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über die polynucleose im liquor cerebrospinalis, insbesondere bei der progressiven paralyse. (Mit einem Beitrag zur Kasuistik der Strangulationspsychosen.)

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Uber die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis, insbesondere bei der progressiven Paralyse.

(Mit einem Beitrag zur Kasuistik der Strangulationspsychosen.)

Von M. Pappenheim.

(Aus der psychiatrischen Klinik in Heidelberg.)

( Einffeganffen am 24. Dezember 1910.)

K a f k a hat in einer im 1. Bande dieser Zeitschrift erschienenen Arbeit ,,Uher die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis bei der pro- gressiven Paralyse" meine in der Monatsschrift ffir Neurologie und Psychiatrie (Bd. 21, 1907) erfolgte VerOffentlichung fiber diesen Gegen- stand einer ziemlich eingehenden, ablehnenden Kritik unterzogen. Ich muB gestehen, dal~ ich reich durch seine Ausfiihrungen nicht habc iiberzeugen lassen, und ich halte es fiir meine Pflicht, im Interesse der KIKrung der aufgeworfenen Frage seinen Darlegungen in manchen Punkten entgegenzutreten.

K a f k a versucht den Nachweis zu ffihren, dab der yon anderen Autoren und mir betonte Z u s a m m e n h a n g zwischen einer Vermehrung der polynuclegren Zellelemente im Liquor cerebrospinalis und irgend- welchen Exacerbationserscheinungen im Krankheitsbilde der Paralyse n i c h t bestehe.

Zur Stiitze seiner Anschauung fiihrt er 17 eigene Beobachtungen an, yon welchen 9 E x a c e r b a t i o n e n i m Krankheitsbilde aufweisen, die n i c h t mit einer Steigerung des Leukocytengehalts im Liquor einher- gehen, 8 andere (unter Einrechnung des yon K a f k a bei der ersten Gruppe aufgeffihrten Falles 10) dagegen, die eine V e r m e h r u n g des prozentuellen L e u k o c y t e n g e h a l t e s o h n e jede E x a c e r b a t i o n s - e r s c h e i n u n g zeigen. Der Fall 10, auf den K a f k a selbst offenbar kein groBes Gewicht legt, kann bei der Besprechung der ersten Gruppe wohl ausscheiden, da K a f k a yon ihm sagt, es sei ,,keineswegs sieher- gestellt, daf~ kS sich um ein paralytisches Fieber handle". Ich glaube in der Tat, da~ man, so sehr man - - m. E. mit Reeht - - v o n d e r Existenz eines ,,paralytischen Fiebers" iiberzeugt sein mag, bei der Zuordnung des einzelnen Falles sehr vorsichtig sein mu$, und ich selbst wiirde reich nur getrauen, in solchen F~llen yon paralytischem Fieber zu sprechen, in welchen die Attacken wiederholt auftreten und schnell

Z. f. d. g. Neut . It. Psych. O. IV. ] 8

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vorfibergehen. Ein einmaliges ffinft~giges Fieber macht die Annahme einer anderen - - nicht gefundenen - - somatischen Ursache desselben wahrscheinlich. Die F~lle 3 und 7 geh6ren gleichzeitig auch in die zweite Gruppe, da sie bei je einer Punktion Leukocytenvermehrung 1) ohne Exacerbation zeigten.

Im folgenden will ich vorerst versuchen, K a f k a s ,,in extenso'" wiedergegebenes Material - - das bedeutet offenbar, dab K a f k a einer- seits die Resultate s ~ m t l i c h e r in Exacerbationen vorgenommenen Punktionen, andrerseits a l l e F~lle wiedergegeben hat, in denen Poly- nucleose gefunden wurde - - statistisch zu verarbeiten. Auf diese Weise scheint mir die Frage nach dem Zusammenhange der Erscheinungen, die, wie ich schon in meiner ersten Arbeit betonte, nicht j e d e s m a l gleichzeitig auftreten, am ehesten gel6st werden zu k6nnen.

Die erste Gruppe - - Punktionen zur Anfallszeit - - umfal~t die 9 ersten F~lle K a f k a s mit 10 Punktionen (FM1 3 zweimal, die anderen je einmal); dazu kommen zwei Punktionen des FMles 17 - - die vom 22. Februar und die letzte. Bei 4 yon diesen 12 Punktionen fand sich Polynucleose (zweimal im Fall 3, je einmal im Fail 5 und 17), die anderen waren - - im Sinne unserer Frage - - negativ. K a f k a s Be- merkung, dab Fall 3 auch einmal Polynucleose ohne Anfall zeigte, kann bei unserer statistischen Verwertung nicht als Einwand gelten, weil diese Beobachtung im Fall 3 ebenso wie in allen anderen F~,llen - - auI3er Fall 17 - - nur einmal gemacht wurde. Daraus ergibt sich aber nicht, dal3 es sich im Fall 3 um eine l a n g e d a u e r n d e Polynucleose gehandelt babe, wie sie sich im Falle 17 findet, der sich, wie ich sparer n~her ausf/ihren werde, von den anderen Beobachtungen wesentlich unterscheidet. Es w~re aus diesem Grunde wohl berechtigt gewesen, den letzteren Fall (17) fiir die statistische Berechnung auszuscheiden, zumal er viel 6fter punktiert wurde als alle anderen F~lle. Doch unter- liel3 ich dies, um die Resultate nicht zu meinen Gunsten zu verbessern.

Auch einige andere Punktionsergebnisse aus der ersten Gruppe K a f k a s kann ich nicht ohne weiteres anerkennen, und zwar die letzte Punktion des Falles 17, die knapp vor dem Tode des Patienten ge- macht wurde, und die F~lle 1 und 8, die anscheinend ebenfalls kurze Zeit vor dem Tode - - die genauen Daten fehlen leider - - punkt ier t wurden. K a f k a scheint es ganz entgangen zu sein, da~ ich in meiner ersten Arbeit darauf aufmerksam machte, dab auffallenderweise kurz vor dem Tode die Leukocytenvermehrung nach Anf~llen verh~ltnis- m~Big selten auftr i t t oder in manchen F~llen schwindet, wenn sie vor- handen war - - eine Beobachtung iibrigens, die vielleicht das Resultat

i) Wenn schlechtweg von Leukocytenvermehrung oder Polynucleose odor dgl. die Redo ist, so ist stets eine Steigerung des p rozen tue l len Verh~ltnisses der potynucle~iren Zellen des Liquor fiber das gewShnliche MaB gemeint.

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der am Sterbetage vorgenommenen Punktion im Falle 5 K a f k a s , die zwar eine Vermehrung der Polynucle~ren, aber nur bis zum ,,Grenz- weft" ergab, noch etwas wertvoller erscheinen l~{]t.

Zur zweiten Gruppe - - Polynucleose ohne Exacerbation - - geh6ren die Beobachtungen K a f k a s 10--16 mit je einer Punktion, die F~lle 3 und 7 aus der ersten Gruppe K a f k a s , gleichfalls mit je einer Punktion, und der Fall 17 mit 12 Punktionen. Dem letzten Falle gegenfiber kann ich einen Einwand nieht unterdriicken. Zwei der st~rksten Poly- ~mcleosen dieses Falles (100% und 83%) schlossen sich der ersten und zweiten Einbringung des Kranken in die Klinik an. Man wird es wohl kaum ausschliel~en k6nnen, dal~ sich die Einweisungen an ,,Exacer- bationen" angeschlossen haben. Es wundert reich, dab K a f k a diese M6glichkeit nicht selbst erwog, da er sich in einem meiner F~lle sogar einem anamnestisch erhobenen Anfalle gegeniiber skeptisch verh~lt und da man im allgemeinen doch wohl positiven anamnestischen An- gaben einen gr6~eren Wahrseheinlichkeitswert beimessen wird als negativen. Die gleiche Erw~gung w~re auch fiir K a f k a s F~lle 12 und 16 anzustellen, die vier bzw. zwei Tage nach ihrer Aufnahme in die Klinik punktiert wurden.

Fassen wir das so ausgebreitete Material unter bestimmten Gesichts- punkten zusammen, so sehen wir, da[~ K a f k a u n t er iib er 450 P u n k - t i o n e n (fiir die Ausrechnung habe ich die runde Zahl 450 beniitzt, was einen ganz unwesentlichen Fehler verursacht) im ganzen 25real (darunter im Falle 17 allein 12mal), d. i. in 5,560/0 aller Punktionen, P o l y n u c l e o s e fand. Untersuchen wir nun, wie oft A n f ~ l l e m i t P o 1 y n u e 1 e o s e einhergehen, so k6nnen wir konstatieren, dai~ u n t e r 12, zur Anfallszeit vorgenommenen P u n k t i o n e n 4 r e a l , d. i. in 33,33~o ~fller F~lle, Polynueleose angetroffen wurde.

Berechnen wir andrerseits, wie oft sich in a n f a l l s f r e i e n Z e i t e n P o l y n u c l e o s e findet, so sehen wir, dal~ das nut in 4,79O/o - - 21mal u n t e r 438 P u n k t i o n e n - - der Fall war.

Man sieht also aus dieser Zusammenstellung, die k e i n e n der zu- gunsten meiner Ansehauung g e g e n K a f k a s M a t e r i a l v o r g e b r a c h - t e n E i n w i i n d e b e r i i e k s i c h t i g t , sondern sein Material so verwertet, wie er es selbst bringt, dai] eine V e r m e h r u n g d e r p o l y m o r p h - k e r n i g e n Zellen im Liquor der Paralytiker nahezu 7 m a l so h ~ u f i g g l e i c h z e i t i g m i t A n f ~ l l e n als o h n e solche auftritt.

Man wird demnach K a f k a nieht gut zugeben k6nnen, dail es ins Auge f~llt, wie selten eine Exacerbation des Kranldaeitsbildes mit Polynucleose ,,auch nur ann~ihernd parallelgeht", und man wird auf Grund seines eigenen Materials schwerlich ,,sagen miissen, dal~ das Nebeneinandervorkommen yon Polynucleose und Anfall wohl nur eia zufiilliges ist".

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Man wird das noch weniger dann tun, wenn man auf die Literatur noch etwas genauer eingeht als K a f k a , aus dessen Darstellung aUer- dings auch schon deutlich zu ersehen ist, dab bei der MehrzaM der Autoren die Meinung yon einem Zusammenhange der erw~hnten Er- scheinungen besteht.

K a f k a ffihrt zwar an, ,,dab viele Autoren das Vorkommen der Polynucleose nach oder bei Anf~llen usw. direkt leugnen", nennt aber yon diesen bloB F i s c h e r .

Ich land bei einer neuerlichen, ziemlich eingehenden, wenn auch nicht vollst~ndigen, Durchsicht der einschl~gigen Literatur diesen Zusammenhang eigentlich nur in einer Diskussionsbemerkung yon J o f f r o y yore Jahre 1903 direkt bestritten. In seinem neuen Buche fiber die Paralyse drfickt sich aber auch J o f f r o y ein wenig zuriiek- haltender aus, indem er unter Hinweis auf die hierher gehSrigen Befunde anderer Autoren (S. 105) schreibt: ,,Nous m~mes nous avons constat~, exceptionnellement, cette predominance de polynucl~aires sur les autres ~16ments, mais ell dehors des ictus et pendant une p~riode plus ou moins prolong6e de ]a maladie; cette polynucl6ose ~tait ind6pendante de toute circonstance particuli~re appreciable". J o f f r o y scheint also F~le yon schnell vorfibergehender Polynucleose - - und auf diese kommt es, wie ich noch ausfiihren werde, in diesem Zusammenhange an - - fiberhaupt nicht gesehen zu haben.

Was F i s c h e r betrifft, so betont er allerdings, dab er auch ffir eine qualitative ~mderung des Zellbildes kein Symptom eruieren konnte, das damit in einem gewissen klinischen Zusammenhang stehen wiirde; er fiihrt auch an, daI~ er besonders wegen der Frage der Polynucle~ren auch auf fieberhafte Zust~nde geachtet habe. Ob er aber diese Frage auch bei den Anf~llen beriicksichtigte, geht aus seiner Arbeit nicht ganz unzweideutig hervor. Die Beispiele, die er anfiihrt, beziehen sich blol~ auf das Verhalten der Zellzahl iiberhaupt und nicht auf das der Poly- nucleose.

Was bringt nun K a f k a gegen j ene Autoren vor, die den besprochenen Zusammenhang bejahen? Den allgemeinen, nicht dutch Kranken- geschichten belegten Angaben der Literatur - - er zitiert eine solehe aus dem Buche von A n g l a d a - - legt er offenbar keinen groI~en Wert bei. Ich kann ihm hierin nur vollkommen beistimmen. Zwar lassen sich noch andere derartige Angaben auffinden - - so die in meiner ersten Arbeit zitierte Bemerkung Z i l a n a k i s und bei H e n k e l : ,,Das zahlreiche Auftreten yon polynucle~ren Zellen im Anschlul] an einen paralytischen Anfall haben wit auch einige Male nachweisen kSnnen" - - doch kann man bei so allgemeinen Eindrfieken leiohter einer T~usehung unterliegen. Das lehrte mich vor allem eine Arbeit R e h m s , welcher S. 239 angibt, da{~ er in einzelnen F~llen yon Paralyse, insbesondere

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naeh Anf&llen, eine geringe Leukoey tose neben der sonst igen Zell-

ve rmehrung habe nachweisen k6nnen, wi ihrend er auf S. 266 das gerade Gegentei l b e h a u p t e t und nur in e inem Fa l l yon Hirn lues nach e inem Anfal le Leukoey tose gesehen h a b e n will.

Dagegen seheint mir der von K a f k a beziiglieh der konk re t en Bei- spiele der Au to ren 1) erhobene Einwand , dal~ yon diesen , , ja nur jane Fii l le publ iz ie r t werden, wo E x a c e r b a t i o n e n mi t Polynueleose vor- kommen , die ohne solehe aber n i ch t " , von ihm fiber Gebi ihr eingeseh&tzt zu werden, Die Liquorpolynue leose ist, wie aueh aus K a f k a s e igenem Mater ia l hervorgeht , so selten, da{~ auch einzelnen m a r k a n t e n Be- obaeh tungen ein re la t iv hoher W e r t zukommt .

E in de ra r t ige r Fa l l k a m z. B. vor n ieh t langer Zeit in unserer K l in ik zur Beobaeh tung .

62jiihriger Pat., am 21. Januar 1910 in die Klinik aufgenommen. Der Kranke hatte sieh seit Oktober des vorigen gahres psychiseh veriindert. In der Klinik zeigte er eine vorgesehrittene Demenz, schlechtes ReehenvermSgen, mangelhafte zeitliehe Orientierung. Er war andauernd euphorisch, meist leieht erregt, redete viol, mischte sieh in alle Gespriiche in seiner Umgebung, produzierte enorme GrSl~enideen, er sei Kaiser, besitze die ganze Welt.

KSrperlieh war eine Facialisdifferenz, ein Tremor der Zunge und der Finger, eine hochgradige artikulatorische SprachstSrung zu konstatieren; es bestand ferner Argyll-Robertson, Hypalgesie, etwas Hyptonie der Beine, etwas stampfender Gang; der Patellarsehnenreflex war reehts sehr schwaeh und fehlte links. Die Wassermannsehe Reaktion war im Blute und im Liquor positiv. Im letzteren fand sich auch starke EiweiBvermehrung naeh Ni s s l und positive Nonnesehe Reaktion.

Am 23. Februar gegen Mittag trat plStzlieh - - ohne dab eine BewuBtlosigkeit odor dab Zuckungen beobachtet worden w~iren - - eine schwere ~ngstliche Erregung bei hochgradiger A p h a s i e auf. Nachmittag lallte Pat. nur unverst~ndlieh und w~lzte die Zunge im Munde. Abends 8 Uhr: Temp. 38,7. Pat. sprieht nur einige verstiindliehe Worte - - ,,Gesundheit, meine Herren, ach ja" - - wiederholt diese immer wieder, produziert dazwisehen ganz sinnlose Silben.

Am 26. Februar waren die aphasisehen StSrungen bis auf ein Minimum verschwunden, die ~ngstliche Erregung war dem friiheren euphorisch-dementen Verhalten gewichen.

Am 13. Miirz neuerlicher Anfall von Aphasie - - doch sind die StSrungen ge- ringer als das erstemal - - bei geringer Benommenheit. Am folgenden Tage waren nur mehr Spuren aphasischer St6rung naehzuweisen.

1) Hier diirfen wohl zwei Beobachtungen von W i d a l , L e m i e r r e et B o i d i n Erwiihnung linden, die sich zwar nieht auf die progressive Paralyse beziehen, aber dennoch wohl in diesen Zusammenhang gehSren und die yon K a f k a und mir noch nieht zitiert wurden. Die Autoren hatten in zwei F~illen von Syphilis des Zentralnervensystems Polynuoleose gefunden. Im ersten handelte es sich um eine Frau m~t seit vier Jahren bestehender syphilitiseher Hemiplegie, bei welcher epileptiforme Anf&lle auftraten. Der zweite Fall zeigte ,,accidents c~r6braux aigus et e~cit~ d'origine corticale" und wurde ebenso wie der erste dureh spezifische Behandlung gebessert. Die Polynueleose ,,a ~t~ constat6 pendant l'4volution d'accidents aigus e t a disparu en m~me temps que les symptomes eliniques alarmants".

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Am 23. M/~rz wurde der Pat. in eine andere Anstalt iibergefiihrt. Der Krank(, wurde w~hrend seines AufenthMts in der Klinik 13mal tmnktiel'tl), und zwar am 29. Januar, am 23., 24., 25., 26, 27. 28. Februar, am 1., 2, 5., 14., 15., 17. Miirz. Am 23. Februar fanden sich 15~ am 24. 40~ am 25. 12~ polymorphkerniger Zellen im Liquor; bei den fibrigen Punktionen schwankte ihre Prozentzahl zwischvn 0 und 39o.

Der Fall bedarf wohl keiner n~heren Erl/~uterung. Unter 13 Punk- tionen fand sich bei einem Paralytiker eine P o l y n u c l e o s e n u r z u r Z e i t e i n e s A n f a l l s , der auch mit einer Temperatursteigerung einher- ging. Ein zweiter Anfall verlief ohne Polynucleose.

Der friiher erwKhnte Einwand K a f k a s - - daI~ die Autoren nut die positiven F/~lle publizieren - - , trifft abet fiir drei Ver6ffentlichungen, denen allerdings nur ein verhgltnism~gig kleines Material zugrunde liegt, fiberhaupt nicht zu.

So fand N i s s l unter 60 Punktionen nut ein ei n z i g e s Mal zahlreiche PolynucleKre - - bei einem Kranken, der zur Zeit dieser Punktion ein ,,wesentlich anderes VerhMten" als sonst darbot, benommen war und fast nicht reagierte. Vor und nach dieser Zeit war bei dem Patienten die fibliche Lymphocytose gefunden worden.

J a c h fand bei der Untersuchung yon 40 Paralyt ikern nur in e i n e m Falle eine Vermehrung der Polynucle~ren. Der betreffende Kranke wurde ,,im Status punkt ier t" ; im Blute des Patienteu wurden 18 000 Leukocyten gez~hlt.

W a d a und M a t s u m o t o machten 14 Punktionen bei Paralytikern: W~hrend eines Anfalls fanden sie Polynucleose, w/ihrend einer akuten Exacerbation eine sehr geringgradige, die sie zwar als solche anerkennen, die ich abet nicht mit verwerten m6chte. Bei den anderen, nicht in Anfallszeiten gemachten Punktionen konstatierten sie zweimal Poly- nucleose. Eine statistische Ausrechnung dieser Ergebnisse, die aller- dings bei dem kleinen Material nicht viel bedeutet, zeigt wieder das Uberwiegen der Polynucleose zur Anfallszeit. Da K af k a diese Arbeit in einer etwas merkwiirdigen Weise zitiert - - er schreibt: , , W a d a und M a t s u too to haben iiberdies nachgewiesen, dal~ es im Blute der Para- lytiker zu Schwankungen in der Menge der polynuclei~ren Leukocyten kommt, die auch ohne Anfall oder Exacerbationen des Krankheits- brides hohe Zahlen erreicht und mit der Liquorpolynucleose nicht parallel geht" - - so sei es mir gestattet , aus dem Originaltexte zu zitieren. Die Autoren fiihren (S. 181) aus: ,,Wenn man weiter den Befund des Blutes und der Zellen im Liquor vergleicht, so findet man eine interessante Tatsache. Unter fiinf F~llen, bei denen die weiBen Blutk6rperchen fiber 10 000 vermehrt waren . . . . wich der Prozentsatz

1) Die Punktionen und Liquoruntersuchungen wurden in diesem und in den sp~ter angefiihrten Fiillen unserer Klinik yon Dr. Ranke ausgefiihrt.

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der einzelnen Leukocytenarten des Blutes nicht vonder Norm ab; und bei diesen F~llen betrugen die kleinen Lymphocyten im Liquor 95--97o/0 . Aber bei zwei anderen F~llen. . . , die eine betrs Leukocytose (24 879 resp. 18 332), zumal eine polynucle~re Leukocytose (95 resp. 91%) des Blutes zeigten, bemerkten wir eine relative Verminderung der kleinen Lymphoeyten (89 resp. 48~ und eine relative Vermehrung der polynuele~ren Leukocyten (9 resp. 46~o) im Liquor; klinisch be- trachtet, wurde die erstmalige Untersuchung des Falles III in der Periode der akuten Exacerbation, die zweite Untersuehung des Falles VIII im epileptiformen Anfall ausgefiihrt. Wir best~tigen damit, dal~ diese Befunde mit der Mitteilung von P a p p e n h e i m iibereinstimmen, welcher bei der akuten Exacerbation und beim Anfall der progressiven Paralyse sowohl eine Leukocytose, zumal polynucle~re Leukocytose des Blutes, als auch eine Vermehrung derselben Elemente im Liquor fan&"

Auch meinen weiteren Auseinandersetzungen schlieBen sich die Autoren an: ,,Das Vorkommen der polynucle~ren Leukocytose des Liquor und des Blutes bei der akuten. Exacerbation und beim apoplekti- formen Anfall der Paralyse mug auf eine allgemeine Wirkung des paralytisehen Giftes zuriickgefiihrt werden, wie das P a p p e n h ei m mit Recht betonte" (S. 187).

K a f k a kam, wie wir sahen, auf Grund seiner klinischen Beob- achtungen, die er mir, wie ieh zeigte, nicht richtig bewertet zu haben scheint, zur gegentailigen Uberzeugung. Er stiitzt diese aber auch auf - - ich mOchte sagen - - rein theoretisehe Anschauungen. Er sehreibt: . . . ,,Man kann daher weder sagen, da[~ die Polynucleose die Ursache oder Folge des Anfalls ist, noch dal~ beide einer gemein- samen Ursache entspringen. Die Polynucleose im Liquor cerebro- sloinalis diirfte auf einen rein lokalen Prozeg, auf Exacerbationen im Entziindungsbilde der Meningen der unteren Riickenmarksabschnitte zuriickzufiihren sein; dafiir sprechen auch: das schnelle Verschwinden der Leukocyten, ihre Labilit~t, das Nichtauftreten sonstiger Krank- heitserscheinungen; die Anf~lle usw. hingegen werden natiirlieh vom Gehirn ausgel6st."

Diese Sgtze bediirfen, wie mir scheint, zum leichteren Verst~ndnis einer etwas n~iheren Ausfiihrung. Die Annahme, dal~ Polynucleose und Anf~lle bei der Paralyse eine gemeinsame Ursache haben, dag sie durch eine sehubweise - - ieh m6ehte sagen, anfallsweise - - Einwirkung des Paralysegiftes (Gift im weitesten Sinne) hervorgerufen werden, enth~lt zwei Behauptungen. Erstens die, dab sowohl Polynucleose als auch Anf~lle iiberhaupt die unmittelbare Folge der Paralysegift- wirkung sind, zweitens die, dag beide Erscheinungen nicht auf eine lokale - - lokal entstandene und bloB lokal wirkende - - Giftmenge,

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sondern auf eine irgendwo entstandene und im K6rper kreisende Gift- menge, also auf eine a l lg e m ei n e Giftwirkung, zuriiekzufiihren sind.

Was die erste Behauptung betrifft, so ist es ldar, dab die Poly- nucleose gelegentlich auch auf andere Ursachen, z. B. auf eine infekti6se Meningitis, zu beziehen ist; diese Fglle kommen bier nicht in Frage. Fiir die anderen Fi~lle yon Polynucleose wird wohl aueh K a f k a zugeben, da~ sie, bzw. die ,,Exacerbation im Entziindungsbilde der unteren Meningen des Riickenmarks" eine direkte Folge der Paralysegift- wirkung ist.

Nicht so selbstverst~ndlich ist die Beantwortung dieser Frage ix~ bezug auf das Auftreten der Anf~lle. Zur Erkl~rung derselben kann man n~mlich auch annehmen, dal3 das Paralysegift gewisse organische Ver~nderungen im Gebirn gesetzt hat, die dann yon Zeit zu Zeit, ohne den jedesmaligen - - sozusagen funktionellen - - EinfluI] der Gift- wirkung, Anf~lle 1) ausl6sen - - wie es etwa arteriosklerotische Herde tun. Ob K a f k a vielleicht dutch seine ~ut~erung, da~ die Anf~lle ,,natiirlich vom Gebirn" kommen, dieser Meinung Ausdruck geben wollte, die mir fiir einzelne F~lle m6glich, nicht aber a priori fiir Mle berechtigt zu sein scheint, weft] ich nicht. Jedenfalls hat er nichts zu ihren Gunsten vorgebracht, so dal~ ich auch fiir diesen Tell der an- gefiihrten ersten Behauptung bei K a f k a keinen Einwand linden kann.

Anders steht es mit der zweiten Behauptung. Diese, die ja die erste in sich einscMiel3t, wird gerade dutch die Beobachtung wahrscheflfiich gemacht, dal3 Polynucleose und Anf~lle 1) verh~ltnism~ig h~ufig - - 6fter als es eine Wahrscheinlichkeitsrechnung ergeben wiirde - - zu gleicher Zeit auftreten. Ist das nicht der Fall, dann f~llt auch der Grund fiir eine solche Annahme weg. Das letztere nachzuweisen, hat K a f k a in erster Linie versucht - - wie ich gezeigt zu haben glaube, nicht er- folgreich.

Der zweite Weg, den er begeht - - so sind offenbar seine friiher an- gefiihrten S~tze zu verstehen - - ist der, nachzuweisen, dal3 die Poty- nucleose eine rein l o k a l e , yon einer allgemeinen Giftwirkung g~nzlich

1) Ahnliche Erw~gungen gelten auch fiir andere Exacerbationserscheinungen. Dabei ist es aber ein Mii~verst~ndnis yon seiten K a f k as, wenn er als Beispiel gegen meine Ansicht anffihrt, dal~ sein Fall 17 zur Zeit einer Erregung (Punktion vom 8. Oktober) eine verhiiltnism~l~ig geringe Polynucleose zeigte. In diesem Falle handelte es sich nicht um eine akute Exacerbation. Das psychische Wesen des Kranken hnderte sich under war durch einige Wochen erregt. Erregung und Exacerbation sind aber keineswegs identiseh. Einerseits befindet sich doch eine expansive Paralyse nicht stiindig im Stadium der Exacerbation, andrerseits kann auch das Einsetzen yon Stumpfheit das Zcichen einer solchen sein. Man wird aber psychische Erscheinungen nur dann mit Wahrscheinlichkeit auf Exacerba- tionen - - d. h. im Sinne meiner ersten Arbeit auf ,,Giftschiibe" - - zuriickfiihren kSnnen, wenn sie unvermittert einsetzen und schnell wieder schwinden.

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unabh~ngige Ursache habe. Als Grfinde daffir f i ihr t er an: ,,auch das schnelle Verschwinden der Leukocyten, ihre Labiht~t, das Nicht- auftreten sonstiger Krankheitserscheinungen." Welcher Grund, wie man aus dem ,,auch" schliel3en mu$, noeh in Betracht kommt, ist nicht erw~hnt. Ich vermute, da$ es sich auf die Untersuchungen F i s c h e r s bezieht, welcher land, dal~ der Zellbefund im Liquor nut mit dem der untersten Meningealabschnitte in allen F~llen fibereinstimmt, und daraus schlol~, da$ der Liquorbefund uns nur fiber den Zustand dieser Partie der Meningen und nicht fiber ihren Gesamtzustand Auf- schlul~ geben k6nne.

Dieser Einwand, wenn er yon K a f k a gemeint ist, sagt nichts gegen racine Annahme. Vorausgesetzt, dal3 F i s c h e r s SchluB zutrifft, was zwar yon verschiedenen Seiten bestritten, gerade in der letzten Zeit abet von W a l t e r naehdrficklich best~tigt wurde; vorausgesetzt, da$ dieser Schlu$ auch ffir die Polynucle~ren zutrifft, was F i s c h e r selbst in seiner neuen Arbeit fiber diesen Gegenstand often l~Bt, so kann immer noeh die Polynucleose die Folge einer allgemeinen Giftwirkung sein, indem dabei die ganzen Meningen, also auch ihre unteren Ab- schnitte, mit einer Polynucleose reagieren, was dann immer eine Poly- nueleose im Liquor hervorrufen wird. Dal~ eine solehe in der Tat dureh eine sicher n i c h t l o k a t e G i f t e i n w i r k u n g zustande kommen kann, das sol1 im folgenden durch Beispiele klar bewiesen werden.

Diese Beispiele werden auch zeigen, dab das yon K a f k a erw~hnte schnelle Versehwinden der Leukocyten nichts ffir die lokale Abgrenzung der Meningealreaktion beweist. In den anzuffihrenden Beobachtungen, in welchen die Liquorpolynucleose sicher auf allgemeine Ursachen zurfickzuffihren ist, ist ein s c h n e l l e s V e r s c h w i n d e n tier Leukocyten wiederholt konstatiert worden.

Zu K a f k a s Angabe, daf3 die polynucle~ren Leukocyten im Liquor der Paralytiker weniger wide~standsf~hig sind als die bei der Meningitis, kann ieh nicht Stellung nehmen, da mir K a f k a s Versuche, deren Ver- 5ffentlichung er in Aussicht stellt, noch nicht bekannt sind. Inwiefern allerdings die Labilit~t der Zellen nur f fir eine Entziindung der unteren Meningealabschnitte und gegen eine Reaktion der ganzen Meningen sprechen soll, vermag ich nicht einzusehen.

Gegen den letzten Einwand K a f k a s, das Fehlen sonstiger (offenbar meningitiseher) Krankheitserseheinungen, l~l~t sich anffihren, da$ sogar eitrige Meningitiden als N e b e n b e f u n d bei der Autopsie entdeckt wurden - - nieht nur bei der Paralyse ( L a i g n e l - L a v a s t i n e ) , sondern aueh bei Pneumonien. M o n i s s e t et N o v 6 - J o s s e r a n d behaupten: ,,C'est une complication moins rare qu'on le eroit eommun6ment."

Es gibt nun eine Reihe sehr interessanter - - soweit ieh orientiert bin, fast ausschlieBlich franzOsiseher - - Beobachtungen fiber das Auf-

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276 M. I)apl)enhe.l,: {}l)er (lie Polynucleose im 13quor cerebrospinalis~

treten von Liquorpolynueleose als Folge der versehiedenartigsten Ein- wirkungen auf den K6rper.

C h a u f f a r d , Mol lard et F r o m e n t , Caussade et V i l l e t t e , Mes t r eza t et Ang lada fanden sic bei Uriimie. Der Kranke Chauf - fards hatte Coma und Kriimpfe, keinen K e r n i g und keine Naeken- steifigkeit; Mol lard et F r o m e n t beobaehteten auger ldeinen Zuk- kungen und Sehnenreflexanomalien - - zwei Tage vorher war ein Krampf- anfall aufgetreten - - keine Erscheinungen yon Meningitis und kein Fieber; im Falle von Caussade et Vi l l e t t e - - Coma und Kriimpfe - - war die ,,polynuel6ose abondante" bei einer fiinf Tage spiiter vor- genommenen Punktion geschwunden.

Vi l l a re t et T ix ie r sahen Polynueleose bei E k l a m p s i e , H i r t z sah sie in einem Fall von L e u e h t g a s v e r g i f t u n g .

Im Gefolge eines S o n n e n s t i e h s beobaehteten sic Dop te r und Dufour . Der Patient des letzteren, weleher Temperatursteigerung und ausgesproehene meningitische Symptome aufwies, hatte bei der ersten Punktion am 6. Tage der Erkrankung im Liquor ausschlieBlich Polynucleiire, bei der Punktion am l l . Tage und bei drei weiteren Untersuehungen nur wenige Lymphoeyten.

Nicht allzu selten findet sieh eine ,,r6aetion m6ning6e aseptique'" im Verlaufe einer eitrigen M i t t e l o h r e n t z f i n d u n g (z. B. de Massa ry et P. Weil); R i s t fast diese als ,,r6aetion s distance" der Meningen auf die Mikroben auf, die auf eine umgrenzte Zone beschrgnkt bleiben. S t r e i t betont, dab entziindliehe Veriinderungen der Hirnhiiute mit Liquorpolynueleose aueh durch toxisehe Fernwirkung der Bakterien- produkte entstehen. G r o g m a n n sah in einem FMle yon Otitis, der auch kliniseh den Symptomenkomplex einer diffusen eitrigen Meningitis darbot und in dessen Liquor nach denl Zentrifugieren ein 1]/2 mm hoher eitriger Bodensatz in der Spitze des R6hrehens zu sehen war, bei der Obduktion keine Spur yon Meningitis. Das ist ihm ,,ein neuer Beweis, dab die bloge Resorption toxischer Substanzen die Zusammen- setzung des Liquor betrgehtlieh alterieren kann".

Hier diirfen wohl auch Tierexperimente von A r m a n d - D e l i l l e Erwiihnung finden, der nach Injektion yon ,,toxines tuberculeux dans la eavit6 sous-araehnoidienne l'apparition de polynucl6aires dans le liquide e6phalo-raehidien" sah.

Fiir die Befunde yon Polynueleose im Verlauf der t u b e r k u l S s e n Men ing i t i s maeht E s p i n e t ebenfalls eine Gifteinwirkung auf den ganzen K6rper - - hier der Baeillen selbst - - verantwortlieh: ,,Elle paralt ~tre la forme de r6aetion m6ning6e de d6fense contre un invahisse- ment brutal et suraigu des m6ninges par le baeille de Koch , au moment d'une g6n6ralisation du p~oeessus tubereuleux s tout l'organisme."

Sehlieglich sei es mir gestattet, einen Fall yon sehnell voriibergehen-

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insbesondere 1)el der progressiven l)aralyse. 277

de r P o l y n u c l e o s e anzuf i ih ren , de r in unse re r K l i n i k b e o b a c h t e t w u r d e

u n d de r a b g e s e h e n yon d iesem B e f u n d e n i c h t ohne kasu i s t i sches I n t e r - esse i s t l ) .

Der am 4. Juni 1879 geborene Bahnarbeiter Ludwig G. wurde am 2. Juli 1909 in die psychiatrische Klinik in Heidelberg aufgenommen.

Anamnestiseh liel~ sieh folgendes feststellen: Der Vater des Pat. war psychisch leicht erregbar; ein Bruder seiner Mutter war ,,gemfitskrank"; seine Schwester soil im Jahre 1908 ,,ganz dasselbe Gemiitsleiden" gehabt haben, wie der Pat. selbst bis kurz vor seine Verbringung in die Klinik. Sie war traurig, verschlossen, ~,ngstlich, meinte, alle Leute redeten fiber sie, sie solle bestraft werden. Der Zu- stand dauerte mehrere Monate; seither soll sie andauerad vollkommen gesund gewesen sein.

Der Kranke selbst hatte sich normal entwickelt und war ein nfichterner, fleif3iger, sparsamer, tiichtiger Mensch.

Etwa Mitre Mai 1909 ver~nderte er sich psychiseh, lm Anschlul] an einen geringffigigen Streit mit einem Mitangestellten der Bahn ~iuSerte er zu Hause A n g s t vor dem ,,Wegdrficken und WegstoBen" (aus seiner Stellung), f i i h l t e s i eh b e o b a c h t e t , sah in seiner Umgebung ,,verdeekte" Sehutzleute (Schutzleute in Zivil). Er arbeitete noeh etwa I 1/2 Woehen, muBte sich aber dann krankmelden, da er nicht essen und schlafen konnte. Er griibelte immerzu dariiber nach, was er denn gesprochen haben kfnne, was mil~verstanden worden sei; man wolle ihn ins Zuchthaus bringen. Eigentliche Selbstvorwfirfe ~iul~erte er dabei nicht. Die Beziehungsideen zogen immer weitere Kreise. WKhrend er anfangs yon drei be- stimmten Leuten gemeint hatte, d a $ s i e ihn ,,anzeigen" sollten, beffirchtete er sp~ter von jedem, der mit ihm sprach, bfse Absichten: sie sp~hten ihn aus, um etwas aus ihm herauszulocken. Wenn ein paar Leute miteinander sprachen, daehte er, es beziehe sieh auf ihn.

Die ihm am 27. Juni fiberbrachte sehriftliche Mitteilung yon seiner ,,dekret- m~itigen Anstellung" wollte er nicht annehmen, da er ffirehtete, es sei ,,die Ab- setzung". Als ihm am 28. der Inspektor miindlich yon dieser Tatsache Mitteilung machte, soll er sich darfiber gefreut haben; sehon am n~chsten Tage ~uf~erte er Bedenken, dal~ es vielleieht doch ein ,,Maehwerk" sei.

Am 30. Juni stand er auffallend frfih auf und machte, ohne jemals derartige Andeutungen getan zu haben, eiuen Selbstmordversuch durch Erh i~ngen . AI:; seine Frau ihn auffand, soil er nieht mehr geatmet haben. Er wurde ins Bett gebracht und ,,gerieben", wobei der Atem allm~hlieh wiederkehrte. Sein Zustand war ein sehr schwerer, so dab der Arzt, wie er auch selbst best~tigte, annahm, dab der Kranke nur noeh einige Stunden zu leben habe.

Doeh erholte sieh dieser offenbar schnell wieder und wurde alsbald yon einer starken triebartigen Unruhe ergriffen. Er wollte best~indig das Bett verlassen. sagte - - undeutlich - - ,,naus, naus". Er bekam deshalb abends eine Einspritzung. auf welche er die Nacht durchschlief. Am n~iehsten Morgen begann wieder ein eigenartiges ,,K~mpfen", ,,wie ein Krampf" ; doch blieb der Kranke dabei im Bert. Er soll an diesem Tage niemanden - - auch seine Frau nicht - - erkannt haben; er habe die Augen grol~ aufgemacht und erstaunt herumgeschaut. Nachts

1) Ich verhehle mir nicht, dal3 sieh die folgende ausffihrliehe Verfffentliehung dieser Beobaehtung von unserer Fragestellung aus nieht reehtfertigt. Da aber bei der Scheu vor rein kasuistisehen Arbeiten, die in unserer Klinik herrscht, die Publi- kation dieses - - wie mir scheint vereinzelten - - Falles sonst fiberhaupt unter- bleiben wiirde, erseheint es angezeigter, ihn an dieser Stelle, wenn auch in lockerem Zusammenhange mit dem Hauptthema, wiederzugeben.

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2 7 8 M. Pappenheim: Uber die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis~

sehlief er wieder auf eine Morphiuminjektion. Am Morgen des 2. Juli soil der Pat. e.inige Leute aus seiner Bekanntschaft erkannt und einfache Fragen des Arztes - - Zahl der gezeigten Finger u. dgl. - - riehtig beantwortet haben. Zwischendureh schaute er sieh noch oft erstaunt urn, und befand sieh in leiehter Unruhe. Abends wurde er erregt, wollte best~indig aus dem Bett, sehlug naeh der Frau und der Krankensehwester, sooft sich diese ihm n~herten.

Er wurde deshalb nach Verabreiehung einer Hyoscin-Morphiuminjektion in die psychiatrisehe Klinik verbracht, wo er in schlaftrunkenem Zustande ankara. Er nannte auf Befragen seinen Namen riehtig, gab abet keine weitere Auskunft.

Bei einer Exploration am folgenden Tage m achte er einen s eh w e r b e s i n n - l i c h e n Eindruek, sehien durch ~ul~ere Eindriicke l e i e h t a b g e l e n k t zu werden. Er heB sieh n u r m i t Miihe und blol~ ffir kurze Zeit fi x i e r e n , sprach mit leiser Stimme und schlecht artikulierter Sprache. Seine Stimmungslage war h e i t e r . Es ~ s t a n d eine leichte m o t o r i s c h e U n r u h e : Der Kranke riickte viel auf seinem Stuhle hin und her, ergriff nile vor ihm liegenden Gegenst~nde, ging im Zimmer umber, betastete das Sofa u dgl.

Auf Fragen gab er seinen Namen und sein Geburtsjahr riehtig an, war abet zeitlieh und 5rtlieh d e s o r i e n t i e r t . Er behauptete, bei seinen Eltern in Karla- ruhe, eine Minute sp~ter, in Oftersheim (seinem Wohnort) zu sein, v e r k a n n t e den Arzt, mit dem er spraeh, gab eine k o n f a b u l i e r t e Schilderung seiner T/~tig- keit vom Tage vorher. Von seinem Suizidversuch, yon einer vorausgegangenen traurigen Verstimmung wul~te er niehts. Er war nieht imstande, einfaehe Rechen- aufgaben zu 15sen.

Eine am 4. Juli vorgenommene Lumbalpunktion ergab eine m~Bige Zell- vermehrung mit z a h l r e i c h e n P o l y n u c l e ~ r e n ; E i w e i B - nach N i s s l - 0,5; Wassermarmsehe Reaktion negativ.

W~ihrend der ersten Tage seines Aufenthaltes in der Klinik zeigte der Pat. einen eigenartigen d e l i r a n t e n Z u s t a n d . Er sehlief nicht, verlie$ bei Tag und Naeht h~ufig sein Bert, widerstrebte, wenn man ihn zuriiekfiihrte. Im Bett tastete er an der Decke herum, entblSBte sich, griff nach dem Rock des an sein Bert tretenden Arztes, betraehtete ihn mit erstaunten Augen.

Dabei fal~te er Fragen ziemlich gut auf, verhielt sieh aber ganz ~hnlich wie bei tier ersten Unterredung, spraeh meist f l i i s t e r n d mit eigentiimlichem Sehnau- fen. Seinen Namen, sein Geburtsjahr, auch seinen Geburtstag gab er stets richtig an, behauptete aber bald, dal~ er 17, bald, da[~ er 20 Jab_re alt sei, bezeiehnete als die jetzige Jahreszahl einmal 1902, ein andres 1Vial 1879. Den Arzt bezeichnete er als den Bahnmeister Braun. Er wollte einmal im Schiitzenhaus in Schwetzingen, dann.wieder im StationsgebKude in Oftersheim sein. Er gab vor, im Bet t zu liegen, weil niehts zu schaffen sei, in einem anderen Gespr/iehe, weft er krank sei - - es fehle ihm am Herzen und beim Schnaufen. Die ErSffnung, dal3 er in der Irren- klinik sei, nahm er gleich darauf mit einem gleiehmiitigen Kopfnicken und der Xul~erung: ,rich weiB es", Mn. Er liel~ sich leicht zu einfSrmigen Konfabulationen veranlassen, die sieh auf einen Besueh im Wirtshause, auf Zusammenkiinfte mit Personen, mit d e n e n e r gerade sprach, bezogen.

Auf die Aufforderung, etwas zu schreiben, maeht er am 6. Juh ein sinnloses Gekritzel; als er seinen Namen schreiben soil, schreibt er Ludwig, kritzelt dann wieder. Am 7. schreibt er seinen Vornamen zweimal hintereinander. Auf Diktat schreibt er die Ziffer 3 riehtig, start 35 53, 18 wieder richtig. Er liest dana 353, 18.

Eine am 6. und 7. Juli vorgenommene kSrperliche Untersuchung ergab fol- gendes: Am tIalse land sieh eine deutliche, schon bei der Einbringung des Pat. konstatierte S t r a n g u l a t i o n s f u r c h e . Die Pupillen waren mittelweit, die rechte etwas weiter ale die linke, ihre Reaktion ungestSrt. Die P a p i l l e n waren beider-

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insbesondere bei der progressiven Paralyse. 279

seits v e r w a s e h e n , die Gef~l]e nicht geschl~ngelt; cs fanden sich keine Blutungen. Die S p r a c h e war e r s e h w e r t , ataktisch. Die Sehnenreflexe waren lebhaft. die Sehmerzempfindlichkeit herabgesetzt. Beim Greifen nach Gegenst~nden trat A t a x i e zutage; daneben auch ein eigentfimliches Vorbeigreifen, das eine Seh- stSrung 1) vermuten liel). Die Aufforderung, seinen Zeigefinger an die Nase zu ffihren, befolgte der Kranke richtig. Als er den Zeigefinger an den ibm vorgehaltenen Zeigefinger des Arztes ffihren sollte, legte er ihn zuerst an seine Nase und dann, mit ihr in Beriihrung verbleibend, an den vorgehaltenen Finger. Beim S t e h e n u n d . G e h e n lieB sich eine sehr ausgesproehene S t S r u n g naehweisen. Der Pat. stand breitbeinig, unsicher, mit auffaUend steifem Rficken da, drohte nach rfick- w~rts zu sinken, und erhielt sich mit Mfihe auf den Beinen. Beim Gehen hielt er am 6. Juli die linke Schulter vorgeneigt und t a u m e l t e am 6. nach links, am 7. bald nach links und bald nach reehts. Am 4. Juli war eine schiefe Haltung des Kopfes mit Neigung nach rechts aufgefallen.

Die abnormen somatischen Erscheinungen schwanden bald vollst~ndig und die delirante Unruhe des Pat. wich nach wenigen Tagen, so dab er seit Mitte Jul i 1909 bis zu seiner am 26. November 1910 erfolgten Uberfiihrung in eine andere ]rrenanstalt ein ziemlich gleiehfSrmiges Zustandsbild bot, das blol] in einzelnen Ziigen allm~hlich eine geringe Besserung aufwies. Auch eine einige Monate dauernde, fieberhafte Lungenerkrankung (AbsceB? Gangr~n?), die nach einer Hhmoptoe heilte, ~tnderte das Krankheitsbild in keiner Weise.

Dieses war vornehmlich durch die grol~e Stumpfbeit des Pat. bei andauernder euphorischer Stimmungslage, durch seine Desorientiertheit, durch schwere Er- innerungsdefekte ffir die Ereignisse seines Lebens und eine hochgradige Merk- fithigkeitsst6rung mit Neigung zu Konfabulationen charakterisiert.

Der Kranke saB stets - - ohne Interesse fiir seine Umgebung, ohne irgendwelche Initiative - - ruhig, stumpfsinnig, zufrieden da. Er ~uSerte niemals den Wunsch entlassen zu werden, suchte auch gar nicht fiber den Grund seiner lnternierung Klarheit zu erlangen. Im Gegenteil - - fragte man ihn nach dem Grunde seines Hierseins, so gab er irgendeine konfabulierte Antwort. So bebauptete er am 1. September 1909, dab er im Spital sei, weil er , ,Rheumatis" im Arme habe; er sei gefallen, als er einen Hund ffihrte. Am 4. Dezember 1909 gab er an, dab er wegen seiner Frau zu uns gekommen sei. ,,Weil die Frau krank ist, da hab' ich fort gemuBt."

(~rtlich gelang es dem Pat. d.och allm~hlieh, sich ann~hernd zu orientieren, indem er seit dem September 1909 fast stets wuBte, dal] er in einem Krankenhause sei, meist auch richtig angab, dab er sieh in Heidelberg befinde. Allerdings be- hauptete er noch bei einer Exploration am 23. August 1910, die im Untersuchungs- zimmer stattfand - - anscheinend unter dem Eindrucke der fremden Umgebung - - , da[3 er im ,,Stationsgeb~ude" - - er war Bahnarbeiter - - sei.

Die Orientierung ffir die Zeit dagegen blieb andauernd schleeht. Auch fiber sein Alter, fiber die Verhgltnisse seiner Familie, fiber seine Umgebung, die er hgufig verkannte, vermoehte er keine richtige Auskunft zu geben.

Stellte man ihm eine derartige Frage, so sagte er offenbar das erste, was ibm gerade einfiel, und so kam es, da~ seine Antworten yon Stunde zu Stunde anders lauteten.

Sehr sehSn zeigt das ein Beispiel aus einer eine Zeitlang gefiihrten Tabelle, die die Antworten des Kranken auf die gleichen, fiinfmal tgglich ibm gestellten

1) Leider ist in der Krankengeschiehte, die aueh aus dem psychisehen Bilde manches Wissenswerte nicht genfigend vollkommen wiedergibt, von einer Unter- suchung auf Hemianopsic, Apraxie u. dgl., die damals wohl nicht leieht ansffihrbar war, nichts erwghnt.

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280 M. Pappenheim: 0ber die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis,

Fragen verzeichnet. Ws er die Fragen nach seinem Namen und Geburts- datum stets richtig beantwortete, gab er z. B. am 30. September folgende Ant- worten auf die Fragen:

um 6 Uhr um 10 Uhr um 2 Uhr mn 6 Uhr um 8 Uhr

Alter 9 Wann geheiratet? Namen der Kinder? I Wo hier?

27 Jahre 28 Jahre 27 Jahre 29 Jahre 27 Jahre

Ledig 8. Juli 78

Juni 88 Juni 81

Juli 791)

Lenchen Heidelberger Irrenklinik Rosa~ Frida [ Heidelb. Krankenhaus

Ki~thchen Heidelberg beim Walter Adolf : Oftersheim Krankenhau~

Rosa~ Georg Heidelberger Irrenklinik

Auch iImerhalb ganz kurzer Zeitabsts beantwortete der Kranke die gleichen Fragen verschieden. So wurde er z. B. am 28. August 1909 achtmal nach je einer Zwischenfrage nach seinem Alter gefragt. Die )u selbst vermoehte er nur unmittelbar, nachdem sie an ihn gerichtet worden war, zu reproduzieren; nach der Zwischenfrage gelang es nicht mehr. Nach der jedesmaligen Wieder- holung der Frage wurde er gefragt: ,,Habe ich Sie danach schon gefragt?" Er verneinte das die ersten sechs Male und bejahte es die beiden letzten Male. Auf die Fragen selbst antwortete er fiinfmal: 22 Jahre, je einmal: 21, 23, 19 Jahre.

In seinen Antworten verwendete er oft ganz wahllos, was gerade in seiner NKhe gesprochen worden war. So bezeichnete er z. B. - - a m 8. August 1909 - - e inen Arzt, den er zum ersten Male sail, auf Befragen mit dessen richtigen Namen, mit dem er kurz vorher angesprochen worden war, nannte aber unmittelbar darauf auf die Frage nach dent Namen des Direktors der Klinik denselben Namen. Am 25. September 1909 sagte ibm der Abteilungsarzt seinen Namen, den der Pat. noch immer nicht kannte, vor und der Kranke sprach ihn richtig nach. Auf die sofort gestellte Frage: ,,Gestern war Dr. S. (der Arzt, der den Pat. zu Hause behandelt hatte), hier; wet ist das?" antwortete er: ,,Dann werden Sie wohl Dr. S. sein." Auf die Frage des Abteilungsarztes: ,,Wie heiBe ich?" nennt er dessen Namen richtig.

Die FEhigkeit des Pat., sich seine Erlebnisse zu merken, war hochgradig gestSrt, nicht nur, wenn es sich um alltggliche Ereignisse handelte - - wenn er z. B. nicht wuBte, dai] er schon zu Mittag gegessen hatte - - sondern auch, wenn sie fiir ihn bedeutungsvoller hs sein sollen. So hatte er ant 19. September 1909 den Besuch seiner Frau und zweier Briider. Er erkannte sie alle, bezeichnete aber auch in ihrer Gegenwart einen WErter als seinen Freund und Kameraden It. Einige Minuten, nachdem sich der Besuch entfernt hatte, behauptete er auf eine entsprechende Frage, dad Vater und Mutter und ein Kamerad bei ibm gewesen seien. Einige Stunden sparer meinte er, der Professor und zwei :~rzte hs ihn besucht. Am 4. Dezember - - am Tage nach einem Besuche seiner Frau, gab er auf Befragen an, dab sein Vater bei ibm gewesen sei und dal~ er seine Frau seit einem Jahre nicht gesehen habe.

Eine erhebliehe Merkf~LhigkeitsstSrung zeigte der Kranke auch, wenn ibm bestimmte Aufgaben gestellt wurden. Am 8. August 1909 hatte sich der Pat. erst nach 12 maligem Vorsagen den Satz: ,,Ich bin hier im Krankenhaus in Heidel- berg", gemerkt. Nach 24 Stunden konnte er das Gelernte noch reprodnzieren, nach zwei Tagen aber war es seinem Ged~Lchtnisse entschwunden. Den Namen

1) Die Daten bewegen sich auch sonst in der Regel in der NKhe seines Ge- burtsdatums.

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iasbesondere bei der progressiven Paralyse. 281

seines Abteilungsarztes vermochte er erst nach wochenlangem tggliehem Vor- sagen im Dezember 1909 zu reproduzieren. Am 24. September 1909 erhielt er die Aufgabe, sich die Zahl 375 zu merken; nach einer Minute wiederholte er sie

Sei t , w a n a h i e r ?

Seit 10 Tagen Seit 3 Tagen

Seit 5--6 Wochen Seit 8 Tagen Seit 8. d. M.

wm heiBt der Arzt? [ Warm war er zuletzt bei Ihnen? _ I

Ich weil~ nicht Vor 4 Tagen L

Dr. Bleich - - nein~ Herr Dr . . . . . i Ja, das weil~ ich nimmer Ich weil~ nicht Am 24. Juni

Dr. Bleich ]ch weilt nicht l.ch weiI~ nicht Vorgestern abend

riehtig, n~ch einer Stunde nannte er 275. Am Abend wultte er von einer ihm gesagten Zahl fiberhaupt niehts. Am folgenden Morgen sagte er auf die Frage, ob ihm etwas aufgegeben worden sei, ,,Ja, eine Zahl" und nannte 312, auf Einwand sodann 275. (Sehr interessant ist das hier zutagetretende Schwanken in der Re- produktionsfs

Wie wenig sieh im ganzen wEhrend des Aufenthaltes des Pat. in der Klinik sein Zustandsbild ge~ndert hatte, geht aus einer eingehenderen Untersuchung yore 23. August 1910 hervor, die namentlich aueh die BeeinfiuBbarkeit des Krankon (lurch Fragen, die Verschiedenheit seiner Antworten auf die gleiehen, nur in versehiedenem Zusammenhange gestellten Fragen sehr schSn zeigt. Es sei hier einiges aus dieser Exploration wiedergegeben.

(Wie geht es Ihnen?) Gut. (Sind Sic krank?) Nein. (Waren Sie krank?) Jawohl. {Was hat Ihnen gefehlt?) An den ]~'fiBen hab' ich's gehabt.

(Was fiir ein Haus ist hier?) Stationsgeb~ude. Als ihm gesagt wird: ,,Sie sind im ]rrenhause!" bestreitet er das zuerst,

gibt es dann zu. (Warum?) Ich mein', ich war' krank. (Wo fehlt es?) Im Kopf. (Was?) Der Doktor hat's gefunden. (Was ffihlen Sie?) Hie und da hab' ich Schmerzen im Kopfe. (Seit wann?) Seit M~rz dieses Jahres.

(Was sind Sie?) Signalw~rter. (Wo?) In Sehwetzingen. (Richtig.) (Wie alt sind S]e?) 22 Jahre. (Wann geboren?) 1879. (Welches Jahr ist jetzt?) 1901. (Welehe Jahreszeit?) Sommer. (Weleher Monat?) Mai. (Jetzt ist August 1910; wie alt sind Sic also?) 21 Jahre. (Wieviel ist 1910 1879?) 31.

(Sind Sie ledig oder verheiratet?) Ledig. (Wie heiBt Ihre Frau?) Ich bin noch ledig, hab' noch keine Frau. (Wie heiBt Ihre Frau?) Nennt ihren Namen. (Sind Sie also verheiratet?) Nein, ich bin noch nicht geheiratet.

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2 8 2 M. Pappenheim: ~ b e r die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis,

'Haben Sie also ein Yerh~ltnis?) Jawohl. Se i t warm?) 2 oder 3 Jahre. Wie heiBen Ihre Kinder?) 2 Buben. (Richtig.) 'Wie heil]en sic?) Das weiB ich nimmer. 'Wie al t sind sic?) Sic werden 1/2 J ah r alt sein. (Unrichtig.) Sind es Zwillinge?) Ja. (Unrichtig.)

'Sind es also uneheliche Kinder?) Sind jetzt unehelich, jawohl. W a s machen Sic da?) Da kann man nichts machen. Heira ten Sie doch Ihre Frau!) Heira ten tu ich, sobald ieh kann.

'Sie waren doch verheiratet und sind es je tzt noch!) Verheiratet war ich, je tz t n icht mehr.

(Sind Sic also geschieden?) Ich weiB nicht. (Haben Sic Sehnsucht nach der Frau?) Nein. (Warum nicht?) Das weiB ich nicht. (Haben Sie mit ihr n icht gut gelebt?) Doch.

t )ber seine Jugendzei t wuBte der Pat. - - wie das bei org~nischen Ged~chtlJis- s t6rungen fast stets der Fall ist - - verh/~ltnism/iBig viel anzugeben, w~hrend er aus den letzten Lebensjahren nur ganz wenig und dieses ohne jede zeitliche Einordnung zu reproduzieren vermochte.

Eine am 28. Oktober 1910 vorgenommene Kenntnis- und Intelligenzpriifung zeigte hSchst auff/~llige Ungleichheiten. So antwortete der Pat. auf die Frage, wer Columbus war: ,,Ch r i s t o p h C o l u m b u s . . . entdeckte 1492 Amerika", w~hrend er auf die Frage nach Christus sagte: , , Jes us Christus, das weiB ich n icht" , ebenso auf die Frage nach Luther : , , M a r t i n Luther, das weiB ich n ich t . " t )ber Gegen- st/inde des titglichen Gebrauches - - M6bel, Werkzeuge, Geldsorten u. dgl. - - war er ganz gut orientiert. Die Wortf indung - - beim Zeigen yon Bildern - - war un- gestSrt. Unterschiedsfragen - - Treppe und Leiter? Teich und Bach? Monarchic und Republik? - - wuBte or n icht zu beantworten, dagegen gelang es ihm ge- legentlich die Begriffe - - z .B. Bet teln und Bi t ten - - Subsumptionsbeispielen richtig zuzuordnen. Bei der Bourdonschen Probe - - in einem vorgelegten Text a u n d e unterstreichen - - ergaben sich etwa 40~ Ausl~ssungen, die sich fast aus- nahmslos auf den Buchstaben a bezogen, aber keine Fehler. Auch bei der Aufgabe, aus einem vorgelegten Text - - dem Originaltext yon E b b , n g h a u s - - d:e aus- gelassenen Silben zu erg~inzen, unterlieB er dies zwar vielfach, erg~inzte ab( r keine Silbe in sinnloser Weise.

Sein Rechenverm5gen unterschied sich kaum yon dem zahlreicher normaler Menschen. Er rechnete 20 + 38, 5 0 - - 2 8 . 9 • 11 richtig, erkannte die Ident i t i i t der letzten Aufgabe mit 11 • 9, wugte auch anzugeben, wicviel Zinsen 150 M. zu 4% in einem Jahre bringen und 15ste sogar die Aufgabe richtig - - die zwar rech- nerisch nicht schwierig ist, aber gewisse Anforderungen an die Intelligenz stellt - - : Wenn 3 Arbeiter zu einer Arbeit 3 Tage brauchen, wieviel Tage braucht ein Arbeiter'.~

Die in den ersten Tagen bestehende SchreibstSrung des Pat. ha t te sich all- m~ihlich zuriickgebildet. Am 21. Juli 1909 schrieb er seinen Lebenslauf in folgender Weise nieder: ,,Ieh wurde geboren Ludwig G. (Familienname korrekt), Ehefrau geborenen am 4. Jun i 8179." In einem Briefe an seine F ran schrieb er viermal untereinander das Da tum: ,,Heidelberg den . . Februar 1907"; als Da tum des Tages setzte er einmal den 6., zweimal don 20., einmal den 12. ein. Am 13. No- vember 1909 schrieb er einen zwar wenig inhaltsreichen, aber formal korrekten Brief an Frau und Eltern.

Die weiteren L u m b a 1 p u n k t i o n e n ergaben folgende Resultate: 19. Jul i 1909: Geringe L y m p h o c y t o s e , fast keine Polynuelei~ren; Ei-

weiB 2,5; Wassermannsche Reakt ion im Blur und Liquor negativ.

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insbesondere bei der progressiven Paralyse. 283

4. September 1909: Geringe Lymphocytose ohne Polynucle~re ; EiweiB 1,0; Wasse rmann ira Liquor negativ.

8. Oktober 1909: Geringe Lymphocytose ; EiweiB 1,6. 11. Dezember 1909: Sehr geringe Lymphocytose; EiweiL~ 1,9; Nonnesche

Reaktion negativ. 14. September 1910: Normaler Liquorbefund; EiweiI3 1,4.

In Kiirze zusammengefaBt zeigt unsere Schilderung folgendes: Ein 30j~hriger Mann erkrankt - - anscheinend ziemlich plStzlich - - an einer mit t r a u r i g e r V e r s t i m m u n g und B e z i e h u n g s i d e e n einhergehenden Psychose - - wahrscheinlich zum manisch-depressiven Irresein gehSrig, vielleicht Anfangsstadium einer Dementia praecox - - , in deren Verlaufe er einen E r h ~ n g u n g s v e r s u c h macht. In un- mittelbarem Anschlusse an diesen entwickelt sieh ein d e l i r a n t e r Z u s t a n d mit kSrperlichen Erscheinungen einer Gehirnaffektion (Kleinhirn?). Diese Symptome schwinden naeh wenigen Tagen, um einem, nunmehr seit etwa 11/2 Jahren bestehenden, schwersten K o r s a- k o f f s c h e n S y m p t o m e n k o m p l e x zu weichen.

Fiir die Frage, die uns hier besch~ftigt, ist es yon Bedeutung, dab im Anschtu{~ a n d ie S t r a n g u l a t i o n e i n e L i q u o r p o l y n u e l e o s e auftrat, die bald versehwand und die ebenso wie die oben beigebrachten F~lle der Literatur unm6glich auf eine sich blo~ auf die unteren Riicken- markabschnitte der Meningen beschr~nkende Entziindung zuriick- gefiihrt werden kann.

Ich habe reich nun noch zu K a f k a s Standardfall, seinem Fall 17, zu wenden, dessen Liquorbefund K a f k a in einer Figur graphisch darstellt. Ich babe bereits friiher erw~hnt, dal~ dieser Fall 12real - - und zwar unter 16 Punktionen - - Polynucleose zeigte, und habe vorgebracht, dab man fiir die beiden ersten starken Polynucleosen das Vorausgehen einer Exacerbation schwer wird ausschlie~en kSnnen. Der erste Teil der Kurve, der nach K a f k a das Steigen und Fallen des Gehalts an polynucle~ren Leukocyten ,,in deutlichen Wellenbewegungen" zeigt, w~re dann nicht gar so auff~llig. Er stellt eine starke Poly- nucleose (fast 100~/o) dar, die, wie kS die Regel ist, in kurzer Zeit (zwei Tage sp~ter 35~ 6 Tage sp~ter 6O/o) sehwindet, w~hrend einen Monat sp~ter eine abermalige geringe Polynucleose (26~/o) auftritt. Da der in der Kurve eingezeichnete zweite Gipfel anscheinend nur irrtiimlich hineingeriet - - denn in der Krankengeschichte ist eine solche Punktion nieht erw~hnt - - so w~re die Wellenbewegung nicht so sehr deutlich.

Ich bin welt davon entfernt, diese Erkl~rung fiir zutreffend oder auch nut fiir sehr wahrscheinlich zu halten. Ieh bin gerne bereit zuzu- geben, dab auch der ersten Polynucleose keine Exacerbation des kli- nisehen Brides vorausging. DaB es solche F~lle von kurz dauernder Polynucleose ohne sonstige akute ldinische Erscheinungen gibt, wie sic K a f k a in verdienstvoller Weise aus einem groi~en Material voUst~ndig

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. IV. ] 9

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284 M. Pappenheim: Uber die Polynucleose im Liquor cerebrosphlalis,

zusammengestellt hat, war mir schon zur Zeit meiner ersten Arbeit, wenn auch nicht aus eigenen Beobachtungen, bekannt. DaB diese Tatsache gegen meine Anschauung nichts beweist, glaube ich eingehend genug auseinandergesetzt zu haben.

Etwas anders steht es mit dem zweiten Teil der Kurve des Falles 17. DaB bier der Zellbefund im Liquor ,,mit den Exacerbationen des Krank- heitsbildes weder im Kausalnexus, noch im bloBen Zusammenhang" steht, mu{~ ohne weiteres zugegeben werden. Von einer solchen Be- ziehung kann aber hier yon vornherein fiberhaupt keine Rede sein. Denn nicht das wellenfSrmige Auf- und Absteigen des Leukocyten- gehalts, das K af k a betont, ist yon Bedeutung ffir unsere Frage, sondern in dem von mir angenommenen und yon K a f k a in seiner Arbeit sonst durchaus beibehaltenen Sinne, die Steigerung des Leukocytengehalts fiber eine best immte Prozentzahl hinaus. Unter diesem Gesichtspunkt gesehen aber zeigt der zweite Teil der Kurve eine s t ~ n d i g e Poly- n u c l e o s e - mit Ausnahme der Punktion vor dem Tode, welchen Umstand ich schon frfiher gewfirdigt habe - - , deren grS~ere oder ge- ringere Intensiti~t mit Exacerbationserscheinungen nichts zu tun zu haben brauchO). Es hat daher keinen Sinn, in diesem Falle yon einer Periodizit~t der Polynucleose zu sprechen2).

Es schein't mir aus diesen Grfinden verfehlt zu sein, aus einem derartigen Falle Schliisse in der Frage des uns besch~ftigenden Zu- sammenhanges ziehen zu wollen, und der Vergleieh dieses Falles mit der Hauptbeobachtung meiner friiheren Arbeit ist nach meiner Ansicht unberechtigt. Das Charakteristische in meinem Falle war, wie ich in meiner Arbeit deutlich hervorhob, dal] wiederholt zugleich mit einer Temperatursteigerung eine starke Polynucleose auftrat , die jedesmal einige Tage sparer wieder v e r s c h w a n d . Aus diesem Grunde ist auch K a f k a s Bemerkung, dal] Zellz~hlungen vor und nach diesem Zeit- raume (d. i. offenbar dem Zeitraum von 11 Wochen, in welchem es zu

1) Da uns i~hnliche Verh~ltnisse bei inneren Krankheiten klarer sind, sei mir die Heranziehung einer, wenn auch nicht vollkommen stimmenden, Analogie gestattet. Es ist gel~ufig, die Schiittelfr5ste bei septischen Prozessen auf einen Schub yon Mikroorganismen, also etwas dem ~hnliches, was wit unter Excer- bation verstehen, zurfickzuffihren. Man wird aber, wenn ein kontinuierliches Fieber auftritt, nicht verlangen, dal~ Unterschiede in der HShe des Fiebers - - auch abgesehen natfirlich yon den Tagesschwankungen - - mit Exacerbationen parallel gehen miissen und wird aus dem ~Niehtvorhandensein des Parallelismus keine Schliisse ziehen beziiglich der Genese der SchiittelfrSste.

u) VSllig unvers~ndlich ist es mir, wie Kufka schreiben kann, ~aI~ in seinen F~llen 11--16, die ausnahmslos nur je einmal Polynucleose zeigt~n, diese eine ,,gewisse Periodizit~t" bewahre. (Kafka hat seine Behauptung, dab es bei der Paralyse - - unabh~ngig yon ]~xacerbationen - - ,,in vielen F~llen periodiseh zu einer Ste igerung des Leukocy t engeha l t s kommen kann", nicht in einem einzigen Falle erwiesen.)

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insbesondere bei der progressiven Paralyse. 285

per iodischen Tempera tu rans t i egen kam), n ich t vor l iegen 'q) , ohne Bedeutung . Es erschien ja gerade wesentl ich, dab auch in der Z w i s c h e n - z e i t zwischen den F i e b e r t e m p e r a t u r e n die Polynueleose - - d . h . die ErhShung der P rozen tzah l fiber die N o r m - - schwand.

U n t e r solchen Ums t~nden anzunehmen, , ,dab es zu einem mehr zuf~lligen Z u s a m m e n t r i t t der Kurveng ip fe l " der verschiedenen be- o b a c h t e t e n Ersche inungen kam, heiBt wolff die Skepsis zu wel t t re iben , zumal gegen die A i m a h m e einer gemeinsamen Ursache derse lben n ichts e inzuwenden ist, wenn man, wie offenbar auch K a f k a , die Exis tenz eines pa ra ly t i s chen F iebers zugibt , das doch wohl a m plaus ibe ls ten auf eine aUgemeine Ursache zur i ickgef i ihr t wird, und wenn m a n sich

die frfiher z i t i e r ten Beobach tungen vor Augen h~lt, die deu t l ich zeigen, un te r wie verscbiedenen a l lgemeinen Gif te inwirkungen es zu einer IAquorpolynucleose k o m m e n kann. I ch g laube da rum, dab der W e r t meiner Beobach tung du tch K a f k a s K r i t i k n ich t im ger ingsten be- e in t r~cht ig t wird.

Fre i l ich is t K a f k a s Beobach tung auch ohne die Schliisse, die er aus ihr zieht, sehr in teressant . Wegen der Se l tenhei t d~rar t iger F~l le sei bier eine in Hins ich t der Polynucleose ~hnliche Beobach tung aus

unserer K l in ik angeffihrt .

Der am 10. Dezember 1909 in die Klinik aufgenommene 40j~hrige Kranke hatte vor etwa 16 Jahren eine Lues aquiriert und im Jahr 1908 ein luetisches Exanthem am rechten Arme gehabt.

Kurz vor Weihnachten 1908 trat bei dem Pat. nach Angabe seiner Frau ein ,,Schw~cheanfall" auf, der etwa eine Stunde dauerte und mit Flimmern vor den Augen und Unf~higkeit zu sprechen einherging. Anfang des Sommers 1909 fielder Frau auf, dab die Sprache des Kranken langsamer wurde. Am 15. September stellte sich abermals ein Anfall ein: Der Kranke konnte plStzlich nicht sprechen und die Glieder der rechten Seite nicht bewegen. Vom 20. September bis zum 29. Oktober befand er sich in der medizinischen Klinik in Heidelberg. Er er- sehien dort leicht verwirrt, faBte sehwer auf, war etwas gereizter Stimmung.

Die kSrperliche Untersuchung ergab folgendes: Erhebliche SpraehstSrung (Silbenstolpern, Schmieren). Die gleiehweiten, ziemlich verengerten Pupillen reagierten auf Lichteinfall ziemlich tr~ge, auf Akkomodation normal. Leichter Tremor der H~nde und Ataxie; leichte spastische Parese der Beine ohne Differenz zwischen beiden Seiten; Patellarsehnenreflexe gesteigert.

Nach seiner Entlassung aus der Klinik arbeitete der Pat. wieder - - angeblich gerade so gut wie friiher - - bis er sich am 8. Dezember plStzlich unwohl ,,vom Magen" ffihlte. Am Abend desselben Tages bekam er einen einig~ Minuten dauern- den Krampfanfall. Die ganze Nacht spraeh er nichts, gegen Morgen wurde er zunehmend unruhig, wollte aus dem Bert, widerstrebte, war unrein. Er w~rde deshalb am 9. Dezember ins Krankenhaus in Mannheim und yon dort in unsero Kiinik gebracht.

W~hrend seines ganzen Aufenthalts hier - - bis zu seinem Tode - - bo te r ein ziemlich unver~ndertes Zustandsbild dar. Er war vSllig unzug~nglieh, dutch

I) Diese Bemerkung entspricht iiberdies nieht den Tatsachen, da die Kranke 11 Tage nach der letzten TemperaturerhShung punktiert worden war.

19"

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Zurufe und Fragen unbeein.fluBbar, h6chstens wandte er manchmal auf plStz- liehes lautes Anrufen den Kopf gegen die Reizquelle hin oder blickte gelegentlich einmal auf, wenn jemand an sein Bett trat oder mit ibm manipulierte. Er befolgte keine Aufforderung, widerstrebte heftig - - auch beim Essen - - sprach bloB ein einziges Mal - - am 4. Januar 1910 - - einige verstiindliehe Worte, wi~hrend er sonst zeitweise unartikulierte, manchmal fast rhythmische Schreie hervorstieB oder einzelne Silben verbigerierend mit bebender Sprache-lallte. Manchmal knirschte er stundenlang mit den Z~ihnen, zeitweise zeigte er eine triebartige Unruhe, tastete sich mit den H~inden an den Wgnden entlang, wie ein Blinder, durchs Zimmer, zupfte an allem, was er zu fassen bekam.

Bei der Aufnahme in die Klinik war die linke Pupille des Kranken lichtstalT, die rechte, etwas weitere, zeigte eine minimale Lichtreaktion. Mitte Januar bildete sich eine deutliche rechtseitige Mundfacialisparese aus. Am 3. Mai starb der Kranke an einer eroupSsen Pneumonie.

Wghrend unserer Beobachtung traten bei dem Kranken wiederholt Tem- peratursteigerungen auf, yon denen uns hier nut die ersten interessieren. Am 11. und 12. Dezember - - also bald nach der Aufnahme des Pat. --- stieg die Tern. peratur wiederholt fiber 38 bis 38,6; am 14. Januar erreichte sie 38,2 und a m 17. Januar 39,7.

Eine LumbMpunktion am 11. Dezember ergab eine eno rme P o l y n u e l e o s e : EiweiB 8,8; Nonnesehe Reaktion positiv. Am 12. Dezember der gleiche Zell- befund; EiweiB ~,5. Am 20. Dezember Lymphocytose mit v e r e i n z e l t e n Po ly - nuelei~ren; Eiweil3 ca. 30; ~7onne sehr stark positiv. (Interessant ist die hoch- gradige EiweiBvermehrung, die sonst bei keiner Punktion auch nut annghernd so stark war und die wohl mit dem Leukocytenzerfall zusammenhi~ngt.) Am 4. Januar 1910 vereinzelte Polynucleiire. (Bei allen Punktionen war eine starke Zellvermehrung vorhanden, die ich weiterhin nicht erw$hne, indem ieh nur die Prozentzahl der Polynucle~ren angebe.) 13. Januar keine Polynuele~iren (Punktat steril), 19. 40%, 22. zahlreiche Polynucle~ire, jedoeh weniger als am 19., 2. und 7. Februar nur vereinzelte Polynucl~re.

Nun folgte eine langdauernde, nur kurze Zeit unterbroebene, Polynucleose. 19. Februar 40~o, 23. 60~o, 24. 70~o, 25. 85~ 26. 40~o, 27. 20~o, 28. 38~o, 1. M~rz 40%, 2. 25%, 5. 35(~), 7. 25%, 8. 45~o, 9. 60%, 10. 40%, 11.20%, 12. 40%, 14. 3% (viele degenerierte), 15. 5%, 17. 34~ 18. 320,0, 25. 0~ 30. 48%.

In der Zeit vom 6.--16. M~rz waren sehr h~ufig Temperatursteigerungen aufgetreten.

O b d u k t i o n s b e f u n d : Linkseitige croupSse Pneumonie beider Lappen im Stadium der grauen Hepatisation. Hypostase und beginnende hypo- statische Pneumonie des rechten Unterlappens. H~imorrhagische Cystitis. Stauungsleber.

Gehi rn : Nicht erhebliche und nieht typische Pialtrfibung. Verdickung der Pia nur in den Furchen, besonders fiber beiden Parietallappen. Starke Atro- phie beider Frontallappen und des rechten Temporallappens. E r w e i c h u n g des ganzen rechten Temporallappens - - dariiber br~unlich-rStliche Verfhrbung der Pia -- , auf den Parietallappen und die dritte Frontalwindung fibergreifend. Enorme ] ~ p e n d y m g r a n u l a t i o n im 4. Ventrikel. R f i c k e n m a r k : Keine Strang- degeneration. Pachymeningitische Auflagerungen fiber einer cireumscripten Stelle des dorsalen Halsmarks. Grauliehe Sehwarte fiber dem dorsalen Gebiet des mittleren Dorsalmarks, ca. 6 cm lang. Riiekenm~rkssubstanz darunter makroskopisch nieht ver~ndert.

t t i s t o log i s ehe r B e f u n d (Dr. Ranke) : Typisehe pa ra ly~ i sehe Rinden- veriinderung. In der Umgebung der Erweichung und in den grSl3eren Pialgefiil3en

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insbes0ndere bei der progressiven Paralyse. 287

regressive Ver~nderungen vom Charakter der Arteriosklerose, nieht der I-Ieubnerschen Endarteriitis. Andere Erweichungen wurden nicht gefunden.

Wir sahen also in diesem Falle zwcimal F i e b e r a n f ~ l l e zusammen mi t P o 1 y n u c 1 e o s c auftreten und verschwinden - - analog der Haupt - beobachtung meiner friiheren Arbeit. In der Folge trat dann eine f a s t k o n s t a n t e Polynucleose ein, so daB, wie friiher auseinandergesetzt wurde, yon einem Parallelismus mit irgendwclchen Exacerbationen nicht mehr die Rede sein kann.

Auch in der IAteratur linden sich Angaben fiber lange dauernde Polynucleosen, so in der bereits zitierten Bemerkung aus dem Buche yon J o f f r o y et Mignot : ,,pendant une p~riode plus ou moins pro- |ongSe." Be l in ct B a u e r berichteten 1903 fiber einen Fall, in dessen Liquor bei mehrfachen Punktionen in einem Zeitraum von fiber drei Monaten 85---90~/o Polynucle~re vorhanden waren, und betontcn die groBe Seltenhcit derartiger Beobachtungen. Dreiviertel Jahre sp&ter teilten die Autoren die Resultate der Autopsie - - offenbar desselben F a l l c s - mit, bei welcher sich eine ,,m~ningite rachidiennc suppurSe

pr~lominance lombaire" auf Grund einer Diplokokkeninfektion ge- funden hatte.

Nicht uninteressant ist auch ein yon Gino R a v a verSffent- lichter Fall von akuter, dutch Staphylokokken hervorgerufener, mit apoplektiformen Anf~llen einhergehendcr Meningitis bei einer Para- lytikerin. Die Meningitis ging voriiber und die Paralyse nahm den gewShnlichen Vcrlauf. H~tte man die bakteriologische Untersuchung nicht gemacht, so h&tte man die Symptome gehaltcn ,,pour une s6rie de ces ictus qui sont s communs dans la paralysie g4n4rale." (Ref. in der Revue neur.)

Ich kann schlieBlich racine Ausfiihrungen in folgender Weise zu- sammenfassen:

1. Im Liquor der Paralytiker finder sich nur se l t en eine Stcige- r u n g des L e u k o c y t e n g e h a l t s fiber 10--15~/o hinaus (Poly- uucleose).

2. Diese Polynucleose finder sich ungleich h&ufiger bei Anf~ l l en oder Exacerbationserscheinungen als in Zwischenzeiten ohne a k u t e S y m p t o m e .

3. Das verh&ltnism~l]ig h~ufige Z u s a m m e n t r e f f e n dieser Er- scheinungen mi t T e m p e r a t u r s t e i g e r u n g e n und V c r m e h r u n g der p o l y n u c l c ~ r e n L e u k o e y t e n im B l u t e 1) spricht daffir, dab aUe diese Erscheinungen durch die pl0tzliche E~nwirkung einer

1) Diesen Symptomen scheint sich neuerdings aueh die Wassermannsche Reaktion anzureihen. Zeil~ler sah zwei F&lle yon Tabes, ,,wo die Zunahme des HemmungskSrpergehalts im Blute zeitlich zusammenfiel mit dem Auftrcten vorher nicht vorhandener gastrischer Krisen".

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288 M. Pappenheim: (Jber die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis,

grOl~eren Menge des Para lysegi f tes auf den ganzen KSrpe r ausgelSst werden.

4. Es g ib t sehr s e l t e n e F~ i l l e yon Pa ra lysen mi t einer l ~ n g e r e

Z e i t h indurch b e s t e h e n d e n P o l y n u c l e o s e . Diese Ersche inung k a n n mi t aku t en Ersche inungen des Para lyseprozesses n ich t in Zu-

s ammenhang geb rach t werden.

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