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3/2002 M AX P LANCK F ORSCHUNG 53 NEUROPSYCHOLOGISCHE Forschung 52 M AX P LANCK F ORSCHUNG 3/2002 WISSEN aus erster Hand Wie Sprache auf die Nerven geht „Sie ist ziemlich alt und hat verschiedene Formen; sie kann zärtlich sein und auch ärgerlich, sanft und brutal; sie kann die Liebe erklären, aber auch den Krieg. Wir alle kennen sie – und doch irgendwie nicht so richtig. Wir begegnen ihr täglich – und doch: Müssten wir sie beschreiben, täten wir uns schwer. Sie kommt zu uns und wird ein Teil von uns – und doch wissen wir nicht wie.“ Mit diesem Rätsel, es meint die Sprache, leitete PROF . ANGELA FRIEDERICI, Direktorin am Leipziger MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR NEUROPSYCHOLOGISCHE FORSCHUNG, ihren öffentlichen Vortrag im Rahmen der diesjährigen Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft in Halle ein. Lesen Sie im Folgenden, was man heute über die neuronalen Hintergründe des Sprachverstehens weiß. D ie Sprache hat Philosophen und andere Denker be- schäftigt. Doch der Naturwissenschaft schien sie nicht zugänglich – bis vor ungefähr 140 Jahren Paul Bro- ca, ein französischer Neurologe und Anthropologe, den ersten Nachweis dafür erbrachte, dass Sprache wie andere Formen des Geistes an Materie gebunden ist. Broca be- richtete über einen Patienten, der keine Sprache mehr produzieren konnte, außer einer einzigen Silbe: „tan“. Dieser Patient war sehr wohl in der Lage, einfache Fragen zu verstehen, und er signalisierte das mit jeweils bejahen- den oder verneinenden Betonungen von „tan“. Zwei Jahre später starb dieser Patient. Die Autopsie er- gab eine Läsion des Gehirngewebes in der linken Hemi- sphäre – und zwar am Fuß der dritten Stirnhirnwindung. Der Zufall wollte es, dass das Originalgehirn des Patienten hundert Jahre später in einem Anatomie-Institut in Paris wiederentdeckt wurde. Das Gehirn zeigt die beschriebene Läsion in der dritten Stirnhirnwindung (Abb. 1 a). Interes- santerweise hatte Broca das Gehirn in seiner Gänze erhal- ten und es nicht wie sonst üblich zur genaueren Untersu- chung seziert – als hätte er geahnt, dass mehr als hundert Jahre später eine Methode entwickelt würde, die es er- laubt, das Gehirn in seiner inneren Struktur zu betrachten, ohne es zu zerteilen: die Computertomographie. Sie zeigt eine große Schädigung des Gehirns im vorderen Teil der linken Hemisphäre; der Defekt ist weit größer, als man von der Außenbetrachtung annehmen würde (Abb. 1 b). Die ursprüngliche Außensicht auf die Hirnläsion veran- lasste Paul Broca, im unteren Teil der dritten Stirnhirnwin- dung den Sitz der Sprachproduktion zu sehen; noch heute bezeichnet man dieses Gebiet in der linken Hirnhälfte als Broca-Areal. Einige Jahre später, 1874, beschrieb der Bres- lauer Neurologe Carl Wernicke eine Reihe von Patienten, die Sprache wohl produzieren, aber nicht verstehen konn- ten. Diese Patienten wiesen Läsionen in der oberen Win- dung des Temporallappens auf. Fortan galt diese Hirnregi- on als die Region des Sprachverstehens. Diese Aufteilung entsprach lange Zeit dem Stand des Wissens (Abb. 2). Heute jedoch können wir die neuronalen Grundlagen der Sprache genauer spezifizieren. Dazu haben drei Fak- toren beigetragen: Da ist zunächst die grundlegende Theoriebildung bei Sprache und Sprachverarbeitung; die- se Theorien beschreiben zum Teil sehr genau, was wir un- FOTO: WOLFGANG FILSER / ABB.: MPI FÜR NEUROPSYCHOLOGISCHE FORSCHNUNG tersuchen wollen – nämlich die Sprache und deren ein- zelne Komponenten. Zweitens haben sich so genannte bildgebende Verfahren rasant entwickelt; mit ihnen lässt sich die Hirnaktivität während einer kognitiven Aufgabe darstellen – und zwar sowohl hinsichtlich der Frage, wel- che Hirnareale während einer mentalen Tätigkeit aktiv sind, als auch bezüglich der Frage, wie die verschiedenen Hirnareale in der Zeit zusammenarbeiten. Der dritte und vielleicht wichtigste Faktor jedoch heißt Interdisziplina- rität: Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen – den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften – ar- beiten eng zusammen, um der Natur des Geistes und der Natur der Sprache auf die Spur zu kommen. Von diesem Abenteuer soll hier berichtet werden. Abb. 1a Abb. 1b Abb. 2

Wie Sprache auf die Nerven geht

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NEUROPSYCHOLOGISCHE Forschung

52 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 3 / 2 0 0 2

WISSEN aus erster Hand

Wie Sprache auf die Nerven geht „Sie ist ziemlich alt und hat verschiedene Formen; sie kann zärtlich sein und

auch ärgerlich, sanft und brutal; sie kann die Liebe erklären, aber auch den Krieg.

Wir alle kennen sie – und doch irgendwie nicht so richtig. Wir begegnen ihr

täglich – und doch: Müssten wir sie beschreiben, täten wir uns schwer. Sie kommt

zu uns und wird ein Teil von uns – und doch wissen wir nicht wie.“ Mit diesem

Rätsel, es meint die Sprache, leitete PROF. ANGELA FRIEDERICI, Direktorin am

Leipziger MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR NEUROPSYCHOLOGISCHE FORSCHUNG,

ihren öffentlichen Vortrag im Rahmen der diesjährigen Hauptversammlung

der Max-Planck-Gesellschaft in Halle ein. Lesen Sie im Folgenden, was man heute

über die neuronalen Hintergründe des Sprachverstehens weiß.

Die Sprache hat Philosophen und andere Denker be-schäftigt. Doch der Naturwissenschaft schien sie

nicht zugänglich – bis vor ungefähr 140 Jahren Paul Bro-ca, ein französischer Neurologe und Anthropologe, denersten Nachweis dafür erbrachte, dass Sprache wie andereFormen des Geistes an Materie gebunden ist. Broca be-richtete über einen Patienten, der keine Sprache mehrproduzieren konnte, außer einer einzigen Silbe: „tan“.Dieser Patient war sehr wohl in der Lage, einfache Fragenzu verstehen, und er signalisierte das mit jeweils bejahen-den oder verneinenden Betonungen von „tan“.

Zwei Jahre später starb dieser Patient. Die Autopsie er-gab eine Läsion des Gehirngewebes in der linken Hemi-sphäre – und zwar am Fuß der dritten Stirnhirnwindung.Der Zufall wollte es, dass das Originalgehirn des Patientenhundert Jahre später in einem Anatomie-Institut in Pariswiederentdeckt wurde. Das Gehirn zeigt die beschriebeneLäsion in der dritten Stirnhirnwindung (Abb. 1 a). Interes-santerweise hatte Broca das Gehirn in seiner Gänze erhal-ten und es nicht wie sonst üblich zur genaueren Untersu-chung seziert – als hätte er geahnt, dass mehr als hundertJahre später eine Methode entwickelt würde, die es er-laubt, das Gehirn in seiner inneren Struktur zu betrachten,ohne es zu zerteilen: die Computertomographie. Sie zeigteine große Schädigung des Gehirns im vorderen Teil derlinken Hemisphäre; der Defekt ist weit größer, als man vonder Außenbetrachtung annehmen würde (Abb. 1 b).

Die ursprüngliche Außensicht auf die Hirnläsion veran-lasste Paul Broca, im unteren Teil der dritten Stirnhirnwin-dung den Sitz der Sprachproduktion zu sehen; noch heutebezeichnet man dieses Gebiet in der linken Hirnhälfte alsBroca-Areal. Einige Jahre später, 1874, beschrieb der Bres-lauer Neurologe Carl Wernicke eine Reihe von Patienten,die Sprache wohl produzieren, aber nicht verstehen konn-ten. Diese Patienten wiesen Läsionen in der oberen Win-dung des Temporallappens auf. Fortan galt diese Hirnregi-on als die Region des Sprachverstehens. Diese Aufteilungentsprach lange Zeit dem Stand des Wissens (Abb. 2).

Heute jedoch können wir die neuronalen Grundlagender Sprache genauer spezifizieren. Dazu haben drei Fak-toren beigetragen: Da ist zunächst die grundlegendeTheoriebildung bei Sprache und Sprachverarbeitung; die-se Theorien beschreiben zum Teil sehr genau, was wir un-FO

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G tersuchen wollen – nämlich die Sprache und deren ein-zelne Komponenten. Zweitens haben sich so genanntebildgebende Verfahren rasant entwickelt; mit ihnen lässtsich die Hirnaktivität während einer kognitiven Aufgabedarstellen – und zwar sowohl hinsichtlich der Frage, wel-che Hirnareale während einer mentalen Tätigkeit aktivsind, als auch bezüglich der Frage, wie die verschiedenenHirnareale in der Zeit zusammenarbeiten. Der dritte undvielleicht wichtigste Faktor jedoch heißt Interdisziplina-rität: Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen – denGeisteswissenschaften und den Naturwissenschaften – ar-beiten eng zusammen, um der Natur des Geistes und derNatur der Sprache auf die Spur zu kommen. Von diesemAbenteuer soll hier berichtet werden.

Abb. 1a Abb. 1b

Abb. 2

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WISSEN aus erster Hand

Einige werden fragen: Kann man denn das, was wir un-ter Sprache verstehen und was vielleicht eher Assoziatio-nen wie „Goethe“ oder „Schiller“ hervorruft, mit natur-wissenschaftlichen Methoden untersuchen? Man kann –nämlich dann, wenn man nicht Gedichte interpretierenwill, sondern die biologischen Grundlagen der menschli-chen Fähigkeit, Sprache zu verstehen, untersucht.

Was sind nun die Prozesse, die beim Hören und Verste-hen von Sprache ablaufen, vom akustischen Input bis zudem Moment, in dem eine Interpretation für das Gesagtegefunden wurde? Ein Schema dieser Abläufe zeigt Abbil-dung 3. Zunächst muss das System eine akustisch-phone-tische Analyse des Gesagten vornehmen. Dann werdenweitere Informationen herausgefiltert, und zwar auf zweiWegen: Innerhalb eines Verarbeitungspfades erfolgtzunächst der Zugriff auf Wortkategorie und Erstellungder syntaktischen (grammatischen) Struktur, dann erstder Zugriff auf die Semantik (Bedeutung). In der Phasedes semantischen Zugriffs werden thematische Rollenvergeben: Es wird festgelegt „wer tut was wem“. Danachwird das Gesagte interpretiert.

Neben der syntaktischen und der semantischen Informa-tion enthält gesprochene Sprache aber auch noch prosodi-sche Information: Information also über den Tonhöhen-verlauf. Der Volksmund nennt das „Satzmelodie“. Diesewird in einem zweiten Pfad verarbeitet. Prosodie kann

Diese Daten belegen, dass verschiedene Anteile des Gy-rus temporalis superior spezifisch und abhängig von syn-taktischen und semantischen Prozessen aktiviert werden.Der vordere Anteil des Gyrus ist vor allem bei der Verar-beitung syntaktischer Aspekte aktiv, der mittlere Anteilhingegen bei der Verarbeitung semantischer. Der hintereAnteil des Gyrus scheint bei beiden Prozessen gleicher-maßen aktiviert zu werden, spielt also bei der Integrationvon Semantik und Syntax eine Rolle.

Syntaktische und semantische Bedingungen unterschei-den sich darüber hinaus in der Aktivierung frontaler Area-le. Die syntaktische „Verletzungsbedingung“ aktiviert imGegensatz zur semantischen zusätzlich das frontale linkeOperculum, das nahe dem Broca-Areal liegt. Diese und ei-ne Reihe ähnlicher Untersuchungen im fMRT zeigen, dassdie verschiedenen Prozesse – primär auditorische, syntak-tische oder semantische – von unterschiedlichen Hirnarea-len unterstützt werden. Interessant ist, dass nicht jeweilsnur ein Areal für semantische oder syntaktische Prozessezuständig ist, sondern ein Prozess jeweils gleichzeitig einAreal im Temporal- und im Frontallappen aktiviert, diebeide ein spezifisches Mini-Netzwerk bilden. Klar zu un-terscheiden sind in der linken Hemisphäre das Netzwerkfür syntaktische Prozesse (in Abb. 6 rot markiert) und fürsemantische Prozesse (orange). Die frontalen Anteile desMini-Netzwerks werden häufig erst dann deutlich aktiv,wenn semantische und syntaktische Prozesse einen höhe-ren Aufwand erfordern, das heißt, wenn die Sätze komple-xer sind als im geschilderten Experiment.

Damit kennt man jene Hirnareale, in denen die Verar-beitung von syntaktischen und semantischen Merkmalenabläuft. Was aber sind die zeitlichen Parameter? Wirdsyntaktische Information – wie das Modell sagt – in derTat vor der semantischen Information verarbeitet? ZurKlärung dieser Frage benutzen wir das Verfahren der er-eigniskorrelierten Hirnpotenziale (EKP); es erlaubt einezeitliche Auflösung im Millisekundenbereich. Da aus demfortlaufenden EEG (Abb. 7 oben) wegen der relativ gro-ßen Hintergrundaktivität des Gehirns bei Präsentationeinzelner Stimuli (hier mit „S“ bezeichnet) nur wenig spe-zifische Hirnaktivität zu erkennen ist, wird die Gehirnak-tivität in Bezug auf eine Reihe von Stimuli einer be-stimmten Klasse gemittelt. Diese Mittelung liefert eine in-terpretierbare Gehirnkurve – das ereigniskorrelierte Hirn-potenzial (Abb. 7 unten).

Das verwendete Stimulusmaterial im EKP-Experimentwar identisch mit jenem im vorhin beschriebenen Experi-ment: Es umfasste korrekte, semantisch inkorrekte undsyntaktisch inkorrekte Sätze. Die Hirnantworten auf se-mantisch und auf syntaktisch fehlerhafte Satzbedingun-gen unterscheiden sich deutlich. Die Hirnantwort auf dasletzte Wort im semantisch fehlerhaften Satz ist für eineElektrode („Cz“) in der oberen Hälfte von Abbildung 8dargestellt. Die durchgezogene Linie zeigt die korrekte

Bedingung, die gepunktete die inkorrekte. Beide Kurvenlaufen bei ungefähr 400 Millisekunden auseinander undkommen bei etwa 700 Millisekunden wieder zusammen.Diese negative Komponente wird gemäß ihres zeitlichenAuftretens N400 genannt. Das Gehirn reagiert also aufden semantischen Fehler im Satz.

Der untere Teil von Abbildung 8 zeigt die Differenzzwischen der korrekten und der semantisch inkorrektenBedingung in ihrer Topographie, gemessen an den überdie Kopfoberfläche verteilten Elektroden. Negativität ist

ebenfalls die Struktur eines Satzes signalisieren. So erlaubtsie zum Beispiel, zwischen Aussagesatz und Frage zu un-terscheiden, oder zeigt an, ob etwas traurig oder fröhlichgesagt wurde. Alle diese Informationen verarbeitet das Sys-tem in kürzester Zeit, von Wort zu Wort in weit wenigerals einer Sekunde – genauer gesagt: in 600 Millisekunden.

Um herauszufinden, wie das Gehirn das bewältigt,müssen zunächst zwei Fragen geklärt werden: WelcheGehirnareale unterstützen die Satzverarbeitung, insbe-sondere syntaktische, semantische und prosodische Pro-zesse? Und wie werden diese verschiedenen Teilprozessezeitlich koordiniert? Zur Klärung stehen heute verschie-dene Verfahren zur Verfügung, mit denen sich die Akti-vität des „arbeitenden“ Hirns registrieren lassen. Da istzum einen die Methode der ereigniskorrelierten Hirnpo-tenziale: Dabei wird mittels der Elektroenzephalographie(EEG) das Summenpotenzial von einer großen Anzahlsynchron aktiver Neuronen registriert. Die Zeitauflösungdieses Verfahrens liegt bei einer Millisekunde, doch istseine räumliche Auflösung auch bei der Verwendung ei-ner größeren Zahl von Elektroden recht ungenau.

Die andere Methode, die funktionelle Magnetresonanz-tomographie (fMRT), bietet dagegen eine hervorragenderäumliche Auflösung von ungefähr zwei Millimetern, istaber in ihrem zeitlichen Auflösungsvermögen wenigergut. Die fMRT erfasst die Sauerstoffpegel des Bluts undzeigt deren Veränderung während neuronaler Aktivität.Mit der Kombination beider Verfahren können wir die mitder Sprachverarbeitung verbundene Hirnaktivität räum-lich und zeitlich recht genau beschreiben.

Zunächst zu der Frage, wo im Gehirn syntaktische undsemantische Prozesse ablaufen. Dabei haben wir mithilfeder funktionellen Kernspintomographie eine Reihe vonExperimenten angestellt (Abb. 4). In einem dieser Versu-che präsentierten wir Sätze, die entweder korrekt waren(„Die Gans wurde gefüttert“), oder die einen semanti-schen, also einen Bedeutungsfehler, enthielten („Das Li-neal wurde gefüttert“) oder einen syntaktischen, also ei-nen Fehler der Grammatik („Die Kuh wurde im gefüttert“).

Mit solchen fehlerhaften Sätzen kann man testen, obdas Gehirn unterschiedlich auf die zwei Fehlertypen rea-giert – auf semantische oder syntaktische Information.Für die semantisch korrekte und inkorrekte Satzbedin-gung (Abb. 4) zeigen sich deutliche Aktivierungen imoberen Gyrus des Temporallappens. Die Unterschiede zwi-schen der korrekten und semantisch inkorrekten Bedin-gung sind im hinteren und mittleren Anteil des oberenGyrus des Temporallappens am größten. Für die syntakti-sche Bedingung (Abb. 5) findet man vor allem im mittle-ren Anteil des oberen Gyrus des Temporallappens eineweniger starke Aktivierung. Der vordere Anteil des Gyrustemporalis superior zeigt dagegen eine deutliche Aktivie-rung. Hier ist der Unterschied zwischen der korrekten undsyntaktisch inkorrekten Bedingung am größten.

Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5

Abb. 6

Abb. 7

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erkennen, da alle Inhaltswörter durch Pseudowörter er-setzt waren. Die Daten belegen eine dominante Involvie-rung der rechten Hemisphäre bei der Verarbeitung proso-discher Information (Abb. 12).

Das funktionale Gehirnmodell stellt die Verarbeitunggesprochener Sprache wie folgt dar (Abb. 13): HomologeAreale im superioren Gyrus des Temporallappens und iminferioren Gyrus des Frontallappens der linken und derrechten Hemisphäre sind aktiviert. Syntax und Semantikwerden in domänen-spezifischen Mini-Netzwerken verar-beitet – und zwar vor allem in der linken Hemisphäre –,Prosodie dagegen vornehmlich in der rechten. Es ist zuvermuten, dass linke und rechte Hemisphäre in Echtzeitzusammenwirken, um eine effektive Verarbeitung gespro-chener Sprache zu sichern.

Wie aber werden Syntax und Semantik mit der Proso-die zusammengeführt? Dazu bietet man Versuchsperso-nen Sätze mit einer so genannten inkorrekten Prosodie,wie beispielsweise: „Peter verspricht, Anna zu arbeitenund das Büro zu putzen“ (anstatt „Peter verspricht Anna,zu arbeiten und…“ oder „Peter verspricht, Anna zuentlasten und…“). Tatsächlich reagiert das Gehirn aufderart irreführende Informationen zunächst mit einerN400-Antwort als Zeichen dafür, dass es das unpassendeVerb „arbeiten“ – statt des richtigen Verbs „entlasten“ –syntaktisch nicht in den Satz integrieren kann. Dannaber folgt eine P600-Komponente als Ausdruck einesKorrekturprozesses – und so wird der Satz am Ende dochverstanden.

Schwieriger ist es, die Interaktion zwischen Semantikund Prosodie aufzudecken. Dazu verwendet man Sätzemit emotional positiv oder negativ gefärbten Wörternund trägt diese Sätze mit jeweils passender oder unpas-sender emotionaler Stimmfärbung vor. Dabei zeigt sich –anders als bei allen anderen Experimenten – ein Unter-schied zwischen Männern und Frauen: Männerhirne rea-gieren auf die unpassende Information langsamer alsFrauenhirne, die auf prosodisch emotionale Informatio-nen sehr früh ansprechen – schon nach 200 Millisekun-den. Darin könnte ein Grund für manche Missverständ-nisse zwischen Frauen und Männern liegen.

Doch ungeachtet dieses interessanten Aspekts lässt sichinsgesamt für alle Gehirne feststellen: Der Weg vomakustischen Input führt über räumlich getrennte Mini-Netzwerke; jeweils gesondert verarbeiten sie spezifischeInformationen des Gehörten und verständigen sich bin-nen einer Sekunde über den Inhalt. Das gilt für reife Ge-hirne. Wie aber lernen Kinder von der Geburt bis zum Al-ter von sechs Jahren, Sprache zu verstehen? Dieser Zu-sammenhang zwischen Sprachentwicklung und Hirnent-wicklung wird an 250 Kindern erforscht. Diese Kindersind derzeit gerade ein Jahr alt, und es gibt darüber nochnicht viel zu berichten. Das fordert noch Geduld – eineder Tugenden, die jeder Wissenschaftler braucht. ●

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orange kodiert, und man erkennt, dass die N400 sich überden hinteren Teil des Kopfes ausbreitet.

Die syntaktische Verletzung (gepunktete Linie in Abb. 9oben links), evoziert eine sehr frühe Hirnantwort, die umdie 160 Millisekunden einsetzt. Diese Komponente habenwir ELAN (Early Left Anterior Negativity) genannt. Untenlinks zeigt Abbildung 9 die Topographie für diese Kompo-nente: Sie tritt nur anterior auf und ist links etwas stärkerals rechts. Das bedeutet, dass syntaktische Information inder Tat früher als semantische Information verarbeitetwird. Diese Verteilung weist auf die Aktivität spezifischerHirnareale für die syntaktische Verarbeitung im Gegen-satz zur semantischen hin. Syntaktische Fehler rufen einezweite, spätere Komponente hervor: eine Positivierung

um die 600 Millisekunden, daher P600 genannt (Abb. 9oben rechts). Unten rechts in Abbildung 9 ist die Vertei-lung dieser Komponente über den Kopf dargestellt. Sie istdeutlich verschieden von der frühen syntaktischen Kom-ponente ELAN.

Diese Daten belegen ein präzises zeitliches Zusammen-spiel von syntaktischen und semantischen Prozessen, dassich in drei Phasen gliedert (Abb. 10): Zunächst wirdschnell und automatisch eine syntaktische Struktur er-stellt (ELAN), dann werden lexikalisch-semantische In-halte abgerufen und integriert (N400). Ist beides ohneProbleme möglich, kann die Botschaft interpretiert wer-den. Treten aber Probleme auf, geht das System in eineKorrekturphase (P600) mit dem Ziel, eine adäquate Inter-pretation zu finden.

Aus diesen zwei Experimenten lässt sich der Weg vomauditorischen Input innerhalb der linken Seite des Mo-dells bezüglich seiner neuronalen Aspekte beschreibenund das räumlich präzise, jedoch zunächst statische Hirn-aktivitätsmodell nun in seinem zeitlichen Ablauf spezifi-zieren (vgl. Abb. 6). Zunächst wird die akustische Infor-mation im primären auditorischen Kortex bilateral verar-beitet, dann erfolgt die schnelle syntaktische Verarbei-tung in einem temporal-frontalen Netzwerk und danachdie semantische in einem anders verteilten temporal-frontalen Netzwerk. Die erfolgreiche Integration dieserverschiedenen Informationstypen ist Voraussetzung fürdie Interpretation.

Ein zusätzliches Experiment im Magnetenzephalogra-phen (MEG) mit insgesamt 148 Kanälen belegte, dassschon der frühe syntaktische Prozess das temporal-fron-tale Netzwerk aktiviert. Es wurden dieselben Stimuli wiein den vorangegangenen Versuchen verwendet, und dieQuellen der Hirnaktivität im frühen Zeitfenster um die160 Millisekunden individuell für fünf Probanden er-rechnet. Interessanterweise zeigten sich für dieses früheZeitfenster zwei Quellen: ein temporaler und ein fronta-ler Dipol. Dies bedeutet, dass das definierte Mini-Netz-werk schon in der frühen Phase der syntaktischen Verar-beitung aktiv ist.

Damit kommen wir zur Verarbeitung prosodischer In-formation (vgl. rechte Seite des Modells in Abb. 3). DieFrage, wo im Gehirn prosodische Information verarbeitetwird, wurde mittels funktioneller MRT untersucht. Um dieProsodie getrennt von Semantik und Syntax zu analysie-ren, wurde die spektrale Information aus einem normalengesprochenen Satz herausgefiltert (Abb. 11 oben). Erhal-ten blieb der Tonhöhenverlauf (Abb. 11 unten). Die spezi-fische Aktivierung für die Prosodie wird deutlich im Ver-gleich der Hirnaktivierung zwischen den gefilterten Sät-zen – die nur prosodische Information enthielten – undnormal gesprochenen Sätzen, die neben der prosodischenauch spektrale Information transportierten; in ihnen warjedoch nur eine syntaktische Struktur und kein Inhalt zu

WISSEN aus erster Hand

PROF. DR. ANGELA D. FRIEDERICI ist Direktorin und wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für neuropsychologische For-schung in Leipzig. Sie forscht auf dem Gebietder Neurobiologie der Sprache und untersuchtFragen des Sprachverstehens, der Sprachver-arbeitung und der Bildgebung von kognitivenProzessen. Frau Friederici ist Professorin an derUniversität Leipzig und hält mehrere Honorar-

professuren inne. Zudem ist sie Direktorin am Zentrum für Kogni-tionswissenschaft. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet,beispielsweise erhielt Angela Friederici im Jahr 1997 den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis.

Abb. 8

Abb. 9

Abb. 10

Abb. 11

Abb. 12

Abb. 13

– syntaktische Sprache