahl der Nischen, die über eine magische Beleuchtung anstelle eines Kohlenbeckens verfügten, nahm immer mehr ab. Taren fragte mit einem gewissen Ärger in der Stimme einen der Nachtelfen, wieso sie den Rauch in Kauf nähmen.

Von gelegentlichem Räuspern und Husten unterbrochen, erklärte der Nachtelf: „Wir glauben, dass die Magie ein lebendes Wesen ist und nicht einfach so missbraucht werden darf für niedere Belange. Vielmehr muss man harmonisch mit ihr auskommen und sie um ihre Gunst bitten: Wenn sie uns das Licht nicht freiwillig gibt, müssen wir eben Feuer machen mit Kohle oder Holz von der gefahrvollen Oberwelt der Chimärier.“

Taren starrte den Elfen noch für einen Moment mit halb offenem Mund an, dann wandte er sich kopfschüttelnd zum Gehen. Leise murmelte er zu sich: „Sie beten einen falschen Gott an, dabei waren ausgerechnet die Elfen immer so arrogant zu denken, beten und bitten wäre kindisch und Götter wären nur Aberglaube.“

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31�Schließlich kamen die beiden an eine kleine Höhle ohne weitere Tunnel. Auch hier stand der beißende Rauch in der Luft. Eine geschlitzte Lederplane verhängte zwar den Eingang zur Höhle, war an einer Seite jedoch aufgerollt und festgebunden, sodass man ins verrauchte Innere blicken konnte.

Zusätzlich zu dem Rauch, den ein kleines Feuer darin erzeugte, blies ein Nachtelf unbestimmbaren Alters noch würzigen Pfeifenrauch in die Luft. Mit verquollenen Augen musterte er die Fremden. Sein halblanges, glattes Haar war zerzaust und stumpf. Hinter ihm lagen jede Menge Holzscheite.

Srrig rief schon vom Tunnel aus freundlich in die Höhle: „Seid gegrüßt! Ich heiße Srrig, das ist Taren. Seid Ihr Myándirel?“

Der Nachtelf nickte und zog an seiner Pfeife.Srrig blieb am Eingang der Höhle stehen, verneigte

sich knapp und fragte: „Kennt Ihr einen Zauber, um ein verlorenes Gedächtnis zurückzubringen?“

„Wessen? Eures?“, fragte Myándirel träge; seine Stimme kratzte rau.

Srrig nickte und wechselte einen kurzen, vielsagenden Blick mit Taren, dessen Miene sich bereits verdüstert hatte.

„Dürfen wir hereinkommen?“, fragte Taren matt.„Bitte, setzt Euch. Raucht ’ne Pfeife, dann merkt Ihr

den anderen Rauch nicht so.“Srrig und Taren setzten sich zu dem Nachtelfen, der

trübsinnig ins prasselnde Feuer starrte. Wortlos reichte Myándirel dem Tigermann die Pfeife weiter.

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320 Etwas unschlüssig hielt Srrig sie in der Hand, nahm dann jedoch einen Zug und reichte sie sofort an Taren weiter. An Myándirel gewandt, fragte der Tigermann: „Wieso lebt Ihr in diesem Rauch? Ich bin erst eine Stunde hier und halte es schon kaum noch aus! Glaubt Ihr etwa auch, dass Ihr die Magie nicht zwingen dürft, für rauchloses Licht zu sorgen?“

„Man gewöhnt sich daran“, krächzte Myándirel. „Wer zu meinem Volk gehört, hier unten, zwischen Tiefenweltlern, Schlangenmenschen und Chimäriern, abgeschnitten vom Tageslicht und von der Natur, der ist ohnehin froh, wenn er nicht so alt werden muss. Es gab mal eine einheitliche, magische Beleuchtung, aber die fiel ständig aus, weil die Fanatiker in den Kleinen Höhlen – überall jenseits der Haupthöhle – den Zauber ständig auflösten. Also kehrten viele von uns zum guten, alten Feuer zurück. Wer weiß, vielleicht stimmt es ja sogar, dass die Magie lebt und sich eines Tages für den ständigen Missbrauch rächen wird. Die Haupthöhle ist inzwischen vor dem Auflösen der Lichtzauber geschützt, aber in den Kleinen Höhlen gibt es immer wieder Streit um das magische Licht. Es war mir zu umständlich, ständig einen Schutz gegen ,feindliche‘ Magie aufrechterhalten zu müssen, zumal auch solch ein Schutz ja nicht gerade unfehlbar ist. Der Schutz in der Haupthöhle wird permanent überwacht, aber damit sind mehrere Elfen auch Tag und Nacht beschäftigt. Unsere gesellschaftliche Situation ist nicht optimal, sagen wir es so.“

Betroffen starrte Srrig den Nachtelfen an, der nun von Taren die Pfeife wieder entgegennahm und daran zog.

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321In das peinliche Schweigen hinein fragte Myándirel: „Also, wessen Gedächtnis soll ich doch gleich auf die Sprünge helfen?“

„Meinem“, antwortete Srrig gepresst.„Tigermenschen“, brummte Myándirel. „Warte.“ Er

stand auf und ging in eine Ecke, wo ein abgewetzter Leinenrucksack lag. Myándirel behielt die Pfeife im Mund und kramte in dem Rucksack, dabei murmelte er mit sich selbst. Immer wieder wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen. Schließlich holte er einen kleinen, dunkelblauen Stein hervor, der zwar glatt poliert war, doch andererseits etliche Macken aufwies. Myándirel hielt sich den Stein ganz nah vor die Augen und musterte ihn, ständig blinzelnd. „Ich seh’ nicht mehr so gut“, brummte er beiläufig, „aber das müsste der Richtige sein.“

Wenig begeistert folgte Srrigs Blick dem Nachtelfen zurück ans Feuer. „Und Du weißt wirklich, was Du tust?“, fragte Srrig etwas besorgt.

„Keine Bange“, brummte Myándirel, noch immer mit der Pfeife im Mund. „Schlimmer kann es ja kaum werden.“

Srrigs Augen weiteten sich.„Das war ’n Witz“, nuschelte Myándirel trocken. „Aber

falls es doch schlimmer wird, geht Ihr einfach zu Velýthoel in der Haupthöhle, zu den Reichen, da zieht der Rauch bestens ab und so. Velýthoel ist ziemlich beschäftigt, aber er ist der größte Zauberer hier. Ich war mal sein Schüler. Wenn Ihr ihm sagt, Ihr kommt von mir und ich habs vermasselt, dann wird er Euch weiterhelfen. So, jetzt mach die Augen zu, äh ... Srrig.“

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322 Srrig starrte den Zauberer versteinert an. Auch Taren musterte den Nachtelfen düster.

„Was genau tut Ihr jetzt?“, fragte Taren gedehnt.Myándirel antwortete staubtrocken: „Zaubern.“„Geht es vielleicht etwas genauer?“, knurrte Taren.„Wenn Ihr Euch auskennt, wieso kommt Ihr dann zu

mir?“, fragte Myándirel achselzuckend, „und wenn Ihr Euch nicht auskennt, wieso sollte ich dann Einzelheiten nennen? Also, Srrig, soll ich Dir helfen oder nicht?“

Srrig atmete tief ein und aus, dann schloss er die Augen und seufzte: „Fang an.“

Myándirel behielt auch jetzt die Pfeife im Mund. Mit einer Hand umfasste er den dunklen Stein so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Die andere Hand legte er Srrig auf das Stirnfell.

Für eine gefühlte Ewigkeit passierte nichts weiter, als dass der Nachtelf ruhig und entspannt durch die Pfeife einatmete und deren Rauch durch die Nase wieder ausstieß. Dass Myándirel sich überhaupt anstrengte, erkannte Taren nur daran, dass dem Nachtelfen allmählich Schweißperlen auf der Stirn wuchsen. Mehr und mehr zuckten außerdem seine Augenbrauen zusammen, bis sich eine tiefe Sorgenfalte herausgebildet hatte, die bestehen blieb. Dann fing das ganze Gesicht des Zauberers zu zucken an, mal nach links, dann nach rechts. Hin und wieder verzog er angewidert die Mundwinkel. Seine Hand, die den Stein umklammerte, zitterte leicht.

Er zog auf einmal die Hand von Srrigs Stirn zurück, lutschte an seinem Zeigefinger und malte unsichtbare Symbole in Srrigs Gesichtsfell.

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323Plötzlich riss er Augen und Mund auf, seine Pfeife fiel zu Boden. Ganz langsam zog er die Hand weg und entspannte die andere Hand, welche den Stein hielt.

Srrig hielt die Lider noch geschlossen, doch darunter bewegten sich seine Pupillen.

Taren blickte ständig zwischen beiden hin und her.

Schon zum zweiten Mal setzte der Zwerg die Flasche an, nur um festzustellen, dass sie längst leer war. „So ’n Mist“, lallte er und kratzte sich über die Bartstoppeln, die inzwischen zu sprießen begonnen hatten. Zwerge hatten ungewöhnlich starken Bartwuchs.

Melek hatte seine Tonscherbe aus dem Gürtel gezogen und starrte auf die harten Schuppen am Hals des schnarchenden Chimäriers. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, das vermeintliche Feindwesen zu töten. Zögerte er, obwohl oder gerade weil es wehrlos war?

Melek wusste, was die menschliche Gemeinschaft von ihm erwartete; die eigenen Leute waren heilig, aber Feinde musste man töten, bevor die es umgekehrt taten. Doch Wehrlose zu töten, war das nicht generell verwerflich, unabhängig von der Volkszugehörigkeit? Und war dieser Chimärier überhaupt ein Feind, bloß weil er zum selben Volk wie die Feinde der Menschen gehörte?

Sicher gab es Menschen, die Meleks Fragen leicht hätten beantworten können, doch keiner davon war hier, er musste allein entscheiden. Brommil war schon nüchtern keine Hilfe gewesen, und nun war er obendrein betrunken.

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324 Und noch eine Frage stellte sich Melek: Was die Gemeinschaft wollte, war schön und gut, aber ging Melek das überhaupt etwas an? Er gehörte ja nicht dazu. Wenn „Melek Messer“ ein Dorf betreten hatte, war er stets von den etwas älteren Bewohnern so feindselig angestarrt worden, als hätten sie seine Gedanken lesen können, selbst wenn er freundlich zurückgelächelt hatte. Es war ihm nie gelungen, durch Höflichkeit und Freundlichkeit etwas zu erreichen, die Menschen waren ihm gegenüber stets unwillig geblieben, und immer war dann sofort Gozbad zur Stelle gewesen, der verfluchte Geist, und hatte Melek dazu gebracht, jeden zu töten, der ihn angestarrt oder nicht zuvorkommend genug behandelt hatte.

„Du grübelst zu viel, Junge!“, lallte Brommil von der Seite. „Ich seh’ das doch in Deinem Gesicht. Auf den Bauch musst Du hören!“

Manchmal waren die einfachsten Ratschläge doch die besten. Melek steckte die Tonscherbe weg und ging zum Rucksack des Chimäriers. Der junge Mann fand einen gebratenen Fleischklumpen darin und biss sofort hinein.

„He! Gib mir was ab!“, verlangte Brommil und sprang auf.

Melek riss die Hälfte des Bratenstücks ab und warf sie Brommil zu, der sich darauf wieder hinsetzte. Als Nächstes zog der Junge fluchend seinen blutigen Finger aus dem Rucksack; er hatte einen scharfen Bronzedolch gefunden, den er nun, weitaus vorsichtiger wühlend, hervorholte und sich andächtig in den Gürtel schob. Der Griff aus Buchenholz war viel zu dick für Meleks Hand, aber jeder Dolch war besser als eine Tonscherbe, außerdem hatte der

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325Bronzedolch des Chimäriers den Vorteil, recht schwer und entsprechend wirksam zu sein, von seiner professionellen Schärfe ganz zu schweigen.

Plötzlich packte eine riesige Klaue Meleks Wams im Rücken und schleuderte den Jungen ins Lagerfeuer.

Kreischend sprang Melek auf und wälzte sich am Boden, um die Flammen an seiner Kleidung zu löschen.

Der Chimärier grollte kehlig und rollte sich auf den Bauch, von wo er sich schwerfällig erst auf alle viere schob und sich dann bis in den Kniestand hocharbeitete.

„Was seid Ihr? Spione von Tebaarsha, die mir nachstellen, oder was?“, knurrte der Chimärier laut in Menschensprache. „Sagt dem Miststück, ein echter Mann will eben nicht mit ’ner Frau bloß reden, egal wer sie ist, und lieber verbringe ich den Rest meines Lebens hier draußen, als zu ihr zurückzukriechen und mich zu erniedrigen!“

Melek und Brommil sahen sich mit offenen Mündern an.

„Klingt mir, als wäre Tebaarsha ein ziemlich herrisches Weib, was?“, äußerte Brommil vorsichtig.

Der Chimärier grunzte abfällig und brummte dann: „Sie ist die Matriarchin hier unten. Sie führt die Gegenkultur zur Stadt Harkýior an, füttert Künstler und Krüppel durch. Sie glaubt tatsächlich, die Weibchen wären genauso gute Herrscher wie richtige Chimärier. Pah! Alles trotziges Wunschdenken von Gerechtigkeit! Dass so eine schwache Seele sich an der Macht halten kann, muss ein Witz irgendwelcher fremden Götter sein! Der Imperator würde so was nie zulassen, wenn er davon wüsste!“

Stöhnend stemmte sich der Chimärier auf die Füße.

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326 „Heiße übrigens Paaldrag, und was seid Ihr für mickrige Sklaven?“

Brommil musste den Kopf in den Nacken legen, um dem Chimärier ins schuppige Drachengesicht zu blicken. „Wir sind keine Sklaven mehr! Ich bin Brommil, das ist Melek“, rief der Zwerg nach oben.

Paaldrag stutzte. „Wie, Ihr seid keine Sklaven mehr? Sind Euch plötzlich Schuppen gewachsen, und reicht Ihr mir wenigstens bis zur Schulter? Nein, ich glaube nicht! Solange Euch kein Schwanz über Nacht wächst, bleibt Ihr Sklaven. Nicht dass es mich interessiert, aber Ihr müsst die Wirklichkeit eben akzeptieren. Andere Chimärier sind nicht so nachsichtig und großherzig wie ich.“

Während Brommil und Melek halb betreten, halb wütend an dem Chimärier vorbeistarrten, fing das riesige, fünfhundert Pfund schwere Wesen plötzlich so schallend an zu lachen, dass der Widerhall der Höhle in den Ohren schmerzte.

„Reingelegt!“, brüllte der Chimärier atemlos und hielt sich vor Lachen den Bauch. Seine Stummelflügel zuckten unkontrolliert und aus seinen Nasenlöchern stieg Rauch auf. Als er sich ein wenig beruhigt hatte und die irritierten, unwilligen Blicke der Niederen bemerkte, lachte er erneut: „Ich schere mich nicht um dieses Gerede von Niederen und Herrschern, nicht hier unten. Hier sind wir alle gleich, die wir auf zwei Beinen laufen.“ Er sah auf Brommil und Melek herab und legte den Kopf schief. „Na ja, fast gleich jedenfalls“, knurrte er amüsiert.

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32�9

Athónon weckte Jade mit einem sanften Griff um ihren Unterarm. Langsam schlug sie die Augen auf und atmete tief ein. „Ich habe nichts mehr zu essen im Rucksack und hole uns was aus dem Schankraum“, murmelte er, „bleibst Du solange wach?“

„Sicher, danke. Ich habe vielleicht Hunger!“, gähnte Jade und setzte sich vorsichtig auf. Sie verzog das Gesicht ein wenig und hielt sich die Seite, doch die Wunde schien tatsächlich nicht ganz so schlimm ausgefallen zu sein. Athónon nickte ihr zu und verschwand.

Jade stemmte sich schließlich sogar auf die Füße und schlurfte müde zu Mèra hinüber. Erst dabei sah sie sich verwundert um und fragte: „Wo ist denn Laura?“

Mèra antwortete schleppend: „Sie ging mit Wenndur ein Brandmal abzeichnen; ein Mensch starb in der Nacht. Vielleicht betrifft es uns.“

Die Nachtelfin ließ sich ihre Sorge nicht anmerken und strich sich das Haar hinter die Ohren. „Wie geht es Dir, Miri... ich meine, Mèra?“, fragte sie.

Mèra schloss die Augen für einen Moment. „Nicht gut“, entgegnete sie mit schwacher Stimme. „Meine Hände scheinen immer weiter zu brennen. Ich werde noch etliche Stunden Erholung brauchen, trotz der magischen Decke. Dann aber werde ich uns von hier fort zu Srrig teleportieren.“

„Tja, aber Wachen brauchst Du trotzdem vorerst noch“, ergänzte Jade.

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32� Wehmütig schaute die Nachtelfin durch das Fenster, auf den hell von der Sonne beschienenen Weg. Weder Staub noch Schlamm hätten sie jetzt gestört, wenn sie nur im Sonnenlicht über diesen Weg hätte spazieren können. „Ich kann die Helligkeit fast nicht ertragen. Seit zwanzig Jahren lebe ich in der Nacht“, hauchte sie.

Mèra wandte ihr Gesicht von der Nachtelfin ab; auf ihrer Miene wechselten sich Schuldgefühl und Kaltherzigkeit ab.

Athónon ging zielstrebig zu den Resten des Bratens vom Vorabend. „Ich darf doch?“, fragte er beiläufig. Ohne Toptas Antwort abzuwarten, zog er einen schlichten Eisendolch aus dem Gürtel und schnitt den kalten Braten in Streifen. Der große Griff verriet, dass die Waffe für Menschen und nicht für Gnome gedacht war.

„Sicher, Herr, nehmt, so viel Ihr wünscht! Eure Bezahlung war mehr als ausreichend“, rief der Wirt, während er den Tresen polierte.

Ein alter Mann betrat die Herberge. Er stützte sich auf einen Stock mit goldenem Knauf und hinkte zum Tresen. „Ich hätte gern ein Zimmer“, erklärte er freundlich, kurz bevor er beim Tresen ankam.

„Natürlich. Einzelzimmer?“, riet Topta und starrte unverhohlen auf den Goldknauf am Stock des alten Mannes.

„Ja, danke“, nickte der Mann.Athónon warf mit seinem gesunden Auge einen kurzen

Seitenblick über die Schulter – und schnitt sich fast in den Finger. In einer kurzen Vision sah er Jade, die mit

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32�durchschnittener Kehle in ihrem Blut lag. Vorwurfsvoll starrten ihre toten Augen in Athónons Richtung. Mèra stand mit verschränkten Armen neben ihr und funkelte mitleidlos zum Fenster hinaus.

Denselben Traum hatte er in jeder Nacht gehabt, seit Jade ihn aus seiner Höhle geholt hatte. Priester würden diese Gabe wohl als große Ehre und als Segen darstellen, doch Athónon empfand sie oft eher als Fluch oder Bürde.

Als Athónons Blick wieder klar wurde, schaute er abermals über die Schulter. Der alte Mann war längst am Ende der Treppe verschwunden, im oberen Flur.

Athónon ließ den Dolch und das Fleisch fallen und sprengte mit der Hand am Kurzschwert die Treppe hoch. „Mèra! Jade!“, schrie er scharf.

Die beiden Elfinnen hatten den Ruf gehört. Doch der alte Mann war längst in ihr Zimmer getreten.

Seine Augen loderten vor Mordlust. Er senkte den Kopf und drehte den Knauf seines Gehstockes, worauf eine eiserne Messerklinge aus dem unteren Ende sprang. „Wartet nicht auf den Gnom, der stirbt auch gleich“, knurrte er. Der Alte schwang den Stock herum und hielt ihn wie ein Schwert nach unten. Mit der Spitze scharrte er an der Wand, es klang wie ein Knurren.

Jade ignorierte ihre Fleischwunde und sprang auf. Hinter sich hörte sie noch Mèra keuchen: „Ich kann Dir nicht helfen!“

Jades Schwert und ihr Kettenhemd lagen hinter dem Angreifer, auf ihrem Lager bei der Tür. Sie hatte nicht mal einen Dolch im Gürtel und nur ein besticktes

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330 Unterhemd ohne Ärmel am Leib. Sie kreuzte die Arme nah vor der Brust, wie der Tempelkrieger Cesius es ihr für den unbewaffneten Kampf gezeigt hatte. „Lass Dir lieber die Arme, als Hals oder Brustkorb zerschneiden!“, hatte er gesagt. Für einen Augenblick fühlte sie Angst, doch sie wusste, dass sie sich der Furcht nicht hingeben durfte: Sie würde sonst nur noch fliehen, aber nicht siegen können. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen und stach bis in den Hals. Ohne Waffen einen erfahrenen Schwertträger zu besiegen, war fast aussichtslos, und so einen Kampf ohne Wunde zu gewinnen, unmöglich.

Der Angreifer stürmte brüllend vor: „Für die dunklen Herren von Bedhârva!“ Er schwang den Stock so plötzlich von der Wand weg zu Jades Hals hoch, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Sie drehte dem Schlag jedoch reflexmäßig die Arme entgegen und rettete so ihr Leben.

Jade erhielt einen tiefen Schnitt durch beide Unterarme; die abgebrühte Kriegerin zuckte allerdings bloß kurz zusammen und schrie nicht mal.

Stattdessen trat sie dem Angreifer mit dem rechten Fuß zwischen die Beine; er war über ihre enorme Reichweite sichtlich überrascht.

Dennoch blieb es beim Versuch, ihn richtig zu treffen. Der Angreifer – zu erfahren, um sich völlig übertölpeln zu lassen – wich im allerletzten Moment flink zur Wandseite aus und schlug mit dem Stock Jades rechtes Bein nach außen in den Raum weg. Ein Schnitt in der Wade ließ sie beim Auftreten unterdrückt stöhnen, außerdem stand sie nun zu breit und unbeweglich da.

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331Als der Angreifer den Stock mit der Klinge zurückschnellen ließ, diesmal zur Wandseite hin durch Jades Hals, rannte die Nachtelfin mit einem riesigen Schritt in seine Schulter, dem tödlichen Hieb zuvorkommend. Die Wand im Rücken, halb im Rücken des Gegners, stand Jade jetzt sicher und packte Waffenhand und Schopf des Feindes.

Ihre Arme hatten durch die Schnitte nicht viel Kraft, doch sie verstand es, ihre Angriffe aus den stärkeren Beinen heraus zu führen.

Jade schob ihre Brustseite gegen den Ellbogen des Alten und zerrte seinen Waffenarm gleichzeitig zurück, überstreckte ihn. Jade zog mit aller Gewalt daran und zischte durch die Zähne, aber es gelang ihr nicht, die Waffe aus der Hand zu hebeln. Ihr fehlte der Schwung, einen so viel stärkeren Gegner auf diese Weise zu entwaffnen.

Der Gegner ruderte mit seinem freien Arm, den Jade nicht erreichen konnte. Doch solange sie seinen Kopf nach hinten zog und seinen Waffenarm streckte, kam er mit der freien Hand nicht an seine eigene Waffe heran – konnte also nicht die Hand wechseln und die Nachtelfin erstechen. Die Kontrahenten waren sich ebenbürtig und lieferten sich ein Unentschieden. Als wäre es ein ungelenker Tanz, rangen sie keuchend und wütend zischend miteinander.

Auf einmal stürmte der Alte brüllend mit der Schulter vor, die leichte Elfin rammend und schiebend. Sie krachte gegen die nahe Wand, überrascht und überrumpelt von der großen Kraft. Die Wucht trieb ihr die Luft aus den Lungen.

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332 Der Alte rammte ihr in einer einzigen Bewegung auch noch den Ellbogen des Waffenarms in den Solarplexus, mit solcher Macht, dass Jade fast den Würgereflex nicht unterdrücken konnte. Mit aufgerissenem Mund starrte sie in das lüsterne Gesicht des Alten. Spürte abermals Furcht, die sie niederringen musste.

Der Alte riss seine Waffe aufwärts frei und schnitt Jade durch die Handfläche. Hätte sie den Hieb nicht geahnt und die Hand nicht in den Weg gehalten, hätte er ihr stattdessen den Hals aufgeschnitten. Die Kriegerin verlor mehr und mehr an Boden.

Jade keuchte unterdrückt, biss die Zähne zusammen und spannte sich an, um von der Wand und der Waffe fortzukommen. Noch immer konnte sie kaum atmen.

Mit der linken Faust, fast so breit wie Jades Taille, schlug der Alte ihr in den Magen, als sie fortspringen wollte. Sie hatte sich zu sehr auf die Waffe konzentriert und die Faust nicht gesehen – der Alte hatte das erkannt. Sie keuchte laut und krümmte sich mit verzerrter Miene, weiter die Waffe im Auge behaltend. Der Alte packte ihr Elfenohr und ihr Haar und zog ihren Oberkörper noch tiefer dem Boden entgegen. Vorgebeugt stand sie da, konnte die Füße nicht richtig zum Treten heben. War ihrem Mörder ausgeliefert. Der Feind holte siegessicher mit der Waffe zum Stich aus.

Als er die Nachtelfin aufspießen wollte, schlug sie mit dem Unterarm die Klinge nach außen. Gleichzeitig schlug sie ihm die andere Hand zwischen die Beine.

Der Alte schrie wütend, krümmte sich etwas und ließ Jades Ohr los. Verzweifelt stieß sie sich von der Wand ab,

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333direkt an der Waffe vorbei und in den Angreifer hinein. Nur wenige Krieger besaßen so viel Mut; die meisten hätten der Klinge aus dieser Lage niemals ausweichen können.

Jade klemmte sich den Arm des Gegners unter ihre linke Achsel, hielt so die Waffe fest und verkrallte sich mit der Hand zusätzlich in seinem Ärmel. Mit der rechten Handwurzel wollte sie ihm unter die Nase schlagen, trotz zerschnittener Handfläche.

Der ebenbürtige Gegner ahnte den Angriff allerdings voraus und zog den Kopf zur Seite. Jade schmierte ihm bloß noch ihr Blut ins Gesicht.

Sie spürte seine Kraft im Arm, sie hatte ihn wegen seines Alters unterschätzt. Arroganz konnte ein tödlicher Fehler sein. Allmählich gewann die Furcht die Oberhand. Sie ließ nicht zu, dass auch noch ihr prophezeites Schicksal sich in ihre Gedanken zwängte und sie endgültig von Panik übermannt wurde. Der pure Anflug davon hatte sie bereits die Gelegenheit gekostet, den Feind mit dem Knie zu treffen.

Der Alte schlug ihr mit der Linken kurzerhand selbst auf die Nase. Jade stöhnte und verdrehte benommen die tränenden Augen, sie musste sich am Waffenarm des Gegners regelrecht festhalten. Ihre blutende Hand hielt sie einfach nur hoch als unbeholfene Deckung. Der Alte packte diese Hand und zog sie zur Seite. Bevor Jade richtig begriff, was er vorhatte, schlug er ihr mit unsäglicher Kraft die Stirn auf die ohnehin schon gebrochene Nase. Ihr Hinterkopf knallte gegen die Wand und hinterließ einen

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334 Blutfleck. Ohne das Ergebnis davon abzuwarten, drehte der Alte sich vor ihr um die eigene Achse und schleuderte den schlaffen Elfenkörper über die Hüfte zu Boden.

Leise lachend trat er ihr auf den Kopf. Während sie sich wimmernd aufbäumte, holte er mit seinem befreiten Waffenarm weit aus, um ihr die Messerklinge endlich in den Leib zu rammen.

Mèra hatte sich stumm auf die Füße gequält und rannte in den Alten hinein, hielt seinen Waffenarm mit beiden Händen fest. Er wankte jedoch kaum, sondern stieß die geschwächte Elfin weit von sich zu Boden zurück.

Der Alte drehte den Stiefel mit seinem vollen Gewicht auf Jades Gesicht, was sie halb wütend, halb kläglich aufschreien ließ. Dann wandte er sich Mèra zu.

Mit einem piepsenden Schrei sprang Taffi auf sein Gesicht zu, doch der Alte hatte exzellente Reflexe und schlug Taffi mit der Linken aus der Luft. Kreischend knallte das Chamäleon gegen die Wand, fiel zu Boden und blieb reglos liegen.

Der Alte spürte, dass Jade sich am Boden zu befreien versuchte. Er stieß sofort zu, gerade als Jade sich auf die Seite rollte. Der Stich riss ihr Hemd und ihre Haut auf dem Rücken auf, doch es blieb bei einem Streifer.

Jade riss ihren Kopf mit einem Schmerzensschrei frei, ihre Gesichtshaut und ihr Ohr wurden von der Ledersohle des Mannes aufgerissen. Sie sprang vor einem weiteren Hieb der Waffe zurück, stolperte rücklings, rollte sich geschickt ab und stand wieder auf den Füßen.

Der nächste Hieb verfehlte ihre Kehle nur knapp – doch

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335stattdessen ging er wie Butter durch ihre Wange und blieb in ihrem Oberkiefer stecken.

Jade kreischte erbärmlich vor Schmerzen und wagte es nicht, sich zu rühren. Die Splitter ihrer Schneidezähne rieselten in einem Blutstrom ihre Lippen hinab.

„Wie ein Fisch an der Angel“, knurrte der Alte triumphierend.

Mit einem Ruck riss er die Waffe frei und trat der vorwärtstaumelnden, kreischenden Jade mit der ganzen Sohle vor die Brust; sie war in den mächtigen Tritt förmlich hineingerannt. Jade stürzte zu Boden und hielt sich zitternd und wimmernd das Gesicht. Sie rang verzweifelt nach Atem, hustete schmerzvoll und spuckte Blut.

Der Alte baute sich vor Mèra auf, die sich Jade zugedreht hatte, den Angreifer nun aber aus dem Augenwinkel ansah. „Keine Ahnung, wer Du bist, aber Dein Kopf ist fünfhundert Goldmünzen wert“, knurrte der Alte.

„Nur zu“, hauchte Mèra und kniete sich vor ihn. Sie streckte die Arme mit den wunden Händen zu den Seiten aus, schloss die Augen und senkte den Kopf. „Geht Hevas Leib eben zugrunde für fünfhundert Goldmünzen“, wisperte sie eisig. Ihre Vorhersehungen hatten sie zu dem Schluss kommen lassen, dass ihr Tod auch das Schicksal der Sterblichen besiegeln würde. Es handelte sich bei jenen Worten keineswegs um einen Anflug von Arroganz. Mèra versuchte nicht mal zu zaubern – sie war zu geschwächt.

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336 Athónon war die Treppen hinaufgestürmt und zog das magische Kurzschwert, als ihm zwei Gestalten vor Mèras Tür entgegentraten. Ganz am Ende des Flures stand eine Tür offen; womöglich hatten die Gegner dort auf ihren Anführer gewartet.

Die Kräfte von Athónons magischer Waffe griffen beim Ziehen nach dem Willen der beiden Angreifer. Einer der beiden, ein menschlicher Muskelberg mit einem quadratischen Gesicht, bekam in der Tat einen dümmlichen Gesichtsausdruck, ließ seinen gezackten Streitkolben sinken und stand einfach da.

Der andere Gegner, kaum größer als Athónon und in einen dunklen Umhang gehüllt, kicherte jedoch mit schriller Stimme. Er warf den Umhang von sich; Athónon blickte in das abstoßend hässliche Gesicht eines dämonischen Tiefengnoms, leichenblass, kahl, mit uringelben Augen und faulen Zähnen unter der Hakennase. In seinen ledrigen Segelohren steckten Fingernknochen als Schmuck. Seine dunkle Zunge spie Athónon Gestank und Speichel entgegen, während er mit zwei gebogenen Eisendolchen zu wirbeln begann und Athónon zurückdrängte.

Athónon blieb völlig ruhig, er hob nicht mal das Kurzschwert allzu hoch. Viele Gegner hätte allein diese todesverachtende Ruhe im Moment der Gefahr beeindruckt oder gar eingeschüchtert, wenigstens aber stutzig gemacht. Doch dieser Tiefengnom war an seinen zahlreichen Narben selbst als Veteran zu erkennen, auch wenn sein unkontrollierter, wilder Kampfstil auf wenig Ruhe und Disziplin hindeutete.

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33�Athónons Pupillen zuckten kein bisschen. Er ließ sich exakt so weit treiben, wie es nötig war, um den Wandteppich neben sich greifen zu können. Er riss ihn mit einem Ruck von der Wand und schleuderte ihn über den Kopf des Tiefengnomes. Fast gleichzeitig schlug Athónon auf eine der beiden Dellen im Wandteppich ein, wo sich zweifellos einer der beiden Dolche des Gegners befand. Das messerscharfe Kurzschwert säbelte sich tief durch den Stoff und das Fleisch des Gegners. Dunkles Blut spritzte und ein tierhafter Schrei tönte durch die ganze Herberge.

Unbeholfen wirbelte der Tiefengnom mit der gesunden Hand unter dem Teppich herum, um ihn loszuwerden. Athónon huschte derweil an ihm vorbei und schnitt dem hypnotisiert dastehenden zweiten Gegner die Kehle durch. Während der Mensch zusammenbrach, warf der Tiefengnom gerade den Teppich von sich und starrte irritiert die Treppe hinab. „Hier bin ich“, dachte Athónon im Rücken des Gegners, bevor er ihm das Schwert in den knackenden Hinterkopf schlug.

„Nein!“, kreischte Jade blutspuckend und sprang den Alten an, gerade als er Mèra erstechen wollte.

„Hast Deine Lektion wohl immer noch nicht gelernt, was?“, knurrte der. Er wollte ihr das Knie ins Gesicht rammen und ihr den Knauf seiner Waffe in den Nacken schlagen, doch dann sah er Jades Eisenschwert in ihrer Faust.

Sie holte von unten aus, um nach oben zum Kopf zu

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33� schlagen. Als der Alte sich auf eine entsprechende Parade vorbereitete und die Waffe hob, riss Jade das Schwert mit beiden Händen nach unten und ging sogar mit in die Hocke. Sie hackte dem Gegner trotz ihrer aufgeschnittenen Unterarme das Bein am Knie ab. Wild schreiend schlug der Alte noch nach Jade, doch die Nachtelfin trat einfach einen Schritt zurück und sah mit tiefer Befriedigung zu, wie der Feind am Boden allmählich ruhiger wurde. Gleichzeitig fühlte sie, wie ihre eigenen Knie weich wurden, sie verschluckte sich abermals an ihrem Blut, das aus ihrem Oberkiefer in ihren Hals pulste. Das Eisenschwert fiel polternd aus ihrer kraftlosen Hand. Mit der anderen Hand umklammerte sie ihr Brustbein, wo der mächtige Tritt ihre Rippen zum Knirschen gebracht hatte.

Mèra ergriff die magische Decke, obwohl sie ihre Hände kaum einsetzen konnte. Sie hielt den zerschundenen Stoff gerade noch rechtzeitig als Knäuel unter Jades Kopf, als diese vor Schwäche zusammenbrach. Mèra bettete die Nachtelfin dann behutsam auf einem anderen Kissen und breitete die magische Decke über ihr aus. „Du wirst wieder gesund“, flüsterte sie fürsorglich und strich der Nachtelfin über die nasse Stirn. Für einen Moment blickte Mèra jedoch über Jade hinweg ins Leere. Ihre Nackenhärchen sträubten sich, ihre Schultern zogen sich eng zusammen und ein neuer, stechender Geruch von Hass und Schmerz drang in ihre feine Elfennase. Traurig wisperte sie in Jades Ohr: „Was gleich geschieht, ist allein Deine Entscheidung.“ Mèra blickte ausdruckslos hinter sich. Sie wusste, dass sie nicht mehr schnell genug aufspringen konnte.

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33�Jades Gesicht war mit ihrem Blut besudelt, immer wieder verschluckte sie sich daran und bekam kaum Luft. Sie öffnete die Lider und sah Mèra an, die hinter sich blickte. Plötzlich weiteten sich Jades Augen. Ohne zu denken ergriff sie Mèra und rang sie zu Boden, weg von dem sterbenden Krieger, der sich wutschnaubend zu ihnen geschleppt hatte. Jade bäumte sich schreiend auf, als die Stockklinge sich nun in ihren Rücken bohrte statt in Mèras. Der Alte packte sie wutschäumend am Schopf und riss ihren Kopf in den Nacken, während er auf seinem verbleibenden Bein kniete; die Klinge bohrte sich bis zum Holzschaft des Stockes durch ihre Rippen. Jade ruderte hilflos mit den Armen und röchelte kläglich, dabei starrte sie flehend zu Mèra; doch die Elfin schloss nur die Augen. Der Alte riss seine Waffe aus Jades Rücken und schnitt ihr tief durch den Hals. Abrupt fiel sie ihm leblos in den Arm.

„Langsam reichts mir mit Euch Elfenpack!“, knurrte der Alte, stieß Jade achtlos von sich und zog sich, eine Blutspur hinterlassend, weiter auf Mèra zu. Die Elfin sah ohne jeden Ausdruck im Gesicht zur Tür.

In dem Moment kam endlich Athónon ins Zimmer gerannt, von seinem Kurzschwert tropfte frisches Blut. Ohne Zögern rannte er auf den sterbenden Kämpfer zu und schlug ihm die Waffe mit dem Kurzschwert aus der Hand, was den Mann zwei Finger kostete. Athónon trat ihm unter die Nase und stach ihm die Klinge ins Herz. Dann ließ der Gnom die Waffe einfach stecken und sprang zu Jade, die reglos auf der Seite lag.

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340 Auf Jades Rücken prangte ein Blutfleck um eine Stichwunde. Bevor Athónon nachsah , was ihr sonst noch fehlte, hatte er die magische Decke neben ihr gepackt und sie der Nachtelfin über den Körper geworfen. Dann erst drehte er sie behutsam auf den Rücken. Er sah ihr zerschnittenes, blutüberströmtes Gesicht und ihre durchgeschnittene Kehle. Ihre toten Augen starrten ihn vorwurfsvoll an. Wie in seinen Albträumen.

Völlig ausgebrannt blieb Athónon einfach sitzen. Tränen hatte er schon lange nicht mehr für all die gefallenen Kameraden, die er schon zu Grabe getragen hatte. Sein Blick fiel auf die kleine Wolltunika um Jades Hüfte, deren Ärmel unter der Decke hervorlugten.

Mèras Teilnahmslosigkeit regte ihn plötzlich auf. Sie rappelte sich hoch, schlang die Arme um den Körper und blickte ausdruckslos zum Fenster hinaus.

„Ihr könntet sie zurückholen“, raunte Athónon tonlos. „Ihr habt so etwas schon einmal vollbracht.“

„Ich bin zu schwach“, erwiderte Mèra matt. „Und selbst wenn nicht, dürfte ich es nicht. Es gibt auch für mich Regeln.“

„Regeln?“, knurrte Athónon. Er stand auf und ballte die Fäuste. „Regeln?“, schrie er plötzlich wütend, „sie hat Dein Leben gerettet und ihres dafür gegeben! Sie hat zwei Töchter und einen Gefährten, der sie liebt! Sie wollte Dich nicht begleiten! Du hast sie belogen, damit sie es tut! Gehörte das auch zu den Regeln?“

„Ihr Schicksal hat sich erfüllt. Sie selbst traf die Entscheidung mit dem Herzen“, erwiderte Mèra kalt und verschränkte die Arme. Wie in Athónons Albtraum.

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341Athónon prallte wie geohrfeigt zurück. Er wirbelte auf dem Absatz herum, stürmte zu seinem Gepäck und warf es Mèra vor die Füße.

Als sie ihn fragend anstarrte, knurrte der Gnom nur: „Behalte die Decke und das Kurzschwert, die Du mir beide mal zum Geschenk gemacht hattest. Ich brauche sie nicht länger; ich sehe auch mit nur einem Auge mehr als mir lieb ist. Ich gehe.“ Sicher würde Laura das Andenken von Jade selbst mitnehmen. Er wollte nur noch weg.

„Und wohin glaubst Du noch fliehen zu können? Glaubst Du, die drohende Allianz zwischen dem Imperator und den Dämonen wird auch nur ein einziges Fleckchen von Hevas Leib nicht erobern?“

Athónon hörte gar nicht hin. Er wandte sich zur Tür – und zuckte abermals zurück. Laura stand im Türrahmen, leichenblass, und starrte auf ihre tote Mutter.

Mit einem plötzlichen Ruck sprengte sie an Athónon vorbei und kniete sich neben Jade. Dann platzte der Schmerz mit einem kläglichen Schrei aus ihr heraus. Sie packte ihre Mutter und schüttelte sie, als würde sie davon aufwachen. Doch Jades tote Augen blieben ungerührt.

Athónons gesundes Auge funkelte noch einmal böse zu Mèra, doch die wandte sich mit leerer Miene ab.

Laura schluchzte in Athónons Richtung: „Wieso habe ich nicht auf Dich gehört? Ich hätte nicht weggehen dürfen! Du hättest mich aufhalten müssen!“

Seufzend setzte Athónon sich neben sie, legte ihr einen Arm auf die Schulter und raunte: „Vielleicht, aber das kann niemand wissen. Wenn Du geblieben wärst, würdet Ihr jetzt vielleicht beide hier liegen. Ich hatte den Raum auch

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342 verlassen, um etwas zu essen zu holen, und genau in dem Moment ist es passiert. Ich könnte mir selbst genauso viel Schuld geben, doch so funktioniert das Schicksal nicht.“

Flehend blickte Laura zu Mèra hoch. „Wenn Du wirklich eine Halbgöttin bist ...“, begann sie, doch Athónon unterbrach sie.

„Vergiss Mèra. Sie wird uns niederen Sterblichen nicht helfen“, knurrte der Gnom.

Überrascht blinzelte Laura ihn an. „Was? Was sagst Du da?“, stammelte sie.

„Sie kann uns nicht helfen, sie muss ihre Regeln einhalten“, berichtete Athónon abfällig; er spie die Worte förmlich aus.

Laura blickte wieder hoffnungsvoll zu Mèra auf. „Also könntest Du meine Mutter zurückbringen?“, fragte sie leise.

Als Mèra nur gequält wegsah, sprang Laura auf und rief: „Wenn Du es kannst, musst Du es tun! Wieso willst Du sie nicht retten? Das verstehe ich nicht, und das erklärst Du mir lieber, hörst Du?“

„Ich kann es nicht“, erwiderte Mèra darauf ungerührt und schloss die Augen. Sie schlang wieder die Arme um den dürren Körper und wollte das Zimmer verlassen, doch Athónon packte sie am Arm.

„Wozu eine Welt retten, in der Regeln wichtiger sind als Liebe und Freundschaft?“, wisperte der Gnom. In seinem faltigen Augenschlitz schimmerte eine einzelne Träne.

Mèras Augen weiteten sich, ihre zusammengepressten Lippen wurden schmal und weiß und sie schluckte schwer.

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343Vom Flur hörten sie plötzlich Wenndurs Stimme: „He, was ist hier denn passiert, was sind das für tote Krieger auf der Trep... Oh.“ Der Barde sah ins Zimmer; sein Blick fiel auf Laura, die sich mit ihrer toten Mutter im Arm schluchzend hin- und herwiegte. Bitterlich weinend schloss Laura Jades Lider und knotete die kleine Tunika los.

Mèra kniete sich vor Athónon und flüsterte: „Du vergisst, dass ich nicht die alte Mèra bin. Außerdem bin ich geschwächt. Ich könnte eine Wiederbelebung zwar versuchen, aber es gibt keine Garantie auf Erfolg. Die Chance, dass ich dabei selbst sterbe, ist allerdings weitaus höher, und wer kümmert sich dann um die Dämonen? Eine Wiederbelebung ist aus Sicht der Geisterwelt, der Welt der Magie, außerdem wie ein riesiges Leuchtfeuer, sichtbar bis in die fernsten Winkel für jeden mittelmäßigen Zauberer, der danach sucht. Von überall her werden unsere Feinde anströmen und uns vernichten. Jetzt könnten wir noch Glück haben, ich teleportiere uns weit weg, zu Srrig, der uns beschützen kann. Vielleicht verlieren unsere Feinde sogar unsere Spur. Verstehst Du nicht, dass wir die Tatsachen abwägen müssen, anstatt uns von Gefühlen blenden zu lassen?“

Athónon ohrfeigte die Halbgöttin. „Und, wie fühlt sich diese Tatsache an?“, zischte er giftig.

Mèra blieb mit geschlossenen Augen einfach sitzen. Doch sie verstand plötzlich, was Athónon hatte sagen wollen. Sie betrachteten lediglich zwei verschiedene Seiten derselben Medaille.

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344 Wenndur, der mit immer größer werdenden Augen gelauscht hatte, setzte sich nun einfach daneben und sagte mit felsenfester Entschlossenheit: „Wiederbelebungen und Dämonen sind ja wohl das Beste, was einem Barden für sein Repertoire passieren kann. Ich habe zwar keine Ahnung, was für göttliche Gestalten Ihr seid, aber Ihr werdet mich ganz sicher nie wieder los. Also, wann fangen wir an?“

„Nicht noch ein Kind“, seufzte Mèra, erhob sich und wandte sich ab.

Auch Athónon ließ Wenndur einfach sitzen und ging zu Laura zurück, die noch immer schluchzend ihre tote Mutter an sich drückte.

„Das war jetzt vielleicht etwas taktlos ...“, murmelte Wenndur schuldbewusst zu sich selbst und errötete.

An die Zeichnung des Brandmales dachte niemand mehr. Die feindseligen Dämonenzeichen hätte aber ohnehin niemand entziffern können, eher hätte der Widerhall des Brandmalzaubers, weitergetragen durch das Pergament, noch weiteren Schaden angerichtet.

Würde es Auswirkungen auf Laura haben, dass sie, wenn auch ohne bewusstes Wissen, mächtige Dämonenzeichen geschrieben hatte ...?

„So, Ihr seid also auch Ausgestoßene“, grollte Paaldrags kehlige, tiefe Stimme.

Brommil grinste schief und meinte: „Man kann die

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345Gesellschaft am besten beurteilen, wenn man von außen draufguckt – nicht aber, wenn man mittendrin steckt und sich von den Strömen dort blind treiben lässt. Ich bin als Söldner nie reich geworden, aber wesentlich zufriedener als mancher Händler. Tja, doch dann kam das Imperium.“

Paaldrag lächelte böse und zog die Augen zu schmalen, geschuppten Spalten zusammen. „Zum Glück bin ich nicht das Imperium, sonst würde ich jetzt Angst vor Dir kriegen, Zwerg.“

Brommil atmete tief durch die Nase ein, schob die Brust vor und verkündete: „Das wäre nur recht so! Immerhin war auch ich ein großer Krieger in meiner Jugend!“

Beide fingen gleichzeitig an zu lachen.Melek saß auf der anderen Seite des Feuers, den Kopf

auf einer Hand abgestützt, und stocherte mit einem Ast in den Flammen herum. Ihr Narren! Ihr wart nie wirklich außen vor.

„Ja, sich aus dem goldenen Käfig der Gemeinschaft zu befreien, ist eine schwer zu erreichende Wohltat“, grollte Paaldrag, „aber hier unten leben nur solche wie Du und ich, die das Imperium nicht haben wollte. Künstler vor allem, aber zum Beispiel auch solche, die das Kämpfen nicht so lustig finden wie wir zwei. Kämpfer wie ich, die nicht ausreichend im Gleichschritt marschiert sind. Und auch ein paar Weibchen. Du musst wissen, die sind bei unserem Volk leider noch seltener als bei Euch Zwergen. Das Imperium hält sie deshalb gefangen, und nicht wenige wollen ihrem Schicksal entfliehen. Tebaarshas Matriarchat kommt ihnen da natürlich gerade recht, denn hier können sie nicht nur frei leben, sondern sogar Herrscherinnen

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346 oder Priesterinnen werden. Das imperiale Religionsverbot gilt hier unten nämlich auch nicht, und die uralten Kulte blühen wieder auf.“

Brommil lachte verhalten: „Na, dass die gleich so übertreiben müssen – anstatt mit ihrer Freiheit zufrieden zu sein.“

„Ja, wirklich schlimm!“, brüllte Paaldrag und schlug sich vor Lachen auf den Schenkel.

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34�10

„Ich habe schon einmal gegen die Götter rebelliert, wie Ihr wisst“, sagte Mèra und lächelte dünn. Sie kniete sich vor Athónon und legte die Hände in den Schoß. „Ihr habt recht. Eine so kalte Welt, in der ich Jade – der ich mein Leben verdanke – einfach sterben lasse, könnten wir gleich den Dämonen überlassen. Und selbst wenn ich bei dem Versuch sterbe ... Ich habe lange genug gelebt, sie nicht, und sie hat eine Familie. Ich habe niemanden mehr.“ Sie hatte für Jahrhunderte drei Freunde gehabt, die nun fort waren, und sie fühlte – nichts.

„Das stimmt nicht ganz“, flüsterte Athónon und drückte ihre Hand. Ein einzelner Streit konnte seine Zuneigung für die Halbgöttin nicht zum Wanken bringen.

Mèra ließ sich nicht anmerken, dass sie gerührt war. Sie stemmte sich mühsam auf die Füße und erklärte: „Zunächst sollten wir umziehen. Offensichtlich weiß jedermann, wo wir zu finden sind. Sobald wir an einem geeigneten Ort sind, brauche ich Ruhe. In dieser Zeit werde ich wieder völlig abwesend sein und Ihr müsst mir Schutz bieten.“ Sie wurde leiser. „Vielleicht sind wir danach beide tot, Jade und ich. Auf jeden Fall werde ich danach so geschwächt sein, dass ich mich vermutlich kaum noch auf einem Pferd werde halten können. Trotzdem müsst Ihr dann dafür sorgen, dass wir alle so schnell und so weit wie möglich wegkommen vom Ort des Zaubers, denn die Menge der magischen Energie, die dort fließen wird, lockt unsere Feinde an wie das Licht die Motten.“

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34� „Lasst das unsere Sorge sein“, erwiderte Athónon entschlossen.

„Wo sind eigentlich Taffi und Zeeris?“, fragte der Gnom plötzlich.

Aus einer Ecke des Raumes kam ein leises Stöhnen.„Taffi!“, rief Athónon und rannte zu dem Chamäleon.„Schön, dass mich jemand vermisst“, röchelte Taffi. Er

hatte die Farbe der Wand angenommen, beinahe hätte Athónon ihn übersehen.

Der Gnom hob das kleine Wesen behutsam auf seine Hände und schloss sein gesundes Auge. „Zum Glück kenne ich Dich schon so lange, das macht das Zaubern bei Dir etwas einfacher“, murmelte Athónon und konzentrierte sich auf seine Heilmagie.

Taffi raunte genussvoll, als die wohltuende Heilkraft durch seinen Körper strömte. Er räkelte und streckte sich, und nach wenigen Lidschlägen sprang das Chamäleon dem Gnom bereits wieder auf die Schulter, wenn auch nicht ganz so flink wie sonst.

Der Barde hatte seinen neuen „Freunden“ – jedenfalls nannte er sie so – von einer Höhle im Westen der Stadt erzählt, wo er als Kind oft gespielt hatte. Natürlich kannten auch andere Dorfbewohner die Höhle. Aber zumindest für Fremde war sie recht gut verborgen und sie besaß nur einen schmalen Eingang, war also gut zu verteidigen. Andererseits konnte sie dadurch erst recht zur Todesfalle werden.

Wenndur hing sich seine Laute über die Schulter, dann trug er Jades leblosen Körper; die anderen folgten ihm.

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34�Nur Zeeris blieb verschwunden, doch er würde die Truppe schon wiederfinden, wie jedesmal.

Laura war die Einzige gewesen, die Wenndur sofort bereitwillig erlaubt hatte, die Gruppe zu begleiten. Mèra und Athónon schwiegen dazu. Sicherlich war ein zusätzlicher Mitstreiter nützlich, insbesondere da Wenndur diese Höhle kannte. Doch Mèra und Athónon wussten auch, in welche Gefahr der unerfahrene Halbelf geraten konnte, und sie mussten bereits auf Laura aufpassen, so wie sie es auffassten.

„Wir können ihm nicht absprechen, dass er uns beim ersten Angriff mit seinem glücklichen Schuss alle gerettet hat“, war Mèras nachdenklicher Kommentar zu Athónon diesbezüglich gewesen – während Wenndur und Laura schon längst fest davon ausgegangen waren, dass der Barde sie fortan begleiten würde.

„Denkt bloß an die Blicke, die sich beide vor dem letzten Kampf zugeworfen haben“, hatte Athónon darauf nur geseufzt, anstelle einer echten Antwort.

„Sie vergisst sich vielleicht wieder, aber sie könnte es inzwischen auch besser wissen“, hatte Mèra genickt, bemüht, echte Sorge um die Sterbliche zu empfinden; dazu war sie durch ihr unvorstellbares Alter oft nicht mehr fähig, so sehr sie das auch bedauerte.

Wenndur legte sich Jades Körper quer vor den Sattel ihres Rappens. „Und wie lenkt man so ein Ding jetzt?“, fragte er unschuldig. Alle starrten ihn an. „War nur ein Witz!“, rief er und winkte ab, doch niemand lachte. Die

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350 Gruppe verließ so schnell wie möglich das Dorf. Wenndur erwies sich als passabler Reiter.

Zeeris kaute missmutig auf der Handvoll Vogelaugen, die er im Luftkampf gegen einen Entenschwarm erbeutet hatte. „Winzige Dinger!“, grummelte er. Während er die Enten gejagt und mit seinen scharfen Klauen zerfetzt hatte, hatte er allerdings auch den alten Menschen gesehen, der den Krämer für sein blutiges Ritual ermordet hatte. Dieser alte Mensch war in die Herberge von Zeeris’ Freunden gegangen.

„Nie bringen sie mir Augen mit!“, hatte Zeeris beleidigt zu sich selbst gesagt, sich gegenüber in einen Baum gesetzt und weiter seine Entenaugen gekaut. Doch er rutschte auf seinem Ast unruhig hin und her, kratzte sich ständig und fror – dieselbe, sorgenvolle Reaktion, die Menschen in Form von Hitzewallungen zeigen konnten.

„Ach, die können da drin allein auf sich aufpassen! Die haben doch Athónon und Mèra! Und Taffi!“, krähte Zeeris und verschlang die letzten Entenaugen. „Aber mal sehen, was der alte Doofmann so in seinem Haus versteckt!“, rief Zeeris voller Tatendrang und ließ sich aus dem Baum purzeln. Erst kurz vor dem Boden setzte er die Flügel ein, flog eine scharfe Aufwärtskurve und sauste dann auf das Haus zu, aus dem der Alte gekommen war. „Zeerisrisrisrisris!“, machte das rote Teufelchen mit den ergrauten Schuppenrändern freudig und donnerte mit dem Kopf durch das morsche Holz eines Fensterladens.

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351„Aha!“, rief Zeeris empört und reckte den Zeigefinger in die Luft, „hier muss mal einer Licht machen.“

Plötzlich stank es nach Schwefel und die ganze Faust des Teufelchens fing Feuer. „Ah!“, schrie Zeeris entsetzt, wedelte wild mit der Hand und pustete kräftig auf das Feuer ein. „Na ja, obwohl ...“, überlegte er dann und behielt das Feuer kurzerhand, wie es war. Aufgrund seiner halbdämonischen Natur war er völlig unempfindlich gegenüber Feuer.

Von draußen hörte er empörtes Geschrei über einen kleinen, dämonischen Einbrecher, doch er konnte sich ja nicht um alles gleichzeitig kümmern. Den Einbrecher würde er später stellen, jetzt musste er erst einmal das Rätsel um die Behausung des Ritualmagiers ergründen.

„Wieso wissen die überhaupt, was ein Dämon ist?“, wunderte Zeeris sich beiläufig, „es gibt doch gar keine Dämonen! War sicher nur ein Schimpfwort.“

Mit erhobener Faustfackel sah Zeeris sich nun im Haus um – einem einzelnen, nicht sehr großen Raum aus unverputztem Bruchstein, in dem es nur wenig zu sehen gab: ein paar alte Decken, einen morschen Fichtenholztisch mit einem schiefen, selbstgezimmerten Schemel davor sowie ein Loch im Boden, in das eine Holzleiter hinabführte.

„Moment mal – ein Loch im Boden mit einer Leiter?“, fragte Zeeris sich laut. Vorsichtig schnuppernd, trippelte das Teufelchen auf das Loch zu und hielt die brennende Faust darüber. In der Tiefe begann ein grob behauener Steingang in irgendsoeine Himmelsrichtung zu führen, die Zeeris sowieso nicht auseinanderhalten konnte.

„Ob ich das den anderen sagen sollte?“, überlegte Zeeris

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352 laut. „Ach nein, die sind bestimmt noch mit den drei Feindlingen beschäftigt, das gucke ich mir selbst an!“, rief er und hüpfte flatternd zum Gang hinunter. Fast sofort stellte Zeeris fest, dass der Gang ziemlich steil in die Tiefe führte. „Sieht aus wie ein alter Zwergentunnel!“, grübelte Zeeris. „In denen waren wir ja früher oft unterwegs.“

Schon nach wenigen Lidschlägen erreichte Zeeris eine riesige, unterirdische Höhle, die ihn an seine Heimat erinnerte: ein Hohlraum aus Vulkangestein, von einem Vulkanausbruch erschaffen. Von Weitem hätte man gar nicht erwartet, dass das Dorf an einem ehemaligen Vulkan gebaut worden war, denn mehr als ein großer Hügel, auf dem das Dorf stand, war davon nicht übrig.

In der Höhle brannten so viele magische Lichtflächen unter der Decke und an den weiteren Abzweigungen, dass Zeeris’ Fackel gar nicht auffiel.

Deshalb bemerkte ihn die etwa zwanzigköpfige Söldnergruppe auch nicht, die an einer zugigen Spalte an einem Lagerfeuer saß. Der Braten, den sie über den Flammen drehten, erinnerte Zeeris an eine kindliche menschliche Form.

Die Söldner waren hingegen keine normalen Menschen, sondern allesamt entstellte, fahlhäutige Dämonische mit bösen Augen. Einer kaute auf einem gebratenen Menschenarm herum. Ein anderer teilte sich mit einem dritten ein langes, muskulöses Bein. Zeeris wurde unwillkürlich unsichtbar, nur seine Faustfackel wäre hinter dem Höhleneingang noch zu sehen gewesen.

Schräg gegenüber des kleinen Lagerplatzes schimmerte eine bläuliche, türgroße Fläche an der Wand. Zweifellos

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353war die Fläche magischer Natur, doch was genau sie tat oder darstellte, wusste Zeeris nicht. Daher begann er ein Gebet an die Friedensgöttin Domaore zu murmeln, außerdem tat er so, als schwenke er ein Weihrauchgefäß; er mochte die Art der Ausführung dieses Zaubers zwar nicht, aber genau so hatte es der verstorbene Tempelkrieger Cesius ihm vor langer Zeit beigebracht. Also machte er es auch so, sicherheitshalber.

Binnen weniger Lidschläge erlosch das Feuer um Zeeris’ Faust. Dafür verwandelte sich nun seine Wahrnehmung. Sie wurde auf die magische Ebene der Geisterwelt verlagert, um magische Muster zu erkennen; auf diese Weise konnte jemand, der sich mit Zauberei wirklich auskannte, aktive Zauber finden und analysieren. Zeeris hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass der Zauber an der Wand, den er betrachten wollte, so stark war, dass er ihm grell entgegenbrannte und blendete. Immerhin konnte Zeeris noch vermeiden, einen Schreckensschrei auszustoßen, der die Dämonischen am Lager aufgescheucht hätte.

Zeeris schüttelte sich und begann den Zauber von Neuem. Diesmal jedoch baute er den „Filter“ ein, den ein anderer verstorbener Freund von Athónon dem Teufelchen vor langer Zeit gelehrt hatte; der Zauberer Xelos hatte zu Lebzeiten als Meister der Geisterwelt gegolten, und damit auch als Meister der magischen Analyse. Er hatte sogar mit Dämonen jenseits von Hevas Leib sprechen können, obwohl ihn deswegen – vielleicht zu recht – niemand gemocht hatte.

Zeeris fluchte leise, weil der Zauber scheiterte; er war in Gedanken abgedriftet, hatte die Konzentration verloren

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354 und als magisches Muster nur völligen Blödsinn gewoben, der sich in der Geisterwelt schon wieder aufzulösen begann – noch bevor Zeeris die magische Strömung überhaupt zu Ende durch seinen Körper geleitet hatte.

In dem Moment glühte die blaue Zauberfläche auf und ein weißhaariger Elf mit roten Augen trat hindurch in die Höhle. Mit riesengroßen Augen drückte Zeeris sich im Eingang an den Fels, beobachtete und lauschte gebannt.

Der Albino trug schwarze, feinste Seidenkleidung mit roten Rändern. Er blieb knapp hinter der magischen Fläche stehen und stemmte die Hände in die dürre Hüfte. Mit schneidender, dünner Stimme und ohne Gruß redete er auf die Söldner ein: „Euer Anführer Modakiu ist nun ebenfalls gescheitert, auch seine zwei Leibwächter sind tot. Wenigstens ist es Modakiu gelungen, die Nachtelfin zu töten und Streit zu säen. Doch das wahre Ziel bleibt bestehen: Ich biete fünfhundert Goldmünzen für den Kopf der blonden Elfin mit den grauen Strähnen. Ihre Begleiter sind mir egal. Die ganze Gruppe verlässt in diesem Moment das Dorf. Sie suchen eine Höhle auf, die viele Dorfbewohner hier ebenfalls kennen. Also, bestimmt einen neuen Anführer, treibt die Elfin auf, tötet sie und bringt mir ihren Kopf hierher, dann sind fünfhundert Goldmünzen Euer. Je mehr Männer ihr darauf ansetzt, desto mehr müssen sich den Lohn teilen, doch desto sicherer wird der Mord endlich gelingen. Eine feindliche Kämpferin ist nun tot, doch bedenkt, dass Modakiu und seine Leibwächter nicht gerade unerfahren gewesen sind und nun ebenfalls tot sind. Die Entscheidung, wie viele

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355Männer Ihr ansetzt, ob ihr gar weitere Eurer Leute aus der Tiefenwelt heraufholt, liegt bei Euch. Aber bringt mir den verdammten Kopf! Und vergesst nicht, tretet nicht durch das Tor, es würde Euch dahinter nicht gefallen. Wartet hier in den Zwergengängen auf mich, wenn Ihr die Elfin getötet habt.“

Mit diesen Worten drehte der Elf sich um und verschwand durch die magische Fläche.

Zeeris’ Augen dampften schweflig und er wimmerte leise: „Jade! So ein Mistkerl! Ich würde Euch ja die Augen herausreißen, wenn Ihr nicht so viele wärt!“ Doch schon im nächsten Moment vergaß Zeeris seine Trauer wieder und starrte neugierig auf die blaue Fläche, durch die der Elf erschienen und wieder verschwunden war. Die Warnung, nicht hindurchzutreten, machte das Teufelchen selbstverständlich erst recht gespannt. Unruhig kratzte Zeeris sich immer wieder am Kopf, ohne den Blick von dem magischen Portal nehmen zu können. Ein bisschen interessierte es ihn zwar auch, wer der Albino war und wieso er Mèras Tod wollte, obwohl er selbst ein Elf war; doch das Verlangen, die andere Seite des Portales zu sehen, wurde immer stärker und stärker. „Zeerisrisrisrisris!“, machte Zeeris so schnell, dass er beinahe wie eine Klapperschlange klang. Dann sauste er mit voller Fluggeschwindigkeit durch das Portal; die Söldner hielten ihn für einen verirrten Vogel im Sturzflug.

Zeeris knallte mit dem Kopf gegen eine weiche, seltsame Fläche. „Augen!“, schrie er zuerst verzückt, doch dann sofort: „Oh, oh!“

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356 Er hatte eine Riesenspinne gerammt, die direkt am Ausgang des Portals auf der Lauer gelegen hatte. Zischend langte das Biest mit zwei riesigen, haarigen Beinen nach Zeeris, doch das Teufelchen raste mit voller Geschwindigkeit bis direkt unter die Decke der neuen Höhle. „Puh!“, machte Zeeris und starrte mit jagendem Herzschlag nach unten. „He! Du bist gar keine Spinne!“, rief er plötzlich.

Das vieläugige, haarige Wesen unter ihm stand auf zwei starken Orkbeinen und hielt eine mächtige Axt in zwei Orkarmen, gleichzeitig besaß es allerdings auch zwei Paar Spinnenbeine, die vom verwachsenen, buckeligen Rücken hervorsprangen und nach vorn gerichtet waren. Der riesige, überschwere Kopf des Wesens besaß an der Unterseite ein Maul voller unförmiger Zähne und war ansonsten voller Spinnenaugen, an allen Seiten und in verschiedenen Größen. Das Wesen zischte böse, sabberte sich auf die haarige Brust und reckte Zeeris die Axt entgegen. An der Unterseite des Buckels, aus dem auch die vier Spinnenbeine entsprangen, tropfte Fadenflüssigkeit, die am Boden kleben blieb.

„Du bist ja im Kontinent!“, lachte Zeeris und streckte dem Spork den Zeigefinger entgegen. Er wusste auch nicht genau, was der Ausdruck „im Kontinent“ bedeutete, aber Xelos und Cesius hatten ihn manchmal benutzt.

Sporks, halb Spinne, halb Ork, gehörten zu den magischen Schöpfungen der Chimärier, denen sie skurrile Namen gegeben hatten, um ihre Angst vor den manchmal sehr gefährlichen Kreaturen zu überspielen.

Zeeris und der Spork verstummten gleichzeitig, als

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35�plötzlich ein tiefes Brummen näher kam. Der Spork quiekte kläglich und rannte in eine Ecke, um sich dort leidlich hinter einigen Holzkisten zu verstecken. Zeeris starrte gebannt geradeaus, wo sich die Höhle weit ins Dunkle erstreckte. Neben dem Portal stand ein kleines Kohlenbecken, doch das spendete nicht viel Licht.

In der Schwärze der Höhle begann die Decke plötzlich ölig zu schillern und zu vibrieren. Der Spork quiekte lauter. Endlich verstand Zeeris, was er sah: Das ölige Schillern stammte von den gigantischen, irisierenden Flügeln einer Trobelle, einer Kreuzung aus Troll und Libelle. Zwei der herabpendelten Libellenarme hatten die Muskeln und riesigen Hände eines Trolls. Die Höhle war breit, sicher über zehn Meter, doch die brummenden Libellenflügel füllten die Breite fast ganz aus. Zeeris spürte bereits den beträchtlichen Luftzug, der ihn an die Wand zu drücken begann, während die Trobelle langsam näher schwebte.

„Verdammte Chimärier! Konnten die mit ihren Experimenten nicht die Natur in Ruhe lassen?“, krähte Zeeris panisch. Sein Stimme ging im Dröhnen der Trobellenflügel unter.

Wenndur führte die Truppe über einen flachen Bach und in einen lichten Birkenwald mit moosigem Unterholz. Ein breiter Pfad stieg dort allmählich einen Hügel hinauf, aber Wenndur führte die Gruppe am Fuße des Hügels entlang, bis sie die Köpfe in den Nacken legen mussten, um den Hügelrand noch zu sehen.

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35� „Hier ist es“, rief er nach einer Weile und ließ sich vorsichtig aus dem Sattel gleiten, damit Jades Körper nicht womöglich hinterherfiel. Vor einem ovalen Loch in dem aufragenden Hügel – einem Auge ähnlich, aber etwa schulterbreit – blieb Wenndur stehen.

„Müssen wir da etwa reinkriechen?“, fragte Laura unbehaglich und rümpfte die Nase. „Ich mag enge Gänge nicht sonderlich, vor allem nicht ... so ... enge Gänge.“

„Keine Sorge!“, beruhigte Wenndur sie, „der Gang wird mit jeder Armlänge etwas breiter. Bevor Du bis zehn gezählt hast, kannst Du dahinter schon fast stehen. Ich mache mir eher Sorgen um das Licht; denn in Fackelrauch werden wir da drin ganz schnell erstickt sein.“ Leise und verlegen brummte er: „Daran hatte ich vorher gar nicht gedacht.“

„Das wird kein Problem sein“, beschwichtigte ihn Athónon. „Ich kann ein magisches, rauchloses Licht herbeizaubern. Wenn ich mich ein wenig vorher darauf konzentriere, wird es mir sicher gelingen, dieses Licht sogar für einige Stunden zu rufen, bevor ich es erneuern muss.“

Wenndur schnaufte demonstrativ erleichtert. Geradezu vergnügt rief er: „Na, dann hinein!“

Er hob Jade vom Sattel, legte sie vor den Eingang und kroch zunächst voraus. Dann kam sein Arm noch einmal zurück, packte Jade am Kragen und schleifte sie hinter sich her.

„Wir sind nicht allein!“, rief er plötzlich alarmiert.Athónons Hand wanderte sofort zum Schwertgriff.„Aber die Füchse haben zum Glück einen eigenen

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35�Ausgang. Jedenfalls glaube ich, dass es Füchse waren. Ist echt dunkel hier drin“, fügte Wenndur hinzu.

Ohne sichtbare Regung ließ Athónon die Waffe wieder los.

Laura schüttelte grinsend den Kopf.„Geht schon mal vor, ich konzentriere mich jetzt auf die

Lichtkugel“, murmelte Athónon,setzte sich auf den Boden und schloss die Augen. Mit den Händen formte er eine flache Schale.

Mèra hatte sich dünne Handschuhe angezogen, um ihre wunden Hände zu schützen. Sie war damit beschäftigt, die Pferde bei einer großen, dicht gewachsenen Hainbuche neben der Höhle anzubinden, in der Hoffnung, sie würden so nicht schon von Weitem auffallen. Auch das Gepäck wollte sie noch abschnallen, daher kroch Laura als Nächste in den Gang. Ein bisschen mulmig war der Halbelfin sichtlich dabei zumute, doch sie war tapfer. Sie schob ihren eigenen Rucksack vor sich her und presste die Lippen aufeinander.

Sie war einmal als Kind in einer Felsspalte stecken geblieben, durch die alle anderen Elfenkinder gerade so durchgepasst hatten. Damals hatte ihre kleine Schwester Lishárial das erste Mal über Laura gelacht und mit dem Finger auf sie gezeigt, noch bevor sie wirklich hatte sprechen können.

Mèra legte Jades und Wenndurs Gepäck zunächst neben den Eingang und schob sich mit ihrem eigenen Rucksack in den Gang. „Bist Du stark, Wenndur?“, rief sie in die Dunkelheit.

„Wieso?“, kam seine Stimme seltsam gedämpft zurück.

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360 „Kannst Du Jades und Dein eigenes Gepäck gleichzeitig hier durchschieben?“, rief Mèra zurück.

„Das wird schon gehen. Kommt erstmal rein, ich krieche dann zurück und passe auf Athónon auf, bis der mit seinem Zauber fertig ist“, antwortete Wenndur. Der Waldboden verschluckte einen guten Teil seiner sonst klaren Stimme, ohne dass der Barde wirklich weit weg gewesen wäre.

Draußen öffnete Athónon die Augen. Vor seinem Gesicht schwebte eine Lichtkugel in der Farbe milden Sonnenlichtes. Zufrieden zuckte ein Mundwinkel nach oben – aber nur kurz. Gerade als der Gnom sich erhob und die Lichtkugel seiner Bewegung exakt folgte, steckte Wenndur den Kopf aus dem Eingang.

„Ah, Du bist schon fertig. Du musst nur noch Dein eigenes Gepäck und Deine Leuchtkugel mitnehmen, ich nehme den Rest hier“, erklärte Wenndur. Er nahm die zwei Rucksäcke vom Eingang und verschwand damit wieder im Dunkeln.

Athónon testete sicherheitshalber seine Lichtkugel, indem er sie an trockenes Laub hielt; nichts geschah. Er packte seinen Rucksack und schob sich durch den erdigen Gang. Aus seinem Rucksack kam Taffis gedämpfte Stimme: „He, zerdrück mich nicht!“

Die Luft war stickig und feucht, doch der Geruch von Humus erinnerte Athónon schwach an seine unterirdische Gnomen-Heimat; fast konnte er sich nicht mehr erinnern.

Die Höhle im Inneren des Hügels war gerade groß

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361genug, dass sie alle im Kreis sitzen konnten. Jades Körper lag in der Mitte. Athónon ließ sein Licht über ihr unter die Decke schweben; es reichte nun gerade, um eine Dämmerstimmung zu erzeugen. Auf dem Waldboden, der die Gruppe umschloss, wirkte das milde Licht plötzlich bleich und unnatürlich.

„Ich hätte es wohl stärker machen sollen. Aber dann müsste ich es ständig erneuern, weil es in der schwierigeren Variante nie lange halten würde“, murmelte der Gnom.

Mèra erklärte mit fester Stimme: „Ich werde mich sofort einstimmen. Jede Stunde, die Jade tot ist, macht eine Erweckung schwieriger. Meine Vorbereitung wird einige alte Gesänge beinhalten müssen. Ich schlage deshalb vor, dass Ihr Euch damit abwechselt, auch am Eingang Ausschau zu halten, ob jemand auf uns aufmerksam wird. Vergesst die Bögen nicht.“

Laura rief mit einer gewissen Erleichterung: „Ich gehe als Erste wieder raus!“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern packte Bogen und Köcher und kroch nach draußen.

Wenndur meinte: „Es ist mir egal, wann ich schlafe oder wache, aber den Gesang will ich hören!“

„Dann bleib zunächst hier, ich werde recht bald dazu kommen“, erwiderte Mèra.

Athónon nickte. „Gut, dann löse ich Laura in ein paar Stunden ab.“

Wenndur fragte Mèra: „Stört es Euch, wenn Athónon und ich leise reden, bis Ihr singt? Ich würde zu gerne mehr über all das hier erfahren, wer Ihr seid ...“

Mèra entgegnete: „Das ist keine gute Idee. Ich brauche Ruhe hierfür. Dann geh lieber mit nach draußen. Du

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362 kannst ja zurückkommen, wenn Du den Totengesang der Dahnrud hören willst.“

„Dahnrud?“, fragte Wenndur mit leuchtenden Augen. Über jene mysteriösen, götterähnlichen Wesen, den Ureinwohnern der Welt, hatte er bisher nur Legenden gehört. „Athónon?“, fragte er den Gnom.

„Na schön“, brummte Athónon, „kriechen wir gleich wieder zurück.“ Plötzlich stockte er und sah Mèra an. „Es sei denn ...“, begann er.

„Ja?“, fragte Mèra etwas teilnahmslos.„Was ist, wenn ein dämonisches Wesen direkt in dieser

Höhle auftaucht, angelockt von der Magie? Sollte nicht jemand hier drinbleiben? Außer Taffi, meine ich. Nur Jade konnte noch Dämonische rechtzeitig spüren, abgesehen von Euch, aber Ihr seid abgelenkt.“

Wenndur machte einen anderen Vorschlag: „Gut, dann bleibt Athónon mit seiner magischen Klinge hier, und Laura erklärt mir draußen, wer Ihr Leute eigentlich seid. Wir werden die Augen schon aufhalten! Ich komme zurück, sobald ich diesen Gesang höre.“

Athónons Mundwinkel zuckte nicht. „Einverstanden“, sagte er zögerlich, sah aber auch fragend zu Mèra.

„Mir ist es egal, ich werde nichts mitbekommen“, entgegnete sie uninteressiert und kniete sich hinter Jades Kopf. Sie ging davon aus, dass es vollkommen egal war, wo Athónon wachte – er würde so oder so alles mitbekommen, da war sie sich sicher.

„Also abgemacht!“, rief Wenndur und kroch aus der Höhle. Falls er verstanden hatte, wie gering er von seinen Begleitern eingeschätzt wurde, zeigte er dies nicht.

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363Athónon fragte Mèra: „Soll ich die Decke Euch überlegen oder Jade?“

„Gute Frage“, murmelte Mèra, während sie die Handschuhe auszog.

Als Wenndur sich vor Laura wieder erhob und sich den Dreck aus den Kleidern klopfte, sagte Laura sofort scharf: „Damit eins klar ist, ich bin zum Wachehalten hier.“ Demonstrativ ließ sie den Blick schweifen und ignorierte Wenndur. „Es ist schon ... jemand gestorben!“, schluchzte sie unterdrückt, riss sich jedoch schnell wieder zusammen.

„Schon gut!“, rief Wenndur leise, „aber vielleicht kannst Du mir erzählen, wer diese Mèra und dieser Athónon sind. Sobald Mèra mit ihrem Totengesang beginnt, gehe ich auch wieder, den will ich mir nämlich genau anhören.“

Laura schnaubte leicht durch die Nase. Ohne ihren wachsamen Blick vom Horizont des Birkenwaldes zu nehmen, begann sie die wenigen Dinge zu erzählen, die sie dank ihrer Mutter über Mèra und Athónon wusste.

„Athónon hat meiner Mutter mal das Leben gerettet, noch vor meiner Geburt. Sie war im Tiefenreich verwundet worden und wäre verblutet. Sie war damals gerade erst Anführerin der Wache geworden. Ihre Vorgängerin ist auch schon unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen; angeblich war sie eine Verräterin, aber darüber weiß ich nichts. Einer der damaligen Freunde von Athónon, ein Mensch, brachte meiner Mutter das Kämpfen erst richtig bei – oder besser gesagt, das Bewusstsein dafür, wie wenig die meisten Elfen im Vergleich zu kriegserprobten Völkern

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364 vom Kämpfen verstehen. Irgendein böser Fluch brachte Athónons Gefährten den Tod. Seitdem war auch meine Mutter in kein Abenteuer mehr gezogen. Bis jetzt.“

Wenndur unterbrach sie sanft: „Und dieser Freund von Athónon, war das Dein Vater?“

Lauras Blick wurde für einen Moment gequält. Plötzlich sog sie scharf die Luft ein und blockte kühl: „Nein. Darüber will ich nicht reden.“

„Na gut, dann erzähl mir von Mèra“, bat Wenndur.„Sie ist eine Halbgöttin“, fiel Laura mit der Tür ins

Haus.Wenndurs Kiefer klappte herunter und seine Augen

begannen zu leuchten, während er sich all die Geschichten vorstellte, die eine Halbgöttin zu erzählen haben musste. Es gab Legenden über Halbgötter und Götter, die auf Hevas Leib wandelten. Doch sie waren so selten, dass ein Sterblicher nicht hoffen konnte, ihnen jemals zu begegnen.

Laura fuhr fort: „Sie und Athónon kennen sich wohl schon lange, aber ich weiß nicht, woher. Auch reden die beiden sich ständig mit dem respektvollsten ,Euch‘ an, obwohl sie andererseits alte Freunde zu sein scheinen. In irgendeiner vergangenen Epoche soll Mèra die Königin eines vereinten Elfenreiches gewesen sein, doch ich habe zuvor nur Märchen und Legenden gehört, in denen es so etwas gegeben hat. Das muss also schon ziemlich lange her sein, und dann wäre Mèra auch verdammt alt. Aber gut, sie ist eine Halbgöttin. Vielleicht altern die ja nicht, ich kenne mich damit nicht aus.“

Sie seufzte kurz und schloss dann ihren Bericht: „Tja,

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365das war schon so ziemlich alles, was ich über Mèra weiß. Ist ja nicht so, dass irgendeiner dieser Überhelden sich die Mühe gemacht hätte, mir alles in Ruhe zu erzählen. Und es war mir auch unangenehm, denen ständig Löcher in den Bauch zu fragen. Eigentlich sollte ich anfangs gar nicht dabei sein.“

„Na, so ein Glücksfall!“, rief Wenndur. „Spätestens jetzt musst Du doch an das Schicksal glauben.“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, doch Laura zog sie verärgert weg. Ihre Miene wurde plötzlich wütend.

„Schicksal? War es etwa das Schicksal meiner Mutter, den Tod zu finden?“, schrie sie ihn an. Waren das nicht exakt Mèras Worte gewesen?

Schnell beruhigte Laura sich wieder und zischte: „Ich habe gesagt, ich bin zum Wachen hier. Auf keinen Fall wird noch jemand sterben, weil ich mich habe ablenken lassen von ... so einem dahergelaufenen ...“

Wenndur begann immer breiter zu grinsen. „Schon gut“, lachte er gedrückt. „Wir setzen dieses Gespräch fort, wenn wir dieses Abenteuer überstanden haben und Deine Trauerzeit vorbei ist.“

Laura schüttelte nur verständnislos und wütend den Kopf über Wenndurs Arroganz. Plötzlich wirbelte sie herum und rief: „Ach! Kannst Du mal Athónon die Zeichnung von dem Brandmal geben? Ist in meinem Rucksack. Vielleicht kann er ja was damit anfangen.“

Wenndur kroch nicht zurück, sondern rief in den Gang, was Laura ihm aufgetragen hatte. Er konnte kaum die Augen von ihr lassen. Als er sich wieder aufrichtete, fragte er leise: „Du glaubst doch nicht wirklich, dass uns

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366 hier draußen jemand findet, oder? Kaum jemand kennt diesen Ort. Wir sind sicher.“

Lauras Herz raste, ihr Atem zitterte. Furchtsam starrte sie an Wenndur vorbei zum Horizont, als er an sie herantrat und zärtlich mit einer Hand durch ihre Locken und über ihre kleine Ohrspitze fuhr. „Lass das“, bat sie mit brüchiger Stimme. Ihr Blick funkelte in hilfloser Wut vor sich hin.

„Die Augen wären ja schon lecker“, grübelte Zeeris und rieb sich das Kinn, während er die riesige, brummende Trobelle vor sich näher schweben sah. Er hatte es aufgegeben, sich gegen den Luftzug zu stemmen, sondern hatte sich kurzerhand flach an die Wand gelegt, sodass er mit den eigenen Flügeln nur noch die Höhe halten musste.

„Ach nö, das Ding ist mir zu groß und brummt zu laut“, entschied er sich dann jedoch und wurde kurzerhand unsichtbar. Etwas fröstelte ihn die Anstrengung allmählich zwar, doch ein- oder zweimal traute er es sich gewiss noch zu, bevor sein Flügelschlag unregelmäßig zu werden drohte.

Im Tiefflug entging Zeeris dem Flügelsturm der Trobelle und tauchte unter dem Monstrum ab, hinein in die Schwärze, aus der es gekommen war. Ein klein wenig fürchtete das Teufelchen sich plötzlich an diesem von Monstern bewohnten Ort, mitten in der Dunkelheit. Hinter Zeeris quiekte der Spork immer lauter, vermutlich hatte die Trobelle ihn gefunden. Vor Zeeris tauchte nun

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36�ein neuer Lichtschein mit neuen Geräuschen auf. Aus lauter Neugier vergaß er den Spork augenblicklich.

„Die Matriarchin wünscht, dass Ihr diesen weißhaarigen Elfen findet, der uns unser Territorium abspenstig macht“, raunte eine Chimärierin in einer dunkelgrünen Robe. Sie sprach zu fünf weiteren Chimäriern, zu denen sie leicht aufsehen musste. In der rechten Hand hielt sie ein goldenes Zepter, in dessen Kopf ein kleiner, doch hervorragend geschliffener Rubin eingefasst war. Dieser Rubin wurde von zuckenden Flammen umtost, die ihnen Licht spendeten. Die Chimärier, die ihre Order hier entgegennahmen, trugen bronzene oder lederne Rüstungsteile, waren aber keineswegs so gleichförmig geordnet wie die imperialen Truppen. Auch besaßen sie keine Wappen oder sonst ein Erkennungsmerkmal. Selbst die Waffen waren bei jedem Krieger andere; einer hatte eine schwere Eisenlanze geschultert, ein anderer trug Bronzeaxt und Eichenschild, ein weiterer ein großes Eisenschwert, wieder ein anderer zwei Armbrüste und der letzte einen steinernen Kriegshammer.

„Was ist mit der Trobelle und dem Geistertroll? Sollen wir diese Kreaturen töten, wenn wir sie finden?“, fragte einer der Krieger.

Die Robenträgerin erwiderte: „Ja, tötet diese widernatürlichen Geschöpfe. Sie sind nichts weiter als seelenlose Symbole des falschen Weges des Imperiums. Früher war dieser unterirdische Ort hier ein Zentrum der magischen Forschung. Gebt also acht, es irren wahnsinnige und feindselige Kreaturen durch die Gänge,

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36� bis sie endlich Erlösung finden. Doch alles was heute zählt, ist die Vertreibung dieses dreisten, elfischen Zauberers. Er wird seine Lektion lernen. Und denkt daran, die Schlangenblüter folgen nun einem anderen Herrn und sind nicht länger unsere Freunde. Jetzt geht, der Segen der Vergessenen Götter ist mit Euch!“

„Ja, Hohepriesterin!“, riefen die Chimärier entschlossen und marschierten davon.

Wirre Bilderblitze durchschossen Srrigs Gedanken, seit Myándirels Zauber vollendet war. Mèras Gefährte Cerýllion hatte sie verraten, und mit ihr die anderen drei Könige, die seit dem Glorreichen Zeitalter als unsterbliche Götterdiener gegen die Dämonen gekämpft hatten: Srrig selbst, Randolph und T’ral. Durch seinen Schädel jagten zweitausend Jahre Geschichte, von einer zerstörten und neu erbauten Welt.

Plötzlich bestanden die Götter darauf, die dämonische Gefahr sei gebannt und die Vier Könige sollten nach Jahrhunderten des Krieges endlich Frieden finden. Gegen ihren Willen wurden die Vier Könige von den Göttern in Seelengefäße gesperrt – auf Eis gelegt.

Die Dämonen – Piraten, Rebellen, Eroberer – lauerten in ihren Verstecken auf ihre Chance und suchten Verbündete unter den Sterblichen. Sie wollten die primitive, kleine Welt, in welcher jedoch die magische Strömung außergewöhnlich stark war, für sich erbeuten. Die Götter jener Welt waren für sie nur überalterte Schwächlinge, welche dieses seltene Paradies nicht verdienten. Nur hier konnten beispielsweise Wunden

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36�dank der Magie binnen weniger Lidschläge verheilen, die anderswo zum Tod geführt hätten.

Die Dahnrud, die sphärischen Ureinwohner dieses Paradieses, waren für ihre schwache Entschlusskraft bekannt und wollten sich nicht einmischen.

Mèras Gefährte Cerýllion, ebenfalls unsterblich und später glühender Anhänger des Imperators Schattenwacht, hielt den Kontakt zwischen dem Imperator und den Dämonen aufrecht, während er den Göttern vorgaukelte, der Drache allein hätte die Kontrolle über das Dämonenproblem.

Am Strand von Harkýior sah Srrig Cerýllion jetzt wieder, wo schon einmal ein Bild durch seinen Kopf geschossen war; er sah den weißhaarigen Elfen mit den roten Augen, in schwarz-rote Seide gewandet, mit kaltem Blick. Srrig sah ihn die Arme ausbreiten und uralte, machtvolle Worte murmeln. Doch dies war die Zukunft, nicht die Vergangenheit, und sie veränderte sich ständig; die Bilder wirbelten undeutlich durcheinander.

Etwas oder jemand hatte Srrig bis nach Harkýior gezogen; stand hier der offene Kampf gegen Cerýllion bevor? Oder sollte Srrig hier einen weiteren Gefährten befreien? War es gar eine höhere Absicht, dass er hier auf den Menschen Taren getroffen war, der – für einen Sterblichen – ein guter Kamerad und Kämpfer und ein fähiger Heiler war?

Was auch immer der höhere Plan der Götter war, Srrig war nun bereit dafür.

Er öffnete die Augen und lächelte grimmig.

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3�0 Mèra hob das Kinn und saß nun kerzengerade vor Jades Kopf. Ihre verbrannten Hände berührten die Schläfen der Toten. Die magische Decke lag glatt über Jade ausgebreitet, sodass ihr Umriss sich abzeichnete. Eine leise Melodie schwebte plötzlich in der Höhle, ohne dass Mèra die Lippen bewegte. Die liebliche alte Weise ließ Athónon frösteln und ergriff sein Herz. Sie war so stark, dass aus seinem gesunden Auge plötzlich eine Träne lief. Der Gnom erschauerte.

Taffi kroch aus dem Rucksack, legte sich obendrauf und lauschte andächtig.

Auf einmal würgte Mèra gequält und krümmte sich. Sie riss Augen und Mund weit auf und stürzte auf die Seite, in Athónons zugreifende Arme. Bäumte sich immer wieder auf wie bei einem Krampfanfall. Athónon konnte sie kaum festhalten. Ihr entsetzter Blick erkannte den Gnom nicht, sie stierte verzweifelt ins Leere und schien keine Luft zu bekommen.

Hilflos ließ Laura den Bogen sinken. Ihre Lider fielen herab und sie schmiegte ihr Gesicht an Wenndurs zärtliche Hand. Plötzlich ließ sie den Bogen aus der Hand fallen, packte Wenndur am Kragen und drückte ihn gegen den aufragenden Hügel. „Ich halt’s nicht mehr aus!“, stöhnte sie mit gespielter Lüsternheit und rieb sich mit ihrer Hüfte fest an seiner. „Wenn Du Dich noch einmal so an mich heranpirschst, während ich Wache habe, schneide Ich Dir die Quelle Deiner dummen Gedanken ab!“, schnurrte sie lasziv. Wenndurs Hände, die eben noch über ihre Hüfte gestrichen waren, hielten inne. Schlagartig ließ Laura den

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3�1verdutzten Barden stehen. Sie nahm den Bogen wieder zur Hand, drehte Wenndur demonstrativ den Rücken zu und ließ den Blick durch den Birkenwald schweifen.

„Hörst Du das? Der Gesang!“, frohlockte Wenndur, als sei gerade nichts geschehen. Er kniete sich vor den Eingang.

Laura packte ihn jedoch am Wams und hielt ihn zurück. Leise flüsterte sie: „Ja, aber ich höre nicht nur etwas, ich sehe außerdem auch was. Bleib hier. Nimm meinen Bogen, ich nehme mein Schwert.“

Wenndur wurde bleich und sah erst zu Laura hoch, dann in die Richtung, in die sie gebannt starrte.

Drei gerüstete und behelmte Reiter mit erhobenen Klingen galoppierten über einen Hügel auf sie zu. Noch waren sie weit weg, doch der lichte Birkenwald würde ihre Geschwindigkeit kaum bremsen können.

„Wir müssen rein! Den Eingang können wir problemlos verteidigen!“, schrie Wenndur und wollte Laura zu Boden ziehen, doch sie riss sich frei.

„Sie haben Fackeln am Sattel. Wenn wir jetzt reinkriechen, werden sie die einfach anzünden, sie in den Eingang legen und uns ersticken“, knurrte Laura und funkelte die Angreifer böse an. „Das war ja ein toller Plan“, hauchte sie vorwurfsvoll.

Wenndur antwortete bitter: „Los, gib den Bogen her, einen erwische ich vorher noch.“

Wortlos drückte Laura ihm den Bogen in die Hand, warf ihm den Köcher vor die Füße und zog das eiserne Kurzschwert.

Hatte sie darauf nicht gewartet, mit dem Schwert in der

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3�2 Hand in vorderster Front zu kämpfen? Aber wieso zitterte sie dann so und spürte ihre weichen Knie nicht mehr ...?

Wenndur legte einen Pfeil auf, zielte kurz und schoss. Der Pfeil flog etwas zu tief und traf anstelle des Reiters dessen Fuchs in den Kopf. Ross und Reiter stürzten, doch die anderen beiden Angreifer galoppierten nun in einer leichten Kurve auf die beiden Halbelfen zu – um sie im Vorbeireiten zu erschlagen, anstatt vor der Höhle anhalten zu müssen.

„Ich muss meine Angst bezwingen, oder wir sind alle tot!“, flüsterte Laura zu sich selbst. Ihre geweiteten Augen wurden schmaler, während sie ihr schmerzhaft rasendes Herz vergaß und plötzlich ganz klar vor sich sah, was sie zu tun hatte. Bei den Übungen der Wache hatte sie sich das mehrmals vorstellen müssen, und jedesmal hatte sie die Lösung der Aufgabe widerwärtig und unelfisch empfunden und dagegen protestiert. Doch jetzt verstand sie es plötzlich. Es ging nicht anders und sie dachte auch an nichts anderes mehr, ihre Gedanken bündelten sich auf genau eine Handlung, auf das Wesentliche, frei von allen naiven Affekten.

„Tut mir leid“, wisperte Laura und blickte dem Hengst, der auf sie zustürmte, direkt in die Augen. Als sie das feindliche Schwert auf sich zurasen sah, sprang sie in die Hocke unter der Waffe hinweg und hackte dem Tier das hintere Fesselgelenk durch.

Der Fuchs des zweiten Reiters bäumte sich auf und musste zur Seite ausweichen. Der Reiter des Hengstes flog über den Kopf seines kläglich wiehernden Tieres hinweg, genau vor Wenndurs Füße.

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3�3Laura sprang über das zappelnde Tier am Boden hinweg auf den tänzelnden Fuchs zu. Dessen Reiter zögerte nicht lang, sondern sprang mit den Füßen auf den Sattel und von dort im hohen Bogen Laura entgegen.

Die Halbelfin hielt ihm überrascht das Schwert entgegen, doch der fahlhäutige Reiter schlug es mit seiner eigenen Waffe zur Seite und begrub Laura förmlich unter sich. Er trug eine bronzene Rüstung, außerdem war er ein Bär von Mensch; Laura rang verzweifelt nach Luft, konnte jedoch nur röcheln und den viel zu schweren, dämonisch grinsenden Feind furchtsam anstarren. Ihr Kampfeswille brach so schnell, wie er entstanden war. Plötzlich zappelte sie nur noch in Panik und wimmerte.

Der Feind über ihr grinste hässlich mit fauligen Zähnen und drückte Laura eisern zu Boden. Sie drehte den Kopf angewidert zur Seite und sah, wie der dritte Reiter, dessen Fuchs Wenndur getroffen hatte, sich inzwischen befreit hatte und ebenfalls auf sie zuhinkte. Als sie verzweifelt versuchte, sich trotz des immensen Gewichts ihres Gegners aufzubäumen, schlug er ihr die behelmte Stirn auf die Nase. „Nicht schon wieder die Nase“, dachte Laura – und hielt sich mit aller Kraft an diesen Worten fest, um nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Wenndur ließ den Bogen fallen und zog seinen Kupferdolch vom Rücken. Doch der leichenblasse Gegner vor ihm war zwei Schultern breiter und einen Kopf größer als der Halbelf, außerdem trug der Dämonische diverse Rüstungsteile. Er hielt locker ein Eisenschwert in der Hand, das so lang und dick war, dass Wenndur es

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3�4 vermutlich nicht mal zweihändig richtig hätte schwingen können. Überhaupt war Kupfer gegen Eisen eine schlechte Ausgangsbasis für Wenndur.

Der Feind biss sich absichtlich auf die Lippe und spuckte Wenndur herausfordernd das Blut entgegen. Einen Veteranen hätte das kaum beeindruckt, doch der unerfahrene Barde wurde noch bleicher. Er wich einen weiteren Schritt zurück. Dabei drehte er allerdings den Dolch in der Hand, sodass er ihn nun an der Spitze hielt. Der Gegner zögerte kurz, doch das reichte Wenndur: Er holte aus, warf und traf den Feind in die Kehle. Der Krieger bäumte sich krächzend auf und stürzte tot um.

„Na, da haben sich die Tavernenspiele ja doch gelohnt!“, knurrte Wenndur nervös, riss den Dolch aus der Wunde und spurtete ohne Zögern auf Lauras Gegner zu. Er wäre sofort vor Angst geflohen, hätte er sich nicht Hals über Kopf in Laura verliebt; schließlich war er kein geübter Krieger. So jedoch trieb die noch größere Angst um Lauras Leben ihn in den Kampf.

Der dämonische Krieger hielt Laura für bewusstlos. Als er den Halbelfen aus dem Augenwinkel anrennen sah, sprang er auf und schwang das Schwert mit einem kehligen Schrei, um Wenndur aufzuschlitzen. Der Barde sprang im letzten Moment zurück, doch der Lufthauch der schweren Klinge ließ ihn die Augen weit aufreißen. Wenndurs Herz hatte für einen Schlag ausgesetzt und donnerte nun um so heftiger gegen seine Rippen.

Laura, noch halb besinnungslos, trat dem Feind von der Seite her ins Knie, was ihn wenigstens kurz wanken ließ, auch wenn sie nicht richtig getroffen hatte. Wenndur

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3�5wollte seine Chance nutzen; mit dem Mut der Verzweiflung und dem Dolch voran rannte er in den Gegner, auf dessen Kehle zielend. Doch der Krieger drehte sich elegant aus der Bahn und schwang gleichzeitig das Schwert mit voller Kraft gegen Wenndur.

Der Halbelf brach in die Knie und krümmte sich. Sein Brustkorb war aufgerissen. Fassungslos starrte er Laura an, die schluchzend zurückstarrte. Wenndur kippte vornüber, seine toten Augen glitten an ihr vorbei. Soviel zum Schicksal, von dem der Barde so gern geredet hatte.

Laura hatte die Beine unter Wenndur gerade noch weggezogen und sprang nun mit feuchten Augen auf die Füße. „Dafür werdet ihr zahlen!“, schrie sie die beiden gerüsteten Krieger an, die grinsend und mit erhobenen Schwertern näher kamen. Lauras Sicht war verschwommen vor Tränen und ihr Blut floss in Strömen aus ihrer Nase, doch sie erlaubte sich nicht, sich über das Gesicht zu wischen oder ihrem brodelnden Hass nachzugeben. Sie spürte, dass die beiden Feinde überaus erfahren waren und auf jeden noch so kleinen Fehler nur warteten, selbst wenn einer von seinem Sturz hinkte.

Schon wieder war jemand gestorben, den sie geliebt hatte. Innerlich raste sie vor Wut und Angst, doch die tödliche Gefahr ließ sie bloß reagieren und nicht denken. Wieder fühlte sie sich, als beobachtete sie nur ihren Körper von außen, der kampfbereit die beiden Gegner taxierte.

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3�6 Athónon ließ Mèra los, die sich am Boden weiter quälte. Der Gnom zog das Schwert und drehte sich langsam um.

Jade hatte sich erhoben und die Decke achtlos weggeworfen. Sie grinste den Gnom nun feindselig an. Durch die zerschnittene Wange sah das besonders abstoßend aus.

„Na los! Töte mich! Sonst töte ich Dich!“, grunzte Jade mit verzerrter Stimme.

Das Schwert in Athónons Faust zitterte leicht. Hinter seinem Rucksack, hinter Jade, lugte Taffi mit großen Augen hervor.

Jade schritt zu ihrem Gepäck, wo ihr Schwert in der Scheide ruhte.

Als sie danach griff, sprang Athónon vor und boxte ihr mit dem Knauf seiner Waffe unter die Nase.

Jade lachte nur dreckig und begann langsam ihr Schwert zu ziehen, während ein einzelner Blutfaden aus ihrer Nase lief und von ihrer Oberlippe tropfte.

Athónon wusste aus Erfahrung, dass jegliches Zögern gegenüber Dämonen ein tödlicher Fehler sein würde.

Er durchbohrte Jade mit seiner eigenen Klinge.Schon zum zweiten Mal musste er einen besessenen

Freund töten; doch jetzt war keine Zeit, alten Erinnerungen nachzuhängen.

Die Nachtelfin brach würgend und gurgelnd über Athónon zusammen, ihr Blut lief über sein weißes Haar in sein Gesicht. Sie stürzte gekrümmt neben ihn.

„Athónon?“, würgte Jade hervor und starrte den Gnom plötzlich fragend und verzweifelt an, während sie die Klinge in ihrem Bauch umklammerte. „Wieso ... hast Du

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3��das ...“, keuchte sie unter Tränen.Athónon ließ den Schwertgriff los. Er ballte die Fäuste

und schloss das gesunde Auge, er stand einfach nur da und hörte die Nachtelfin qualvoll röcheln.

„Hilf mir!“, stöhnte sie und kniff die Augen zusammen. Athónon konnte hören, dass sie keine Luft bekam und verzweifelt um jeden Atemzug kämpfte.

Ihr warmes Blut lief Athónons Wangen hinab und benetzte seine reglosen Lippen. Plötzlich gab er sich einen Ruck, packte die Decke und legte sie Jade wieder über die Schultern.

Die Nachtelfin wurde allmählich ruhiger, während Athónon sich zu ihr kniete. Ihre zitternden Finger hielten sich am Schwertgriff fest, unter der Decke. „Sag Laura ... dass ich sie liebe“, hauchte sie und starrte an Athónon vorbei. Der Gnom hörte, wie ihre Hände mit einem leisen Platschen auf den Boden fielen, nicht länger die Waffe umklammernd.

Er nahm ihren Kopf in den Arm und strich ihr mit der anderen Hand über das Gesicht. „Die Decke wird Dich heilen“, raunte er mit bebenden Lippen. Mit den Fingern tupfte er die Blutfäden weg, die ihre Mundwinkel hinabgelaufen waren. Sie sah ihn mit ihren großen Jadeaugen furchtsam an. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte kein Wort heraus. Athónon schloss abermals das gesunde Augenlid und fühlte, wie der Körper in seinen Armen erschlaffte und nicht länger zitterte.

Als Athónon das Augenlid wieder hob, lag Jade ein zweites Mal mit ungläubigen, toten Augen vor ihm, doch diesmal mit seiner eigenen Klinge im Leib. Die Decke war

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3�� zum ersten Mal, seit sie in Athónons Besitz war, nicht stark genug gewesen. Sein Kopf ruckte hin und her, doch er war zu betäubt, um etwas zu denken.

Mèra lag auf dem Rücken und starrte still zur Höhlendecke. Athónon war sich nicht sicher, ob sie lebte, da flüsterte sie plötzlich: „Geh und hilf Laura.“

Athónon riss das Schwert aus Jades Körper und robbte blitzschnell nach draußen.

Der Krieger rechts von Laura hob drohend das Schwert und sprang grimmig vorwärts. Laura wich zurück und riss ihre eigene Klinge automatisch zur Parade hoch. Der Angreifer hielt jedoch inne, gleichzeitig explodierte in Lauras Bein ein dumpfer Schmerz, der sie auf das Knie fallen ließ. Der andere Gegner hatte sich aus einem unsichtbaren Winkel genähert und ihr von der Seite den Oberschenkel aufgeschnitten. Solche Übungen hatte Laura nie im Dorf gehabt. Sie wollte aufspringen, doch sie taumelte nur und fiel wieder auf das Knie; sie spürte keinen wirklichen Schmerz, doch die Muskeln gehorchten einfach nicht. Laura starrte gehetzt und panisch die Feinde an. Aus ihrem Bein schoss das Blut wie eine Fontäne in die Luft.

Der erste Gegner schlug ihr mit der Breitseite aufs Handgelenk. Laura schrie verzweifelt, konnte jedoch die Waffe nicht festhalten. Gleichzeitig wurde ihr seltsam schwindelig. Ihr Atem beschleunigte immer mehr, ihr Herz raste wild, dennoch schien es ihr, als bekäme sie kaum Luft. Die linke Hand presste sie auf den tiefen Schnitt in ihrem Bein, während sie ihre Waffenhand nicht

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3��mehr spürte. Ihre Kehle zog sich zu, als sie das warme Blut in dicken Strömen durch ihre Finger pulsieren fühlte. Der zweite Krieger setzte seinen Fuß auf ihre Schulter und stieß sie leise lachend zu Boden. Als die beiden gerade triumphierend vor Laura standen und sie gierig anstarrten, verdrehte sie bereits vor Schwäche die Augen und spürte, wie Ohnmacht sie umfing. Wo war jetzt ihre unelfische Zähigkeit? Unter ihrem Bein bildete sich rasch eine erkaltende Blutlache. Unscharf betrachtete sie mit einem seltsamen Staunen die Gräser und Blätter des Waldbodens, an denen ihr Blut abperlte. In dem Moment sprang Athónon aus dem Eingang und rannte stumm auf die Gegner zu.

Einer der beiden starrte wie hypnotisiert auf das Kurzschwert des Gnomes und ließ seine Waffe sinken.

„He, was ...“, fluchte der Zweite und schüttelte sich, doch bei ihm wirkte der Zauber der magischen Waffe nicht.

Ohne Gefühlsregungen schlug der verbliebene Krieger mit dem Schwert nach Athónon und trat gleichzeitig nach ihm, doch Athónon duckte sich tief unter der schweren Waffe hinweg und hackte dem Gegner gleichzeitig mit beiden Händen das Kurzschwert ins Bein, ohne sich vom Fuß treffen zu lassen. Noch bevor der schreiende Krieger etwas anderes tun konnte, war Athónon an ihm vorbeigelaufen und hatte ihm auch noch ins andere Bein gehackt. Der Krieger brach mit wütendem Geschrei zusammen, verstummte aber abrupt, als Athónon ihm die Klinge ins Rückgrat rammte.

Dann näherte der Gnom sich dem hypnotisiert dastehenden Krieger. Sorgsam hielt er die Klingenspitze

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3�0 empor und setzte sie ihm genau zwischen die Rippen aufs Herz. Mit der zweiten Hand schlug Athónon auf den Knauf und durchbohrte den Brustkorb des Mannes.

„Was zum ...“, stöhnte der Krieger noch, als sein Bewusstsein kurz zurückkehrte, nur um ihn dann für immer zu verlassen.

Athónon steckte die Klinge weg und bedankte sich in Gedanken bei ihr; das tat er viel zu selten. Er wusste, dass magische Gegenstände eine Seele besaßen und manchmal gelobt und gestreichelt werden wollten. Dasselbe galt auch für die Decke. Nach über zwanzig Jahren war Athónon mit seinen beiden Artefakten so vertraut, dass sie durchaus auch ohne Worte wussten, wie sehr er sie wertschätzte. Doch Athónon hatte gespürt, dass seine Klinge nun eine kleine Aufmerksamkeit verlangt hatte. Die Artefakte redeten natürlich nicht, doch sie vermittelten ihren Besitzern manchmal unterschwellige Gefühle, wenn sie sich bemerkbar machen wollten.

Nachdem hinter ihm der Krieger zu Boden gestürzt war, hatte der Gnom sich zu Laura gekniet und ihr stark blutendes Bein verbunden. Sie hatte inzwischen das Bewusstsein verloren, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn und ihr Atem war dünn und flach. Wenigstens musste Athónon ihr jetzt noch nicht erklären, dass das Blut ihrer Mutter in seinem Gesicht zu trocknen begann.

„Die magische Decke hatte Jade nicht retten können“, dachte Athónon noch einmal irritiert. Nur langsam wurde ihm klar, was geschehen war, was er getan und wen er und Laura verloren hatten. Im Moment des Todes der Nachtelfin war er zu betäubt gewesen, um die subtilen

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3�1Gefühle der magischen Decke zu verstehen, doch er würde wohl dringend ein Gespräch nachholen müssen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Decke aus Vernachlässigung ihre Wirkung nicht hatte entfalten ... wollen. Dennoch bekam Athónon für einen Moment ein schlechtes Gewissen, weil er schon seit ein paar Jahren nicht mehr wirklich auf das Artefakt geachtet hatte; zu sehr erinnerte es ihn an die Abenteuer, die er nicht gewollt hatte. Eher befürchtete Athónon allerdings, die magische Seele würde sich nun Selbstvorwürfe machen, die es zu zerstreuen galt. Jades Tod war schmerzvoll für Athónon, doch er würde seine Wut nicht an diesem treuen Artefakt auslassen.

Mèra kam mit Athónons, Lauras und ihrem eigenen Rucksack mühselig aus der Höhle gekrochen. Von Wenndurs Gepäck hatte sie sich lediglich die Laute über den Rücken gehängt. Taffi saß auf ihrer Schulter, auf der magischen Decke, die sie sich ebenfalls umgelegt hatte. Mèra konnte kaum stehen und hielt sich verkrampft den Bauch. Ihre Lider flatterten ein wenig, während sie sprach: „Wir müssen sofort weg. Ich teleportiere uns. Danach wirst Du mich wohl tragen müssen, falls wir nicht direkt vor Srrigs Füßen landen. Aber wir haben keine Wahl. Die nächste Welle ist schon unterwegs. Sie haben nur darauf gewartet, dass ich eine weitere Verbindung zur Geisterwelt herstelle. Die halten sie jetzt selbst aufrecht und benutzen sie, um Hevas Leib zu betreten. Das alles war wohl geplant, seit sie wussten, wie schwach ich bin.“

Athónon schwieg mit steinerner Miene.Eiskalt zischte Mèra: „Jetzt weißt Du, wofür die Regeln

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3�2 da sind, die ich gebrochen habe. Von den Göttern und Dahnrud haben wir keine Hilfe mehr zu erwarten ... nach diesem Verrat.“

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3�311

Athónon legte Laura seine magische Decke über, als er ihren Atem kaum noch hören konnte und alle Farbe aus ihrem Gesicht verschwunden war. Mèra nickte dazu nur müde. Er strich mit den Fingern über einen Zipfel der Decke und versuchte zu spüren, was die Seele des Artefaktes empfand. Wie er es vermutet hatte, fühlte die Decke sich schuldig und schämte sich, denn sie spürte umgekehrt Athónons und Lauras schmerzvollen Verlust. Der Gnom versuchte, sich versöhnlich zu stimmen, um die Decke seine Meinung wissen zu lassen.

Schließlich setzten Mèra und er sich in den Schneidersitz und ergriffen jeweils eine Hand der bewusstlosen Halbelfin. Das Gepäck lag in ihrer Mitte, von ihrem Kreis umschlossen. Taffi saß darauf und schnupperte; er hielt nach Zeeris Ausschau.

Äußerlich schien Mèra nur die Augen zu schließen, doch Athónon spürte sofort, wie mächtige Magie zu fließen begann. Die magische Kraft, einer Windströmung ähnlich, wurde aus der Umgebung in einen Strudel gezwungen, der ihre Körper durchdrang. Mèra begann zu zittern. Die Natur in solch einem Ausmaß zu manipulieren und zu verbiegen, war eine Tortur für den Körper und konnte schwache Kreaturen töten. Mèras Händedruck wurde immer fester, sie schwitzte. Längst fühlte Athónon sich wie seekrank, so wurde er von magischen Strömen gebeutelt und durchtost. Dabei befand er sich nur am Rande des Zyklons; der wirkliche Sturm tobte in Mèras

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3�4 Körper. Ihre Nase begann zu bluten, sie musste mehr und mehr um jeden Atemzug ringen und legte den aschfahlen Kopf in den Nacken.

Athónon erinnerte sich plötzlich an gewisse Worte seines verstorbenen Gefährten Xelos: „Was? Gruppenteleportation? Bin ich verrückt? Das würde mich in Stücke reißen! Oder Euch! Und was auf dem Weg durch die Geisterwelt alles lauern könnte! Und erst das Wissen um lebende Körper, das nötig ist, damit am Ziel dasselbe ankommt, was die Reise antrat!“

Xelos hatte am Höhepunkt seines Könnens als einer der mächtigsten Zauberer von Silberberg gegolten. Einmal hatte er eine ganze Horde von Kriegern mit einem Feuerball zerfetzt.

Plötzlich wurde es dunkel um Athónon und er fühlte sich in seiner Brust, als wäre er von einer Klinge durchbohrt worden. Doch noch bevor er Angst bekommen konnte, schien auf einmal alles wieder völlig normal zu sein. Mèras knochige Hand entglitt der seinen jedoch, als die alte Elfin auf den Rücken fiel und leise, aber anhaltend wimmerte.

Sehen konnte Athónon nichts, es war stockdunkel um ihn herum. „Taffi? Keine Zeit zum Zaubern, weißt Du, wo die Fackeln –“, flüsterte der Gnom.

„Schon gut“, raunte das Chamäleon zurück. Plötzlich entzündete sich eine sprühende Farbkugel über ihren Köpfen, die wie ein Regenbogen schillerte. Die Lichtkugel beleuchtete einen unförmigen, grauen Höhlengang mit vereinzelten Stalagmiten und Stalaktiten, die sich über viele Jahrhunderte allmählich entgegengewachsen waren.

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3�5Beeindruckt starrte Athónon in die leuchtende Regenbogen-Kugel. Als sein Blick langsam zu Taffi wanderte, grinste das Chamäleon verschmitzt und meinte: „Du hast vorher nie gefragt! Nach allem hast Du verlangt, nach Feuerbällen, magischen Fallen, Löchern in Wänden, aber nie nach einer simplen Lichtkugel. Komisch, was?“

Athónons Mundwinkel zuckte beinahe nach oben, doch ihm war jetzt nicht nach lachen zumute. Laura lag unter der Decke; sie atmete flach, aber regelmäßig, also kroch der Gnom zu Mèra.

Sie hatte das Bewusstsein verloren, wimmerte nicht mehr und war leichenblass. Sie atmete nur noch sehr schwach und Athónon fand beinahe ihren Puls am Hals nicht. Der Gnom blickte zwischen ihr und Laura hin und her und schluckte.

Langsam zog er Laura die Decke vom Körper, während er sie undeutbar musterte. Ihre Kastanienfiguren fielen ihm wieder ein und brachten seine Hände zum Schwitzen, doch er hörte nicht auf, die Decke von ihr zu nehmen.

Behutsam legte er die Decke dann um Mèras Schultern. Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne hinter das schlanke Ohr.

„Sie bedeutet Dir ziemlich viel, oder?“, fragte Taffi.Athónon blickte sich kurz zu Taffi um, dann rappelte

er sich auf und schaute in die Runde. „Ein Höhlengang“, wisperte er überflüssigerweise. Er sah nicht wieder zu Laura, die reglos dalag.

„Du solltest Dir mal das Gesicht waschen, bevor Laura Dich fragt, wessen Blut Du da getrunken hast“, riet ihm Taffi, mit einem Ton in der Stimme, den Athónon nicht

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3�6 zu deuten verstand. Die Gnomenfinger ballten sich zu Fäusten und Athónon musste abermals schwer schlucken. Taffi konnte knallhart sein.

Taffi sprang neben Laura und rieb seinen Kopf an ihrem verwundeten Bein. „Ich kümmere mich um den Schnitt, mach Dir keine Sorgen“, murmelte er. Athónon atmete unmerklich auf. Eine Wunde wie Lauras zu heilen, hätte ihn vermutlich sehr geschwächt, und noch wusste er nicht, ob nicht gleich um die nächste Biegung ein Feind nur darauf wartete, leichte Beute zu machen.

„Wir haben übrigens Zeeris verloren, wie es aussieht“, redete Taffi etwas schleppend weiter. „Ich hatte ihn selbst mit einem Zauber für das Aufspüren von Magie und Lebewesen nicht in unserer Nähe entdecken können“, fügte das Chamäleon hinzu.

Athónon klappte der Kiefer ein wenig herunter. „Das kannst Du auch? So schnell?“, staunte er anerkennend.

Taffi antwortete nicht sofort. Als er weiterredete, kam die trockene Antwort nur sehr schleppend: „Ich habe mehrere Jahrzehnte bei Meister Tugibenn gelebt. Was hast Du erwartet? Dich hat er nur drei Monate ausgebildet, und auch nur in Heilmagie.“ Taffi rieb noch immer den Kopf an Lauras Bein. „Jetzt muss ich mich aber doch auf das Zaubern konzentrieren“, raunte er und schloss die Augen. „Ist schwieriger als gedacht.“

„Natürlich“, flüsterte Athónon und sah dem Chamäleon noch einen Moment bei seiner eigenwilligen Form des Zauberns zu, die es nur anwendete, wenn ein sehr schwerer Zauber zu bewerkstelligen war, der eine Unterstützung durch Gesten erforderte. Athónons Einschätzung war

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3��also richtig gewesen, die Heilung hätte ihn selbst so sehr angestrengt, dass er sich vermutlich gleich neben die Halbelfin hätte legen können, und dann hätte niemand mehr – außer Taffi – auf Feinde reagieren können.

Athónons Mundwinkel zuckte kurz nach oben. „Taffi ist also über Jahrzehnte von einem Meisterzauberer ausgebildet worden“, dachte er mit einem leichten Kopfschütteln.

Athónon sah den greisen Gnomenmagier Tugibenn vor sich, auf seinen Stock gestützt, immer breit grinsend. Gerade wenn man dachte, Tugibenn habe das Gemüt eines Kindes, sagte er etwas sehr Weises, das genau den Punkt traf. Immer wenn Athónons Welt zu bersten drohte, kochte Tugibenn einfach einen Tee, und mit seiner scheinbar sorglosen Art munterte er Athónon wieder auf. Am Grund von Athónons Rucksack lag noch heute eine orange gefärbte Tunika, auf die ein bunter Fisch gestickt war. Manchmal gab der Fisch magische Blasen von sich und blubberte leise. Tugibenn hatte eine ganze Kollektion dieser Tuniken hergestellt. Taffi schlief gern darauf.

In Athónons Rucksack befand sich auch Tugibenns Teekanne, die, obwohl irden, so gut wie unzerbrechlich war und Tee beliebig lange warm halten konnte. Athónon benutzte sie selten auf Reisen, um keinen Neid von Dieben und Zauberern zu provozieren; letztere hätten gern anhand der Kanne die Zeitenmagie erlernt. Natürlich hatte Athónon auch verschiedenste Lederbeutel mit Tee eingesteckt, weitere Erbstücke des lange toten Meisters.

Tugibenn war geopfert worden von den seherischen Vier Königen. So wie Jade geopfert worden war. Athónon kamen die alten, verdrängten Bilder wieder ins Gedächtnis;

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3�� Tugibenn hatte eine gigantische Trugbildmagie inszeniert, die sein uraltes Herz überanstrengt hatte. Doch nur so hatte der alte und neue König der Menschen, Randolph, seine göttliche Legitimation erhalten, um sein Volk erneut unter einem Banner gegen die Dämonen und Chimärier zu vereinen – vor der Zeitreise, die alles geändert hatte. Bis dahin waren die Vier Könige eine Zeit lang unerkannt auf Hevas Leib umhergereist. Kaum jemand hatte noch von ihnen gewusst. Die Götter selbst hatten sich offenbar nicht dazu herabgelassen, einen Herold zu schicken, der ihre Absichten verkündete oder wenigstens die Pläne der Vier Könige offiziell billigte – den Grund hatte Athónon nie erfahren.

Mangels eines echten Götterzeichens hatte Tugibenn durch seine meisterhafte Trugbildmagie einen göttlichen Herold inszeniert. Alles hatte schnell gehen müssen. Kein anderer eingeweihter Zauberer war greifbar gewesen, um einen so komplizierten Zauber zu wirken; der Meisterzauberer T’ral, ein anderer der Vier Könige, war jenseits von Hevas Leib in einen Kampf gegen Dämonen verwickelt gewesen und hatte nicht zur Verfügung gestanden.

Nach einer kurzen Weile hörte Taffi auf, seinen Kopf an Lauras Bein zu reiben. „Meine Haut ist ganz wund!“, piepste er und schielte nach oben, als könnte er seinen eigenen Kopf sehen. Im nächsten Augenblick musste er selbst grinsen.

„Athónon?“, stöhnte Laura, als sie zu sich kam. „Was ist mit meiner Mutter? Konnte Mèra sie retten?“ Sie versuchte, sich aufzurichten, war jedoch zu geschwächt und gab schnell wieder auf.

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3��Athónon schluckte und kniete sich zu der Halbelfin. Sie sah ihn nur kurz und intensiv an, während er noch schwieg. Da schluchzte sie laut und schloss die Augen wieder.

Der Gnom legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter und raunte heiser eine Floskel: „Es tut mir so leid.“ So ehrlich sein Mitleid auch war, er war außerstande, es zu zeigen.

Mit seinem Ärmel wischte er sich dann das Gesicht halbwegs sauber, doch auch in seinem weißen Haar klebte das Blut. Er überlegte, ob er Laura den Abschiedsgruß ihrer sterbenden Mutter überbringen sollte. Täte er das, müsste er auch schildern, wie er den besessenen Körper mit dem Schwert durchbohren musste und wie die Decke versagt hatte, und Athónon war nicht sicher, wie Laura das aufnehmen würde. Andererseits spürte er, dass Laura weniger leiden würde, wenn sie den letzten Zweifel darüber verlieren würde, dass sie mitnichten ein ungeliebtes Kind, eine traumatische Bürde oder ein Fehler für ihre Mutter gewesen war.

Als hätte sie Athónons Gedanken gelesen, zupfte Laura den Gnom am Ärmel und musterte ihn ernst. „Sag mir die Wahrheit“, hauchte sie. Für einen Moment wirkte sie zerbrechlich wie eine dünnwandige Keramikfigur.

Athónon wurde rot.„Was hat sie wirklich von mir gehalten?“, fragte Laura.

„Du musst es doch wissen. Du kanntest sie länger als ich alt bin. Und ich will jetzt keine Floskeln hören, die habe ich neunzehn Jahre lang gehört. Ich weiß, woher ich komme, ich weiß, wie sehr meine Mutter gelitten hat.“

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3�0 Ihre Stimme begann zu beben und ihre Kehle zog sich immer enger zusammen. „Ich weiß, was die anderen Elfen im Dorf getuschelt haben. Sag mir die Wahrheit, wie hat meine Mutter über mich gedacht?“

Athónon schaute überraschend warmherzig zurück und antwortete: „Sie hat Dich geliebt und geschätzt, glaub mir. Ich weiß es. Sie hat mir vor langer Zeit mit leuchtenden Augen von Deinen ersten Schritten erzählt und wie viel Angst sie bei Deinem ersten sportlichen Ringkampf hatte. Sie hat mich ja jedes Jahr besucht. So etwas erzählt man nicht, wenn man sein Kind nicht liebt. Glaube ich jedenfalls. Ich habe selbst ja keine Kinder.“ Bei den letzten Worten wurde Athónon immer leiser und kraftloser.

Laura schwieg bedrückt und schloss die Augen, doch dann wollte sie wissen, was bei Mèras Zauber schiefgelaufen war.

„Die Dämonen haben scheinbar nur darauf gewartet, dass Mèra so einen Zauber versucht. Sie platzten dazwischen; wir sind mit Mèras Teleportationszauber entkommen, aber jetzt ist sie bewusstlos vor Schwäche“, berichtete Athónon. Er verstand es meisterlich, vom Einfall der Dämonen auf Hevas Leib zu berichten, als sei dies bloß eine Lappalie, um die er sich morgen zwischen Frühstück und Mittagessen schon kümmern würde.

Laura schluckte, ihre Augen weiteten sich. Athónons Stimme hatte sie nicht vollkommen getrogen. „Echte Dämonen?“, wisperte sie furchtsam.

Athónon nickte.„Was ist mit Deinem Auge?“, flüsterte Laura

ahnungsvoll.

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3�1Der Gnom tastete reflexartig danach. „Ich weiß es noch nicht. Im Moment braucht Mèra die Decke dringender als ich. Sie atmet kaum. Sie hat auch keine äußeren Wunden, die man heilen könnte, es war der Zauber“, murmelte er.

„Du opferst Dein Auge für sie“, sagte Laura halblaut. Es klang wie ein Vorwurf.

Athónon sah Laura intensiv ins Gesicht. „Ja, vielleicht“, antwortete er nach einigen Lidschlägen. „Auf jeden Fall reichen meine Heilkenntnisse nicht aus, um ein zerstörtes Auge zu behandeln; das ist etwas ganz anderes als eine Fleischwunde oder ein gebrochener Knochen.“

„Hat man ihr nicht langsam genug Opfer gebracht, dieser falschen Göttin?“, zischte Laura plötzlich kalt. Unter Schmerzen richtete sie sich doch noch auf. Ihre Hand wanderte zum Schwert neben ihr, doch Athónon griff in ihre Finger und hielt sie fest.

Er erzählte leise: „Glaub mir, sie hätte keine Angst zu sterben, wenn die Zeit dafür gekommen wäre. Ganz im Gegenteil, sie sehnt den Moment ihrer Erlösung von diesem Schicksal herbei. Sie hätte aber sicherlich Angst davor, dass in Momenten der Schwäche, wie diesem, ein verbittertes Mädchen sie sinnlos tötet. Denn damit wären all die Wesen, die schon wegen ihr in den Tod gegangen sind, umsonst gestorben – auch Deine Mutter.“

Laura stürzte dem Gnom weinend in die Arme.

„Ich werde mal meine bescheidenen Heilkünste an Deinem Bein weiter ausprobieren“, sagte Athónon nach einer Weile. „Taffi hat die Vorarbeit geleistet, aber ich glaube, gehen kannst Du damit immer noch nicht.“

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3�2 Laura nickte stumm. Sie blickte etwas erstaunt, aber auch dankbar auf Taffi, der wieder einmal auf Athónons Rucksack lag und zurückgrinste.

Athónon nahm Laura den Verband ab und legte die Hand auf den tiefen Schnitt. Er war es gewohnt, andere Wesen als Gnome zu heilen, daher verwirrte ihn das ungewohnt große Bein nicht weiter, als er sich das Muster seines Zaubers vorstellte, wie es sich mit der realen Welt, mit Lauras Wunde verwob.

Nach einem langen Moment war die Wunde nun ganz geschlossen, nur eine blasse Narbe blieb zurück. Laura erhob sich vorsichtig und belastete neugierig das geheilte Bein. „Es ist wie neu!“, rief sie.

„Na ja“, winkte Athónon ab, ein Mundwinkel zuckte nach oben. „Ich werde mich hier jetzt mal umsehen“, sagte er dann, nahm eine Fackel und sein Kurzschwert und schlich von dannen.

Laura blickte zu Mèra, ihre Miene füllte sich mit Hass und ihre Finger wanden sich ganz langsam um den kalten Griff ihrer Waffe.

„Danke für Deine Hilfe“, sagte Srrig höflich und neigte den Kopf, bevor er sich erhob.

Myándirel starrte den Tigermann noch immer mit offenem Mund an. „War mir eine Ehre“, stammelte er kaum hörbar.

„Komm“, sagte Srrig zu Taren und eilte voraus, „jemand braucht unsere Hilfe.“

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3�3Etwas verdutzt seine Neugier zügelnd, hastete Taren dem Tigermann hinterher.

An der Barrikade fragte Srrig den neuen Wachhabenden: „Können wir später zurückkehren, um Unterschlupf zu finden? Wir könnten Euch dafür zum Beispiel im Kampf helfen, falls die Schlangenblüter noch einmal angreifen.“

„Das wird kein Problem sein. Solange kein Verdacht gegen Euch besteht, sind wir nicht sehr abweisend“, erklärte der Nachtelf freundlich.

Srrig und Taren ließen sich eine Fackel geben. Dann verabschiedeten sie sich und zwängten sich durch den Spalt der beiden Turmschilde.

Srrig schloss für einen Moment die Augen. „Hier entlang“, sagte er dann plötzlich und lief los.

Taren rannte ihm keuchend hinterher. „Ich nehme an ... Du hast ... Dein Gedächtnis ... zurück?“

„Ja!“, rief Srrig mit neuer Entschlossenheit; er musste sich zügeln, nicht noch schneller zu laufen, damit Taren einigermaßen mithalten konnte.

Mèra hob mit einiger Mühe die Lider – und blickte Laura ins wütende Gesicht. „Komm her zu mir“, hauchte Mèra schwach.

„Ich will aber nicht mit Dir reden“, giftete Laura zurück.

Mèras Lider wiegten sich für einen Moment träge auf und ab, doch sie gewann den Kampf um ihr Bewusstsein

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3�4 und flüsterte: „Danke, dass Du mich eben nicht getötet hast.“

Laura wurde blass. Ihre Wut wich dem Schrecken. „Du ... weißt das?“, wisperte sie.

„Meine kleine Alarmglocke hat geläutet“, lächelte Mèra dünn. „Aber ich hätte nichts tun können. Auch jetzt noch nicht, und jetzt ist Athónon nicht hier, um Dich zurückzuhalten.“

Die beiden musterten sich eindringlich. Mèras Lächeln erstarb. „Er hat recht, ich fürchte mich nicht“, hauchte Mèra. „Tu es, wenn Du musst. Ich bin sowieso nicht mehr die Alte und kann meine Aufgabe nicht erfüllen.“

„Was?“, stammelte Laura und wich zurück. Sie war keine kaltblütige Mörderin, sie würde es nie ernsthaft fertigbringen, eine wehrlose Mit-Elfin zu töten.

Laura kniete sich neben Mèra und schaute ihr lange in die ozeanischen Augen. Ihrem Blick konnte sie standhalten, anders als Athónons. „Nein“, sagte die Halbelfin endlich und lächelte kühl, „Du bist mit Deinem Schicksal gestraft genug. All die toten Gesichter Deiner Opfer, die Du jede Nacht im Schlaf sehen musst ... Außerdem töte ich keine Wehrlosen.“

Mèras Gesicht verzog sich gequält.Plötzlich drehte sie das Gesicht weg und schloss die

Lider. Ihre Lippen zitterten.Laura schaute zunächst siegesgewiss auf die Elfin herab,

doch als sie ihr klägliches, unterdrücktes Schluchzen hören musste und sah, wie Mèra hilflos ihr Gesicht unter ihrer Hand zu verbergen versuchte, krampfte sich Lauras Herz doch zusammen.

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3�5„Es ... tut mir leid“, hauchte Laura und wandte sich verlegen ab.

„Schon gut“, sagte Mèra und schniefte leise. „Ich bin sehr, sehr alt, und manchmal bin ich froh, wenn ich überhaupt noch etwas empfinde – auch wenn es etwas Unangenehmes ist.“

Sie griff neben sich, wo Wenndurs Laute lag. Mèra war zu schwach, um das Instrument hochzuhalten, aber sie legte es sich auf den Bauch und hauchte freundlich: „Ich habe sie für Dich mitgenommen. Sicher wolltest Du ein Andenken an Wenndur haben.“

Verlegen und gerührt starrte Laura das Instrument an. „Ich kann nicht spielen. Behalte sie“, entgegnete sie dann jedoch bitter.

Mèra musterte Laura nachdenklich. Nach einem Moment fragte sie: „Soll ich es Dir beibringen?“

Laura schaute beinahe erschrocken drein und sah weg. „Nein, danke“, stammelte sie, „ich werde mein elfisches Erwachsenwerden auf später verschieben.“

Sanft erklärte Mèra: „Die Kunst ist ein hervorragender Weg, vielleicht sogar der einzige Weg, um die eigene Seele völlig zu erforschen. Für unser Volk ist dies deshalb der Inbegriff des Lebens, denn die Seele, die Kunst, ist das Einzige, was uns wirklich über die Tiere erhebt. Die jüngeren Völker sind stolz auf ihre Werkzeuge und Errungenschaften, auf ihr Eisen, doch sie haben noch gar nichts vom Leben begriffen. Deshalb machen die Elfen die Vorgabe, jeder solle wenigstens eine Kunst meistern, um als erwachsen zu gelten. Es ist das, was uns auch über die anderen Völker erhebt.“

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3�6 „Ich will jetzt aber nicht meine Seele erforschen oder mich über jemand anderen erheben“, gab Laura trotzig zurück. Sie setzte sich mit dem Rücken an Mèras Beine, zog die Knie an und schlang die Arme darum. „Schon wieder enge Gänge!“, murmelte sie missmutig.

Mèra legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie legte sich die Laute zurecht und begann leise zu spielen.

Laura schloss unwillkürlich die Augen und lauschte. Mit einem Kloß im Hals drehte sie sich Mèra nach kurzer Zeit wieder zu und hauchte: „Das ist ja wunderschön!“

Plötzlich sprang sie auf und keuchte entsetzt.Am Ende des Tunnels stand ein Chimärier in einer

Eisenrüstung und mit einem riesigen Schwert auf der Schulter.

Laura erstarrte. Sie hatte noch nie wirklich eine solche Kreatur gesehen; sie hatte nicht gewusst, wie groß sie wirklich waren, wie viele Muskeln sie hatten und wie mächtig ihre Schwerter waren. Lauras Kurzschwert wirkte lächerlich gegen den Chimärier.

„Athónon?“, rief sie zitternd über die Schulter, in die andere Richtung des Tunnels, wohin der Gnom verschwunden war.

Der Chimärier rief etwas mit tiefer, grollender Stimme; Laura erschien es wie Menschensprache, doch was auch immer es war, sie verstand es nicht.

Taffi, der sich hinter Mèras Rucksack versteckt hatte, streckte nun plötzlich neugierig den Kopf empor. An Laura gewandt, flüsterte das Chamäleon: „Er fragt auf Mensch, ob wir Hilfe brauchen!“

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3��„Ja, klar“, spottete Laura und nahm den furchtsamen Blick nicht von der riesigen Kreatur. Laura schätzte ihn auf fünfhundert Pfund ohne Rüstung. Wenn er ihr einen Tritt verpasste, würden ihre Rippen brechen, wenn er mit dem Schwert zuschlug, würde ihr Kurzschwert wie ein Spielzeug davonfliegen und ihr Körper würde in der Mitte durchgehackt. Sie hätte im offenen Kampf überhaupt keine Chance, sie wusste es, nun, wo sie solch eine Kreatur sah – und ihr rasendes Herz überschlug sich, weil es das ebenfalls wusste. Sie drehte sich um und rannte davon, Mèra und Taffi zurücklassend.

„He!“, schrie Taffi ihr wütend hinterher, „das kannst Du nicht machen!“

„Ach nein?“, schrie Laura über die Schulter. „Ich werde nicht auch noch für irgendeinen dummen Kreuzzug mein Leben wegwerfen!“

Während sie das rief, hätte sie beinahe Athónon über den Haufen gerannt, dessen Wachsamkeit und äußerst scharfen Sinne ihren ersten Ruf durchaus wahrgenommen hatten.

„Was ist los?“ Athónon sah zu Laura auf.„Ein Chimärier! Mit einem riesigen Schwert! Wir haben

keine Chance!“, rief Laura und wollte schon weiterrennen, aber der Gnom hielt sie mit überraschender Kraft am Ärmel fest.

„Lass mich los! Ich werde nicht auch noch sterben!“, schrie sie panisch, doch Athónons Finger glitten geschickt zu Lauras kleinem Finger und bogen ihn in der Mitte durch, als wollte der Gnom einen kleinen Ast zerbrechen.

„Au!“, schrie Laura und ging instinktiv in die Knie,

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3�� um dem Hebel zu entgehen, doch Athónon hielt sie mit absoluter Präzision gefangen.

„Hat er schon angegriffen? Ist er losgestürmt, um Dich zu töten?“, fragte der Gnom und musterte die Jugendliche mit seinem alten Augenschlitz.

Laura schüttelte den Kopf und starrte Athónon gequält an. „Lass los!“, bettelte sie, „ich will nicht mit Dir kämpfen müssen.“

„Ich habe den Chimärier rufen hören. Komm!“, sagte Athónon und zog Laura am Fingerhebel hinter sich her, so sehr sie auch zeterte.

Als Athónon zu Mèra und Taffi zurückkam, war der Chimärier noch nicht näher gekommen. Neben ihm standen allerdings ein junger Mensch und ein Zwerg und tuschelten mit ihm.

Laura gab ihr Geschrei auf und hielt still. Als Athónon bemerkte, dass auch sie die Szenerie beobachtete, ließ er ihren Finger los.

„Danke!“, zischte Laura giftig und rieb sich demonstrativ das geschundene Gelenk.

Athónon rief in Menschensprache zu den drei Fremden herüber: „Ich bin Athónon, meine Begleiter heißen Laura und ... Miriam. Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“

Mèra hörte die Stimmen zunächst noch wie in weiter Ferne, dann gar nicht mehr. Die Laute entglitt ihren Fingern. Sie war einfach zu geschwächt und konnte die Augen nicht länger aufhalten.

Zuerst war sie auf der Wiese, auf der Elfenkinder spielten, jene Wiese, auf die man geriet, wenn man unter der

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3��magischen Decke schlief. Doch Mèra driftete noch tiefer, bis in ihr Traumland, in das sie sich in schweren Zeiten stets zurückziehen konnte, um Trost zu finden. Barfüßig spazierte sie an einem weißen Strand entlang, ein kristallblaues Meer rauschte sanft unter einem strahlend blauen Himmel. Harkýior – Jahrhunderte, bevor der erste Stein der Stadtmauer gelegt worden war. Was war hier noch mal geschehen?

Cerýllion war auch da. Doch hier, in Mèras Traumwelt, hatte er seinen Verrat nie begangen, hier war er noch immer ihr geliebter Gefährte, der für sie da war und sie festhielt, wenn sie sich wieder einmal in den Schlaf weinte.

„Wieso hängst Du noch an der Welt der Sterblichen? Was können sie Dir geben, was ich Dir nicht geben kann?“, fragte er zärtlich. Mèra schwieg und blickte liebevoll in Cerýllions rote Augen und auf sein schneeweißes Haar.

Cerýllion wisperte: „Du hast es selbst gesagt: Auf die Götter kannst Du nicht mehr zählen. Doch es kann trotzdem so sein wie früher, ohne Krieg und Leid! Nur wir beide! Komm zurück zu mir, zurück in unsere Welt. Dies ist nur ein Traum, aber die Wirklichkeit wartet auf Dich!“

Mèra musterte ihn verständnislos und legte ihm einen Finger auf die Lippen.

„Was bedeutet Dir dieser Gnom? Er ist sterblich. Kaum siehst Du einmal nicht hin, schon ist er alt und verblichen“, raunte Cerýllion.

Die beiden Unsterblichen blickten zur Seite. Athónon stand am Strand und rief zu Mèra herüber: „Wie alt bist Du eigentlich? Fast zwanzigmal so alt wie ich! Darauf fällst Du doch wohl nicht herein, oder? Der führt doch was im Schilde.“

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400 Mèra blickte in Cerýllions zeitloses, schönes Gesicht. Sie schloss die Augen und schmiegte sich fest an seine Schulter.

Er drückte sie an sich, umschloss ihren schlanken Rücken; er wusste, wie sehr sie das liebte. Beiläufig sah er zu Athónon und verschoss einen gleißenden Blitz aus seinen Augen. Der Gnom brüllte kurz auf, überschlug sich in der Luft und blieb reglos liegen. Er stank nach verbranntem Fleisch.

Entsetzt starrte Mèra erst Athónons Leiche an, dann Cerýllion. Fassungslos wich sie von ihm zurück. „Nicht hier! Diese Welt ist heil!“, wimmerte sie leise.

„Eben“, lächelte Cerýllion. „Gerade deswegen darfst Du nicht zulassen, dass ein Sterblicher hier eindringt und alles verdirbt!“

Mèra fühlte sich wie ein Lamm vor einem hungrigenWolf.Laura lief herüber und rief: „Aber was soll das für eine

Märchenwelt sein, in der er einfach Deine Freunde tötet – egal wer sie sind?“

Cerýllion winkte amüsiert ab und konterte: „Wie kann ein Sterblicher Dein Freund sein? Der Gnom konnte Dich unmöglich verstehen. Nur jemand mit demselben Fluch, mit demselben Alter kann Dich verstehen! Ich kann Dich verstehen, und sonst ist niemand mehr da! Kein Srrig, kein Randolph! Du bist ganz allein! Komm zurück zu mir!“

Ängstlich klammerte sich Mèra wieder an Cerýllion, der seinerseits Laura kalt anlachte und einen weiteren Blitz verschoss, der die Halbelfin tötete.

„Komm an den Strand von Harkýior, dort werde ich auf Dich warten. Und dann werden wir für alle Ewigkeiten glücklich und frei sein.“

Cerýllion streichelte Mèra mit den Fingerspitzen über die

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401Wange. Zärtlich berührten sie sich mit Nase und Stirn und fühlten ihre sinnliche, knisternde Hitze, dann küssten sie sich gierig und vergaßen die Welt der Sterblichen um sich herum.

Mèra raunte wohlig unter der Decke und regte sich sacht im Schlaf. „Komm an den Strand von Harkýior, dort werde ich auf Dich warten.“

Srrig blieb an einer Kreuzung stehen und schloss die Augen. „Hier lang“, sagte er dann und rannte schon weiter, kaum dass Taren ihn eingeholt hatte. Mit teils grimmiger, teils gequälter Miene schnaufte Taren dem Tigermann hinterher.

Wütend brüllte Srrig plötzlich auf, als er in eine Sackgasse gerannt war. „Wir müssen aber in dieser Richtung weiter!“, knurrte er die Wand an.

Taren stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und keuchte: „Vielleicht biegen wir einen Gang früher ab, um parallel zu laufen?“

Srrig nickte knapp und rannte los. Taren verdrehte stöhnend die Augen, stemmte den Rücken gerade und schleppte sich dem Gefährten hinterher.

„Halte durch, es ist wichtig, dass wir uns beeilen!“, rief Srrig über die Schulter. Damit schürte er Tarens Neugier noch weiter.

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402 Laura gefiel es gar nicht, wie der Zwerg und der junge Mensch sie anstarrten. Auch die amüsierte Art, wie der Chimärier sie anstarrte, gefiel ihr nicht. Doch im Moment unterdrückte sie noch den Impuls, abermals wegzurennen.

Athónon trat einen Schritt vor, mit der Hand am Schwertgriff. „Wir suchen keinen Streit“, rief er ruhig zu den drei Fremden hinüber.

„Ihr würdet ihn auch schlecht vertragen“, lachte Paaldrag mit seiner Drachenstimme.

Athónon hob nur ungerührt das Kinn und verengte sein Auge zu einem dünnen Strich. Laura wich einen Schritt zurück. „Der bringt uns doch um und frisst unsere Leichen auf!“, flüsterte sie ängstlich und starrte Athónon an.

„Ich habe bereits einige Chimärier getötet, im Nahkampf“, rief Athónon trocken zu den Fremden hinüber; indirekt galt diese Aussage auch Laura.

Paaldrag legte den Kopf schräg. „Komisch, irgendwie glaube ich Dir das sogar“, raunte der Chimärier. Dann begann er brüllend zu lachen. Auch Melek und Brommil grinsten schief und starrten den alten Gnom mit dem dicken Kopfverband abfällig an.

Laura packte Athónon am Kragen und wollte ihn mit sich ziehen, fort aus dem Gang, Mèra zurücklassend. Doch Athónon riss sich frei und funkelte verärgert zu der Halbelfin hoch.

„Lasst uns einfach in Ruhe“, knurrte Athónon dann laut in die Richtung der Fremden.

„Sonst was?“, knurrte Paaldrag zurück, plötzlich wieder

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403todernst. Der Chimärier schnaubte tief und stieß eine Rußwolke durch die Nase.

„Lass uns fliehen!“, flehte Laura in Athónons Ohr.Athónon raunte zu ihr zurück: „Normalerweise würde

ich auch denken, dass diese Leute bloß Streit suchen. Aber irgendetwas scheint sie zurückzuhalten, und das ist sicher nicht meine beeindruckende Erscheinung. Es besteht also eine vage Hoffnung, dass wir uns friedlich mit ihnen stellen können. Das wäre mir lieber, als eine wehrlose Freundin zurückzulassen, von deren Überleben vielleicht einiges abhängt. Auch wäre mir das lieber, als blind durch fremde, dunkle Gänge zu irren, wo es vielleicht echte Feinde gibt.“

Laura schluckte und nickte betrübt.In dem Moment hörten sie rennende Schritte und ein

schweres Schnaufen hinter sich. Ein unsteter Fackelschein an den Felsen tanzte herbei.

Athónon wirbelte herum und stellte sich neben Mèra auf. „Behalte die anderen im Auge!“, zischte Athónon zu Laura, die in seinem Rücken stehen blieb.

Aus dem Gang rannten ein Tigermann und ein völlig erschöpfter Mensch herbei; sie blieben zwei Armlängen vor Athónon stehen.

Der Tigermann ignorierte Athónon und starrte erschrocken und voller Sorge auf Mèra.

„König Srrig“, flüsterte Athónon ehrfürchtig in der Elfensprache, worauf der Tigermann ihn überrascht anblickte.

„Du kennst meinen Namen?“, wunderte er sich und kam einen Schritt näher.

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404 „Ich kenne Mèra“, antwortete der Gnom darauf und verneigte sich höflich. Seit der Zeitreise hatten die beiden sich noch nicht wieder gesehen; die einstige Zusammenarbeit mit Athónon konnte Srrig nicht mehr kennen.

Laura musterte Athónon irritiert, doch die meiste Zeit bestaunte sie den Tigermann, den Athónon in elfischer Sprache gar als König bezeichnet hatte. Sie betrachtete sein Fell, seine Muskeln, sein Gesicht und seine Reißzähne, die sich beim Sprechen ein wenig zeigten. Auch dass er auf nackten Tigerfüßen, auf Zehenspitzen lief, fiel ihr auf.

Srrig drückte derweil dem immer noch atemlosen Taren die Fackel in die freie Faust und kniete sich zu Mèra. Er legte ihr die Hand prüfend auf die Stirn und fühlte ihren Puls am Hals. Erleichtert atmete er durch.

Als Srrig sich wieder erhob, wich Laura instinktiv einen Schritt zurück. „Und Ihr beiden seid also Freunde von Mèra?“, fragte der Tigermann und musterte insbesondere die jugendliche Laura skeptisch.

Athónon nickte.„Und die da hinten?“, fragte er, ohne zu Paaldrag, Melek

und Brommil hinüberzusehen. „Zwei von ihnen waren mit mir gefangen, aber den Chimärier sah ich noch nie.“

„Wir haben auch keine Ahnung, was sie im Schilde führen“, berichtete Athónon nüchtern.

Melek und Brommil tuschelten mit Paaldrag. Dann rief der Chimärier durch den Gang: „Wir haben hier übrigens ein großes Feuer, viel Platz und noch etwas Fleisch. Wenn Ihr Euch dazusetzen wollt, können wir uns die neuesten Imperator-Witze erzählen.“

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405Srrig hob daraufhin Mèra auf die Arme. Er lächelte Taffi an, als dieser sich zu erkennen gab, quietschende Geräusche ausstieß und auf Srrigs Schultern herumsprang. Diese Bekanntschaft war also schon weitaus älter als die zu Athónon. Dabei stellte sich die Frage, wie alt Taffi war ...

Taren und Athónon folgten dem Tigermann ohne Zögern. Taren nahm Athónon außerdem Mèras Rucksack ab.

Nur Laura blieb zögernd zurück. „Was hat er denn gesagt? Wieso glaubt ihr dem jetzt?“, wimmerte sie hilflos.

Taffi sprang von Srrigs Schulter, rannte zurück und flitzte an Laura hoch. „Du musst Dich nicht fürchten!“, raunte Taffi ihr ins Ohr und strich mit einer Pfote durch ihr Lockenhaar. „Nicht wenn Srrig da ist! Er ist ein ziemlich alter Freund von Mèra, wenn Du verstehst!“

Laura seufzte schwer. Sie nahm allen Mut zusammen, warf sich ihren Rucksack über die Schulter und folgte der Gruppe bis in Paaldrags Höhle.

Schließlich saßen alle am Feuer beisammen. Nur Mèra schlief immer noch. Taffi schlummerte ebenfalls – auf ihrem Bauch. Genussvoll schmiegte er im Schlaf seinen Kopf an ihre Brust, was zu belustigten Sprüchen führte.

Die neuen Freunde erzählten sich die Ereignisse der letzten Stunden und Tage, das meiste übersetzte Athónon für Laura. Wer Srrig und Mèra wirklich waren, dass die uralte Decke magisch war und dass sie vor Dämonen

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406 flohen, ließen Athónon und Srrig den Fremden gegenüber allerdings aus.

Paaldrag und Brommil erwiesen sich als derbe Spaßvögel, während Melek und insbesondere Laura, die kaum etwas von der Menschensprache beherrschte, nur wenig sagten.

„Habe ich grüne Pickel, oder bist Du bloß neugierig?“, lachte Srrig herzlich in elfischer Sprache Laura an.

Laura senkte verlegen den Blick und stammelte: „Entschuldigung. Ich sah zuvor noch nie Tigermenschen.“

„Bist Du eine Kämpferin, Laura?“, fragte Srrig aufmunternd. Auch Taren blickte zu ihr, um die Antwort zu hören und um sich von den bohrenden Fragen über Srrig abzulenken, der noch nichts von seinem wiedererlangten Gedächtnis preisgegeben hatte.

Lauras Kehle zog sich zusammen. „Ich habe schon mal zwei Menschenkrieger allein besiegt“, brachte sie hervor. Von Stolz auf ihre Tat war keine Spur zu hören.

„Sie kämpft gut“, mischte Athónon sich von der Seite ein, nachdem er für Paaldrag, Brommil und Melek kurz übersetzt hatte. „Sie hatte nur kürzlich erst lernen müssen, dass nicht immer alle Freunde ein Abenteuer überleben“, fügte der Gnom in beiden Sprachen bitter hinzu.

Laura ließ den Tränen freien Lauf, während sie ins Feuer starrte. „Meine Mutter starb vor ein paar Stunden“, hauchte sie, um Tarens und Srrigs fragende Blicke zu beantworten. „Ich war nicht da, um ihr zu helfen“, zischte sie wütend. Auch um Wenndur tat es ihr leid, doch das erzählte sie nicht.

Etwas verlegen sahen die Anwesenden alle für einen

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40�Moment ins Feuer. Paaldrag warf einen dünnen Holzscheit von einem kleinen Stapel nach. Athónon hatte für ihn, Brommil und Melek sehr kurz Lauras Worte übersetzt.

Taren räusperte sich schließlich und fragte Laura leise: „Und was genau macht Ihr jetzt hier, wie seid Ihr hierhergekommen?“

„Das musst Du den Gnom fragen“, entgegnete Laura spitz, stand auf und zog sich an den dunklen Rand der Höhle zurück, um allein zu sein. Melek sah ihr am längsten hinterher.

Taren schaute ihr nur für einen Moment verwundert, doch auch mitfühlend nach. Schnell wechselte sein Blick jedoch fragend zu Athónon.

Der Gnom blickte mit seiner Steinmiene ins Feuer und seufzte leicht durch die Nase. Er blickte zu Srrig auf und antwortete in der Menschensprache: „Wir haben Srrig gesucht und gefunden. Wie es jetzt genau weitergeht, weiß ich auch noch nicht.“

Taren blickte Srrig an; die ohnehin bärbeißige Miene des Menschen verfinsterte sich weiter. „Woran erinnerst Du Dich denn nun? Du hast es noch immer nicht erzählt.“

Srrig schaute ernst in die Runde. „Ich kam hierher, um einen Freund zu befreien und dann den Imperator zu stürzen, bevor er die Dämonen auf Hevas Leib loslässt.“

Paaldrag prustete los und lachte laut: „Das ist mal ein guter Plan! Viel Erfolg, ich nehme die andere Richtung!“

Tarens Mund stand offen, doch nach ein paar Lidschlägen grinste er dünn. „Das sollte wohl ein Scherz sein?“

Srrig schüttelte langsam den Kopf und blickte den

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40� Menschen eindringlich an. Zu Paaldrag sagte er freundlich: „Ich erwarte natürlich nicht, dass jemand mich und Mèra begleitet.“

„Mèra?“, stutzte Paaldrag, „ich dachte, sie heißt Miriam. Oder wen meinst Du?“

„Ihr richtiger Name ist Mèra“, gab Srrig zu, „aber Athónon trifft keine Schuld; es war klug von Mèra, einen falschen Namen gegen mögliche Verfolger zu verwenden.“

Athónon kommentierte nicht näher, dass er Mèras Namen ganz bewusst vor diesen Fremden hatte verheimlichen wollen. Sie kannten nach wie vor nicht all ihre Verfolger.

Paaldrag beugte sich vor. „Jetzt mal im Ernst, mein Freund“, begann er ohne Spott in der Stimme, „das kann unmöglich Dein Vorhaben sein. Deinen Freund befreien, na vielleicht, wenn Du ein großer Kämpfer bist. Aber Du willst Dich doch nicht wirklich mit dem Imperator anlegen? Du kommst nicht mal in seine Nähe, und selbst wenn, er wird beiläufig mit den Pranken winken und Du wirst tot umfallen.“

Taren nickte ernst und raunte: „Das ist ein jahrtausendealter Drache, so groß wie ein Haus, sagt man. Seine goldenen Krallen sollen groß wie Schwerter sein und seine Zauberkraft geht weit über alles hinaus, was Sterbliche bewirken könnten. Die Chimärier halten ihn sogar für einen Gott. Auf keinen Fall kannst Du Dich mit ihm messen, egal was für ein Krieger Du bist. Das ist Selbstmord!“

Srrig fühlte sich nicht mal angegriffen. Ruhig erwiderte

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40�er: „Danke für Eure Sorge, meine Freunde.“ Dann stand er auf und sah nach Mèra.

„Wie ist Dein Plan?“, fragte Taren in die Stille.Etwas überrascht blickte Srrig über die Schulter. „Ich

habe noch keinen“, gab er zu. „Ich bin froh, dass Mèra noch lebt, und als Nächstes müssen wir mindestens einen weiteren Gefährten aus dem Palast von Harkýior befreien. Danach erst ziehen wir weiter nach Pýur, zum Sitz des Imperators. Doch dies ist das Schicksal, das die Götter uns aufgebürdet haben.“

Paaldrag grunzte verächtlich. „Du bist ein Spinner!“, grollte er. „Du hast kein bisschen über Dein Vorhaben nachgedacht und glaubst auch noch, die Götter hätten Dir das aufgetragen?“

Srrig ignorierte ihn und tupfte mit einem Zipfel der magischen Decke über Mèras Stirn.

Taren empfand Paaldrags Kommentar als Lästerung der Götter, doch Chimärier waren für ihn ohnehin der Feind – seine Meinung konnte nicht noch schlechter werden. Zudem meldete sich wieder Tarens rationale Seite. „Er hat recht“, pflichtete er Paaldrag leise bei. „Du kannst doch nicht einfach so loslaufen, in die Arme der Chimärier.“

Srrig seufzte leicht. „Doch, kann ich. Ich mache das seit fast zweitausend Jahren so. Mit der Zeit lässt man sich nicht mehr verleiten und wählt stets den direkten Weg. Nur Schwächlinge müssen tricksen und Umwege ... versuchen.“

Paaldrag lachte laut los. „Der Kerl ist völlig verrückt!“Selbst Brommil und Melek, die bisher dazu geschwiegen

hatten, schüttelten jetzt grinsend die Köpfe.

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410 Athónon hatte die ganze Zeit nur reglos ins Feuer gestarrt und tat jetzt auch nichts anderes.

Taren jedoch, der zuvor schon gespürt hatte, dass etwas Großes bevorstand und dass Srrig jemand Besonderes war, lachte nicht. Er spürte seine Nackenhaare kribbeln. „Und wer genau bist Du, mein gnomischer Freund Athónon?“, fragte Taren heiser.

Athónon hob den Blick ein wenig und sah Taren von der Seite an. „Ich bin da nur irgendwie hineingeraten und habe seltsamerweise immer überlebt. Ich war einst ein einfacher Jäger, später Kundschafter, aber gewiss kein Held. Einige meiner Geschichten würden genauso unglaubwürdig klingen wie die von Srrig. Er und Mèra sind, was sie vorgeben, glaub mir.“

Taren musterte Athónon, Srrig und Mèra mit halb offenem Mund. „Ich weiß“, hauchte er nur.

Paaldrag funkelte ihn grimmig an. „Du wirst diesen Verrückten doch nicht auf ihren Kreuzzug in den Tod folgen, oder? Wäre vielleicht schade um Dich.“

Laura trat aus den Schatten wieder ans Feuer. „Mèra ist keine Halbgöttin“, sagte sie kalt, während ihre Arme einfach herabhingen. Sie hatte in der Menschensprache gesprochen; ihr Akzent war noch sehr stark und elfisch-melodiös, doch offensichtlich hatten ihre Sprachkenntnisse sich in den letzten Stunden verbessert.

Srrig drehte sich um und funkelte die Halbelfin mit einer Mischung aus Verwirrung und Zorn an.

„Wäre sie wirklich so mächtig, hätte sie meine Mutter nicht sterben lassen“, zischte Laura eisig. Sie musste einige Worte erst suchen, doch sie wurde verstanden.

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411Selbstzufrieden verschränkte Paaldrag die Arme vor der mächtigen Brust und sah zu Srrig hinüber. Der starrte Laura finster an.

„Dein Verlust tut mir leid“, sagte Srrig kühl in der Elfensprache, dann wandte er sich wieder Mèra zu und strich durch ihr Haar. „Aber es ist für mich nicht wichtig, was Sterbliche denken“, fügte er noch kälter hinzu.

„Setz Dich und erzähl mir, was geschehen ist, Laura“, bat Taren, um Srrigs arroganten, verletzenden Kommentar zu übergehen. Er machte eine einladende Geste neben sich. Taren hatte die Menschensprache gewählt, sich aber bemüht, langsam und deutlich zu reden.

Laura folgte der Einladung und strich sich die Haare hinter die Ohren.

„Du bist eine Halbelfin“, stellte Taren mit steinernem Ton fest und blickte auf die leichten Spitzen ihrer Ohren.

Laura hielt inne und funkelte Taren angriffslustig an. „Na und?“, fragte sie keck.

Taren schüttelte den Kopf. „Nichts, meine Gefährtin war selbst Elfin, aber ... sie starb ... kürzlich.“ Sein Blick wurde trüb.

„Tut mir leid“, hauchte Laura sanft. Sie druckste einen Moment herum und fragte dann: „Wirst Du uns begleiten?“

Anstelle von Taren antwortete Srrig: „Niemand wird uns begleiten, schon gar kein Kind. Mèra und ich gehen allein weiter. Es ist zu gefährlich für Sterbliche.“

Laura verzog trotzig das Gesicht und protestierte in elfischer Sprache: „Ich bin kein Kind mehr. Außerdem will ich wissen, wie die Geschichte ausgeht, für die meine

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412 Mutter starb! Mir ist klar, dass es gefährlich ist, aber ich werde Euch begleiten! Wenn Du willst, dass ich hierbleibe, musst Du mich töten.“

Srrig dachte kurz nach. Trocken erwiderte er dann: „Gut, wenn Du darauf bestehst. Das ist besser, als uns unnötig in Schwierigkeiten zu bringen.“

Taren und Laura blickten den Tigermenschen ungläubig an, sogar Athónons Mund klappte etwas auf. Die anderen hatten das Elfisch nicht verstanden und schauten irritiert hin und her.

Mèra hob mühsam die Lider und tastete nach Srrigs Arm. „Sie kann auf mich aufpassen“, flüsterte sie. „Ich brauche diese Hilfe. Und auch über Athónons Gesellschaft würde ich mich sehr freuen, er ist mir stets ein treuer Freund gewesen.“

Diesmal war es Srrig, der ungläubig dreinschaute. Halblaut wisperte er: „Es sind Sterbliche! Sie werden den Tod finden! Außerdem würden sie uns angreifbar machen, wenn wir sie zusätzlich schützen müssten. Wir haben stets allein gekämpft. Wer abhängig ist, ist schwach.“

„Ich bin so schwach, ich kann nicht mal laufen“, flüsterte Mèra und lächelte gequält. „Außerdem traust Du den Sterblichen zu wenig zu, glaub mir.“

Srrig funkelte sie böse an. „Wie konntest Du ein Kind hierfür einspannen?“, raunte er vorwurfsvoll.

Laura rief zu den beiden herüber: „Das hat sie nicht. Ich bin meiner Mutter zunächst heimlich gefolgt.“ Sarkastisch fügte sie hinzu: „Ich wollte meiner Mutter helfen, damit sie gesund nach Hause zurückkommt.“

Srrig hatte Elfisch weitergeredet, bemerkte er nun;

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413doch letztlich störte es ihn auch nicht, dass Laura seinen geringschätzigen Kommentar verstanden hatte.

Athónon berichtete: „Ich war nicht viel älter als Laura, als ich für Eure Belange eingespannt worden bin. Hauptmann Dalmaan vom Königskult in Tesmir, und Meister Tugibenn erklärten mir damals, es sei eben das Schicksal mancher, in diese Dinge hineingezogen zu werden. Jades Schicksal war es, sich für Mèra zu opfern, damit sie weiterlebt. Lauras und mein Schicksal war es, von diesen Dingen zu erfahren, sie zu überleben und bis hierher dabeizubleiben – wofür auch immer. Eines Tages wird sich alles zusammenfügen. Manchmal sehe ich es sogar in meinen Träumen. Aber das brauche ich Euch wohl nicht zu erklären, König Srrig.“

„Nenn mich nicht so“, knurrte Srrig leise.„König?“, hauchte Taren. Auch Paaldrag, Melek und

Brommil blickten plötzlich mit großen Augen zu Srrig.Auf die fragenden Blicke von allen, fügte Srrig noch

hinzu: „Das ist viele Jahrhunderte her.“„Kann das sein?“, fragte Taren grimmig, „kann eine

Kette von scheinbar willkürlichen Ereignissen, guten wie schmerzhaften, einen Sterblichen doch auf einer klaren Bahn einem Ziel zutreiben?“

Athónon nickte, während er wieder ins Feuer starrte. „Jeder trägt seine Bestimmung in sich“, bestätigte er. „Nur hat nicht jeder das Glück, sie zu entdecken. Und von denen, die es tun, ist nicht jedem eine angenehme Bestimmung vergönnt.“

Srrig erhob sich und sah skeptisch in die Runde. In der Menschensprache erklärte er: „Wer auch immer meint,

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414 mitkommen zu müssen, unsere erste Aufgabe wird es sein, einen Menschen namens Randolph aus dem Palast von Harkýior zu befreien. Ich kann ungefähr fühlen, wo er ist, denn ein starkes Band verbindet uns. Wir brechen auf, sobald es Mèra wieder gut genug dafür geht. Solange werden wir uns ruhig verhalten, um keine weiteren Feinde anzulocken. Ich glaube, bei den Nachtelfen, einige Gänge weiter, sind wir willkommen.“

„Was, ein Chimärier zählt zu Euren Freunden?“, rief der vorgeschobene Wachposten der Nachtelfen, als Srrig und Taren ihre neuen Begleiter nach vorn gewunken hatten. Mèra wurde von Laura und Melek gestützt und hatte sich die magische Decke eng um die Schultern gezogen.

Paaldrag knurrte laut in sehr kantigem Elfisch: „Ich bin ein Ausgestoßener des Imperiums, und in Tebaarshas Matriarchat bin ich auch nicht mehr willkommen. Auf jeden Fall bin ich kein Feind der Elfen.“

„Könnt Ihr Euch selbst verpflegen?“, wollte der Wachposten wissen.

„Ich bin Kundschafter“, rief Athónon zur Antwort. „Ihr müsst mir nur einen Weg nach draußen weisen, dann besorge ich Nahrung.“

Die Wache schwieg; vermutlich dachte der Elf angestrengt nach. Schließlich rief er: „Die brauchbaren Wege nach draußen haben wir an die Schlangenblüter verloren. Der Wachhabende an der Barrikade soll die Entscheidung treffen, ob ihr in die Stadt dürft. Geht vor.“

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415Etwas verschüchtert musterte der einzelne Elf die Prozession, die ihm beim Passieren freundlich zunickte.

An der Barrikade hörten sie fast dieselbe, skeptische Frage noch einmal: „Was? Wir sollen einen Chimärier hereinlassen?“

Paaldrag wiederholte mit seinem lückenhaften Elfisch: „Ich bin kein Feind der Elfen. Ich bin ein Ausgestoßener des Imperiums, und auch ein Ausgestoßener von Tebaarshas Matriarchat.“

„Dann bist Du wohl streitsüchtig, wenn Du es Dir mit jedem verscherzt!“, rief eine andere Stimme hinter der Barrikade, die dadurch einiges Gelächter unter den Nachtelfen hervorrief.

Paaldrag knurrte verächtlich vor sich hin und kratzte sich nervös am Hals.

Hinter der Barrikade ging ein emsiges Murmeln vonstatten, doch sie blieb geschlossen.

Etwas verlegen trat Paaldrag von einem Fuß auf den anderen. „Ich werde mich zurückziehen, wenn sie nur mich nicht reinlassen wollen“, knurrte er kleinlaut.

„Also gut!“, rief da eine Stimme hinter der Barrikade. „Wir lassen Euch alle rein, aber wenn Ihr Ärger macht, werden wir mit unseren Pfeilen nicht zögern!“

„Keine Sorge“, rief Srrig und verneigte sich höflich.Die Barrikade wurde etwas weiter als sonst geöffnet,

sodass auch Paaldrag sich hindurchzwängen konnte. Einige Pfeile blieben auf ihn gerichtet, bis die Gruppe sich bereits durch den Gang Richtung Stadt entfernte.

„Wenn wir die Stadt erreicht haben, führt gleich der nächste Gang rechts in eine Gästehöhle“, berichtete Srrig.

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416 „Dort können wir ein Lager aufschlagen.“„Und wundert Euch nicht über den Rauch in einigen

Gängen zur Linken“, brummte Taren missmutig. „Die Bewohner haben teilweise eine seltsame Einstellung zur Zauberei.“

In gewisser Weise war auch Taren der Meinung, dass willkürliches Zaubern schlecht war. Doch der Grund, aus dem die Nachtelfen es nicht taten, war für sein Weltbild eine haarsträubend falsche Geschichte. Dass Magie lebendig oder sogar intelligent sein könnte, widersprach allem, was er im Tempel darüber gelernt hatte. Für ihn war die Magie ein göttliches Handwerk, zu dem nur sehr wenige Menschen fähig waren, und von diesen wenigen wiederum wendeten einige ihre Gabe ohne den notwendigen, göttlichen Segen an – eine Sünde, die schon einmal die Dämonen auf Hevas Leib gebracht hatte und es der Prophezeiung von Theb Nor zufolge auch wieder konnte. Von Mèras Bruch der Regeln wusste Taren noch nichts.

„Verräterin!“, hörte Safáydra hinter sich. Um sie herum war es völlig dunkel. Sie lag gefesselt am Boden. Auf den abermaligen Vorwurf reagierte sie gar nicht mehr.

„Du hast Dein Volk verraten“, wiederholte die fremde Stimme.

Safáydra seufzte. „Das habe ich nicht. Wir hatten einen Rückzieher gemacht. Zur Strafe musste Sundári sterben. Ich habe es Euch allen schon viel zu oft erzählt.“

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41�„Mir noch nicht“, sagte die fremde Stimme.„Wieso entzündest Du keine Fackel oder Lichtkugel,

damit ich sehen kann, wer gekommen ist, mich zu quälen?“, seufzte die Elfin. Irgendwie fühlte sie sich unwohl, doch anders, als wenn nur ein Nachtelf gekommen wäre, sie zu piesacken. Es war ein ausgesprochen seltsames Gefühl im ganzen Körper, das sie noch nie erlebt hatte.

Die Stimme tat freundlich, triefte jedoch vor Heuchelei: „Gegenfrage: Wieso hast Du dem Rat nicht verraten, was für ein Artefakt die Schlangenblüter hüten? Jetzt wirst Du es auch nicht bekommen und Dein Gefährte starb umsonst, weil der Rat soeben beschlossen hat, Dich sicherheitshalber hinzurichten, spätestens morgen früh. Sie glauben Dir nicht aufgrund Deiner Weigerung, ihnen alles zu erzählen. Wirklich schade um Dich, Du warst ein Vorzeige-Exemplar Deines Volkes. Wenigstens von außen.“

Safáydra wandte den Kopf hin und her, in der Hoffnung, irgendetwas vom Besitzer der fremden Stimme zu sehen – vergebens. „Was willst Du von mir?“, fragte sie schroff.

„Ich lasse Dich frei, dafür tust Du mir einen Gefallen“, säuselte die Stimme voll falscher Freundlichkeit.

„Und spielt sich dieser Gefallen oberhalb oder unterhalb der Gürtellinie ab?“, spottete die Elfin.

„Weder noch.“ Die Stimme blieb gelassen. „Alles, was ich von Dir will, ist der Mord an einer bestimmten anderen Elfin, den mein Verbündeter bisher nicht zustande gebracht hat. Dafür wirst Du leben. Ein fairer Tausch, musst Du zugeben.“

Safáydra schwieg betroffen. „Wieso machst Du es nicht

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41� selbst? Wieso ich? Und wer bist Du?“„Wirst Du es tun oder nicht?“, versetzte die Stimme

scharf, auf einmal ungeduldig.Safáydra verstand ganz langsam, woher ihr seltsames

Gefühl rührte. „Ich will nicht sterben“, hauchte sie, wissend, dass sie nun wirklich zu einer Verräterin wurde – zu einer Verräterin an allen Sterblichen.

Mit einem Ruck wachte sie auf. Die zwei Elfen, die vor der winzigen Felsnische gestanden hatten, in der Safáydra gefangen gehalten worden war, sanken stumm zu Boden. Ein anderer Elf mit einem Tuch vor dem Mund hatte ihnen die Kehlen durchgeschnitten und starrte Safáydra nun mit kalten Augen auf den Körper. „Umdrehen!“, befahl er leise.

Safáydra funkelte ihn voll hilfloser Wut an. „Du Mensch!“, beschimpfte sie ihn giftig.

Der Elf knurrte: „Willst Du lieber gefesselt fliehen? Dreh Dich um.“

Safáydra gehorchte zögernd, schluckte aber schwer, als sie den Fremden in ihrem Rücken hörte und seinen Atem in ihrem Nacken spürte.

Nachdem der Fremde ihre Fesseln durchschnitten hatte, flüsterte er: „Die Elfin, die Du töten sollst, findest Du in der Gästehöhle. Sie ist blond mit grauen Strähnen. Sie selbst ist sehr schwach, aber ihre Gefährten sind gefährlich. Du musst listenreich vorgehen. So, damit habe ich meinen Teil abgearbeitet. Viel Erfolg. Oh, ich sollte Dir sagen, wenn Du Deine Aufgabe nicht erfüllst, werden sämtliche Elfen dieser Stadt erfahren, wo Du bist und dass Du diese Wachen getötet hast.“

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41�Bevor Safáydra etwas fragen konnte, verschwand der Elf lautlos. Seine Stimme ist es nicht gewesen, die sie im Traum gehört hatte. Safáydra ließ die Speere der Wachen achtlos liegen, steckte sich aber einen ihrer Kupferdolche in den Gürtel. Sie zerrte und stopfte die zwei Leichen so weit in die Nische, wie sie hineinpassten. Doch wenn jemand hier vorbeikam, würde er sie sofort bemerken.

Safáydra umwanderte die Mitte der Stadt mit den Häusern der Ratsmitglieder, tat ansonsten aber völlig sorglos und marschierte ganz natürlich, um den Bewohnern nicht aufzufallen. Wenn sie Glück hatte, wussten die meisten Elfen noch nichts von ihrem Verrat, und bis die toten Wachen gefunden wurden, konnte durchaus noch etwas Zeit vergehen.

Glücklicherweise hatte Velýthoel ihre Beinwunde mit einem weiteren Zauber geheilt; der alte Elf war schon seit langem in sie verliebt, aber sie konnte ihn nicht leiden und ließ ihn im Ungewissen. „Dass er für die Heilung mein Bein hatte berühren und mir dabei zwischen die Schenkel hatte stieren dürfen, betrachtet der Narr als großen Gefallen meinerseits“, lachte Safáydra in sich hinein.

Schweißperlen rannen ihre Stirn hinab. Ihre Hände zitterten, wenn sie versuchte, sie still zu halten. Sie hatte nicht den Mut aufgebracht, ihre Stadt zu verraten, und dafür hätte sie keinen einzigen Elfen persönlich verletzen müssen. Nun sollte sie eine Wehrlose ermorden und deren Freunde täuschen, vielleicht sogar ebenfalls töten. Sie konnte die Tränen der Verzweiflung kaum zurückhalten und musste sich immer wieder mit dem Ärmel über das

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420 Gesicht wischen. Ihre Füße stießen aus Unachtsamkeit an Steine und Kanten.

Eine von Taffis Lichtkugeln schwebte in der Mitte der Gästehöhle und spendete mildes, rauchloses Licht.

Laura saß allein in einer dunkleren Ecke. Melek hatte sich um sie kümmern wollen, doch sie hatte ihn kalt abgewiesen; er war ihr von vornherein unsympathisch gewesen.

Auch Melek saß deshalb allein in einer Ecke der Gästehöhle, doch anders als bei Laura lag es bei ihm daran, dass niemand ihn mochte – scheinbar grundlos.

Paaldrag und Brommil erzählten sich mit gedämpften Stimmen von Kämpfen, die sie schon überlebt und gewonnen hatten.

Srrig saß bei Mèra, die inzwischen schon eine Weile wach blieb. Die beiden unterhielten sich in einer fremden Sprache, die keiner der Anwesenden sonst verstand. Die Mienen der beiden wechselten mal zu großer Sorge, mal zu einem dezenten Lächeln. Doch auch ohne ihre uralte Sprache zu kennen, sah man ihnen an, dass sie große Vertrautheit füreinander empfanden, wenn Srrig ihr beiläufig durchs Haar strich und sie ihrerseits das Fell seiner Hand streichelte.

Taren und Athónon standen am Eingang der Gästehöhle und ließen den Blick über die Stadt schweifen. Auch Taffi war bei ihnen, auf Athónons Schultern, und schnupperte mit hoch gerecktem Kopf.

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421Taren wandte sich an Athónon: „Ich erinnere mich dunkel daran, dass vor über zwanzig Jahren in meiner Heimat Silberberg mal ein großer Tempelkrieger namens Cesius mit einem Gnom reiste; das wart aber nicht Ihr, oder?“

„Doch“, nickte Athónon.„Was wurde aus Cesius? Ich hörte Gerüchte, sein selbst

aufgezogenes Schlachtross soll als Fohlen schon äußerst lange Schenkel und einen stolzen, geraden Hals gehabt haben, aber dennoch sei es als erwachsenes Pferd nicht schnell genug galoppiert: Beide seien vor langer Zeit schon in der Fremde gefallen, heißt es. Wenn Ihr jetzt allein hier seid ...“

„Ich musste Cesius begraben“, raunte Athónon mit seiner steinernen Miene. „Sein Schlachtross verließ ihn sogar schon früher.“

„Das tut mir leid“, brummte Taren. Beide schwiegen eine Weile. Athónon sah dem Menschen sofort an, dass er gern diese Geschichte gehört hätte, doch Taren fragte nicht. Er respektierte Athónons Schweigen darüber.

„Ist Euch aufgefallen, dass die Elfen hier alle schwarzhaarig sind?“, fragte Taren zögerlich und beobachtete Athónons Reaktion.

„Es sind alles Nachtelfen. Sie machen ein Geheimnis daraus, aber ich nehme an, Ihr könnt damit umgehen. Die Nachtelfen ...“, schilderte Athónon, wurde von Taren aber unterbrochen.

„Sie sind ein verfluchtes Volk, das die Sonne nicht verträgt, ich weiß“, presste der Mensch hervor.

Athónon zog eine Augenbraue hoch. „Nein, sie sind ein

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422 gesegnetes Volk, welches dämonische Kreaturen mit bloßen Händen töten kann. Ihre Empfindlichkeit gegenüber der Sonne ist der Preis für diese Gabe.“

Taren starrte den Gnom mit offenem Mund an. „Woher wisst Ihr das denn?“, fragte er überrumpelt.

„Ich hatte schon öfter mit ihnen zu tun. Eine von ihnen kannte ich zwanzig Jahre.“ Athónons Gesicht bewegte sich kaum, nach nur einer minimalen Pause redete er weiter. „Viele Nachtelfen wissen selbst nicht, was sie können, aber manche schon. Sie sind lebende Waffen im großen Plan der Götter.“

„Ihr scheint wirklich ein weitgereister Mann zu sein“, raunte Taren anerkennend. „Wart Ihr oft in Silberberg?“

„Ich lebte eine Weile dort. Ist schon lange her“, antwortete Athónon, kurz angebunden wie immer.

„Ihr solltet es bald noch mal besuchen, bevor die Chimärier es in Schutt und Asche legen“, knurrte Taren verbittert. Seine Augen glommen kalt vor Wut.

Athónon blickte zu dem Krieger empor. „Glaubt Ihr nicht, dass die Mauern und die Bastionen im Umland halten werden?“

Taren erwiderte den Blick nicht und brummte nur resigniert: „Mit jedem Mal, das die Stadt wieder angegriffen wird, steht die gleiche, aufgestockte Zahl Chimärier immer weniger Menschen gegenüber. Und die Menschen, die da sind, haben jedes Mal etwas leisere Stimmen und etwas traurigere Augen. Silberberg wird zermürbt. Ich weiß nicht, warum das Imperium keinen einzelnen, entschiedenen Schlag führt; auf irgendetwas warten sie ... Viele Narren suchen ihr Heil im Osten, anstatt die

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423Grenze zu verteidigen, weil sie glauben, die Chimärier werden irgendwann nicht mehr nachkommen. Doch wenn Silberberg fällt, gibt es für viele Tagesreisen keine größere Stadt mehr. Sie werden sich wie eine Sintflut ins Land ergießen, und ihr Eroberungsdrang wird die letzten Ecken der freien Menschenlande auch noch überfluten. Die nördlich von Silberberg gelegene, einst reiche Stadt Ammegorn besteht zum großen Teil nur noch aus Bettlern, Armen und Soldaten, während die Reichen fliehen. Ihre Geschäfte basieren auf dem Handel mit Silberberg, doch dieser Handel kommt inzwischen mehr und mehr zum Erliegen. Ganz Silberberg ist wie ein schweigendes, kaltes Grab. Viele Häuser stehen leer. Die Barden spielen Trauerlieder, selten etwas Fröhliches. Die Stimmung der Stadtsoldaten ist überaus feindselig gegenüber allen, die nicht kämpfen können. Es ist schon beinahe kein Ort mehr, der seine Verteidigung wert ist, wäre er nicht von strategischer Bedeutung. Wenn Silberberg fällt, gibt es für Dutzende von Tagesmärschen keine vergleichbare Bastion mehr; das Land ist zu flach, dort baut niemand Dörfer oder gar Städte. Das Imperium könnte sich nach Silberberg so tief ins Land fressen, dass wir es niemals wieder loswerden könnten. Außerdem wären dann die Elfen im Norden und die Tigermenschen im Süden jeweils isoliert, das Imperium könnte sie nacheinander vernichten; selbst angreifen bräuchten diese Völker die Chimärier dann auch nicht mehr, das wäre sinnlos. Dafür wäre jetzt der letzte Zeitpunkt, doch diese Narren lassen ihn verstreichen. Sie verleugnen die Gefahr, weil es ihnen viel zu weit weg erscheint.“

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424 Athónon schwieg. Er verschwieg, dass nun zusätzlich zu den Chimäriern möglicherweise noch eine handfeste Bedrohung durch die Dämonen hinzukam, die bisher keinen direkten Einfluss hatten. Hevas Leib stand zum zweiten Mal in Athónons Lebensspanne am Abgrund.

Einmal hatten Athónon und seine Gefährten bereits ihren Teil dazu beigetragen, die Dämonen zurückzuschlagen. Doch der Preis dafür war die Ausbreitung der Chimärier gewesen. Was wäre diesmal der Preis, sollten die Diener der Götter überhaupt Erfolg haben? Es musste einen Preis für den Erfolg geben. Denn wenn Athónon eins über die Welt der Götter gelernt hatte, dann, dass alles Gute immer eine Kehrseite hatte, ob man sie nun freiwillig sehen wollte oder nicht.

Srrig trat an Taren und Athónon heran. „Ich werde versuchen, Waffen, Rüstungen oder wenigstens Kleidung aufzutreiben.“ Srrig trug nach wie vor nichts als einen Lendenschurz. „Mèra schläft. Ich werde mich beeilen, zurückzukommen, aber ich habe keine Ahnung, wie lange ich brauche.“

Taren nickte und brummte: „Viel Glück.“Taffi sprang von Athónons auf Srrigs Schulter und

quietschte: „Au ja, sehen wir uns die Stadt an!“

Mèra war wieder in ihrem Traumland am Meer, allein mit Cerýllion. Hier vergaß sie Srrig und alles war anders: Alles war wie früher, wie vor dem Krieg, vor dem Ende des Glorreichen Zeitalters. Es war so, wie sie es sich gewünscht hätte.

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425Doch plötzlich wollte Cerýllion sie nicht mehr umarmen, er ging fort – zu einer anderen Elfin. Die beiden küssten sich gierig und rissen sich vor Mèras Nase die Kleider vom Leib. Eifersüchtig starrte Mèra die schwarzhaarige Feindin an, die besser gebaut und jünger war als sie.

Mit brennenden Tränen rief Mèra: „Du hast gesagt, wir zwei allein würden hier glücklich werden! Du hast gesagt, nur jemand meines Alters könnte mich verstehen – gilt das nicht auch umgekehrt? Was willst Du mit diesem Kind, noch nicht mal ein einziges Jahrhundert alt? Wie kannst Du mir das antun? Du gemeiner Lügner!“

Cerýllion reagierte gar nicht auf ihre Worte, sondern glitt mit der Zunge an ihrer Konkurrentin hinab. Diese starrte Mèra wissend an, mit dem sicheren, bösartigen Triumph in den Augen.

„Nein! Das ist mein Traumland! Ich gebe nicht einfach auf!“, schrie Mèra verzweifelt.

Sie lief auf Cerýllion zu und packte ihn mit beiden Händen am Arm. „Komm zurück zu mir!“, flehte sie.

Während Cerýllion sie angewidert anstarrte und sich losriss, zog Mèras Feindin einen Dolch.

„Er gehört mir!“, zischte die Feindin und stach zu.Mèra schreckte mit einem kläglichen Schrei auf.

Athónon und Taren wirbelten gleichzeitig herum, auch die anderen Anwesenden blickten zu der Elfin.

„Bleib am Eingang“, rief Athónon über die Schulter zu Taren und eilte an Mèras Seite. Fragend musterte er sie.

Mèra hatte Mühe, ihren Atem zu beruhigen. Zu Athónon raunte sie: „Ich träumte von einer Nachtelfin, die ... Es war nur ein Albtraum, es ist nichts. Nur mein

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426 schlechtes Gewissen in Bezug auf dieses Volk, bei dem wir jetzt zu Gast sind. Oder war es doch eine kurze Vision der Zukunft?“

Athónon erwiderte mit beruhigender und sanfter Stimme: „Euer gutes Herz spricht für Euch. Aber es kann Euch hier nichts passieren, mit so vielen Wachen.“ Ein Mundwinkel zuckte fast nach oben.

Mèra lächelte dankbar und legte den Kopf wieder auf ihren Rucksack, den sie als Kissen verwendete. Sie schloss die Augen, um weiterzuschlafen.

Dann riss sie die Augen schlagartig wieder auf. „Das ist sie!“, keuchte sie und richtete sich mühsam auf.

Am Eingang bei Taren stand Safáydra und redete mit dem Menschen, den sie schon kannte.

Sie hat Dich erkannt, Du Närrin! Versagerin! Aber gut, ich werde Dich noch einmal da herausholen, vorausgesetzt, Du tötest sie auch! Los, renn auf sie zu und stich sie ab, solange alle anderen noch herumsitzen!

Safáydra hörte mitten im Satz zu reden auf und starrte Taren nur mit offenem Mund an.

„Was ist? Sprich weiter, was wolltest Du uns fragen?“, redete Taren auf sie ein.

Sie sprengte in die Höhle und zog im Rennen den Dolch.

Mèra zerrte sich am Fels hoch, während Athónon grimmig vor sie trat und das magische Kurzschwert zog.

Safáydra spürte, dass etwas aus der Gnomenwaffe ihren Geist umnebelte, doch sie wischte es fort wie Spinnweben aus dem Gesicht. Sie stach mit dem Dolch nach Athónons

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42�Augen, so plötzlich, dass der Gnom gerade noch die Klinge hochreißen und den Kopf zur Seite ziehen konnte. Sein Arm befand sich nun fast ausgestreckt vor Safáydra – exakt so, wie sie drauf gewartet hatte. Nur mit der Linken agierend, packte die Nachtelfin Athónons Handgelenk und rammte den Gnom Ellbogen an Ellbogen, was seinen Arm knackend überstreckte. Athónon schrie unterdrückt und verlor die Waffe. Safáydra stellte ihr langes Bein hinter den Gnom und zog ihn rückwärts. Während er über ihr Bein fortstolperte, stach Safáydra nach Mèra, die mit dem Rücken an der Wand lehnte.

Mèra hielt kraftlos ihren Arm von innen an Safáydras Handgelenk und lenkte den Stich an sich vorbei. Die Nachtelfin wollte verärgert nachsetzen und zu Mèras Kehle stechen, doch beider Handgelenke schienen förmlich aneinanderzukleben. Wohin Safáydra den Dolch auch bewegte, Mèras Handgelenk war im Weg. Es gelang Safáydra auch nicht, durch Zurückziehen der Hand die Waffe zu befreien, denn auch diese Bewegung machte Mèra ohne Verzögerung mit.

Dann war Paaldrag bei ihr, der Mèra am nächsten gesessen hatte – ein riesiger, schneller Schatten in Safáydras Augenwinkel. Ihr Kopf ruckte entsetzt zur Seite. Paaldrag trat ihr mit solcher Wucht vor die Brust, dass sie ohne Schrei an die gegenüberliegende Felswand knallte, wo sie mit dem Hinterkopf einen Blutfleck verspritzte. Leblos rutschte sie zu Boden. Ein Blutschwall floss aus ihrem Mund, als sie zum Liegen kam und ein letztes Mal im ganzen Körper zuckte. An Paaldrags Bein hatte ihr Dolch kaum mehr als einen Kratzer hinterlassen.

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42� „Danke“, hauchte Mèra, starrte dabei jedoch die Tote mit undeutbarer Miene an.

Athónon setzte sich neben Mèra an die Wand und keuchte: „Mein Arm ist gebrochen. Ich denke, ich kann ihn heilen, aber es wird etwas dauern.“

Taren ging zum Eingang zurück. Von dort sagte er: „Sie war sowieso eine Verräterin an ihrem Volk. Angeblich war sie freigesprochen worden, aber ich hatte ihr das nicht geglaubt. Sicher ist sie geflohen. Ich frage mich nur, warum sie Mèra angreifen wollte.“

„Es sind schon zuvor zwei Gruppen von Kopfgeldjägern auf mich losgegangen, seit wir unsere Reise antraten“, schilderte Mèra knapp. Ihren Verdacht – Cerýllion – verschwieg sie.

Laura und Melek setzten sich wieder in ihre Ecken, aus denen sie zuvor aufgesprungen waren. Meleks Aufmerksamkeit lag bereits wieder bei Laura.

Paaldrag brummte in Tarens Richtung: „Ich nehme an, es wird seltsam aussehen, wenn ich mit einer toten Elfin durch die Stadt ziehe, ob Verräterin oder nicht. Ich schlage vor, ich löse Dich beim Eingang ab und Du bringst die Leiche weg, wohin auch immer die Bewohner es für angebracht halten.“

Taren blickte die anderen an. „Sind alle damit einverstanden?“, fragte er.

Laura starrte furchtsam auf den Chimärier, aber Brommil rief: „Na klar, wieso denn nicht?“

Melek schwieg demonstrativ und Athónon war bereits in seinen Zauber versunken.

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42�Taren blickte Mèra fragend an. Als sie vorsichtig nickte, sagte Taren: „Also gut. Ich bringe die Leiche weg.“

Paaldrag neigte den Kopf mit gepresster Miene. Kaum ein Niederer verstand die feinen Bewegungen im Gesicht eines Chimäriers zu deuten; beinahe, aber nur beinahe, hätte er seinen Dank für das Vertrauen ausgesprochen. Er wusste, wie tief Furcht und Hass gegenüber Chimäriern bei den anderen Völkern saßen.

Mèra bettete sich abermals zur Ruhe und schlief rasch ein, trotz des Mordversuches an ihr.

„Ich bin so stolz auf Dich, meine Liebe! Diese Hexe und Volksverräterin hatte mich tatsächlich mit einem Zauber belegt, aber Du hast sie besiegt. Jetzt kann uns nichts mehr trennen, meine Geliebte!“

Cerýllion wollte Mèra umarmen und küssen, doch sie wich von ihm zurück. „Was hast Du vor?“, flüsterte Mèra, „Du kannst nicht ernsthaft glauben, ich falle auf eine so plumpe Lüge herein. Du hast die Nachtelfin auf mich gehetzt, nicht wahr? Wolltest Du, dass ich sterbe, oder dass sie stirbt? Ich kenne Dich, vergiss das nicht. Vermutlich wäre Dir beides recht gewesen, Du konntest nur gewinnen, nehme ich an. Wie viel Einfluss hattest Du auf meine Vision von ihr?“

Cerýllion starrte Mèra wütend an. „Ich war das nicht!“, rief er wahrheitsgemäß, auch wenn er den Rest der Geschichte wohlweislich verschwieg.

Siegessicher lächelte die Elfin und schüttelte den Kopf. „Beinahe hätte Dein Zauber funktioniert und Du hättest mich wieder um den Finger gewickelt. Beinahe wäre ich bereit gewesen, mich allein fortzustehlen, um Dich zu suchen

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430 – und in den Tod oder in die Gefangenschaft zu tappen, nehme ich an. Doch diesmal hast Du zu hoch gepokert. Kriech zurück zu Deinem Freund Schattenwacht! Und was es mit dieser armen Nachtelfin auf sich hatte, werde ich auch noch herausfinden.“

„Ich frage mich wirklich, was Du Dir dabei gedacht hast“, murmelte Taren, während er im Gehen Safáydras totes Gesicht betrachtete.

Einige Nachtelfen liefen schreiend davon, als sie den breitschultrigen, „haarigen Barbaren“ mit der toten Elfin sahen. Etliche Wachen kamen angerannt und spannten in sicherer Entfernung ihre Bögen. Ein Nachtelf trat hervor, der einen durch blaue Bändchen und gestickte Ornamente verzierten Lederpanzer trug. Er legte seine Hand auf seinen Schwertgriff am Gürtel und fragte laut in elfischer Sprache: „Was ist geschehen?“

Taren antwortete ruhig: „Sie griff eine Gefährtin aus dem Nichts an. Sie ist Safáydra, jene Verräterin an Euch, die gemeinsame Sache mit den Schlangenblütern gemacht hatte.“

Der Nachtelf kam näher, bis er Safáydras Gesicht erkannte. „Sie ist ihrem Gefängnis entkommen und hat zwei Wachen getötet. Außerdem wäre sie bald sowieso hingerichtet worden. Aber könnt Ihr mir vielleicht noch erklären, warum sie Euch hätte angreifen sollen?“

„Ich weiß es wirklich nicht“, erwiderte Taren und schüttelte leicht den Kopf.

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431„Nun gut“, brummte der Nachtelf und winkte mit zwei Fingern zwei andere Nachtelfen zu sich. Per Handzeichen befahl er ihnen, Safáydras Leiche fortzubringen.

„Ich entschuldige mich für diese Unannehmlichkeit“, sagte der Nachtelf hochnäsig und verneigte sich knapp. „Können wir vielleicht etwas für Euch tun?“, fragte er mit distanzierter Höflichkeit.

„Allerdings“, lächelte Taren. „Meine Gefährten und ich sind so gut wie unbewaffnet, jedoch haben wir vor, einen Gefährten aus Harkýior zu befreien ...“

Der Nachtelf musterte Taren, ohne eine Miene zu verziehen. Geringschätzig erklärte er dann: „An Eurer Lebensmüdigkeit kann ich auch nichts ändern, aber meinetwegen lasse ich Euch einige Waffen, die wir entbehren können, in die Gästehöhle bringen. Nun gehabt Euch wohl.“

Achselzuckend kehrte Taren darauf zu den Gefährten zurück.

„Ich kann nicht glauben, dass Du das tust!“, rief Taffi und rannte auf Srrigs breiten Schultern hin und her.

„Wieso? Das ist eine Aufgabe, die ich schnell und leicht bewältigen kann, und dafür komme ich an mein Ziel. Also tue ich es. Stolz ist eine Ausrede der Schwachen.“

Gut gelaunt, mit einem Summen auf den Lippen, fuhr Srrig fort – den Boden der kleinen Taverne zu fegen, die momentan noch für Gäste geschlossen war.

„Du weißt nicht mal, ob Dir die Kutte des Elfen passen

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432 wird. Sicher wird sie Dir zu eng um den Rücken und zu kurz an den Beinen sein!“, zeterte Taffi.

„Dann mache ich sie nicht ganz zu“, meinte Srrig beiläufig und fegte weiter.

„In derselben Zeit könntest Du Dich um eine Waffe kümmern! Wer weiß, was in diesem Moment bei der Gästehöhle passiert! Ich traue diesem Melek nicht“, wetterte Taffi weiter.

„Ich traue ihm auch nicht“, bestätigte Srrig, für einen kurzen Moment wurde seine Miene düster. „Und ich traue auch sonst niemandem außer Mèra. Aber ich halte zumindest Taren, Athónon und Laura für gute Wesen. Nur bei Brommil und Paaldrag bin ich mir noch nicht sicher.“

„Da haben wir es!“, fiepte Taffi, „stell Dir vor, Paaldrag, Brommil und Melek stellen sich gegen die anderen, während Du hier die Taverne fegst!“

„Dafür gibt es keinen sinnvollen Grund“, raunte Srrig gepresst – und fegte schneller.

„Deine Erfahrung und Deine Kraft haben Dich sorglos gemacht, aber jetzt musst Du auf eine schwache Mèra achtgeben und auf Sterbliche Rücksicht nehmen, vergiss das nicht!“, sagte Taffi leise.

Srrig grinste amüsiert. „Was würde ich nur ohne Dich machen, Taffi?“, lachte er mit einem ganz leichten Spott in der Stimme.

„Tavernen fegen, nehme ich an“, erwiderte Taffi etwas gekränkt.

Srrig öffnete die Tavernentür und kehrte den Staubhaufen nach draußen. „Ich weiß Deine Sorge zu

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433schätzen, mein Freund. Aber ich laufe auch nicht gern halb nackt herum, und so lange hat es nun wirklich nicht gedauert, diese Kutte zu bekommen.“

Der Tigermann schloss gerade die Tavernentür wieder, als ein faltiger, gebeugter Nachtelf mit grau-schwarzem Haar aus einem Nebenraum herbeihumpelte. „Hier ist die Kutte“, krächzte er mit einer sehr alten Stimme.

Srrig bedankte sich höflich und streifte die blaue Kutte über. Sie war in der Tat zu eng um die Brust und zu kurz an den Beinen, doch Srrig ließ sein weißes Brustfell herausgucken und fand es nicht schlimm, dass ihm der Stoff nur bis zum Knie reichte. „Eine goldene Kordel zum Zubinden, so ein Zufall“, raunte er mit einem dünnen Lächeln.

„Mein König? Die Königin der Elfen und ihr Gemahl sind eingetroffen. Sie erwarten Euch im Thronsaal, Herr“, verkündete ein junger Tigermann und verneigte sich tief vor Srrig.

„Fein. Gehen wir. Danke für das gedeihliche Üben!“, rief Srrig einigen breitschultrigen Tigermännern in bunten Roben zu, die schnaufend und keuchend um ihn herumstanden, auf ihre Holzwaffen gestützt. Auch ihre Kordeln waren allesamt golden, genau wie die von Srrig, der eine weiße Robe dazu trug.

Srrig spazierte gut gelaunt aus dem Übungsraum und schwang seinen beinlangen Eichenstock locker in der Hand, bis ein Diener ihm die Waffe mit einer Verbeugung abnahm.

„Teuerste Mèra!“, rief Srrig schon von Weitem freudig. Die Elfin war ihm entgegenspaziert, ihr buntes Kleid schillerte magisch wie ein leuchtender Regenbogen. Sie trafen sich in

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434 der Mitte des prunkvollen Saales, wo sie von Marmorsäulen flankiert wurden. Dort standen sie auf einem türkisfarbenen Mosaik und umarmten sich herzlich. Eine goldene, majestätische Abendsonne durchflutete die Halle. Hinter Mèra stolzierte ein weißhaariger Elf mit roten Augen und umarmte Srrig ebenfalls, allerdings distanzierter, falscher. „Cerýllion“, sagte Srrig höflich und lächelte professionell. Bei offiziellen Treffen konnte er sich mit Mèra kaum unterhalten, und bei inoffiziellen Treffen wie diesem kam sie nicht allein, ärgerte er sich still.

„Nun, was macht die Politik?“, fragte Mèra mit einem spöttischen Blitzen in den Augen. „Du weißt ja, wir Elfen verstehen davon nichts.“

„Oh, ich habe die Nachrichten heute auch noch nicht gehört. Meine Söhne erzählen mir sonst stets die Neuigkeiten, aber die sind im Moment mit ihrer Schule unterwegs. Also sehen wir zur Abwechslung mal selbst nach! Setzt Euch doch, meine Freunde.“ Srrig lud sie ein, sich auf eine riesige Marmorbank mit ebenso riesigen, purpurfarbenen Kissen zu legen. Er nahm eine kleine Marmortafel zur Hand, auf der verschiedene Edelsteine eingelassen waren. Srrig berührte den obersten, und aus dem Nichts erschien vor der Marmorbank ein silbrig schimmerndes, quadratisches Feld. In ihrer Kultur war dies nichts Ungewöhnliches mehr, zumal große Ereignisse sich anbahnten ...

„So viel Magie in einem Raum soll ja das Gedächtnis beschädigen, hörte ich“, murmelte Srrig beiläufig.

„Dann wären wir Elfen alle schon geistlose Zombies geworden“, lachte Mèra.

Auf der schimmernden Silberfläche erschien das Gesicht

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435eines Tigermannes, der eine Schriftrolle vor sich hielt und daraus vorlas. „Der Kanzler des Äußeren Volkes hat erklären lassen, er ließe sich nicht damit abspeisen, auf irgendeiner Insel am Rande von Hevas Leib einquartiert zu werden. Er beansprucht nach wie vor große Territorien an der Ostküste. Er begründet seinen Anspruch mit der Verwandtschaft zur Götterfamilie. Diese ist jedoch noch immer damit beschäftigt, die Legitimität dieser Verbindung zu prüfen. Gerüchten aus dem Zwergenreich zufolge, sollen jedoch entsprechende Unterlagen längst von Spionen des Äußeren Volkes entwendet worden sein. Der Kanzler des Äußeren Volkes hat die Zwerge vorige Woche bereits als Kriegstreiber bezeichnet.“

Seufzend berührte Srrig denselben Edelstein noch einmal. Während die Silberfläche wieder verschwand, legte er die Marmorplatte weit weg. Gepresst blickte er Mèra und Cerýllion an. „Was wollt Ihr essen?“, fragte er unvermittelt und grinste schief.

Erst jetzt wurde Srrig bewusst, dass er schon auf halbem Wege zurück zur Gästehöhle war. „Wollte ich nicht noch eine Waffe auftreiben?“, murmelte er verärgert.

Taffi entgegnete: „Du kannst ruhig auf dem Weg mal bei Deinen Reisegefährten vorbeischauen. Wenn alles in Ordnung ist, kannst Du ja immer noch nach Waffen suchen.“

Srrig blieb abrupt stehen und starrte mit offenem Mund das Chamäleon auf seiner Schulter an. „Du hast nicht irgendeinen Zaubertrick an mir ausprobiert, oder?“

Taffi legte unschuldig den Kopf schräg und säuselte: „Ich bin doch nur ein einfaches Chamäleon, ich könnte nie einen unsterblichen Halbgott manipulieren.“

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436 Nach wie vor konnte Srrig sich nicht daran erinnern, woher oder seit wann er Taffi kannte; doch das kleine Wesen erschien ihm wie ein alter Vertrauter.

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„Dies ist das Wesender dunklen Gegenspieler der Vier Könige:

Ohne Körper, ohne eigenen Willen,Wie der Dämon des Blutdurstes in den Tigerseelen,

so kommen sie über uns.Unsichtbar, ohne Grund oder Warnung

vergiften sie die Seelen derer, die sorglos sind.“Dies soll der Hohepriester Theb Nor im Sterben gesagt haben,

nachdem angeblich einer seiner Schüler ihn vergiftet hatte

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44112

Aus den Augenwinkeln beobachtete Melek immer wieder Laura. Er hatte einen Großteil seiner Kindheit und seine gesamte Jugend an den bösen Geist Gozbad verloren. Noch nie hatte er ohne Gewalt versucht, sich einer Frau zu nähern. Sein erster Versuch, ein Mädchen seines Alters anzusprechen, war nun kläglich gescheitert – und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er das einzuordnen hatte; war es seine Schuld oder ihre?

Melek gefiel es, wie Lauras kühler, harter Schutzwall doch immer wieder bröckelte. Es erregte ihn mehr, ihre Furcht gelegentlich aufblitzen zu sehen, als die Rundungen unter ihrer Kleidung zu betrachten, oder wie der Stoff ihrer Beinlinge sich spannte, wenn sie die Knie anzog. Er stellte sich vor, wie ihre schlanken Muskeln zitterten, wenn sie sich vergeblich gegen ihn wehrte, und wie ihr Kopf in den Nacken fiel und ihren Hals und ihre Kehle entblößte; er stellte sich ihr helles Stöhnen vor, wenn –

Melek schüttelte sich unmerklich. Ressu hatte ihm mehr angetan, als sie vermutlich geahnt hatte, doch er sträubte sich gegen die Gedanken seines alten Lebens. Die Götter hatten ihm eine zweite Chance auf ein friedlicheres Leben angeboten, als sie ihn aus der Arena haben entkommen lassen, und Melek wollte diese Chance unbedingt nutzen.

Abermals erhob er sich und setzte sich ungefragt neben Laura. Ihre Augen blitzten böse, doch ansonsten reagierte sie nicht. „Erzähl mir von Deiner Heimat“, bat Melek und hielt das für einen gelungenen Anfang.

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442 Laura funkelte den Menschen nur verärgert von der Seite an, schüttelte unmerklich den Kopf und sah wieder weg. Sie hatte seine Sprache zwar ungefähr verstanden, doch ihre Gedanken waren bei ihrer Mutter und bei Wenndur.

„Wieso willst Du nicht mal mit mir reden?“, fragte Melek aufgebracht, „was mache ich, dass Dich so abstößt?“

Laura schnaufte durch die Nase und legte ihr Gesicht in eine Hand. „Geh doch einfach weg, verdammt“, zischte sie resigniert in elfischer Sprache, wohlwissend, dass Melek sie dann nicht verstand.

„Wir sind jetzt Reisegefährten, schon vergessen? Du wirst mich noch länger ertragen müssen, wieso also willst Du mein Feind sein?“, machte Melek einen weiteren Versuch, freundlich zu sein, seiner Meinung nach.

„Lass sie, Junge. Sie will allein sein“, brummte Brommil in Meleks Richtung.

Melek blickte den Zwerg an, als hätte der ihm einen Dolch in den Rücken rammen wollen. Wutschnaubend zog Melek sich in seine Ecke zurück und starrte finster vor sich hin.

„He, Melek! Das war ganz schön gemein von diesen arroganten Gestalten, was?“, raunte ihm eine Stimme zu.

Melek nickte, schielte aber gleichzeitig furchtsam zu den Seiten; niemand saß neben ihm, der ihm hätte ins Ohr flüstern können.

„Gozbad?“, dachte Melek.Nein. Ich bin Du, ich denke, was Du wirklich denken

solltest. Gib Dich nicht der Schwäche hin; Du willst doch gar nicht wirklich mit ihr reden. Sieh, wie sie Dich erniedrigt

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443und blamiert hat vor allen! Glaub nicht, dass das ein Versehen war, oh nein! Frauen machen das absichtlich, und dann tun sie unschuldig, damit Du nicht wütend auf sie sein darfst. Es sind perfide Biester! Die Schwächeren sind immer gemein, das müssen sie, um sich durchzubeißen. Doch Du bist der Mann, Du hast es nicht nötig, darauf zu reagieren. Zeig ihr, was ihr wahrer Platz in der Natur ist, sobald keine Zeugen da sind! Und wehe, Du redest noch mal so von unten herauf mit ihr und gestattest ihr, sich über Dich zu erheben!

Melek grinste teuflisch in sich hinein. Wieder schielte er zu Laura hinüber, aber diesmal hätte sein Blick ihr gar nicht gefallen.

„Hallo, Laura“, raunte Wenndur in ihr Ohr und legte einen Arm um ihre Schulter. Wie selbstverständlich, küsste er sie auf die Stirn und schaute ihr liebevoll in die Augen.

„Du bist tot! Das ist ein Traum“, dachte Laura verwirrt und bekämpfte mit aller Kraft den Impuls, dem Barden in die Arme zu stürzen.

„Ja, ich bin tot, aber Du träumst nicht, ich bin es wirklich. Meine Seele kann keine Ruhe finden, bis ich Dir erzählt habe, was wirklich in der Höhle mit Deiner Mutter geschehen ist. Hast Du das Blut auf Athónons Gesicht gesehen, als Du nach dem Kampf wieder erwacht bist? Es war das Blut Deiner Mutter! Athónon hat sie erschlagen. Er dachte, sie sei dämonisch besessen gewesen, als sie plötzlich zu sich kam, doch er hat sich geirrt. Laura, Athónon hat Deine Mutter ermordet! Er würde das freilich nie zugeben, so wenig wie Mèra, aber glaube mir, so war es. Ich liebe Dich, Laura, wieso sollte ich Dich anlügen?“

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444 Mit diesen Worten verblasste Wenndurs Vision. Laura hatte das Gesicht in den Händen vergraben und die Knie angezogen. Plötzlich sprang sie auf und rannte schluchzend aus der Höhle. Ihren Gürtel mit dem Kurzschwert, den sie zuvor abgeschnallt hatte, ließ sie zurück.

„He, wo willst Du hin?“, rief Taren ihr stutzig nach.Melek sprang auf, klopfte Taren auf die Schulter

und meinte: „Ich hole sie schon zurück, halte Du weiter Wache.“

Während Melek der Halbelfin nachrannte, tastete er nach dem Bronzedolch auf seinem Rücken, den er aus Paaldrags Rucksack gestohlen hatte.

Athónon und Mèra hatten von all dem nichts mitbekommen; Athónon war noch immer in die Heilung seines Armes versunken, während Mèra tief und ruhig schlief.

Laura lief nach knapp dreißig Metern in den nächsten Seitengang hinein und sank nach wenigen Schritten schluchzend an der Wand herab. „Das darf nicht sein!“, flehte sie, „das ist ein Irrtum!“ Sie raufte sich wütend und verzweifelt die kurzen Locken.

Dann hörte sie Schritte auf sich zurennen und blickte hoch. Der Gang war dunkel. Von der Haupthöhle drang Licht hinein; Laura erkannte Meleks schlanke Umrisse sofort.

„Du schon wieder“, zischte sie kalt auf Elfisch und wollte Melek anschreien. Da sah sie den Dolch in seiner

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445Faust und erstarrte. Ihre Wut erlosch wie Feuer unter einem plötzlichen, eisigen Wasserschwall.

Melek kam ohne Umschweife zur Sache und knurrte: „Du bist eine Frau und halbe Elfin, ich war Gladiator in der Arena; welche Chance glaubst Du zu haben? Zieh Dich aus. Und wehe, Du schreist.“ Er grinste böse, wohlwissend, dass sie sich nie kampflos ergeben würde; er wollte sie nicht einfach niederschlagen. Er wollte, dass sie wimmerte und bettelte.

Bebend vor Hass und Angst richtete Laura sich auf. Das Wichtigste der Menschensprache hatte sie verstanden. Seinen Ton hatte sie verstanden. „Niemals!“, zischte sie mit brechender Stimme. Wut und Stolz kochten so wild in ihr, dass sie glaubte, zu verbrennen.

„Das wird Dir leidtun“, behauptete Melek überzeugt und ließ den Dolch so schnell und so weit vorzucken, dass er Laura den Bauch aufgeschlitzt hätte – wäre dort nicht das Kettenhemd unter ihrer Tunika gewesen. So schnitt Melek nur den Leinenstoff entzwei und kratzte über das Eisen.

„Der nächste Schnitt trifft auch, aber aber ins Gesicht. Also, wenn Du Deine Schönheit behalten willst ...“, drohte Melek ihr mit einem bösen Lächeln. Ließ seine Dolchspitze vor ihrem Kopf kleine, bedrohliche Kreise ziehen.

Laura starrte Melek für einen Moment fassungslos an. Inzwischen registrierte sie kaum noch bewusst, wie ihr Körper auf die Gefahr reagierte. Sie trat mit dem Fuß ansatzlos gegen Meleks Waffenarm und grinste, weil sie traf – doch Melek grinste ebenfalls, weil der Treffer keinerlei Wirkung zeigte.

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446 „Du musst schon genau treffen, wenn Du willst, dass die Finger sich öffnen“, belehrte er sie höhnisch. Er brachte den Dolch wieder drohend in Position, direkt vor Lauras Gesicht. Melek machte sich sprungbereit. Lauernd funkelte er sie an, während sie nur etwas eingeschüchtert auf die Klinge starren konnte. Unbewusst hob sie die Arme, als wollte sie sich ergeben. Innerlich war sie keineswegs zur Aufgabe bereit. Sie wartete auf eine Möglichkeit, Melek zu entwaffnen und furchtbar zu verprügeln. Schließlich war dies nur ein einzelner Junge ihres Alters, kein breitschultriger Räuber mit Bogen oder Speer, und sie, Laura, war immerhin in der Dorfwache die Beste ihres Jahrgangs gewesen.

„Ich biete Dir noch eine letzte Chance!“, knurrte Melek siegessicher. Er wusste, dass Laura seine Sprache vielleicht gar nicht richtig verstand; andererseits waren die Worte nicht wichtig: Es war der Ton, der Laura treffen sollte. „Ergib Dich lieber freiwillig. Ich habe über zehn Jahre lang alle Mädchen bekommen, die ich wollte! Ich kenne alle Tricks.“

Laura blickte nervös über Melek hinweg zum Eingang und sofort zurück zu ihm. Als hätte sie dort jemanden gesehen, den sie nicht verraten wollte.

Melek schielte kurz über die Schulter, um sicherzugehen, dass er unbeobachtet war. Lauras Arme schossen wie Schlangen vor und griffen nach dem Dolch. Er hatte damit gerechnet, und als Melek die Klinge ruckartig wegzog, drehte er sie mit den Schneiden zur Seite. Laura zuckte, fluchte gequält und zog blitzschnell die Hände zurück.

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44�Ihre zerschnittenen Finger bluteten stark; rote Tropfen, dick wie Kirschen fielen zu Boden.

„Schluss jetzt damit!“, grollte Melek und packte Laura unvermittelt am Arm. Den Dolch hielt er ihr vors Gesicht. Laura ließ sich davon allerdings nicht einschüchtern und packte ihrerseits Meleks Dolchhand. Beide rangen miteinander, drückten und schoben sich und knurrten sich giftig an. Lauras Blut lief aus ihren Fingern Meleks Arme entlang.

Melek hatte gedacht, er müsste nur fest zudrücken und sie würde aufgeben. Er hatte ihre Kraft unterschätzt. Laura umgekehrt erkannte schnell, dass selbst ein dünnerer Menschenmann schon viel mehr Kraft besaß als sie.

Er drückte sie schließlich mit einem Ruck an die Wand und kam mit seinem triumphierenden Gesicht nah an ihres. Sie spuckte ihn an und riss das Knie hoch – Melek sprang gerade noch rechtzeitig vor ihrem Angriff zurück. Doch sofort stieß er pfeilschnell wieder vor und wirbelte scheinbar unkontrolliert mit dem Dolch herum, er trieb Laura vor sich her. Sie erhielt mehrere tiefe Schnitte an den Unterarmen, die sie schützend vor sich hielt. Hilflos hob sie die zerschnittenen Hände immer näher vor ihr Gesicht und fühlte dumpfe Schmerzen in den Armen. Genau diese Reaktion wollte Melek. Plötzlich war er so nah bei ihr, dass er ihr in den Magen trat, während sein Dolch noch immer vor ihrem Gesicht herumwirbelte.

Laura stöhnte laut und krümmte sich. Die Hände streckte sie schützend vor sich. Sie konnte sich nicht aufrichten. Schrammte und stolperte rückwärts an der kantigen Höhlenwand entlang.

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44� Melek wartete keinen Lidschlag ab, wirbelte seitlich an Lauras ausgestreckten Armen vorbei und schlang seinen freien Arm um ihren Hals. In diesem Schwitzkasten hätte er sie einfach abstechen können. Aber er wollte sie lebend.

„Bist ganz schön mutig für’n Beutetier, Dich mit mir anzulegen!“, grunzte Melek. „Ich werde Dir Deinen wahren Platz in der Natur schon zeigen!“, zitierte er Gedankengut aus seinen Jahren unter Gozbads Kontrolle.

Lauras Arme ruderten für einen Augenblick nutzlos vor Melek. Er drückte fest zu und zerrte brutal an ihrem Hals. Sie konnte kaum noch röcheln, geschweige denn atmen. Ihre Augen traten hervor und sie verkrallte sich verzweifelt in Meleks Arm. Doch sein Griff war eisern, zumal ihre eigenen Finger und Unterarme so verletzt waren, dass sie kaum noch Kraft darin hatte.

Aber um keinen Preis würde sie aufgeben. Sie sah sich zudem nicht mehr nur als Einzelschicksal; sie hatte Meleks Sprache ungefähr verstanden und konnte unmöglich zulassen, dass er mit seiner Philosophie Erfolg hatte, dass seine Vorstellung vom Leben über die ihre obsiegte. Sie musste einfach beweisen, dass sie kein Beutetier war. Allein der Begriff machte sie so rasend vor Wut und Stolz, dass sie daraus neue Kraft schöpfte. Sie sah bereits Schlieren und Sterne. Ihre Knie – sie spürte sie nicht mehr – drohten einzuknicken. Doch sie war noch lange nicht am Ende ihrer Reserven.

Sie versuchte, Melek den Ellbogen in die Rippen zu rammen, doch er schmiegte sich so eng an sie, dass sie nicht genug ausholen konnte. Sie wollte ihm mit dem

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44�Stiefel auf den Fußansatz treten, aber er wich ihren Tritten geschickt aus. Dann wollte sie ihm zwischen die Beine schlagen, doch auch das verhinderte er durch geschicktes Umsetzen der Beine.

Laura gestand sich nicht ein, dass sie einen mindestens ebenbürtigen Gegner vor sich hatte, der ihre Tricks selbst kannte und vereiteln konnte. Sie konnte es sich nicht eingestehen. Unmöglich.

Mit jeder ihrer Bewegungen wurde sie schwächer, weil sie keine Luft bekam und Melek langsam ihre Kehle zerdrückte. Ihr Genick knirschte.

Melek hielt sich bereits für den Sieger und stellte sich vor, wie es wäre, ihren Kopf zu verdrehen, um ihr das dünne Elfengenick zu brechen, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatte. Er starrte auf ihr ängstliches und verzerrtes Gesicht, das doch so zart und schön sein würde, sobald sie bewusstlos wurde. Er starrte auf ihre Locken und ihren Rücken hinab.

Der Junge drückte nicht so fest zu, wie er gekonnt hätte. Er genoss es, wie Laura litt und verzweifelt gegen ihn ankämpfte. Auch den Dolch setzte er nicht ein, obwohl es jetzt sehr leicht gewesen wäre, sie damit zu verletzen oder gar zu töten. Ihr qualvolles Röcheln und ihre kraftlosen, blutigen Finger, die sich in seinen Arm gruben, erregten ihn viel mehr.

„Gib endlich auf“, raunte er belustigt, während sie immer schwächer gegen seinen Griff ankämpfte. Er spottete mit betont deutlicher Aussprache, um sicherzugehen, dass Laura seine Worte verstand: „Die anderen Kriegerinnen

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450 konnten auch nie akzeptieren, dass die Natur Euch dem Mann untergeordnet hat. Ihr erfindet Fehler, die Männer angeblich haben, und Fähigkeiten, in denen ihr angeblich besser seid, nur um Euren Neid zu beruhigen, aber der Natur sind Eure vielen Gedanken völlig egal.“

„Nein!“, keuchte Laura und bäumte sich auf. Der Würgegriff ließ sie fast bis auf die Knie sacken, doch sie kämpfte und kämpfte. „Was weißt Du schon von der Natur?“, dachte sie und hielt ihn seines Wahnsinns für entlarvt: „Ohne Familien gäbe es längst keine Zweibeiner mehr!“

Mit schneidender, bösartiger Stimme spottete Melek weiter: „Dein Körper ist dafür gebaut, Beute und Mutter zu sein, nicht Jäger. Beute! Meine schwache Beute!“ Lüstern grunzte er: „Du wirst mich wohl die nächsten Stunden beschäftigen. Oh ja, ich denke, ich werde Dir meinen Dolch tief in den Leib rammen.“

„Du Monster!“, kreischte Laura heiser und strampelte kraftlos gegen Meleks Griff und gegen seinen zutiefst schmerzenden Spott an. So verrückt sein Weltbild war, so wenig half Laura in diesem Kampf die Erkenntnis darüber.

Schließlich wurde Melek zu ungeduldig und wollte ihr das Knie ins Gesicht rammen, wollte nicht so lange auf die Ohnmacht der zähen Kämpferin warten.

Endlich konnte Laura etwas von ihrem Kampftraining nutzen, etwas, das auch halb bewusstlos noch in Frage kam: Sie verschränkte beide Arme vor dem Gesicht, um Meleks Bein zu blocken und ließ sich nun selbst auf die

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451Knie fallen – obwohl das beängstigend an ihrem Kopf riss; Melek hielt sie schließlich noch immer im Würgegriff fest, und ihr ganzes Gewicht hing für einen Moment an ihrem Hals.

Sie ließ sich jetzt allerdings nicht mehr aufhalten und packte Meleks Ferse mit beiden Händen. Den quälenden Schmerz in den zerschnittenen Armen, im Genick und an der Kehle konnte sie durch ihre pure Wut und Todesangst ignorieren. Sie sprang hoch und zog Meleks Bein mit sich. Ein Halswirbel verrenkte sich, aber sie hatte Meleks Bein. Ihr Hass, den er selbst geschürt hatte, gab nun ihr und nicht ihm ungeahnte Kraft.

Melek hielt sich mit seinem würgenden Arm noch immer an Lauras Hals fest, musste jedoch hüpfen, um das Gleichgewicht zu behalten. Sein Dolch schwebte drohend vor ihrem Gesicht, doch hätte er sie wirklich töten wollen, hätte er das längst im Schwitzkasten getan – auch Laura wusste das und ignorierte die Klinge.

Sie war jedoch nicht schnell genug; allmählich wurden ihre Knie wieder weich und ihre Sicht trüb. Sie hatte keine Zeit mehr. Sie umklammerte Meleks Fuß nur noch mit einem Arm. Schlug ihm mit der anderen Faust ins Knie, bevor er sich befreien konnte.

Melek lachte dreckig und blieb stehen, sein Bein war zu stark für ihren schwachen Schlag mit dem verletzten Arm.

Dann nutzte sie seine unvorsichtige Überheblichkeit des Augenblickes – und trat ihm mit aller Gewalt zwischen die Beine. Und traf.

Der einfachste und effektivste aller Angriffe hatte

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452 wieder einmal funktioniert. Melek brüllte und würgte vor Schmerz, während Laura ihm schreiend einen Stoß mit beiden Fäusten gegen die Brust versetzte und den Kopf einzog. Melek verlor den Würgegriff und Laura war frei. Melek stach im Stürzen vor Wut zu und hatte Laura diesmal wirklich töten wollen, doch durch seinen Sturz an die Gangwand streifte er wieder nur ihr Kettenhemd und schnitt ihre Tunika weiter in Streifen.

Die Halbelfin sog gierig die Luft ein, gleichzeitig sah sie sich schon gehetzt nach einer Waffe um. Binnen weniger Lidschläge erholte sie sich, keineswegs verwundert über ihre unnatürliche Zähigkeit.

Sie wollte nicht fliehen oder um Hilfe schreien. Sie war zu wütend und zu stolz. Laura würde Melek besiegen und sich für jeden Kratzer doppelt rächen; sie war schließlich eine Kriegerin und kein feiges Beutetier, wie er sie beschimpft hatte. Sie hatte schon zwei Räuber mit größeren Muskeln und besseren Waffen besiegt, sie würde auch jetzt allein für ihr Überleben sorgen können. Sie fühlte sich immer noch wie in sengenden Flammen stehend.

„Du bist nicht mal ein Mann! Du bist nur ein verzogenes, widerliches, irres Kind!“, schrie sie ihn an; es musste einfach raus, auch wenn sie wusste, dass ein unkontrollierter Kämpfer im Ernstfall ein toter Kämpfer war – so wie Melek, der sich mit dem Monolog über seinen Wahn hatte gehen lassen.

Lauras Blick fiel auf einen faustgroßen Stein, den sie sofort aufheben wollte. Entsetzt stellte sie jedoch fest, dass sie ihn kaum festhalten konnte, so sehr waren ihre Arme verletzt. Noch spürte sie die Schmerzen bloß nicht, da die

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453blanke Angst sie immun machte. „Angst? Von wegen!“, zischte sie zu sich selbst, kaum dass sie den ersten Schreck über ihre Arme verwunden hatte.

Mit einem unartikulierten Wutschrei sprang sie Melek in den Rücken, als der sich gerade vom Boden hochrappeln wollte. Sie trat ihm gegen den Hinterkopf, sprang auf seine knackende Waffenhand und trat ihm noch einmal von der Seite ins Gesicht. Erst dann trat sie den Dolch fort, weit in die Dunkelheit des Ganges hinein; sie wollte Melek plötzlich nicht mehr bewaffnet besiegen oder gar töten, sonst hätte sie den Dolch selbst aufgehoben. Sie wollte Melek in einem fairen Kampf besiegen und demütigen. Und danach erst töten. Etwas Unelfisches erwachte in ihr.

Als halbelfische Jugendliche mit zerschnittenen Armen würde sie Melek grün und blau schlagen und ihm noch viel mehr Schmerzen zuzufügen, als er es mit ihr vorgehabt hatte. Außerdem wollte sie sich selbst etwas beweisen; ihr Stolz beherrschte sie vollkommen, aber das war ihr nicht bewusst. So wenig, wie ihr das tödliche, völlig unnötige Risiko bewusst war.

Sie wiederholte den groben Fehler, durch den schon die zwei Räuber sie beinahe überwältigt hätten: Sie vernachlässigte ihre Umgebung und schweifte ab.

Melek sprang sie überraschend vom Boden an und rammte ihr die Schulter vor die Brust, überrumpelte sie. Noch bevor sie etwas von ihm zu packen bekam, donnerte seine Faust durch das Kettenhemd in ihren Magen und

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454 seine andere Faust an ihren Kopf. Betäubt wankte Laura zurück. Der Tritt auf Meleks Hand zuvor hatte ihn scheinbar nicht richtig verletzt.

Als Melek sie ansprang und weiter auf sie einschlagen wollte, reagierte sie endlich, duckte sich unter seinen Armen weg und hämmerte ihm ihrerseits im Ausweichen die Faust in den Solarplexus. Während Melek sich krümmte und fluchte, schlug Laura ihm die andere Faust aus der Drehung heraus in den Nacken. Melek taumelte stumm vorwärts und wäre fast gestürzt. Laura setzte nun ihrerseits triumphierend nach und holte mit der rechten Faust weit aus. Melek war jedoch zu zäh, zu wenig überrascht, und sprang ihr entgegen. Er traf ihr Kinn mit einem Aufwärtshaken. Nach aller Rauferei war dies der erste punktgenaue Angriff, dessen Wirkung eines Kriegers würdig gewesen wäre.

Laura wollte sich abfangen, fiel aber mit dem Rücken genau auf einen Stein, der ihr alle Luft aus den Lungen trieb und ihren Körper lähmte. Mit aufgerissenen Augen, Blut spuckend von ihrer geplatzten Lippe, rang sie vergebens nach Luft. Der Kampf schien vorbei.

Melek packte sie an den Haaren und am Hals, zerrte sie auf die Füße und schleuderte sie wutschnaubend gegen die Wand. Sie konnte nicht schreien. Nur ihre verzerrte Miene verriet ihren Schmerz. Ein weiterer Faustschlag ins Gesicht schleuderte sie herum und betäubte sie endgültig. Leise stöhnend hielt sie sich noch am Fels fest.

Melek war rasend vor Wut. Er schlug Lauras Gesicht mit der flachen Hand brutal gegen den Fels. Ein blutiger

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455Streifen blieb darauf zurück. Das Kettenhemd und seine schmerzende Faust ignorierend, schlug er ihr immer wieder in die knirschenden Rippen. Laura krümmte sich und öffnete hilflos den Mund, ohne atmen oder schreien zu können. Melek seinerseits kam mit seinem Gesicht ganz nah an ihres. Roch ihre Angst und ihren Schweiß, während er weiter zuschlug.

Seine freie Hand strich durch ihre verschwitzten Locken, so als sei Laura bereits besiegt und wehrlos. Die Halbelfin hielt sich nur noch verzweifelt mit beiden Armen an der Felswand fest, um nicht zu stürzen, doch ihre Beine knickten langsam ein und Melek lachte.

Immer mehr Blut lief über Lauras Lippen, sie war wie körperlos, unfähig zu handeln. Melek drückte sich eng an sie, während sie Fingerbreit für Fingerbreit zu Boden sank und die Augen verdrehte. Er grub seine Hand zwischen ihre Schenkel. Leckte mit der Zunge Blut und Tränen aus ihrem Gesicht. Nach ein paar Lidschlägen ließ er ihren Kopf in den Nacken fallen und schmiegte seine andere Hand um die Brustwölbungen im Kettenhemd. Seine wachsende Gier ließ ihn immer schwerer atmen, als er seine Hand unter das Kettenhemd auf Lauras Bauch schob und in ihre Haut griff, als wollte er eine Waffe packen. Laura wollte wenigstens nicht stöhnen, doch auch dabei gehorchte ihr Körper nicht mehr; unfreiwillig vergrößerte sie Meleks Genuss noch.

Als sie auf die Knie gesunken war und kläglich nach Luft rang, riss Melek sie auf den Rücken und kniete sich zwischen ihre Schenkel, packte unsanft ihr Gesicht und biss spielerisch in ihren schweißnassen Hals. Mit der

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456 anderen Hand griff er fest in ihre Taille und rieb seine Hüfte gegen ihre.

Meleks hektischer Griff zu ihrem Hosenbund weckte Laura wie kaltes Wasser aus dem Schlaf, weckte etwas bis dahin Verschüttetes. Ihr menschliches Erbe allein hätte sie nicht mehr gerettet. „Gibt es etwas Böses, Dämonisches in Dir?“, hörte sie Athónons völlig verdrehte Stimme. Erinnerungsfetzen an jenes Gespräch. Meleks Hand an ihrem Bauch. Eine Mauer vor einem Teil ihrer Seele bekam durch Melek ein Loch, eine Mauer, die Laura bisher nicht bewusst gewesen war.

Sie schrie plötzlich wild, donnerte die Fäuste in Meleks zurückzuckendes Gesicht und trat ihm vor den Kopf. Fast wäre sie nicht auf die Füße gekommen vor Schwäche. Taumelnd hob sie die blutigen Fäuste vor das Gesicht und grunzte in Menschensprache: „Komm ruhig näher, Du Schwein!“

Melek wankte ebenfalls und fluchte obszön. Er hielt sich die blutende Stirn und starrte Laura hasserfüllt an.

Blind vor dämonischer Wut stürzte Laura sich mit einem Hechtsprung auf Melek. Der duckte sich unter ihren zugreifenden Armen jedoch mühelos weg und boxte ihr im Flug so hart in den Magen, dass sie sich in der Luft über ihm zusammenkrümmte. Noch bevor sie auf ihn stürzte, packte Melek ihre Kniekehlen. Er hob sie hoch und rannte brüllend vorwärts, bis er Laura mit dem Rücken gegen die Felswand schlug.

Sie stieß einen kläglichen Schrei aus, wie ein verwundetes Tier. Melek warf sich mit Laura zu Boden. Die Halbelfin

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45�knallte abermals auf den Rücken und schlug diesmal auch mit dem Hinterkopf auf.

Melek kniete über ihr. Griff einen Stein mit der Linken und schlug blind zu, traf Lauras Schlüsselbein. Sie schlug ihm ihrerseits mit dem Faustrücken ans Kinn – ohne ihn wirklich gesehen zu haben; in ihrem Kopf explodierte gerade ein Gewitter und sie war kurz davor zu ersticken.

Melek stutzte aufgrund des Treffers an seinem Kinn kaum, er war schon weitaus härter geschlagen worden. Er schlug wieder mit dem Stein zu, diesmal jedoch gezielter: Direkt auf Lauras Nase.

„Nicht schon wieder die Nase ...“, stöhnte sie und ließ die Arme betäubt niedersinken. „Ich muss ... gewinnen ...“, seufzte sie noch – und erschlaffte. Melek hielt sein Ohr an ihren Mund und hörte sie ganz leise atmen. Siegesgewiss und stolz auf sich flüsterte er: „Meins!“

Melek blickte in den Eingang. Niemand schien den Kampf mitbekommen zu haben. Er strich mit den Fingerspitzen über das Blut in Lauras Gesicht. Leckte es lustvoll von seinen Fingern. Seine Hände glitten um ihren Hals, seine Daumen strichen andächtig über ihre Kehle. Er kostete den Moment des Triumphes aus. Melek bebte und schauderte vor Begierde, wollte seine Beute verschlingen. Doch er fühlte sich noch zu nah am Eingang, zu sehr gefährdet, gestört zu werden. Er sprang auf und schleifte Laura an den Armen hinter sich her.

In der Schwärze von Lauras Bewusstlosigkeit bröckelte die verbotene, verborgene Mauer weiter. Etwas von der

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45� anderen Seite der Mauer packte sie. Zerrte mit unsäglicher Gewalt an ihr. Quälte sie zu Tränen – und sie genoss es. Für einen Moment. Sie träumte von ihrem panischen Schrei, als sie sich vorstellte, sich wollüstig mit Melek am Boden zu wälzen und sich wie ein Tier mit ihm zu paaren.

Mitten in Meleks Flucht rollte Laura sich plötzlich über den Rücken und stieß dabei ihre Beine Meleks Kopf entgegen. Sie traf ihn nicht richtig, immerhin war dies ein sehr schwieriges Manöver. Zumindest aber musste Melek sie loslassen, um auszuweichen. Er packte jedoch seinerseits ihr Bein, während sie nach ihrer Rückwärtsrolle auf den Bauch klatschte. Ruckartig verdrehte er ihren Fuß.

Laura schrie und krampfte sich zusammen. Melek ließ ihren verrenkten Fuß los und sprang über sie hinweg – direkt auf ihren Hinterkopf. Da ihr Gesicht bereits am Boden gelegen hatte, schlug ihr Kopf nicht zusätzlich auf den Grund. Sie blieb gerade noch bei Bewusstsein. Sie tat allerdings so, als würde sie wieder ohnmächtig werden und lag reglos da. Ihr Schädel schien bersten zu wollen. Für einen Bruchteil eines Lidschlages stellte sie sich vor, wie sich die Kopfschmerzen erst anfühlen mussten, wenn die Gefahr vorüber war und sie ruhiger wurde. Wie konnte sie jetzt nur an so etwas denken? Wie konnte sie überhaupt noch denken ...?

Sie hörte Meleks leisem, anhaltenden Lachen angewidert zu. Vermochte sich nur mit Mühe noch länger zur Regungslosigkeit zu zwingen, als er seine Finger in ihren Hintern grub und ihre Beine entlangstrich. Da sie die Augen geschlossen hatte, sah sie nicht sofort, was er vorhatte, als er aufstand. Er packte die Ärmel ihrer Tunika

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45�und ihres Kettenhemdes und riss ihr beides mit einem Ruck vom Körper. Auch der Leinen-Unterstoff war fort, denn der war am Kettenhemd befestigt. Sie trug nun nichts weiter am Oberkörper als ein festes Tuch.

Jetzt immer noch vollkommen reglos zu bleiben, nicht mal Lippen und Augen vor berstender Spannung zusammenzukneifen, kostete sie unsäglich viel Selbstbeherrschung. Zumal ein Teil ihres zerschundenen Körpers nur noch aufgeben und schlafen wollte.

Melek strich wie ehrfürchtig über ihren Rücken. „Ein zarter Hals, enge Lippen und feste, junge Haut ... Wie ich das vermisst habe! Ich hätte Gozbad nie verleugnen dürfen!“, hörte sie Melek flüstern. Dass sie ausgerechnet von ihm die Menschensprache lernte ...

„Noch nicht! Ich muss mich zusammenreißen!“, befahl Laura sich und konnte nur mit größter Konzentration immer wieder den Reflex unterdrücken, die Fäuste zu ballen.

Melek rollte Laura unsanft auf den Rücken und ließ seine Hände durch das Tuch in ihre Brüste sinken. Da stach sie ihm die schmutzigen Finger in die Augen.

Auch wenn sein Kopf reflexmäßig zurückzuckte, um die Augen zu schützen, fiel Melek doch fluchend rückwärts. Er streckte die Arme vor sich; er konnte für einen Moment nichts sehen außer bunten Blitzen.

Laura packte ihn am Schopf und schlug ihm die Faust des anderen Armes auf die krachende Nase. Was immer ihr die Kraft dazu gab, war weder menschlich noch elfisch. Den Schwung des Armes ausnutzend, drehte sie die Hüfte

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460 mit voller Kraft und donnerte ihm den Ellbogen gleich hinterher an den Kiefer. Es war, als wäre sie nie verprügelt worden. Ein neues, dunkles Feuer loderte in ihren eiskalten Augen.

Melek war jedoch sehr abgehärtet. Er schrie bloß wütend und trat Laura von innen ins Knie; ihr Bein glitt nach hinten weg, sodass sie nun unfreiwillig breitbeinig über ihm stand. Ihre Miene blieb versteinert und kalt. Sie spürte den verletzten Fuß nicht und kämpfte trotzdem um ihr Gleichgewicht.

Melek trat ihr im Liegen zwischen die Beine. Keuchend blieb sie stehen, ließ aber sein Haarbüschel los. So vorgebeugt wie sie dastand und die Augen zukniff, musste Melek grinsen. Er holte mit dem Fuß weit aus und trat ihr dann so hart ins Gesicht, dass ihr Kopf in den Nacken ruckte und sie wie vom Blitz getroffen über ihm zusammenbrach.

„Ja, komm zu mir!“, flüsterte Melek mit einem bösen Lachen und rieb seine Finger ihren Rücken empor. Er zog ihren reglosen Körper an sich, sodass ihr glühendes, blutiges Gesicht an seinem lag und er mit der Zunge über ihre Wange fahren konnte. Melek fühlte ihr Blut in Strömen aus ihrer Nase in sein Wams laufen und schloss genussvoll die Augen. Auf seine abstoßende Weise sinnlich, küsste er ihre blutige Oberlippe und schmiegte die Hände an ihre Hüfte, um sie auf seine zu drücken. „Na endlich!“, raunte er lüstern.

Plötzlich öffnete Laura die Augen mit einem Ruck. Ihr Blick war so abgrundtief böse, dass Melek zu atmen

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462 vergaß. Sie biss seine Unterlippe durch, spuckte ihm sein Blut ins Gesicht und schlug ihm die gewölbten Hände auf die Ohren. Schwerfällig sprang sie rückwärts, rutschte aus und stürzte.

Melek schrie vor Schmerzen und hielt sich den Kopf. „Das wirst Du büßen!“, schrie er – und starrte im nächsten Moment verschreckt zum Eingang der Höhle. Niemand war dort, niemand schien seinen Schrei gehört zu haben.

Die Halbelfin versuchte unbeholfen, auf die Füße zu kommen, doch sie zitterte am ganzen Körper vor Schwäche. Das Gefühl, entflammt zu sein, ließ sie nun frösteln. Als sie gerade auf allen vieren kniete und versuchte, sich auf die Beine zu stemmen, sprang Melek pfeilschnell auf die Füße, hob ein Bein weit über Lauras Kopf und donnerte ihr dann die Ferse in den Nacken.

Laura brach zuckend zusammen. Bevor sie sich von dem Tritt erholen und sich abermals aufrappeln konnte, riss Melek sie herum. Er sprang mit den Knien auf sie und schlug ihr die Faust so hart er nur konnte ins Gesicht. Sie ruderte bloß hilflos mit den Armen und scharrte mit den Füßen über den Fels. Doch ihre Augen loderten noch immer infernalisch dabei.

Melek legte beide Hände um ihren Hals und drückte langsam zu. Immer fester. Ihr schwaches Aufbäumen unter ihm war ihm ein Hochgenuss.

Er ließ erst los, als Lauras Hände mit einem leisen Platschen auf den Fels fielen, als sie die Augen verdrehte und die Lider schloss, ausgestreckt und schlaff unter ihm liegen blieb.

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463„Wirklich, ich kann mich nur wiederholen: Nett, wie Du mit Frauen umgehen kannst“, hörte Melek plötzlich Brommil in ein paar Schritten Entfernung. Der Zwerg stand im Halbdunkel des Ganges, sein Umriss zeichnete sich unscharf vor dem Licht des zurückliegenden Einganges ab.

„Sie hat mich –“, begann Melek, aber Brommil unterbrach ihn mit einem leisen Lachen.

„Ich weiß genau, was passiert ist, mein Junge“, knurrte der Zwerg, „und ich finde es gut!“

Melek klappte überrascht der Kiefer nach unten.„Taren hat mich Dir hinterhergeschickt, weil er Dir

nicht traut. Komisch, was?“, berichtete Brommil und lachte wieder kurz.

Bevor Melek irgendetwas erwidern konnte, raunte Brommil verschwörerisch: „Pass auf! Wir teilen sie uns und geben uns dann gegenseitig ein Alibi. Wenn wir jetzt nämlich sofort verschwinden, ist das zu auffällig. Dann verfolgen sie uns. Wir können uns später von denen trennen, ich will sowieso nicht in den Tod laufen wie diese Verrückten. Doch zunächst müssen wir so tun, als hätten wir die Kleine hier so gefunden, von wem auch immer zusammengeschlagen. Die werden ihr keine andere Geschichte glauben, wenn wir zusammenhalten, sondern das ihren Schlägen auf den Kopf zuschreiben. Meine eigenen Schrammen könnten von einem Sturz im Dunkeln herrühren, oder von Schlangenblütern.“

„Und wenn sie uns trotzdem nicht glauben?“, fragte Melek ernst. „Du hast selbst gesagt, Taren traut mir nicht.“

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464 Brommil seufzte und dachte nach. „Du hast recht, wir sollten nicht zurückkehren“, antwortete er. „Also los, Du darfst natürlich anfangen“, fügte er hinzu und trat ein paar Schritte zurück.

„Und wenn ich sie nicht teilen will?“, knurrte Melek.Brommil legte verärgert den Kopf schief. „Du hast

keine Wahl, Kleiner“, erwiderte der Zwerg gelassen und tätschelte Lauras Kurzschwert, das er sich umgeschnallt hatte, bevor er Melek gefolgt war.

Der Junge nickte gepresst und wandte sich Laura zu – sie trat ihm die Stiefel ins Gesicht.

Ihr ganzer Körper bebte und zuckte. Ihre Augen waren blutunterlaufen und ruckten unstet. Ein dünner Faden schaumiger, rötlicher Speichel lief ihren Mundwinkel hinab. Lauras innere Mauer, um ihr dunkles Erbe herum, bröckelte und bröckelte.

Melek und Laura sprangen halb bewusstlos auseinander. Melek taumelte neben Brommil, Laura stolperte und hinkte noch tiefer in den dunklen Gang hinein. Keuchend brach sie dort zusammen und stieß tierhafte Wimmerlaute aus. Melek und Brommil sahen sich unschlüssig und verunsichert an.

Langsam veränderte sich Lauras Atmung wieder hin zu ihrer halbelfischen Seite.

„Wieso tut Ihr das?“, weinte Laura schließlich in der Menschensprache, gebrochen von Schmerz und Niederlage, am Boden liegend. Sie war es offenkundig nicht gewohnt, unter Tränen zu reden, staunte über ihren eigenen Klang. Tränen schienen auf unterschwellige Weise generell nicht

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465zu ihr und ihrer sonst festen Stimme zu passen.„Ihr könntet Freunde haben, stattdessen macht ihr alles

kaputt!“, versuchte sie sich weiter in der Menschensprache. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um das Blut abzuwischen. Doch ihr ganzer Arm war genauso blutig.

„Freunde und Vertrauen, ja klar“, spottete Brommil. „Das ist was für Weichlinge. Für freie Seelen gibt es nur ein Gesetz: das Recht des Stärkeren. Man darf alles – außer sich erwischen lassen. Und allein ist man sowieso immer, das weiß nur nicht jeder, bis es mal darauf ankommt. Die Gemeinschaft dient nur den Wölfen, um ihre Schafherde zu hüten. Doch Leute wie Melek und ich sind zu stark, um sich zu fügen und auch nur blökend auf der Weide zu stehen. Von den Schafen gemocht zu werden, ist weitaus weniger erstrebenswert als das Leben jenseits der Weide.“

Laura hatte viele der Worte verstanden und schwieg zunächst. „Hohle, wiedergekäute Floskeln“, dachte sie – entgegnete aber so sanft, wie es ihr Zustand und ihre Sprachkenntnis erlaubten: „Du tust mir leid, Brommil. Dich hat nie jemand geliebt, daher weißt Du gar nicht, wovon Du redest. Du weißt nicht, was das Leben bedeutet. Du lebst gar nicht, Du funktionierst bloß, wie ein ... Sattel am Pferd. Wenn der Sattel alt ist, wird ein neuer genommen. Niemand wird den alten Sattel vermissen. Niemand kennt Deinen Namen.“

„Halt’s Maul, Du Hexe!“, schrie Brommil und rannte auf sie zu, Lauras eigenes Kurzschwert in der Faust. Er hielt ihr die Klingenspitze an die Kehle und starrte wütend auf die Wehrlose herab. Ihre Nasenflügel bebten und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie zitterte am

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466 ganzen Körper vor Schwäche. Ihr Magen drohte, sich über Brommils Stiefel zu entleeren, doch sie war andererseits zu betäubt, um noch Angst zu spüren; über diesen Punkt war sie hinaus. Als sie ihre Hand zu Brommil ausstreckte, über seinen Bauch strich und ihn voller gespieltem Mitleid ansah, fröstelte er beinahe. Für einen Moment lenkte ihn die unerwartete Reaktion ab. Laura presste derweil die Lippen fest zusammen und kämpfte innerlich gegen den Würgereflex in ihrem Hals an, der zum Teil von Melek und Brommil und zum Teil von ihrem zerschmetterten Zustand herrührte.

Dann trat Laura dem Zwerg zwischen die Beine, schnellte mit dem Oberkörper hoch und packte seinen Waffenarm, so fest sie noch konnte. Ein Schauer lief ihr über den Nacken, schüttelte sie förmlich, als ihr Körper allerletzte Reserven aktivierte, um sie irgendwie noch weiter ums Überleben kämpfen zu lassen. Die Übelkeit kroch bis in ihren Mund, sie schluckte bittere Galle zurück. Ein weiterer Stein brach aus der inneren Mauer in ihrer Seele.

Der Zwerg krümmte sich kaum in Anbetracht von Lauras schwachem Tritt, außerdem war Brommil furchtbar stark für seine Größe. Er riss seinen Arm mühelos frei und schlug Laura dann mit der Breitseite der Waffe ins Knie, so fest, dass sie schreiend auf den Rücken zurückfiel, als der Schmerz im nächsten Augenblick schon in ihrem ganzen Bein explodierte. Sie rollte sich schluchzend zusammen und gab auf. Im nächsten Moment übergab sie sich zudem. Sie wollte nicht, dass die rätselhafte Mauer in ihr ganz einstürzte, was immer dort Böses lauerte.

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46�Inzwischen war auch Melek wieder klar im Kopf und stellte sich triumphierend neben Brommil. „Zähes, kleines Ding“, spottete er hochmütig. Brommil und Melek spähten in beide Richtungen des Ganges.

Laura regte sich nicht mehr. Nur ihr Herz jagte, ihr

Atem war äußerst flach. Sie fühlte bloß noch Schmerzen und Panik. Ihre innere Mauer war nicht so weit zerbrochen, dass ihr dunkles Erbe sich vollständig befreien konnte. Eigentlich fand sie das auch besser so, sie hatte Angst vor dem, was mit ihr im Kampf geschehen war. Obgleich ihr dieses dunkle Erbe gegen die zwei Räuber das Leben gerettet hatte, wollte sie insgeheim doch nie wieder etwas damit zu tun haben. Schon verdrängte sie jegliche Erinnerung daran. Zumal eine andere, etwas hellere Regung in ihr wieder an Kraft gewann: So wie ihr Stolz sie in diese ausweglose Lage gebracht hatte, so half er ihr jetzt auch. Ihr Stolz wollte einfach nicht zulassen, dass Melek als Sieger über sie den Kampfschauplatz verließ, als Sieger über alle vermeintlichen Beutetiere. Ihr Stolz brachte sie sogar noch weiter als sonst – auf eine neue Stufe der Einsicht.

Laura sprang tatsächlich noch einmal auf alle viere und von dort sogar auf die Füße. Sie rannte am verdutzten Melek vorbei, streifte mit Gesicht und Brust die raue Wand, wich seinem zugreifenden Arm aus und hüpfte mit ihrem kaputten Fuß und ihrem geschwollenen Knie auf den Eingang zu.

„Hilfe! Helft mir!“, schrie sie verzweifelt nach draußen. Plötzlich wusste sie, wie tödlich ihr falscher Stolz an der

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46� falschen Stelle beinahe geworden wäre und dass sie keinen Platz mehr in ihren Gedanken dafür haben durfte. So wenig wie für ihr dunkles Erbe.

Zwei Nachtelfen, die in der Nähe gewacht hatten, schauten alarmiert in den Höhlengang. Einer ließ über seiner ausgestreckten Handfläche eine schimmernde Lichtkugel schweben, während der andere einen Bogen bereithielt und einen Pfeil auf die lockere Sehne legte. Laura schrie nochmals jämmerlich um Hilfe, dann brach sie besinnungslos zusammen.

Die Nachtelfen rannten eilig in den Gang. Brommil und Melek standen noch zu weit im Dunkeln, um schon erkannt zu werden, selbst für exzellente Elfenaugen und magische Lichtkugeln.

Melek, der Laura zunächst verärgert ein paar Schritte nachgehastet war, hielt abrupt inne und starrte wütend auf die Nachtelfen. „Wir sehen uns wieder!“, knurrte er kalt in Lauras Richtung. Dann rannte er davon und verschwand in der Dunkelheit.

Die Nachtelfen spähten vergebens in die Schwärze des Tunnels, doch sie konnten den Besitzer der Stimme, die da gesprochen hatte, nicht mehr sehen.

Brommil blickte Melek unschlüssig nach, dann starrte er wieder auf Laura und die Nachtelfen, die sich zu dem Mädchen knieten und sie besorgt ansahen. Der Zwerg trottete langsam in Lauras Richtung. Er traute sich zu, die beiden dürren Gestalten im Handumdrehen zu erschlagen,

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46�und Laura war ohnehin wehrlos. Eine fremde Stimme in seinem Kopf hatte seine Gedanken in ungeahnte Abgründe gestürzt – doch jetzt, da Melek gescheitert war, war die Stimme verstummt. Brommil sah die Halbelfin plötzlich wieder, wie sie wirklich war: ein freundliches Geschöpf, das ihm gar nichts getan hatte und das nun fast tot an einer Höhlenwand lag. Statt hasserfüllter Gier und Verachtung spürte Brommil auf einmal unsägliches Mitleid für Laura. Er erschrak über sich selbst, dass er so leicht zu beeinflussen gewesen war.

Als er in Lauras Nähe kam, schlug sie gerade mühselig die Augen halb auf. Sofort fuhr sie zusammen und zischte einem der Elfen furchtsam etwas ins Ohr, als sie Brommils unscharfe Umrisse erahnte. Ihre Hand schmierte ihr Blut in das Gesicht des Elfen, panisch verkrallte sie die Finger in seinem langen Haar. Doch Brommil achtete nicht darauf, sondern warf Lauras Kurzschwert scheppernd über den Boden vor ihre Füße. „Es tut mir leid“, sagte Brommil in grauenhaftem Elfisch. „Ich bin wieder klar im Kopf.“

Irritiert und ängstlich blickte ihm Laura in die Augen. „Ich glaube Dir nicht!“, flüsterte sie und schüttelte schwach den Kopf.

Brommils Elfisch war mehr als unvollständig, doch nach einigem Überlegen sprach er folgende Sätze: „Deine Worte vorhin waren erstaunlich weise für jemanden Deines Alters. Beinahe hätte ich mich auf den falschen Pfad begeben. Eine Stimme, die nun verstummt ist, hat mich beeinflusst. Vergib mir.“

Laura wollte loslachen vor Spott, wollte fragen, für wie dumm er sie eigentlich hielt, doch sie hatte zu große

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4�0 Schmerzen. Plötzlich stutzte sie jedoch und fragte leise: „Eine Stimme? Meinst Du, eine fremde Stimme, die wirklich mit Dir geredet hat?“

Brommil seufzte: „Ich kann verstehen, dass Du mich für verrückt hältst. Schon gut, ich verschwinde.“

„Ich habe auch eine fremde Stimme gehört, die mich dazu brachte, fortzurennen“, keuchte Laura eilig. „Ob Melek auch bloß eine Stimme gehört hat?“, wisperte sie.

„Das werden wir wohl nie erfahren“, raunte Brommil mit seinem kantigen Akzent. Er hob Lauras Kleidung mit dem Kettenhemd und auch ihre Klinge auf, die er ihr zuvor entgegengeworfen hatte. Die Nachtelfen halfen Laura derweil auf die Füße und stützten sie auf beiden Seiten. Als Brommil näher kam, wich Laura unwillkürlich von ihm fort und musterte ihn misstrauisch. „Ich kann laufen“, log sie, ohne selbst zu wissen, wieso sie sich immer weiter quälen wollte. Sie schob die verdutzten Nachtelfen etwas von sich und hinkte zwei Schritte weit; nachdem der Kampf zu Ende war, wurden ihre Schmerzen jedoch mit jedem Lidschlag unerträglicher. Nach einem weiteren Schritt stöhnte sie unterdrückt und wäre abermals zusammengebrochen, hätten die beiden Nachtelfen sie nicht aufgefangen.

Verwundert sah Brommil zu Laura auf, als sie plötzlich leise in sich hinein lachte: „Meine Mutter hat gegen Tiefenweltler, dämonische Kreaturen und sogar gegen Chimärier gekämpft, und mich hätte fast ein Junge meines Alters zu Tode geprügelt! Wie konnte ich nur so naiv sein und glauben, ich wäre diesem Abenteuer gewachsen gewesen?“

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4�1„Na, solange Du noch lachen kannst ...“, meinte Brommil darauf bloß etwas unbeholfen, zumal er auch nur die Hälfte des Elfischen verstanden hatte.

Laura war längst klar, dass sie mehr eingesteckt hatte, als ein normaler Mensch oder Elf überlebt hätte. Doch sie fürchtete sich davor, den Grund herauszufinden. Lieber wollte sie an die Stelle der bröckelnden inneren Mauer die elfische Fähigkeit des Verdrängens schieben.

Melek befand sich inzwischen in völliger Dunkelheit. Blind tastete er sich vorwärts. „Ich werde Dich zähmen, Halbelfin! Ich hatte Dich schon so weit!“, zischte er leise. „Ich werde auch ohne Gozbad wieder ein richtiger Mann. Ich war lange genug ein verqueres Schaf in der Herde. Jetzt kehre ich zurück zur wahren Lebensweise des Jägers. Ihr werdet mich noch kennenlernen!“ So redete er mit sich selbst und steigerte sich mehr und mehr in seinen Wahn.

Als Taren sah, wie Laura aus dem Seitengang stolperte, gestützt werden musste und in welch grauenhaftem Zustand sie sich befand, rannte er zu ihr. Er fragte sich, ob Bruder Mond noch einmal Heilung gewähren würde.

Athónons Zauber hatte seinen Arm inzwischen einigermaßen verheilen lassen; solange er ihn nur langsam bewegen wollte, gehorchten Gelenk und Muskeln, aber schnellere Bewegungen verweigerte der Arm. Der nassgeschwitzte Gnom übernahm den Posten am Eingang der Gästehöhle und behielt die restliche Umgebung im

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4�2 Auge. Er schauderte. Wie oft hatte er Situationen wie diese erlebt ... und als Einziger überlebt.

„Was ist denn passiert?“, staunte Taren besorgt und musterte die übelst zugerichtete Laura von oben bis unten. Sie war kaum noch bei Bewusstsein und wurde von den Nachtelfen mehr geschleift als gestützt.

Brommil antwortete eilig auf Tarens Frage: „Ein böser Geist sucht uns heim! Ich musste Melek verjagen, er wollte sich an Laura vergehen. Er hat sie auch so zugerichtet.“

Laura nickte und verschwieg, dass Brommil ihm fast dabei geholfen hätte. Doch andererseits hätte er ihr Schwert nicht wieder hergeben müssen, sondern hätte auch kämpfen oder Melek folgen können. Sie verriet ihn nicht, aber sie traute ihm auch keineswegs.

„Ich habe ebenfalls eine böse Stimme in meinem Kopf gehört“, hauchte Laura schleppend und pflichtete dem Zwerg bei. Ihre Lider flatterten und sie schwankte so sehr hin und her, dass die beiden Nachtelfen sich nicht recht trauten, sie loszulassen.

Taren überlegte nicht länger und hob Laura auf seine Arme, um sie in die Gästehöhle zu tragen. Brommil bedankte sich bei den zwei Nachtelfen für die Unterstützung und folgte Taren dann mit gesenktem Blick.

„Insbesondere das Bein und der Nacken sehen nicht gut aus“, murmelte Taren, während er Laura behutsam auf ihre eigene Decke legte. „Du musst ja wie ein Chimärier im Blutrausch gekämpft haben, so viel, wie Du eingesteckt hast!“, brummte er mit einer gewissen Bewunderung. Laura schluckte nur und wusste nicht, wie sie antworten

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4�3sollte; überhaupt war sie inzwischen so schwach, dass sie Taren kaum noch hören konnte, geschweige denn selbst etwas hätte erwidern können.

Mèra saß mit dem Rücken an der Höhlenwand, als die drei eintrafen. Ihr fragender Blick blieb an Brommil hängen und wurde finster. Sein schlechtes Gewissen war das Mindeste, was ihm anzusehen war; ohne Kommentar verzog er sich in eine dunkle Nische und brütete dort vor sich hin.

Mèra erhob sich mühsam und kniete sich neben Laura, die inzwischen eingeschlafen war. Mitfühlend legte Mèra ihr die magische Elfendecke um die Schultern, während Taren auf Lauras anderer Seite kniete, ihre Arme verband und ein Gebet an Bruder Mond murmelte. Mèra nahm derweil einen Wasserschlauch zur Hand, tupfte Laura das Blut aus dem geschwollenen Gesicht und wickelte aus Verbandszeug einen kühlenden Lappen für die Stirn.

„Beide, Laura und Brommil, haben berichtet, ein böser Geist habe in ihrem Kopf gesprochen“, brummte Taren sorgenvoll und sah Mèra an.

Die Halbgöttin war nicht überrascht und nickte bloß. „Ich weiß. Ich hörte ihn auch, aber es gelang ihm nicht, mich zu beeinflussen.“ Ihre Stimme wurde fester. „Ich kenne einen magischen Weg, uns gegen solche Einflüsterungen und heimliche Beobachter zu schützen, aber ich bin sehr schwach. Wärest Du bereit, mich zu unterstützen, Taren? Ein Zauber, um unsere Kräfte zu vereinen, würde auch

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4�4 Dich sehr schwächen, aber gemeinsam können wir es immerhin schaffen, dass der Schutz eine Weile hält; er wäre dann wie eine Aura um mich herum, einige Schritt weit reichend.“

„Ich bin aber gar kein Zauberer“, wandte Taren zögerlich ein.

Mèra lächelte und legte den Kopf schräg. „Das macht nichts“, sagte sie nur, ohne sich auf eine Glaubensdiskussion mit dem Tempelkrieger darüber einzulassen, dass er im Endeffekt auch nichts anderes tat als alle anderen Zauberer. „Vertrau mir“, lächelte Mèra, „Du musst nur bereit sein, mir vorübergehend einen Teil Deiner Lebenskraft anzubieten, ich kann den Rest allein bewirken.“

„Nun gut, wenn es allen dienlich ist“, antwortete Taren ohne weiteres Zögern. Die Legitimation für seine „Magie“ erhielt er sonst von seinem Gott; vermutlich reichte aber auch die Erlaubnis einer Halbgöttin.

Tief in seinem Inneren vermutete er schon lange, dass der Unterschied zwischen Priestern und Zauberern nur in der Legitimation bestand, nicht in den Wundern, die sie bewirkten; doch er war in dem Glauben erzogen worden, dass solche Gedanken böse und lästerlich waren und den Dämonen in die Hände spielten, und Taren hing an seinem Glauben. Warum sonst sollte er immer weiter für seinen Tempel kämpfen, wenn Hevas Leib an Dämonen und Chimärier fiel und sogar seine Gefährtin Nenúriel sinnlos, zum monströsen Spaß der Chimärier getötet worden war?

„Dann setzen wir uns. Gib mir Deine Hände“, unterbrach Mèra seine dunklen Gedanken. Sie setzte sich

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4�5kerzengerade hin, neben der schlafenden Laura, und ließ Taren seine Hände in ihre legen. Sie schloss die Augen, hob das Kinn und wiegte sich sachte hin und her. Taren erschauerte vor Ehrfurcht, als die Seele der Halbgöttin die seine flüchtig striff.

Athónon hatte mit einem Ohr zugehört; seine Miene verfinsterte sich unmerklich. „Sie zaubert zu viel in zu kurzer Zeit. So wird sie sich nicht erholen, im Gegenteil“, dachte er grimmig. Auch dachte er an sein Auge und fragte sich, ob Laura die Decke wirklich zwingend brauchte oder ob er damit sein Auge retten sollte. Doch auch in dieser Situation, wie schon oft zuvor, opferte er sich für andere auf und nahm nur an, was ihm bereitwillig gegeben wurde.

„Imperator Schattenwacht hat mir versichert, dass Du mit uns kooperieren wirst, Erzmagus.“ Die Stimme auf der anderen Seite des Verständigungsspiegels hatte das letzte Wort sehr gekonnt vieldeutig betont; Cerýllion wusste wirklich nicht, ob die Wahl jenes uralten Titels, Erzmagus, geschmeichelt oder höhnisch gemeint war.

„Ich sagte es Dir schon einmal, Rogáril: Meine Maßnahmen sind den Deinen durchaus nicht im Wege. Vielmehr stifte ich zusätzliche Verwirrung in der Gruppe von Mèra und Srrig, sodass sie keinesfalls etwas von Deinem Vorstoß bemerken werden“, erklärte Cerýllion, bemüht, so neutral wie möglich zu klingen. Diplomatie war ein archaisches Spiel des Glorreichen Zeitalters, das er gern und meisterlich beherrschte.

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4�6 „Willst Du damit sagen, dass Du Dein eigenes Spiel spielen willst und mich nicht aktiv zu untertützen gedenkst. Ist es nicht so?“, fragte Rogáril diplomatisch, doch mit einem lauernden Unterton.

„Na und? Mein Verhalten bleibt trotzdem eine Form der Kooperation“, versetzte Cerýllion lakonisch. „Mehr kannst Du nicht von mir erwarten, Kanzler, und mehr erwartet auch der Imperator nicht von mir.“

„Wie Du meinst! Ich sehe mal davon ab, das als undankbar zu bezeichnen, wegen der alten Zeiten. Doch bedenke, dass auch Du den guten Willen meines Volkes brauchst, wenn die Umwandlung von Hevas Leib erst einmal begonnen hat! Ohne Schutzstein wirst Du in unseren Lebensbedingungen binnen weniger Stunden sterben! Weder Deine Magie noch die Gunst des Imperators könnten daran etwas ändern!“

„Drohst Du mir, Rogáril?“, säuselte Cerýllion eisig. „Du willst doch sicher nicht die Unterstützung meines Mentors, des Imperators und letzten Inferiors verlieren! Das dürfte die Pläne des Äußeren Volkes mit Hevas Leib nämlich gänzlich unmöglich machen.“

„Sei Dir Deiner Position lieber nicht zu sicher! Wenn Schattenwacht allein mächtig genug wäre, um die Götter herauszufordern, hätte er meinem Volk nie angeboten, die Macht zu teilen“, grollte der Kanzler. „Außerdem liegen die Dinge inzwischen sowieso anders, da Deine einstige Gemahlin uns freundlicherweise ein Tor geöffnet hat.“ Damit unterbrach der Kanzler die Verbindung.

Cerýllion blieb im Dunkeln vor dem Verbindungsspiegel stehen und rührte sich nicht. Deine einstige Gemahlin ...

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4��Cerýllion hatte mit Rogáril schon im Glorreichen Zeitalter, viele Jahrhunderte zuvor, fragwürdige Verträge von größter Tragweite geschlossen. Damals hatte der Elf gelernt, persönliche Gefühle nach Bedarf ein- und auszuschalten, je nachdem, was die „Karriere“ erforderte. Cerýllion hatte seine Persönlichkeit, seine Gefühle und seine Beziehungen zu anderen Elfen ganz seinem Ehrgeiz untergeordnet und war innerlich biegsam wie Schilf und ungreifbar geworden. Sein Charakter hatte mit den Erfordernissen der Situation gewechselt.

Eines Tages, als er mit etwas Hilfe von Rogáril am Höhepunkt seiner Macht und seines Einflusses angelangt war – als größter Zauberer aller Elfen und als ihr König – hatte er für einen Moment seine eigene Kälte fühlen können, und die Sinnlosigkeit und Leere seiner Existenz. Doch zu jenem Zeitpunkt war es schon zu spät für eine Umkehr gewesen. Ebenso war es zu spät gewesen, um Rogáril und sein Volk so einfach wieder loszuwerden, die Verträge waren besiegelt.

Cerýllion wusste, er hätte Mèra dafür bewundern müssen, wie sie und die drei anderen Könige das Äußere Volk schließlich besiegten – wovon heute noch die Prophezeiung von Theb Nor berichtet. Doch Mèra hatte Cerýllion den Thron gekostet, seine Macht war gebrochen worden und er hatte fliehen müssen. Diese Wunde war nur schlecht verheilt.

Dennoch hatte Cerýllion Mèra nicht damit belogen, dass er sich wirklich nach ihr sehnte – doch nicht um ihretwillen, sondern lediglich als Instrument, um Herr seiner eigenen Einsamkeit zu werden.

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4�� Als Srrig und Taffi in die Gästehöhle zurückkehrten, lehnte Mèra mit einem Tuch unter der Nase an der Wand, den Kopf im Nacken. Sie war bleich und durchgeschwitzt. Auch Taren sah bleich aus und hatte sich hingelegt. Von Melek fehlte jede Spur. Dafür lag ein kleines Arsenal Waffen in einer Ecke. Laura hatte sich ebenfalls schlafen gelegt; sie sah von allen am schlimmsten aus, ein nasses Tuch lag auf ihrer Stirn.

Taffi blickte Srrig vielsagend an, schwieg jedoch. Srrig marschierte schnurstracks zu Mèra und setzte sich neben sie. „Erzähl!“, bat er nur leise.

„Cerýllion“, erwiderte sie unter dem Tuch an ihrer Nase hervor, ohne den Kopf zu heben oder die Augen zu öffnen. „Bleib in meiner Nähe. Ich werde in den nächsten Tagen von einem Zauber umgeben sein, der Gedankenmagie aller Art zerstreut“, erklärte sie.

Taffi sprang von Srrigs Schulter und zwischen die beiden. „Ihr wisst, dass es mit der Befreiung Randolphs nicht getan ist, wenn wir uns wirklich mit Cerýllion und Schattenwacht anlegen wollen“, sagte das Chamäleon mit fester, wenn auch hoher Stimme. „Der vierte König fehlt auch noch.“

„Ich will davon nichts hören!“, sagte Mèra entschieden und machte eine schneidende Handbewegung.

Srrig ließ resigniert den Kopf hängen. „Aber er hat recht“, raunte der Tigermann. „Cerýllion allein ist schon ein gefährlicher Zauberer, und Schattenwacht ist das vielleicht mächtigste Wesen überhaupt in dieser Welt. Wir brauchen T’ral, auch wenn wir ihn nicht mögen, und auch wenn es mir schwerfällt, unsere unterlegene Position

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4��einzuräumen. Und wir spüren beide, in welcher Richtung wir T’ral finden werden.“

„Nach unten“, hauchte Mèra eisig.„Wer ist T’ral?“, fragte Laura neugierig dazwischen. Sie

sah noch immer halb tot aus und rieb sich die riesige Beule an ihrem Hinterkopf, auf der sie gelegen hatte; aber sie war inzwischen offensichtlich hellwach.

„Ein Zauberer“, antwortete Srrig ihr nur.Athónon fügte von seinem Posten am Eingang aus zu:

„Ein Dämonid, eine besondere Form einer dämonischen Kreatur. Die Dämoniden waren in einem früheren Zeitalter die Schöpfungen der Dämonen, doch sie befreiten sich von ihrem Sklavendasein, als ihr eigener Willen erwachte.“

„T’ral ist ein sadistisches Monster“, steuerte Mèra abfällig bei.

„Er war Cerýllions Meisterschüler, der den Meister zeitweilig sogar zu übertreffen verstand“, schloss Taffi die Aufzählungen.

„Also noch jemand, dem man nie begegnen wollte“, seufzte Laura.

Athónon murmelte frostig: „Der Einzige, dem man neben echten Dämonen wirklich nie begegnen wollte.“

Taffi blickte zwischen Srrig und Mèra hin und her. „Also, was tun wir?“, fragte er schließlich ungeduldig, „erst Randolph oder erst T’ral?“

„Erst Randolph!“, sagten Srrig und Mèra gleichzeitig.Srrig fuhr fort: „Danach holen wir T’ral. Wenn wir

tiefer nach unten wollen, sollten wir noch einen Kämpfer dabeihaben. T’ral soll uns dann alle vier direkt weiter teleportieren. Wie in alten Zeiten.“

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4�0 „Und die Sterblichen, die uns begleiten, lassen wir mitten im Feindesgebiet zurück?“, fragte Mèra unwillig. Nach einer langen Pause flüsterte sie bitter: „Es ist gar nichts wie in alten Zeiten. Außerdem ... gibt es da noch ein weiteres Problem.“

Srrigs Augen wurden schmal. „Ja?“, fragte er ahnungsvoll.

Sie schluckte und blickte kurz zu Athónon. „Ich habe einen Fehler gemacht“, hauchte sie ganz leise. Srrig legte den Kopf schräg und schwieg, er wartete auf Mèras weiteren Bericht. Plötzlich war es totenstill in der Gästehöhle.

Bevor Mèra weiterreden konnte, tönten von draußen Alarmrufe.

„Du hattest recht mit dem Angriff, Seher!“, staunte ein junger Nachtelf. Eilig folgte er einem ergrauten Nachtelfen in einen finsteren Gang. Über der offenen Handfläche des Sehers schwebte eine winzige, weiße Lichtkugel. Herrisch fauchte der Seher hinter sich: „Natürlich. Aber jetzt sei still und verrate uns nicht durch Dein Geschrei!“

„Zu spät!“, knurrte eine tiefe Stimme, eine halbe Elfenlänge über ihnen.

Die Nachtelfen erstarrten vor Schreck in der Bewegung. Der Seher ließ sein Licht von seiner Hand fort ein wenig vorwärts schweben. In eine grüne Robe gehüllt, stark gebeugt vom Alter, stand eine Chimärierin vor ihnen im Gang. Ihre Schuppen besaßen kaum noch Farbe, und auch ihre Schlangenaugen waren nahezu bleich. Doch auch

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4�1ohne Chimärier zu kennen, konnten die Nachtelfen im amüsierten Mienenspiel der Riesin sehen, dass ihr Geist noch hellwach und keineswegs alt war.

„Die Schlangenblüter warten auf Dich, Seher, wusstest Du das nicht?“, spöttelte sie und legte angriffslustig den Kopf schräg.

Zerknirscht senkte der graue Nachtelf das Haupt.„Gib mir Dein Geheimnis, dann zeige ich Dir im

Tausch einen sicheren Weg!“, bot die Chimärierin an.„Welches Geheimnis meinst Du?“, fragte der Seher

verwundert.„Siehst Du denn gar nichts? Ts, ts“, spottete die

Chimärierin. „Vermutlich weißt Du dann auch nicht, wer ich bin?“

Der Seher knirschte wütend mit den Zähnen. „Tebaarsha?“

„Ist das eine Frage, Seher? Ich bin enttäuscht. Nein, ich bin nicht Tebaarsha. Ich bin ihre ältere Schwester Zaideena. Du siehst seit Tagen dasselbe in Deinen Träumen. Und obwohl meine eigenen Kräfte reichen, dies zu wissen, kann ich nicht sehen, was Du siehst.“

Der Seher ballte die Fäuste, reckte das Kinn empor und knurrte: „Dieses Wissen wirst Du auch niemals bekommen!“

Hinter ihm räusperte sich der junge Nachtelf. „Herr ... ist das klug, einer mindestens vierhundert Pfund schweren ...“

Zaideena hob die langen Krallen und fletschte grinsend ihre beängstigend spitzen Zähne. Aus der Nase stieß sie eine dichte Rußwolke. „Sag mir, was Du siehst!“, verlangte

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4�2 sie mit lauernder Stimme. „Oder ich reiße Dir persönlich den Kopf ab, noch bevor die Schlangenblüter es tun!“

Der Seher wich bleich zurück. „Ich sehe ... Musik. Eine graue Elfin. Blut. Die Welt in den Klauen Deines Volkes. Ein seltsames Wesen wird sie Euch wieder entreißen. Ein düsteres, ernstes Wesen, vom Leben enttäuscht und aus vielen Völkern gemischt. Es wird den Teufelskreis durchbrechen, den Theb Nor beschrieb.“

„Hatte der Seher damals wirklich Dich gesehen? Woher weißt Du überhaupt, was in diesem Gang passiert ist? Du warst doch gar nicht dabei, Laura!“

„Ach, hör auf, das ist meine Geschichte!“, grinste die alte Kriegerin ihrem Gefährten frech ins Gesicht, während sie ihre Hände am nächtlichen Feuer wärmte.

„Na gut!“, lachte der breitschultrige, zernarbte Elf an ihrer Seite. „Erzähl weiter!“, bat er und strich sich seine graublonden Strähnen hinter die Ohren.

„Nein, heute nicht mehr, ich bin müde“, winkte Laura ab und erhob sich ächzend vom Feuer.

„Ausgerechnet jetzt hörst Du auf?“, protestierte der Elf.„Oja. Ich werde meine alten, kaputten Knochen jetzt auf

mein Lager hieven und schlafen.“„Aber morgen erzählst Du den Rest! Sonst gehe ich nicht

jagen!“, lachte ihr Gefährte.Laura schmunzelte. „Mir doch egal! Ich hab Vorräte für

schlechte Zeiten angelegt!“, stimmte sie ins Lachen ein und rieb sich ihren gewissen Bauchansatz.

Arm in Arm schlurfte das alte Paar in die kleine Hütte und schlief den Schlaf verdienter Helden.

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Danksagung

Mein besonderer Dank giltGeorg Braun, Simon Czaplok und Elke Wendt

für ihre umfassende Unterstützung!

Weiterhin danke ich Karoline Flume, Kai Klisch, Paul Kraft, Florian Maier, Markus „Imiri“ Raab, Sebastian Schmack und Laura Schröder, die mich zu diesem Zyklus inspirierten, sowie allen weiteren Personen, die an der Entstehung mitgewirkt haben.

Einen ganz speziellen Dank schulde ichAndré Dawson Sensei (Budo-Dojo Paderborn) für seine Zeit. Er hat mir vorgelebt, wie man selbst die

unwahrscheinlichsten Ziele erreichen und seinen ganz eigenen Weg gehen kann, wenn man nur nie aufgibt

– egal was der Rest der Welt meint.

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4�6 Ausklang

Aufgrund meines Interesses an verschiedensten Kampfkünsten und meines Kreativtriebs entstand ein kampflastiger Roman. Meine Freunde nahmen mir viele weitere Einzelheiten des Inhaltes durch tausende von Spiel- und Erzählstunden ab: Wir erzählten und erlebten in unserer selbst erdachten Welt Hevanor zahllose Abenteuer. „Schreibst Du das irgendwann alles auf?“, war die entscheidende Frage, die eines Tages gestellt wurde.

Mehrere Charaktere des Romanes entstanden in ihren Grundzügen im Kopf anderer Personen (Athónon: Paul Kraft, Xelos: Georg Braun, Cesius: Kai Klisch, Zeeris: Sebastian Schmack). Jedes Wochenende aufs Neue war das Überleben dieser Figuren ungewiss. Jene Zeit ist leider vorbei, aber ich denke, ich habe den Figuren und ihren Erlebnissen, wie wir sie gemeinsam erzählten, ein würdiges Denkmal setzen können.

Der erste Roman setzt fast nahtlos dort ein, wo unser Erzählspiel aufhörte. Dies hat den Vorteil, dass eine große, epische Handlung mitten im Gange ist und dass eine schillernde, lebendige Welt voller Ereignisse sich den Lesenden entfaltet, ohne dass ich mich zum Zeitpunkt des Aufschreibens noch allzu sehr dafür hätte anstrengen müssen. Ein gewisser Nachteil entstand nun dadurch, dass der Alltag auf Hevas Leib, der jene Welt nachvollziehbarer gemacht hätte, fast völlig aus meinem Blickwinkel verschwand.

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4��Ich war der Auffassung, dass man Bücher nicht eines Alltages wegen liest, sondern wegen der Besonderheiten. „Drum lasset uns niedersitzen zu Trauermären von der Könige Tod“, oder so. Meine Testleser und mein Verlag wiesen mich jedoch zurecht: „So kann man eine fremde Welt nicht kennenlernen. Deine Freunde wussten Bescheid, aber sonst niemand.“ Stimmt. Der große Komplex der Priesterlehre Theb Nors, „Wissen ist böse!“, wird kaum im Roman thematisiert, ebenso wenig wie der antike Alltag. Wegen der Abgeschiedenheit der Protagonisten im Schattenwacht-Zyklus wird sich daran im Verlauf der nächsten fünf Bände auch nichts ändern. Wem jedoch ein bisschen Bodenständigkeit bei den Erben von Theb Nor fehlt, wer die alltäglicheren Seiten Hevanors vermisst, für den wird jeder Band eine kleine Zusatzgeschichte enthalten. Diese Texte werden nichts mit der Romanhandlung zu tun haben, sondern in Silberberg spielen. Es wird darin auch ein paar „gewöhnliche“ Tigermenschen und Dämoniden geben, da diese besonders viel Potenzial für kurzweilige Geschichten bieten.

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4�� Kulturtrümmer

Die Chimärier standen seit einer endlosen Zahl von Tagen vor dem Westtor Silberbergs. Gelegentlich griffen sie die Stadt halbherzig an. Sie hätten sie überrennen können, aber sie taten es nicht. Beinahe gehörte die Präsenz der Bestien schon zum Alltag der Stadt, und niemand wusste, was sie vom entscheidenden Schlag abhielt. Ihre Bataillonsmagier heilten die Verwundeten und ließen sie zwei- oder dreimal in einem Sturm gegen die Mauern rennen; die Übermacht war erdrückend, doch sie toste nur vor den Mauern und schlug nicht darüber zusammen.

Tausende von Menschen hatten Silberberg bereits gen Osten verlassen. Die Metropole der Menschen, für viele Tagesreisen die letzte Bastion wider die Schuppen, stand zur Hälfte leer. Keine fünftausend Personen waren zurückgeblieben. Binnen kürzester Zeit war der Westen der Stadt zu einem riesigen Geisterviertel geworden; die Menschen zogen innerhalb der Mauern ostwärts, wann immer jemand floh und sein Haus verwaist zurückließ. Die Ärmsten und die Nichtmenschen – zumeist Tigermenschen – wurden zum Wachdienst auf den Wehrgängen und Türmen verpflichtet.

Ruth gehörte zu den sechs Priestern, die gemeinsam mit den sechs Reichsten Silberbergs die Geschicke der Stadt lenkten. Noch. Der Tempel des Kriegsgottes Zorm hatte sämtliche Soldaten unter seinem Banner vereint. Tempelfehden gehörten zum Alltag großer Städte, aber die Zormisten gingen zu weit. Sie planten, den Rat zu

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4��entmachten und die Kontrolle zu übernehmen, die bizarre Situation der Stadt als Vorwand nutzend.

„Sie haben den aberwitzigen Plan, einen Ausfall im Namen ihres Gottes zu unternehmen!“, zischte Ruth. Ihr weißes Haar wehte um ihr marmorgleiches Gesicht, während sie agil wie ein Jüngling im Kreis rannte und die knorrigen Fäuste ballte. Zwei Kohlenbecken wärmten den großen, halbdunklen Bruchsteinraum.

„Die Schuppen sind schwach, sonst hätten sie uns längst überrannt“, wiegelte Kalimennos ab, ein fettleibiger Mann mit grauem Vollbart. Er atmete laut schnaufend durch die Nase. „Ihre Schwäche wird sicher nicht bestehen bleiben – es ist schon peinlich lange so, wie es jetzt ist. Sonst ist der Feind viel effizienter.“ Kalimennos stand hinter einem wuchtigen Tisch, stützte die haarigen Fäuste auf das Holz und beobachtete Ruths Auf und Ab. Am Rande des Tisches stand eine goldene Statue des Großen Flussvaters, dessen Hohepriester er war. Auch Kalimennos gehörte zum Stadtrat, und seine türkisblaue Robe mit den goldenen Bordüren zeigte seinen Reichtum. Er wollte den Zormisten Spielraum für ihren Plan lassen, ein Zugeständnis, für das sie im Gegenzug den Rat in Frieden lassen sollten.

„Sie sind nicht schwach!“, keifte Ruth und durchbohrte den Hohepriester mit einem Blick ihrer kleinen, runden Augen. Ihre weiße Robe kennzeichnete sie als Priesterin des Windes, einer unpersönlichen Gottheit, die für Ruhe, Weisheit und Besonnenheit stand. Normalerweise war Ruth so still, dass man sie kaum wahrnahm und leicht übersah. Doch so viele Leben standen auf dem Spiel, wenn die Kriegstreiber des Zorm ihren Plan in die Tat umsetzten!

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4�0 „Nach solch einem Ausfall müssen die Chimärier nicht mehr kämpfen, um die Stadt einzunehmen – es wird niemand mehr am Leben sein, sie aufzuhalten!“

Der Hohepriester des Großen Flussvaters zuckte mit den Achseln. „Es gibt aber keine andere Erklärung für das Verhalten des Feindes als Schwäche.“

„Doch! Die gibt es sicher! Wir kennen sie bloß nicht“, zischte Ruth verärgert und blieb stehen. Kalimennos schwieg sie mit finsterer Miene an. Ruth winkte resigniert ab und huschte hinaus.

„Gib Dich nicht der Neugier hin!“, rief Kalimennos ihr mahnend nach. „Vielleicht ist dies eine Prüfung der Götter, ob wir der Lehre Theb Nors noch treu sind!“ Wissen jeglicher Art galt nach jener Lehre unter Menschen als verwerflich, und Neugier gehörte daher zu ihren schlimmsten und niedersten Regungen.

Kalimennos wollte nicht noch angestrengter darüber nachdenken, warum die Schuppen sich so seltsam verhielten; das schien ihm eine Sünde zu sein. Die Prophezeiung von Theb Nor erklärte ihm schließlich klar, dass zu viel Denken und Wissen den Dämonen ein Tor in die Welt öffnete, und solch ein noch größeres Problem konnten die Menschen nun wirklich nicht gebrauchen ...

„Wieso sind alle Priester dieser neuen, menschenähnlichen Götter so dumm?“, fluchte Ruth leise. „Sie lassen sich wohl von den goldenen Bildnissen ihrer Götzen ablenken!“ Die Windpriesterin stürmte durch einen Gang in die Haupthalle von Kalimennos’ großem Tempel und weiter zum Tor hinaus.

Auf der obersten Stufe warteten bereits Skishri und

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4�1Zenda. Das Tigermenschenpaar mit dem ergrauten Fell lebte seit drei Monden in Silberberg. Weder Anfeindungen der menschlichen Bewohner noch die Schuppen hatten sie vertrieben. Ruth kannte beide nicht gut und erschrak jedes Mal, wenn sie Skishri sah, den Riesen, dessen Muskeln sich unter grauem Fall spannten. Er trug nur einen Lendenschurz. Seine Gefährtin hingegen stammte weit aus dem Osten und war zierlich. Zenda trug Menschenkleidung, einen blauen Rock und eine braune Tunika mit Kapuze. Ein Reißzahn war ihr ausgefallen, sie rieb sich die Lefzen; augenscheinlich hatte sich das Zahnfleisch entzündet.

Die Tigermenschen begrüßten die Windpriesterin mit einer leichten Verbeugung, die Ruth erwiderte. „Du bist weise ...“, sprach Skishri mit seiner tiefen, langsamen Stimme und einem fauchenden, rauen Akzent. „Wir suchen erneut Deinen Rat. Wir sahen Dich hierher gehen und warteten.“

Das Paar hatte vor Kurzem Zuflucht bei Ruth gesucht, als einige Soldaten in ihrem Fremdenhass beinahe zu weit gegangen wären. „Ich helfe Euch gern“, erwiderte Ruth und musterte das Paar ernst – ohne ihnen jedoch direkt in die Augen zu blicken. Dies galt unter Tigermenschen als Provokation, wusste sie, und auch Skishri und Zenda blickten niemals einem Menschen ins Gesicht, den sie nicht sehr gut kannten. Auch verbargen sie ihre Krallen, schoben sie in die Kleidung wie Zenda oder legten die Arme auf den Rücken wie Skishri.

„Ich habe Schmerzen“, maunzte Zenda und öffnete den Mund. Ihr Zahnfleisch war gerötet und angeschwollen,

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4�2 wo einst ihr Zahn gewesen war. Die Reißzähne zu zeigen war für Tigermenschen eine noch größere Provokation als ein Blick in die Augen des Gegenübers. Doch das Paar lebte lange genug unter Menschen, dass es einen Teil seiner Instinkte und Ängste abgelegt hatte und überdies die Menschen gut genug kannte, um zu wissen, dass Ruth sie nicht missverstehen würde. Die Krallen behielt Zenda allerdings in ihren Taschen. Es fiel ihr sichtlich schwer, den Kopf zu heben, um ihre Entzündung zu zeigen und gleichzeitig nicht mit den Augen Ruths Gesicht zu streifen. Sie schloss die Lider beinahe und schielte an Ruth vorbei auf die Straße.

Die Windpriesterin betrachtete das entzündete Zahnfleisch und hob langsam eine Hand. „Ich muss Dein Gesicht berühren“, erklärte sie und versuchte, ihre gewisse Furcht nicht zu zeigen. Sie kannte nicht viele Tigermenschen, und von den wenigen, die sie kannte, hätte sie einigen zugetraut, ihre ganze Hand abzubeißen, sollte Ruth versuchen, sie im Gesicht zu berühren.

Zenda nickte und schloss die Augen. „Wird das weh tun?“, maunzte sie mit starkem Akzent, ganz und gar nicht bedrohlich.

„Nein“, beruhigte Ruth sie und legte ihre Hand auf das Kinnfell. Sie sang eine Ahnenmelodie mit ihrer vom Alter brüchigen Stimme. Skishri sah erstaunt zu, wie die Entzündung sich mit jedem Atemzug verkleinerte.

Ruth wischte einen Schweißtropfen von ihrer Stirn, als sie die Hand wieder fortnahm. „Besorge Dir einen Malachit-Stein und lutsche ihn jeden Abend vor dem Schlafengehen, bis Dein Zahnfleisch wieder ganz heil

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4�3und ohne Schmerzen ist“, erklärte die Priesterin, langsam, damit die Fremden ihre Worte verstanden.

Das Paar verneigte sich dankbar. Skishri hielt ihr eine große Silbermünze der Stadt hin, aber Ruth schüttelte lächelnd den Kopf. „Die werdet ihr für Euer Kind brauchen.“

Überrascht musterten die Tigermenschen sich. „Woher ...?“, fragte Zenda und sah auf ihren noch flachen Bauch.

„Ich war eins mit Deinem Körper, um Dich zu heilen, darum weiß ich, dass Du ein Mädchen bekommen wirst.“ Ruth wollte Zenda herzlich beglückwünschen, aber plötzlich hielt sie inne; sie war nicht sicher, ob die Kultur der Tigermenschen so etwas vielleicht verbot. Vielleicht brachte es ihnen Unglück, das Geschlecht eines Kindes vor der Geburt zu wissen. Vielleicht würde Skishri sie jetzt zerreißen und ihr Blut trinken, wer wusste so etwas bei so fremden Wesen schon. Manche Tigermenschen tranken Blut, das wusste sie.

„Du musst uns nicht fürchten, weise Frau“, erklärte Skishri langsam, als habe er Ruths Gedanken gelesen. Er verneigte sich noch einmal und trat mit Zenda einen Schritt zurück.

In dem Moment tönten die Alarmposaunen überall auf den Zinnen. Eine Steinigung in der Nähe des Tempels wurde unterbrochen; das Opfer, ein Jugendlicher, hatte ohnehin nicht zu Tode kommen, sondern bloß erzogen werden sollen.

Zenda fauchte etwas in Skishris Ohr und zerrte an seinem Arm. Der Tigermann musterte Ruth aus den

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4�4 Augenwinkeln und rührte sich nicht. „Willst Du wissen, wieso die Schuppen nicht in die Stadt einfallen?“, fragte er die Windpriesterin unvermittelt.

Ruths Mund klappte auf. Sie starrte Skishri verblüfft an und vergaß, dass dies bei seinem Volk als sehr unhöflich galt.

„Komm“, sagte der Tigermann bloß zu ihr, wandte sich um und lief voraus. Über die Schulter erklärte er mit überraschender Offenheit: „Ich gehöre zu einem Kult, der die wahre Lehre Theb Nors bewahrt.“ Mancher Priester hätte solch eine Behauptung als blasphemische Beleidigung empfunden, doch Ruth war eine weltoffene, neugierige Frau, die beim Anklagen keine Eile hatte.

„Der Königskult!“, rief sie ehrfürchtig, während sie tapfer versuchte, mit Skishri Schritt zu halten. Obgleich die Tigermenschen ähnlich alt wie Ruth sein mussten, waren sie weitaus kräftiger und schneller als sie. Zenda lief neben ihrem Gefährten und blickte undeutbar zu ihm auf. Die Mimik und Gestik der Tigermenschen war anderen Völkern kaum verständlich; dadurch konnten Zenda und Skishri in Silberberg praktisch ungestört kommunizieren, solange sie es wortlos taten.

„Stimmt es, dass Ihr die verschollenen Vier Könige sucht? Leben sie wirklich noch irgendwo?“, japste Ruth im Laufen.

„Wir wollen Dich einweihen, weil Du weise und begabt bist“, antwortete Skishri äußerst ausweichend.

Auf den Zinnen begann der Kampf. Zahllose Silberberger Bogenschützen schossen ihre Pfeile ab. Einige fest montierte Riesenarmbrüste – nach Vorbildern der Chimärier – wurden in Gang gesetzt. Die imperialen

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4�5Bataillonsmagier wehrten viele Geschosse durch mächtige Zauber ab. Sie hätten die Silberberger Schützen auch in Flammen setzen können, doch aus unerfindlichen Gründen taten sie es nicht.

Die meisten Stadtbewohner hatten sich zwar in ihre Hütten und Häuser verkrochen, waren aber nicht mehr besonders furchtsam. Bei einigen jedoch griff die bizarre Situation dennoch den Geist an, auf andere Weise als durch Furcht. „Zauberer!“, schrien einige Bauern, die schon lange nicht mehr ihre Felder bewirtschaften konnten. Sie schlugen auf einen hageren Mann mit langen schwarzen Haaren ein. Der Mann ging gekrümmt zu Boden, die Bauern traten wild auf ihn ein. Zenda und Skishri liefen in einigem Abstand an der Szene vorbei, Ruth folgte ihnen widerwillig. Die Stadtsoldaten waren alle auf den Zinnen, außerdem dem radikalen Tempel des Zorm verfallen, der nicht eben für Mitleid und Güte bekannt war. Zorm lobte Blutvergießen jeglicher Art als selbstverständlichen Teil des Menschseins, als eine angeborene Regung, mit der die Schwachen von den Starken getrennt wurden. Niemand konnte dem Opfer am Boden jetzt helfen, ob er wirklich ein Verräter der Menschheit im Sinne Theb Nors war – ein Zauberer – oder nicht. Er würde zu Ehren Zorms sterben. Ruth lief keuchend weiter den Tigermenschen nach.

Manchmal nahm sie sogenannte Zauberer unter ihre Fittiche, indem sie deren Gabe als spät entdecktes Geschenk der Götter ausgab. Doch dies war nur unter ruhigen Umständen möglich, nicht gegen die verblendete Blutgier eines hysterischen Mobs, der fanatisch glaubte, im Namen des größten und wichtigsten Gottes Silberbergs

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4�6 zu handeln. Zorms Tempel hatte rasanten Zulauf erhalten, seit die Schuppen die Stadt belauerten.

„Maßlosigkeit ... Wehe den Sorglosen!“, hauchte Ruth und hielt an, als sie aus den Augenwinkeln sah, wie der Mob den toten Zauberer hinter sich ließ und auf das Tigerpaar losstürmte.

„Tut das nicht“, bat Skishri traurig und entblößte kampfbereit die Krallen. Sein Blick funkelte dem Mob entgegen. Zenda stand furchtlos hinter ihm und zeigte ebenfalls die Krallen.

Der kochende Mob reagierte überhaupt nicht. „Tod allen Nichtmenschen! Im Namen Zorms!“, brüllten die Bauern. Völlig von Raserei beherrscht, nicht mehr fähig zu denken, stürzte die vielfache Übermacht sich auf Skishri und Zenda.

Ruth wich entsetzt zurück und murmelte: „Das kommt, wenn man das Denken verbietet und brandmarkt! Die Dummen töten ihre Retter, töten sich somit selbst, und merken es nicht einmal! Wie konnte es dazu kommen, dass Theb Nors Worte so verdreht werden? Lag es wirklich nur an der Machtgier einiger Priester der Vergangenheit, an der verzerrten Auslegung der Prophezeiung?“

Der blindwütige Mob trampelte über die Tigerleichen hinweg. Ruth hätte am liebsten die Augen geschlossen. Worte der Prophezeiung Theb Nors schossen ihr durch den Kopf: „Doch der Feind ist nicht vernichtet! Er lauert auf eine neue Chance, auf eine neue Schwäche in den Seelen, auf dass die Sterblichen selbst ihn befreien. Denn da die Gefahr vergessen ward und die Bücher geleert, konnten sie neu gefüllt werden.“

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4�� Offizielle imperiale Chronologie

Dies Wissen wurde den Weisen Kýnworoks von Schattenwacht persönlich preisgegeben. Es wurde von den wenigen Schriftkundigen des Imperiums nieder-geschrieben, die gemahnt wurden, zu berücksichtigen, dass Wissen Macht sei und nicht jeder einfache Soldat jener Macht gewachsen sei. Die Schriften seien daher an einem geheimen Ort zu verwahren.

v.S. = vor Schattenwachts Thronbesteigung,

n.S. = nach Schattenwachts Thronbesteigung

Géorr = Hevanor; Blutsturm = Magie

Zeit der Mythen und Ahnen (10.000 – 300 v.S.)

um 8.000 v.S. Unsere Vorfahren, die Inferior, bekämpfen das

andere Urvolk Géorrs, die Dahnrud, und deren

Verbündete, die Götter. Auslöser dieses tausend

Jahre dauernden Ersten Krieges ist der Blutsturm,

unsere Lebensgrundlage. Schattenwacht überlebt als

einziger Inferior im Exil.

um 6.000 v.S. Entstehung der Völker, wie sie heute existieren.

Auch wir werden nach dem Vorbild der Inferior von

den Göttern geschaffen.

um 4.000 v.S. Beginn des Glorreichen Zeitalters; Technologie

und Zauberei harmonieren und die Sterblichen

respektieren den lebenden Blutsturm.

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4��um 2.000 v.S. Das Äußere Volk fällt auf Géorr ein, wie die Götter

zuvor vom Blutsturm angelockt. Die Sterblichen

müssen allein kämpfen.

um 1.500 v.S. Die Götter erklären den Untergang der Sterblichen

zu einer gerechten Strafe, angesichts des massiven

Missbrauchs des Blutsturms. Die Vier Könige

vereinen alle sterblichen Völker, rebellieren gegen

die Götter und schlagen das Äußere Volk in einer

epischen Schlacht zurück.

um 1.000 v.S. Unsere Ahnen, größer und stärker als wir, zudem

flugfähig, werden von den Vier Königen gejagt,

obwohl sie einen erheblichen Anteil am Sieg über

das Äußere Volk hatten. Der heutige Rachekrieg

gegen die Niederen ist daher legitim.

um 500 v.S. Unsere Ahnen sind beinahe ausgelöscht und

vollbringen einen mächtigen Zauber, um ihr Volk

für immer zu verwandeln.

Die Frühzeit unseres heutigen Volkes (300 – 156 v.S.)

um 280 v.S. Der Großmagier und Hohepriester Zhaikr, ein

Nachfahr Schattenwachts, kommt an die Macht

und wird erster Imperator.

um 200 v.S. Ausgeprägte religiöse Infrastruktur; wir dienen

Schattenwachts gottgleichen Kindern und Jüngern,

Feinden der anderen Götter.

Zeit der Glaubenskämpfe (155 – 100 v.S.)

155 v.S. Abschaffung der letzten religiösen Riten. Religion

steht fortan unter Strafe. Schattenwachts Nachfahren

und Jünger werden getötet.

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500 112 v.S. Kreuzzug einiger Kulte gegen die inzwischen

herrschende Generalität.

Der Dunkle Rückfall (98 – 1 v.S.)

98 v.S. Ein gigantisches Erdbeben verwüstet das Imperium.

Ein Jahr später bricht zusätzlich der Vulkan Pirthei

aus. Beides gemeinsam lässt zahlreiche religiöse

Kulte entstehen.

3 v.S. Höhlenfund, der 1 v.S. durch das Versehen einiger

Niederer den göttlichen Imperator Schattenwacht

wieder freilässt.

Die ersten Jahre des Schattenwacht (0 – 23 n.S.)

0 Thronbesteigung des Imperators.

21 n.S. Die Vier Könige verschwinden. Ihre Aufgabe,

die Welt neu zu errichten, ist erfüllt. Als Wächter

gegen das Äußere Volk werden sie auch nicht länger

benötigt, da die Götter sich mit ihrem Verwandten

Schattenwacht versöhnen und ihm fortan jene

Aufgabe übertragen.

22 n.S. Dämonensichtungen. Das Äußere Volk schickt

Späher nach Géorr. Zum ersten Mal verwandelt sich

ein Elf in einen Nachtelfen.

Jahrhundert der Sklavenaufstände und quälender Stillstand

(24 – 374 n.S.)

261 n.S. Der Vorläufer der Prophezeiung von Theb Nor

entsteht durch Weise und Priester des Königskultes;

dieser Kult sieht sich als Nachfolgemacht der seit

über 200 Jahren verschollenen Vier Könige.

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501

Auf der Autorenhomepage www.michaelthiel-autor.deund unter www.thebnor.de finden Sie weitere Informationenund noch mehr rund um die Welt der Erben von Theb Nor.

Wir freuen uns auf Ihren Besuch!

Aufkeimen des Zivilistentums und das II. Glorreiche Zeitalter

(376 – 433 n.S. (heute))

412 n.S. Eine angebliche Zeitreise unbekannter Niederer des

Königskultes, darunter mutmaßlich der Avatar der

Elfenkönigin Mèra, sowie einer der mächtigsten

Krieger Silberbergs und ein großer Zauberer, bringt

Gerüchten zufolge die Vier Könige in die Welt

zurück.

433 n.S. Heute. Verbotene religiöse Kulte, z.B. auf dem

ehemaligen Gebiet der Dämoniden, sprechen auch

vom Jahr 713 nach dem Heiligen Zhaikr.

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Schattenwacht-Zyklus- Aus der Welt der Erben von Theb Nor -

Böses Erwachen

Preis der Unsterblichkeit

Spiel mit dem Feuer

Sühne der Könige

Sturz eines Gottes

Ende der Nacht

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DEM ABGRUND ENTRINNEN

Eine brisant gemischte Gruppe von Abenteurern macht sich auf, den stets mächtiger werdenden Chimäriern zu widerstehen. Die Mischwesen aus Drachen- und Menschenblut scheinen unausweichlich die gesamte bekannte Welt zu unterjochen. Unterstützt von kampferprobten Gefährten und hadernden Halbgöttern, nimmt die junge und unerfahrene Halbelfin Laura die Herausforderung der dunklen Übermächte an.

„Böses Erwachen“ bildet den fesselnden Auftakt im sechsbändigen Kampf gegen das Imperium des Chimärierfürsten Schattenwacht. Insbesondere die realitätsnahe Darstellung der Kampfszenen versetzt die Leserschaft mitten ins Geschehen, saugt förmlich in den Strudel der Geschichte – und lässt Sie so fast am eigenen Leib erfahren.

Böses ErwachenBöses ErwachenBöses ErwachenMichael ThielMichael Thiel

Schattenwacht-Zyklus

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Schattenwacht-Zyklus

ISBN 978-3-940-92800-9

10.95 € [A]9 783940 92800918.90SFr(UVP)

9.95 € [D]