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Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 1914 Oscar Bernhard als Kriegschirurg Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte

von Untervaz

1914

Oscar Bernhard als Kriegschirurg

Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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1914 Oscar Bernhard als Kriegschirurg Heini Hofmann in: Hofmann Heini: Gesundheits-Mythos St. Moritz. - St. Moritz 2011.

Festschrift zum 150. Geburtstag des grossen Alpenmediziners

Dr. Oscar Bernhard. Seite 322-328.

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S. 322:

Bernhard als Kriegschirurg

Zu Bernhards Zeiten gelangte die Heliotherapie von Wunden auch in der

Kriegs-Chirurgie zur Anwendung und wurde, wo es möglich war, in grossem

Umfang ausgeübt. Er selber war im Ersten Weltkrieg monatelang in mehreren

deutschen und englischen Lazaretten als Chirurg tätig.

Schwarzwald-Sonnenklinik

Unter Militärärzten war Sonnenlichtbehandlung schon früher bekannt gewesen.

So berichtete zum Beispiel Napoleons Leibarzt Larrey von Wunden, die unter

Besonnung schneller heilten als unter dem Verband. Auch Stabsarzt

Goldammer rühmte seine grossen Erfolge in den Balkankriegen von 1912/13

mit Heliotherapie bei Granatsplitter-Weichteilwunden. Er hatte die Methode

notabene bei Bernhard in St. Moritz erlernt.

Obschon Oscar Bernhard während des Ersten Weltkrieges im sichern Hort St.

Moritz seinem Tagewerk hätte nachgehen können, war er sich nicht zu schade,

sein medizinisches Wissen und chirurgisches Können dort einzubringen, wo es

noch dringender benötigt wurde, bei den schwer verwundeten Kriegsopfern vor

Ort.

Oder war es eine Flucht nach vorn in den Arbeitsstress, weil er in seiner

Entfaltung zu Hause gebremst worden war und zusehen musste, wie andere mit

seiner Methode gross herauskamen? Wie dem auch sei: Während acht Monaten

war er als Kriegschirurg in deutschen Lazaretten tätig, zuerst im Winter

1914/15 in Kettwig (Rheinprovinz), dann im Frühjahr 1915 in Colmar.

Doch im Norden gab es in den Wintermonaten nur wenig Sonne, so dass er

sich mit der Quarzlampe behelfen musste: Und im Elsass hatte er, ganz nahe an

der Front, einen derartigen Wechsel im Verwundetenbestand, dass für

Heliotherapie, die eine Langzeitbehandlung erfordert, keine Zeit blieb. Ganz

anders war es im Sommer 1915 in Bad Dürrheim im Badischen Schwarzwald.

Im Auftrag des Sanitätsamtes des 14. deutschen Armeekorps konnte er hier

eine eigentliche Sonnenklinik für Kriegsverwundete errichten. Dies geschah

notabene auf Veranlassung der Grossherzogin Luise von Baden, die sich bei

ihren früheren häufigen Aufenthalten im Engadin im Spital Samedan die

Heliotherapie hatte erklären lassen.

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Internierungs-Triage

Aber auch in offizieller Mission als Schweizer Militärarzt und Sanitätsoffizier

war Oscar Bernhard im Ausland tätig, so von 1916 bis 1918 in

Kriegsgefangenenlagern in England, Deutschland und Nordfrankreich beim

Austausch von Verwundeten und kranken Kriegsgefangenen zwischen den

verschiedenen Nationen zwecks Internierung in der Schweiz oder direkter

Repatriierung. Auf diesen Reisen hat er in verschiedensten Lagerlazaretten

feststellen können, dass die Sonnenlichtbehandlung der Wunden routinemässig

eingesetzt wurde.

Vorbildliche Einrichtungen für Heliotherapie in der Kriegschirurgie fand er

etwa im grossen Lazarett der kanadischen Truppen, welches das Kanadische

Rote Kreuz in Maidenhead an der Themse eingerichtet

S. 323: hatte. Aber auch Franzosen und Italiener nutzten die Sonnenlichtbehandlung

für ihre Verwundeten eifrig, besonders an den sonnigen Küsten des

Mittelmeers. Erfolgsberichte lagen auch vom Kriegs-Schauplatz in Polen vor

(wo eine Besonnungsanstalt in einem Gärtnereitreibhaus improvisiert wurde),

ja sogar von der Marine in Konstantinopel.

Die Sonnenklinik im Vereinslazarett Bad Dürrheim im Badischen

Schwarzwald, die Oscar Bernhard im Auftrag von Grossherzogin Luise von

Baden 1915 einrichten konnte.

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Ganz nüchtern und ohne zur Schau gestellten Stolz konnte Oscar Bernhard

konstatieren: «Vergleicht man all diese Mitteilungen verschiedenster

Kriegschirurgen, die sich der Heliotherapie zugewandt haben, so bestätigen sie

meine im Jahre 1904 zum ersten Male ausführlich veröffentlichten

Beobachtungen vollauf und oft ganz wörtlich». Das mag ihn über einige

weniger schöne Erlebnisse in diesem Zusammenhang hinweggetröstet haben.

Unerwartetes Wiedersehen

Immer wieder schrieb er zu später Nachtstunde lange und ausführliche Briefe

an seine Frau, von denen jeder einzelne sich wie ein dichterisches Essay liest,

selbst wenn es sich um tragische Kriegsgeschehnisse handelt (vgl. Kastentexte

folgende Seiten). «Du magst», schreibt er seiner Lili, «was Dich weniger

interessiert, überspringen. Ich tue es aber auch für mich statt eines Tagebuches.

Zur Führung eines solchen habe ich mich, wie Du weisst, nie aufschwingen

können».

Und Weiter: «Das Neue und Interessante, das in so grossem Massstabe und

plötzlich über mich gekommen ist, möchte ich doch gerne für spätere Zeiten

festhalten. Trotzdem ich in den bald 30 Jahren meiner Praxis schon viel

Schweres gesehen habe,

S. 324: bleibt der erste Eindruck, auf einmal einer so grossen Zahl meistens sehr

schwer Verletzter gegenüber zu stehen, für mich ein tiefer und

unauslöschlicher, und ebenso gross und dauernd ist die Freude, dabei helfend

mitwirken zu können».

Ein berührendes Statement

Aus einem Brief an die Familie vom Kriegslazarett Kettwig-Ruhr, 28.10.1914

Meine Lieben! Im Corridor war ein penetranter Geruch, zusammengesetzt von

Jodoform und andern aseptischen Mitteln, Schweiss, Blut, Eiter und

Ausdünstungen, der unendliches Mitleid mit den armen Unglücklichen

erweckte - und dann erst der Anblick all des Jammers und Elendes!

Da ist einer mit einem durchschossenen, ganz zersplitterten Knochen, hier

hängt in Fetzen eine ganze Hand herunter, dann wird wieder einer gebracht,

dessen Leib an vielen Stellen von Granatsplittern zerfetzt ist.

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Handtellergrosse Stücke Haut fehlen. Muskeln und Sehnen liegen bloss und

zucken beim Verbandwechsel.

Dann kommt wieder einer, dem eine Granate den Unterkiefer zerschmettert hat

und dessen Gesicht unförmlich entstellt ist, oder es wird einer hereingetragen,

dem eine Shrapnellkugel durch den Hals eingedrungen ist, das Schlüsselbein

zerschmettert hat und nebst mitgerissenen Knochensplittern vorn in der Lunge

steckt, mühsam geht sein Atem und sein Auge glänzt in Todesangst.

Solches und noch viel anderes Schreckliches sah ich, kaum angelangt. Oft

schnürte mir das Mitleid mit allen diesen braven Burschen, deren Leiden sich

in ihren Augen widerspiegelte - wie bei einem angeschossenen Wilde, in einem

merkwürdigen, schwer zu beschreibenden Ausdruck von Schmerz und Angst,

gepaart mit wilder Lust zu leben -, fast das Herz zusammen. Ich fluchte auf den

Krieg und dankte, dass ein gütiges Geschick mir beschieden war, so viel es in

meinen schwachen Kräften liegt, seine schrecklichen Folgen mildern zu

können.

Alles, was ich bishin in fast 30-jähriger aerztlicher Tätigkeit erlebt und

durchgemacht habe, kommt mir klein vor gegenüber dem, was jetzt zu leisten

ist, und noch nie habe ich ein so herrliches Gefühl der Befriedigung gehabt.

Wie schön ist doch die Medizin! Und wiederum wie traurig, wie unsäglich

traurig ist es, dass unsere ganze vermeintliche Kultur so versagt hat und die

raffiniertest ausgesonnenen Mordmaschinen heute Menschen hinmähen wie

Aehren, oder sie qualvoll verstümmeln.

Man sollte jeden Diplomaten, der am grünen Tisch seine Schachzüge zieht

über die Geschicke von Völkern, verpflichten, der Aufnahme und der

Untersuchung eines grossen Verwundetentransportes aus einem modernen

Schlachtfelde nur einen halben Tag lang beizuwohnen. Ich glaube, das wäre

für einen künftigen langen Frieden nützlicher als alle Haager Conferenzen.

Und er fand auch noch Zeit, sich für Einzelschicksale zu engagieren, wie ein

Schreiben vorn 31. März 1917 an seine Königliche Hoheit, Prinz Adalbert von

Preussen belegt, in welchem er sich für einen abgeschossenen und gefangen

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S. 325: genommenen französischen Fliegerwachtmeister einsetzt, dem er - welch ein

Zufall! - vor zwölf Jahren als Jüngling durch eine Blinddarmoperation in

extremis das Leben gerettet hatte und dessen Mutter aktuell zur Kur in seiner

Klinik in St. Moritz weilte... Auch im Krieg ist die Welt klein!

Wink mit dem Zaunpfahl?

In diesen ganz persönlichen, vom Herzen weg geschriebenen Briefen an seine

liebe Frau kommt Bernhards Denkart erst richtig zur Geltung: «An den

Anblick der grässlichen Verwundungen und an die schweren Leiden der armen

Kriegsopfer gewöhnt man sich schliesslich und sie verlieren allmählich das

Schreckliche, nur das Mitleid mit den braven, unschuldigen Leuten bleibt

dasselbe und wird auch immer so bleiben.

Wo es immer angeht, suche ich den Leuten Schmerzen zu ersparen und ich

wende viel mehr Narkosen und Lokal-Anaesthesien bei meinen Verwundeten

an, als in der Zivilpraxis. Diese Leute, die meistens schon Unsägliches gelitten

haben, bis sie im Lazarett untergebracht worden sind, verdienen es auch mehr,

dass man ihnen soviel wie möglich Schmerzen erspart, als unsere Sportsleute,

die glauben eine Heldentat verrichtet zu haben, wenn sie zum Beispiel auf dem

Cresta Run mit einer Fünftelsekunde ihren Rivalen geschlagen haben. Wer für

solche Blasiertheiten - ich urteile bei allem, was ich jetzt sehe, darüber schärfer

als früher - Leben und Gesundheit aufs Spiel setzt, soll auch den Mut haben,

etwas Schmerzen auszuhalten».

Ob bei diesem Wink mit dem Zaunpfahl eine leise Kränkung darüber

mitschwingt, dass beim Negativentscheid über seine Gross-Sonnenklinik in St.

Moritz der Sport über die Medizin gesiegt hatte? Denn die Cresta Riders tun ja

wohl nicht viel anderes, als der Hochgebirgsjäger bei seinen

lebensgefährlichen Adleraushorstungen in steiler Felswand auch mal getan hat

mit der damaligen Begründung, dass ihn die damit verbundene

«Ueberwindung der oft grossen Schwierigkeiten und Gefahren gereizt» habe -

was in heutiger Diktion hiesse: den ultimativen Adrenalinkick suchen….

Kämpfer-«Recycling»

Chirurg sein in Kriegslazaretten war nicht nur knallhartes Handwerk, es hat

auch Denkprozesse ausgelöst.

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So schrieb Bernhard seiner Frau am 12. Dezember 1914: «Der Kriegsgott, der

nun auf der ganzen Welt alle Kräfte in seinen Dienst und zu seiner

vernichtenden Tätigkeit herbeigezogen hat, hat auch uns Aerzte zu seinen

Dienern gemacht. Es klingt dies paradox, aber dennoch ist es so.

Dadurch, dass wir die Wunden, die der Krieg schlägt, zu mildern und zu heilen

suchen, befördern wir ihn andererseits, indem wir ihm immer wieder frische

Kräfte zuführen helfen. Dank der so hochentwickelten modernen Chirurgie

können nach mehr oder wenigen Wochen 50 - 60 % der Verwundeten, wie

unsere Statistik ergibt, wieder als kriegstüchtig ins Feld einrücken».

Und er doppelt nach: «Ich habe in meinem Lazarette einige Krieger behandelt,

die schon anfangs August im Elsass schwer verwundet worden waren, Ende

September oder im Oktober wieder ausrückten, in den Kämpfen an der Yser

wieder verwundet wurden und jetzt freudig und willig nach dem Osten ziehen,

um sich zum dritten Male den Schrecken des Krieges auszusetzen».

S. 326: Lungen-, Bauch- und Beckenschüsse

Aus einem Brief an seine Frau vom Kriegslazarett Kettwig-Ruhr, 18.11.1914.

Meine liebe Lili! In Gedanken bin ich, sofern dieselben in dieser

arbeitsreichen und verantwortungsvollen Zeit mir selbst angehören, stets bei

Dir und den lieben Kindern, und wenn ich zum Schreiben käme, würde ich

öfters mit Dir plaudern. Sonntag vor 8 Tagen wollte ich mich gerade hinsetzen

und einen Brief beginnen mit «diesen stillen Sonntagnachmittag», als es hiess,

es sei soeben ein neuer Verwundetentransport von Essen hieher abgegangen.

Ich bekam 29 Bayern, alles Schwerverwundete.

Die Leute kamen direkt vom Schlachtfelde am Isère-Kanal, wo man die Bayern

den Engländern gegenüber gestellt hatte. Bei einem Sturme kam es zu

schrecklichem Nahkampf. Die Bayern scheinen wie die Löwen gekämpft zu

haben und gewannen schrittweise Boden, aber von einer Compagnie von 276

Mann waren nur noch knapp 30 übrig geblieben, die andern entweder tot oder

verwundet, als gefangen ergab sich keiner. Die Armen sahen schrecklich aus,

von den feldgrauen Uniformen war nicht mehr viel zu sehen, lehmgrau waren

auch die abgehärmten, ausgebluteten Gesichter.

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Es waren alles schöne, kräftige Gestalten aus der Gegend des

Oberammergaus, Männer mit reichem Haar, grossen gekräuselten Bärten,

jeder hätte ein Passionsspieler sein können, ein Christus, Petrus, und auch ein

feuerroter Judas hätte nicht gefehlt. Diesmal aber war die Passion bitterer

Ernst. Viele hatten Lungenschüsse und keuchten schwer, andere Bauch- und

Beckenschüsse. Die meisten zeigten Schüsse durch den Oberschenkel, wegen

der Schussnähe mit colossalen Ausschussverletzungen, und bei 7 war der

Oberschenkelknochen zugleich zerschmettert.

Der eine meiner Amputierten starb leider, wie vorauszusehen war. Es ist dies

bis jetzt der erste Todesfall, den ich hatte. Es war ein mit dem eisernen Kreuz

geschmückter Bayer, der in Zürich niedergelassen war und freiwillig dem Rufe

seines Vaterlandes gefolgt war. Seine aus Zürich hergereiste Braut traf einige

Stunden vor seinem Tode hier ein und fand ihn noch bei klarem Bewusstsein.

An der Beerdigung nahmen alle hiesigen Verwundeten, die sich nur irgendwie

vorwärtsschleppen konnten, teil, gewiss etwa 80 bis 100 Mann, dann der

Kriegerverein mit Militärmusik, andere Vereine der Stadt und viel Volk. Von

dem auf einer Anhöhe gelegenen Friedhofe sah man im trüben Morgennebel

den Rauch der Krupp'schen Schlote in Essen, ein richtiger Weihrauch für ein

Soldatengrab. Nachdem der wackere Krieger gebettet war, ging's unter den

frischen Klängen «Ich hatt' einen Kameraden» wieder zurück mit den

Verwundeten ins Lazarett.

Abends 10 Uhr, 18. Nov. 1914. Eben wird für diese Nacht 1 Uhr ein grosser

Verwundeten-Transport angesagt...

Nervenstark und resistent

Dann gibt er gleich noch eins drauf: «Vor den Nerven unserer modernen

Menschen, die ich früher im Hinblick auf die vielen Neurastheniker, welche

mich in St. Moritz mit ihren Klagen beglückten, so oft verwünscht habe, habe

ich nun doch grossen Respekt bekommen. Fast alle diese Soldaten haben

eiserne Nerven. Wenn sich einmal

S. 327: ein Zimperlicher zeigt, so ist es eben ein solcher Mensch, der auch im

alltäglichen Leben auf Kleinigkeiten reagieren würde. Von einer sogenannten

Kriegspsychose, wie sie die Herren Nervenaerzte schon gleich konstruirt

haben, habe ich noch nichts gesehen».

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Bewundernd fügt er an: «Wenn ich meinen Respekt geäussert habe für die

Nerven unserer Generation, so kann ich es auch tun für die Kraft und Energie,

die in ihrem Körper wohnt. Auch da merkt man noch nichts von Decadenz und

Verweichlichung. Es ist merkwürdig, ja oft fast unfasslich, wie rasch und gut

bei richtiger chirurgischer Nachhilfe die scheusslichsten Wunden heilen».

«Drei Monate lang», schreibt er an anderer Stelle, «habe ich nun deutsche

Verwundete behandelt und zu meiner Freude niemals mit einem etwas

Unangenehmes erlebt, ja nicht einmal einen Misston gehabt». Die tapferen

Soldaten waren geerdete Patienten, wie er sie von seiner Gebirgspraxis her

kannte. Zum Abschied drückten sie ihm dankbar und treuherzig die Hand.

Einer der Bayern, nicht gerade der gescheiteste, aber der urwüchsigste, ein

rothaariger, vierschrötiger Landwehrmann, brachte ihm mit vor Stolz

leuchtenden Augen ein Bildchen: «Herr Docta, do bring ich eana ä Präsidänt,

mei Fotografi, dös is vor dia Ehr».

Weihnachten im Krieg

Ergreifend ist, wenn Oscar Bernhard seiner Lili die Weihnachtsfeier für die

Kriegsversehrten im Lazarett beschreibt, «diese Armen, die wochenlang

draussen in den feuchten Schützengräben lagen, allen Unbilden der Witterung

ausgesetzt und dem Tode, der vom Feinde droht, immer entgegen schauend,

nun sich unter einem schützenden Dach geborgen wissen, in dessen Hallen der

Weihnachtsbaum brennt und friedliche, feierliche Stimmung ausstrahlt.

In langen Reihen trugen die Sanitäter die Schwerverwundeten in den Saal

hinunter und lagerten sie bestmöglich, während die andern in Gruppen

hermarschiert kamen mit ihren verbundenen Köpfen, den Arm in der Schlinge

oder an Stöcken und Krücken humpelnd». Und dann beschreibt er, wie all

diese struppierten Krieger mit glänzenden Augen die Weihnachtslieder

mitzusingen versuchten.

«Es traten bei mir», beginnt er zu philosophieren, «eigentümliche Gedanken

auf. Welch widersinniges Unheil ist eigentlich so ein Krieg! Manche finden für

ihn eine tröstliche Benennung, wenn sie ihn mit einem Naturereignis

vergleichen. Es ist dies aber eine vielleicht bestrickende und doch so hohle

Phrase.

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Naturereignisse stehen über den Menschen, der Krieg ist aber etwas von den

Menschen selbst Gewolltes und umsomehr zu verabscheuen, weil gerade in

diesem Krieg nirgends die Not eine Triebfeder sein konnte. Alle Nationen

hatten ihren Platz an der Sonne, der ihnen genügend Nahrung gab, und nur

Grossmannssucht und Neid hat diesen grässlichsten aller Kriege verschuldet».

Bis an die Leistungsgrenze

Die Arbeit in den Kriegslazaretten war eine Rund-um-die-Uhr-Aufgabe,

physisch hart und psychisch belastend. In einem Brief an seine Frau Lili aus

Kettwig vom 7. Februar 1915 schimmert denn auch erstmals - und das hat er

wohl nur ihr und niemand anderem gegenüber offenbart

S. 328: so etwas wie widerwilliger Respekt vor der erdrückenden Arbeitslast durch,

wenn er, der sonst unermüdliche Draufgänger und hartgesottene Naturbursche

schreibt: «Heute war ich wirklich eine Zeit lang fast erschöpft und fühlte auf

einmal zu meinem grossen Ärger etwas wie Alter».

Kein Wunder, wenn er gleich begründet, warum: «Allerdings ist in den letzten

14 Tagen vieles über mich ergangen. Im Lazarettzuge gab es wenig Schlaf und

die Rückreise war sehr anstrengend. Wir hatten 315 Verwundete und Kranke,

darunter auch Irrsinnige transportiert. Von früh morgens bis abends spät gab es

zu verbinden und in die Nacht hinein mussten noch die Protocolle geschrieben

werden. Die ganze Reise war aber höchst interessant und lehrreich und ein

Gewinn für mein ganzes Leben».

Plumpe Anschuldigung

Bernhard konnte aber auch ganz schön wütend werden und poltern, wenn er

sich ungerechterweise angegriffen fühlte, wie damals in Colmar, als ihm,

ausgerechnet ihm, irgendwelche Bürokraten-Generalärzte mit unbefleckter

Uniform und zwei linken Händen mangelnde Asepsis vorwarfen, was für ihn

als Operations-Perfektionist geradezu beleidigend war: «Wenn den Herren

Inspizienten meine schwarzen Fingernägel vielleicht aufgefallen sein mögen,

so rührt das daher, dass ich schon seit 30 Jahren meine Fingerspitzen vor einer

Operation noch nach vorangegangener gründlicher Desinfektion der Hände zur

ganz sicheren Desinfektion des Nagelfalzes mit Jodtinktur bepinsele».

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Ungehalten fährt er fort: «Einem Chirurgen muss die Asepsis (steriles

Arbeiten) und die Antisepsis (Verhinderung der Wundinfektion) in Fleisch und

Blut liegen, sonst ist er durch sich selbst gerichtet und bald abgefertigt. Meine

30 Jahre chirurgischer Betätigung und im Beginne viele Jahre hindurch unter

den schwierigsten äusseren Verhältnissen, die Erfolge eines Lebensalters kann

mir kein Sanitätsamt oder kein Professor in einer halben Stunde absägen».

Für solch plumpe Anschuldigung verlangte er an höchster politischer Stelle

Satisfaktion und schloss mit der Feststellung: «Eines hat mir aber der

Beschluss des Sanitätsrates doch nicht nehmen können, mein chirurgisches

Selbstvertrauen».

Durchs Netz gefallen

Oscar Bernhard gehörte zu jenen Menschen, die immer spontan bereit waren

zu helfen, so auch der Schweizer Armee durch diese freiwilligen,

monatelangen Einsätze in Kriegslazaretten und mit Verantwortungsvollen

Commissionsreisen ins Ausland. Dennoch ging er bei der militärischen

Beförderung vergessen.

Also beantragte Hauptmann Bernhard 1917 beim Hauptquartier seine

Beförderung zum Major gleich selber, «denn ich fand mich wirklich einige

Male in etwas gedemütigter Lage» als älterer Subalterner unter den jüngeren,

ranghöheren internationalen Commissionsmitgliedern.

Diese Beförderung erfolgte später dann auch, allerdings erst 1925, und 1936

wurde er als Major «unter Verdankung der geleisteten Dienste» aus der

Wehrpflicht entlassen. Wahrscheinlich war er bezüglich Kriegschirurgie unter

den Schweizer Militärärzten derjenige mit der grössten Erfahrung, obschon er

darüber nie Aufhebens gemacht hat.

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Wir danken dem Verfasser bestens für die freundliche Wiedergabebewilligung.

Internet-Bearbeitung: K. J. Version 07/2014

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