Der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung
aus systemtheoretischer Sicht
Inaugural-Dissertationin der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät
der Friedrich-Alexander-UniversitätErlangen-Nürnberg
vorgelegt vonUlrike Goldmann
aus Düsseldorf
II
Tag der mündlichen Prüfung: 17. Dezember 2001
Dekan: Universitätsprofessor Dr. H. Heller
Erstgutachter: Universitätsprofessor Dr. D. Spanhel
Zweitgutachter: Universitätsprofessorin Dr. J. Forster
III
Mein besonderer Dank gilt meinem geschätzten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Spanhel,
für die umfassende, konstruktive Betreuung und stete Ermutigung über die gesamte
Dauer der Erstellung der Arbeit.
Bedanken möchte ich mich auch bei den Mitgliedern des Doktorandenkolloquiums von
Herrn Prof. Dr. Spanhel und Herrn Prof. Dr. Sacher. In diesem Rahmen habe ich unver-
zichtbare Hinweise für meine Arbeit erhalten.
Eine wesentliche Förderung erfuhr meine Dissertation durch ein Wiedereinstiegsstipen-
dium aus den Mitteln des 2. und 3. Hochschulsonderprogramms der Universität Erlan-
gen-Nürnberg, welches mir durch die Unterstützung von Herrn Prof. Dr. Spanhel und
Herrn Prof. Dr. Beckmann gewährt wurde.
I
Inhaltsverzeichnis1. Einleitung.................................................................................................................... 1
2. Der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung in der pädagogischen
Theoriebildung ......................................................................................................... 13
2.1 Erziehung als Entwicklungshilfe bei Montessori.................................................. 15
2.2 Entwicklung durch das Lernen von Strukturen bei J.S. Bruner ............................ 22
2.3 Erziehung zur Identität durch Entwicklung von Interaktionsfähigkeit - Zur
Bedeutung des symbolischen Interaktionismus .................................................... 28
2.4 Entwicklung und Erziehung aus Sicht einer anthropologischen Pädagogik ......... 36
2.5 Entwicklung und Erziehung durch Bildung - Zu Ballauffs Ansatz einer
philosophischen Pädagogik ................................................................................... 44
2.6 Probleme und offene Fragen ................................................................................. 51
3. Weiterführende Neuformulierung der Fragestellung aus
systemtheoretischer Sicht ........................................................................................ 59
3.1 Grundbegriffe und erkenntnistheoretische Voraussetzungen der
Systemtheorie ........................................................................................................ 60
3.2 Methodisches Vorgehen und Präzisierung der Fragestellung ............................... 72
4. Systemtheoretische Aspekte von Entwicklung in ihrer Konsequenz für
Erziehung.................................................................................................................. 86
4.1 Synergetische Prinzipien von Entwicklung........................................................... 87
4.1.1 Zur Selbstorganisation von Systemen .............................................................. 89
4.1.2 Pädagogische Folgerungen ............................................................................... 94
4.2 Die Organisation des Lebendigen nach Maturana ................................................ 98
4.2.1 Kennzeichen autopoietischer Systeme ........................................................... 100
4.2.2 Der Beobachter ............................................................................................... 105
4.2.3 Entwicklung aus biologischer Sicht und Konsequenzen für Erziehung......... 108
4.3 Die kognitive Entwicklung des personalen Systems bei Piaget.......................... 112
4.3.1 Vom Egozentrismus zur intellektuellen Dezentrierung.................................. 114
4.3.2 Die Verwendung logisch-mathematischer Systeme als Widerspiegelung
von Kognition ................................................................................................. 120
4.3.3 Entwicklung psychischer Systeme und Konsequenzen für Erziehung........... 122
4.4 Das soziale System nach Luhmann ..................................................................... 128
II
4.4.1 Die Differenz von System und Umwelt, die Grenze von Systemen und die
Entstehung der Erziehungssituation ............................................................... 130
4.4.2 Sinn und Anschlußfähigkeit und ihre Bedeutung für die
Erziehungssituation ........................................................................................ 135
4.4.3 Luhmanns Evolutionsbegriff und pädagogische Konsequenzen seiner
Theorie............................................................................................................ 139
4.5 Das System Erziehung nach Büeler .................................................................... 144
4.5.1 Das System als Prozeß, das System Erziehung in der Evolution und
Konsequenzen für den Entwicklungsbegriff .................................................. 146
4.5.2 Erziehung als Synchronisierung von biologischen, psychischen und
sozialen Systemen........................................................................................... 150
4.5.3 Erziehungsziele und Konsequenzen für die Entwicklung .............................. 153
4.6 Zusammenfassung und Grenzen der Ansätze aus pädagogischer Sicht.............. 156
5. Die systemtheoretischen Merkmale von Entwicklung und Erziehung ............. 162
5.1 Komplexität von Erziehung und Entwicklung .................................................... 166
5.1.1 Komplexität des Systems Erziehung .............................................................. 166
5.1.2 Reduktion von Komplexität............................................................................ 169
5.1.3 Kontingenz...................................................................................................... 171
5.1.4 Selektion und Risiko....................................................................................... 173
5.1.5 Selbstreferenz ................................................................................................. 176
5.1.6 Komplexität von Entwicklung........................................................................ 178
5.1.7 Zeitliche Komplexität ..................................................................................... 179
5.1.8 Operative Komplexität ................................................................................... 180
5.1.9 Der komplexe Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung .................. 181
5.2 Organisation und Struktur von Entwicklung und Erziehung .............................. 184
5.2.1 Autopoietische Organisation und Selbstorganisation..................................... 185
5.2.2 Die Struktur von Erziehung............................................................................ 187
5.2.3 Die Struktur von Entwicklung........................................................................ 188
5.2.4 Entwicklungsstufen als Strukturänderung ...................................................... 191
5.2.5 Entwicklung von Erziehung ........................................................................... 193
5.2.6 Erziehung und Entwicklung als Ko-Ontogenese............................................ 194
5.2.7 Selbstorganisation als Erziehungsziel?........................................................... 195
5.3 Erziehung und Entwicklung als Einheit einer System/Umwelt-Differenz.......... 198
III
5.3.1 Erziehung als System und seine Differenz zur Umwelt ................................. 198
5.3.2 Die Systemdifferenzierung von Erziehung..................................................... 202
5.3.3 Der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung bildet im System
Erziehung eine Einheit.................................................................................... 207
5.3.4 Die Grenze vom System Erziehung................................................................ 209
5.4 Erziehung erfolgt im Phänomenbereich der Kommunikation, die Entwicklung
des Kindes im Phänomenbereich des Bewußtseins............................................. 212
5.4.1 Der Kommunikationsbegriff bei Luhmann .................................................... 212
5.4.2 Das Verhältnis von Bewußtsein und Kommunikation ................................... 215
5.4.3 Die Sprache in der Erziehung und Entwicklung ............................................ 219
5.4.4 Die erzieherische Kommunikation ................................................................. 224
5.5 Der Sinn von Erziehung und Entwicklung.......................................................... 229
5.5.1 Die Form von Sinn und Erziehung als Sinnsystem ........................................ 230
5.5.2 Der Gegenstand von Erziehung...................................................................... 233
5.5.3 Sinn und Entwicklung und die Entwicklung von Sinn durch Erziehung ....... 243
5.5.4 Erziehung als Sinnerziehung? ........................................................................ 245
5.5.5 Pädagogische Sinneinheiten, Qualität von Erziehung und das Verhältnis
zur pädagogischen Theoriebildung................................................................. 247
5.6 Strukturelle Koppelung und Lernen.................................................................... 257
5.6.1 Die strukturelle und operative Koppelung nach Maturana und Luhmann ..... 257
5.6.2 Die Ebenen der Strukturenkoppelung im personalen System und im
System Erziehung ........................................................................................... 259
5.6.3 Selektion der Strukturenkoppelung als Aufgabe des Erziehers ..................... 266
5.6.4 Koppelungsformen in der Erziehung.............................................................. 267
5.6.5 Lernen durch Strukturenkoppelung und das Verhältnis zur Entwicklung ..... 271
5.7 Entwicklung und Erziehung im konsensuellen Bereich und weitere
Konsequenzen für den Lernbegriff...................................................................... 279
5.7.1 Der konsensuelle Bereich bei Maturana......................................................... 279
5.7.2 Erziehung entsteht im konsensuellen Bereich ................................................ 282
5.7.3 Entwicklung und Lernen im konsensuellen Bereich ...................................... 287
5.8 Anpassung als Voraussetzung und Äquilibration als Ziel von Erziehung und
Entwicklung?....................................................................................................... 293
5.8.1 Anpassung als Voraussetzung für Erziehung und Entwicklung..................... 293
IV
5.8.2 Anpassung ist Äquilibration ........................................................................... 298
5.8.3 Ist der Entwicklungsprozeß überhaupt gerichtet? .......................................... 302
5.9 Steuerung von Entwicklung durch Erziehung..................................................... 307
5.9.1 Erziehung löst Entwicklungsprozesse aus...................................................... 307
5.9.2 Grenzen der Steuerbarkeit von Systemen....................................................... 310
5.9.3 Erfolgt Steuerung durch Irritation, Perturbation oder Störung des Systems? 311
5.9.4 Erziehung stört Gleichgewichte und reguliert Ungleichgewichte von
Entwicklungsprozessen .................................................................................. 314
5.9.5 Steuerungstheoretische Überlegungen für den Zusammenhang von
Erziehung und Entwicklung ........................................................................... 317
5.10 Zusammenfassung: Der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung ....... 323
6. Die Erziehungssituation als Schnittpunkt von Erzie-hung und Entwicklung.. 341
6.1 Der Situationsbegriff ........................................................................................... 341
6.2 Die systemtheoretische Betrachtung der Erziehungssituation ............................ 346
6.3 Die systemische Beziehung zwischen Erzieher und Kind und ihr Verhältnis in
der Erziehungssituation ....................................................................................... 352
6.4 Das Verhältnis von Entwicklung und Erziehung in der Erziehungssituation ..... 360
7. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Folge-rungen für eine
Allgemeine Systemtheorie, für die pädagogische Forschung und Praxis ......... 365
7.1 Folgerungen für eine Allgemeine Systemtheorie................................................ 365
7.2 Folgerungen für die pädagogische Forschung .................................................... 370
7.3 Konsequenzen für die pädagogische Praxis ........................................................ 374
8. Literaturverzeichnis............................................................................................... 382
1
1. Einleitung
Entwicklung und Erziehung sind Gegebenheiten unserer Wirklichkeit. Niemand zwei-
felt daran, daß in unserer Gesellschaft erzogen wird und daß sich Kinder entwickeln.
Aber der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung wird in der Wissenschaft
kaum berücksichtigt. Das liegt sicherlich auch an der Ausdifferenzierung der (nicht nur
pädagogischen) Wissenschaft in viele Teilbereiche, die Untersuchungen über diese
Teilbereiche hinweg zuwiderläuft. Es ist jedoch gerade notwendig über Teilbereiche
hinweg zu arbeiten, wenn Zusammenhänge aufgedeckt werden sollen.
Warum stellt sich heute plötzlich die Frage nach dem Verhältnis von Entwicklung und
Erziehung mit besonderer Dringlichkeit? Dies liegt vordergründig vor allem an den
zunehmenden Erziehungsschwierigkeiten, die in der Familie und der Schule auftreten.
Hintergründig liegt es an gesellschaftlichen Veränderungen. Vordergründig wider-
spricht einerseits das Verhalten oder die Handlungen der zu erziehenden Kinder vor-
herrschenden Vorstellung von Erziehung, andererseits können viele Erwachsene mit der
„rasanten“ Entwicklung der Kinder, insbesondere im Bereich der neuen Medien, nicht
Schritt halten. So oder so ergeben sich daraus Erziehungsschwierigkeiten. Durch die
zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in „kleinste“ Teilbereiche wird zudem
die Zuständigkeit für Entwicklung und Erziehung verschoben, weggeschoben bzw. e-
benfalls ausdifferenziert. Es gibt neben den Eltern, Lehrern, Kindergärtnerinnen und
anderen Erziehern auch den Beratungslehrer, den Schulpsychologen, die Familienbera-
tung, die Hausaufgabenbetreuung, den Nachhilfeunterricht, die vielfältigen Freizeitan-
gebote und notfalls Psychopharmaka. Dies alles erfolgt, weil die Vorstellung von der
Machbarkeit der Erziehung vorherrscht, die sich „positiv“ (nämlich vorgegebenen Er-
ziehungszielen gemäß) auf die Entwicklung des Kindes auswirken soll.
In der Wirklichkeit lassen sich aber Entwicklung und Erziehung weder als zwei völlig
voneinander getrennte Prozesse unterscheiden, noch kann ihr Verhältnis genau bezeich-
net werden, weil es nicht direkt beobachtbar ist. Es muß erschlossen werden. Das ist das
Ziel der vorliegenden Arbeit. Es soll gezeigt werden, wo der Zusammenhang von Ent-
wicklung und Erziehung in der Wirklichkeit liegt, also wie Erzieher (vor allem Eltern
und Lehrer) mit dem Zusammenspiel von Entwicklung und Erziehung konfrontiert wer-
den. Dann wird auch deutlich, auf welche Weise das Verhältnis problematisch wird und
welche Probleme sich für den Erzieher daraus ergeben.
2
Wenn im Folgenden von Entwicklung gesprochen wird, dann ist zunächst im engeren
Sinne die des Kindes gemeint (später wird genauer differenziert werden). Wenn von
Erziehung die Rede ist, dann liegt hier ein weitgefaßter Erziehungsbegriff zugrunde, der
sowohl die familiäre Erziehung als auch die institutionalisierte, z.B. die schulische Er-
ziehung meint und damit auch Unterricht umfaßt.
Das Heranwachsen in der modernen Gesellschaft und die Verunsicherung in der Erzie-
hung werfen viele Fragen auf. Wenn diese Fragen auf wissenschaftlicher Ebene beant-
wortet werden sollen, dann erfordert dies zunächst theoretische Differenzierungen. Das
ist Aufgabe der wissenschaftlichen Reflexion, die in der vorliegenden Arbeit aus sys-
temtheoretischer Sicht erfolgt. Dies geschieht aus folgenden Gründen: Zum einen kön-
nen systemtheoretische Erkenntnisse der zunehmenden Spezialisierung im Wissen-
schaftsbereich der Pädagogik, wie in allen Wissenschaften, „die Fähigkeit zu einem
integrativen Denken zurückgeben“ (Müller 1996, S.3). Integratives Denken, davon wird
hier ausgegangen, hilft bei der Beantwortung komplexer Fragen, bei denen es sich oft
um allgemeine und damit auch um alltägliche, praxisbezogene Fragen handelt. Zum
anderen erhebt die Systemtheorie den Anspruch, Phänomene der Wirklichkeit tatsäch-
lich beschreiben und erklären zu können. Dies erfolgt nicht, indem ein Phänomen (wie
die Erziehung) in seiner Besonderheit und damit als ein abgeschlossenes Ganzes erfaßt
und analysiert wird. Denn Phänomene ergeben sich erst als Resultat durch die Unter-
scheidung zu ihrer Umwelt. Die Systemtheorie befaßt sich nicht mit isolierten Einhei-
ten, sondern mit Beziehungen zwischen Systemen und ihren Umwelten, mit der Diffe-
renz zwischen System und Umwelt, wodurch sich Systeme erst konstituieren. Die Sys-
temtheorie kann deshalb für die Pädagogik von Bedeutung sein, weil sich pädagogische
Phänomene in Beziehungen, Verhältnissen und vielfältigen Zusammenhängen darstel-
len. Zur Erklärung komplexer pädagogischer Phänomene, wozu vor allem Erziehung
und Entwicklung gehören, bedarf es einer Theorie, die dieser Komplexität gerecht wer-
den kann, diese zu erfassen vermag. Das wird durch die Anwendung der Systemtheorie
auf pädagogische Fragen möglich.
Den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung aus systemtheoretischer Sicht zu
erklären bedeutet nun aber nicht, daß in der vorliegenden Arbeit ein einheitliches Pro-
gramm der Systemtheorie angewendet wird, denn es gibt kein solches Programm. Auch
soll die folgende Analyse nicht in eine systemtheoretische Ecke innerhalb der Pädago-
gik gerückt werden. Es geht nicht um eine neue Theorie der Pädagogik und nicht um die
3
Etablierung oder Stärkung einer Richtung innerhalb der Pädagogik, sondern, um mit
Flitner zu reden, um refléxion engagée1. Die systemtheoretischen Ansätze, die in der
vorliegenden Arbeit eingesetzt werden, schaffen es im Sinne des Verständnisses von
Flitner, Erkenntnisse aus der pädagogischen Theoriebildung nicht nur zu prüfen und
teilweise zu vereinigen, sondern sie können auch von Irrtümern in diesen Theorien be-
freien, weil sie Phänomene bis hin zu ihren biologischen (und auch physikalischen)
Fundamenten hin erklären. In diesem Sinne erfaßt die Systemtheorie „universale päda-
gogische Grundgedanken“ (siehe Anmk. 1), indem sie sozusagen dem Zusammenhang
von Entwicklung und Erziehung auf den (biologischen, psychischen und sozialen)
Grund geht.
Die folgende Einführung in das Thema umfaßt einen Abriß über die Systemtheorie.
Danach ist auf die Bedeutung des für die Arbeit grundlegenden Begriffs des personalen
Systems hinzuweisen, indem die Frage nach dem Zusammenhang von Entwicklung und
Erziehung vorab differenziert wird. Mit der daran anschließenden Darstellung des Vor-
gehens in der Arbeit werden bereits die Begriffe Entwicklung und Erziehung einleitend
erklärt. Damit ergeben sich abschließend auch Ziele der Systemanalyse.
1. Zum Begriff „Systemtheorie“
Die Geschichte der Systemtheorie wird bei Müller (1996) dargestellt, der ihre Anfänge
bis zu Aristoteles zurückverfolgt. Aber erst in den zwanziger Jahren des letzten Jahr-
hunderts wurde durch den Biologen v.Bertalanffy der „Allgemeinen Systemtheorie“
zum Durchbruch verholfen, was an den „erkenntnistheoretischen und technisch-
mathematischen Voraussetzungen“ lag, die erst geschaffen werden mußten (vgl. Lud-
wig v.Bertalanffy: „Vorläufer und Begründer der Systemtheorie“, 19842). Seine Defini-
tion des Systems als „eine Menge (im mathematischen Sinn) von Elementen, zwischen
denen Wechselbeziehungen bestehen“ (ebd., S.18) wurde durch das Prinzip des Rück-
koppelungsmechanismus‘ und damit das des selbstregulierenden Systems im Bereich
der Kybernetik erweitert. Diese modernen Anfänge systemtheoretischen Denkens kön-
1 „Diese Reflexion am Standort der Verantwortung des Denkenden ist die Mitte dessen, was im strengen Sinne pädagogische Wis-
senschaft heißen darf. Sie faßt alle Erziehungslehren zusammen, welche in einem Kreis gemeinsamen Lebens von den Praktikern als
wahr erkannt werden. Sie vereinigt sie, ordnet sie einem universalen pädagogischen Grundgedanken ein, prüft sie, verbindet diesen
Grundgedanken mit der wissenschaftlichen Reflexion in ihrer Gesamtheit, kritisiert die Erziehungslehren von da aus, reinigt sie von
Irrtümern und Beengtheiten und klärt den Standort auf, an dem sie praktiziert wird. In diesem Sinne ist die pädagogische Wissen-
schaft durchaus refléxion engagée“ (Flitner 1989, S.23).
4
nen hier nur erwähnt und nicht weiter ausgeführt werden2. Es geht zusammenfassend
darum (vgl. ausführlich Kap.3.1), daß mittels der modernen Systemtheorie, die heute
die Theorie selbstorganisierender Systeme umfaßt, in den verschiedensten Bereichen
Phänomene beschrieben und erklärt werden können, weil die Wirklichkeit selbst syste-
mischer Natur ist (man denke z.B. an das ökologische System)3. In der Systemtheorie
geht es um die Beantwortung der Fragen, was ein System ist, welche Systemarten es
gibt, wie die Struktur von Systemen aussieht und wie Systeme organisiert sind, wie sie
sich entwickeln, wie ihr Verhältnis untereinander und zur Umwelt ist etc. Allerdings ist
ein System nicht etwas, „das dem Beobachter präsentiert wird, es ist etwas, das von ihm
erkannt wird“ (Beer in Maturana 19852, S.175). Die Systemtheorie eröffnet erkenntnis-
theoretisch neue Zugangsweisen zum Verständnis von Wirklichkeiten und ihrer Zu-
sammenhänge. Dies geschieht auf begrifflicher Ebene, denn Begriffe sind die Instru-
mente menschlicher Erkenntnisgewinnung. Spätestens seit den erkenntnistheoretischen
Arbeiten Piagets ist deutlich geworden, daß Begriffe auf der Basis von Handlun-
gen/Operationen entstehen4. Sie sind von der Evolution des Lebens5 als auch von der
ontogenetischen Entwicklung abhängig. Indem diese Entwicklungen Ausgangspunkte
für Forschung werden, wie es bei den Wissenschaftlern, deren systemtheoretische An-
sätze in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt werden, der Fall ist, sind die sich daraus
ergebenden Begriffe empirisch abgesichert.
2 Vgl. die Abbildung bei Büeler 1994, S.46, in der die verschiedenen Richtungen des modernen systemtheoretischen Denkens
überblickartig zusammengestellt sind.3 „Den modernen Konzepten der Selbstorganisation liegt ein gegenüber früheren Vorstellungen erheblich anders gefaßter Ord-
nungs- und Systembegriff zugrunde. Mag das Thema der Selbstorganisation auch alt sein, so gelingt es doch erst in diesen neuen
Konzepten, die Entstehung, Erhaltung und Höherentwicklung von Ordnung verständlich zu machen, indem sie solche Prozesse auf
elementare Wechselwirkungen zwischen Systemelementen bzw. zwischen System und Umwelt zurückführen; das Verhältnis von
Mikro- und Makrodimensionen komplex-dynamischer Systeme erscheint dadurch in einem gewandelten Licht. An die Stelle teleo-
logischer Modelle (wie im Fall des Vitalismus) treten Mechanismen der Vernetzung, Rekursivität und Nicht-Linearität umweltoffe-
ner (gleichwohl operational geschlossener) Systemprozesse. Indem sie erstmals komplexe Strukturen und Vorgänge mit mathemati-
scher Exaktheit beschreibt, erlaubt die moderne Selbstorganisationsforschung die Überwindung der klassischen Alternative zwi-
schen physikalischem Reduktionismus und biologischem Holismus, in der frühere wissenschaftliche Diskussionen, besonders im 19.
Jahrhundert, gefangen waren“ (Paslack 1991, S.173).4 „Das vom Denken verfolgte Verfahren besteht dagegen darin, nicht über die Definition nachzudenken, was für es ohne Interesse
wäre (denn von diesem Gesichtspunkt aus ist die Definition nur ein nachträgliches und oft unvollständiges Bewußtwerden), sondern
aktiv zu handeln und zu operieren, indem es die Begriffe den Verknüpfungsmöglichkeiten dieser Aktionen und Operationen ent-
sprechend konstruiert. Ein Begriff ist in der Tat nur ein Aktions- oder Operationsschema, und erst indem man die Handlungen
ausführt, welche A und B erzeugen, wird man feststellen können, ob sie miteinander vereinbar sind oder nicht“ (Piaget 19848, S.36).5 Zur Epistemologie der biologischen Erkenntnis vgl. Piaget 1983, S.71ff.
5
So wird in der vorliegenden Arbeit ein spezifisches Begriffssystem zum Ausgangs-
punkt. Es geht um die Erklärung systemtheoretischer Begriffe, durch die sich die Wirk-
lichkeitsbereiche von Entwicklung und Erziehung analysieren lassen, so daß u.a. deut-
lich wird, wie Erziehung erfolgen muß, wenn sie Einfluß auf die Entwicklung des Kin-
des haben will, wie die Entwicklung des Kindes in der Erziehung zum Ausdruck kommt
oder gebracht werden kann, wie sich Erziehung bzw. Erziehungssituationen entwickeln
und vor allem welchen Sinn Erziehung hat bzw. haben könnte.
Die Systemtheorie hat bereits in der Pädagogik Bedeutung erlangt6. Nun kann man
heute aber nicht mehr von der „Allgemeinen Systemtheorie“ sprechen, wie sie im
Anschluß an das gleichnamige Werk von v.Bertalanffy zunächst in der Wissenschaft
Eingang gefunden hat (vgl. Willke 19872, S.1ff.). Mittlerweile liegt nicht nur ein kom-
plexes Konstrukt dieser Theorie vor, das durch ihre Verwendung, Übertragung und
fachspezifische Weiterentwicklung, die oft mit einem hohen Abstraktionsgrad und ent-
sprechender bereichsspezifischer Terminologie verbunden7, in den unterschiedlichen
wissenschaftlichen Disziplinen entstanden ist, sondern gerade aufgrund der Komplexität
scheint das Interesse an der Systemtheorie heute wieder abzunehmen (vgl. hierzu Kap.
7).
2. Entwicklung und Differenzierung der Fragestellung aus systemtheoretischer Sicht
und Ziel der Arbeit
Wenn innerhalb der Pädagogik komplexe Fragestellungen, wie die nach dem Zusam-
menhang von Entwicklung und Erziehung, zum Thema werden, dann erscheint ein inte-
grativer Ansatz und damit ein interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten notwendig.
Nicht eine „Allgemeine Systemtheorie“, sondern systemtheoretische Erkenntnisse aus
den Bereichen, die das Thema flankieren, werden für die Pädagogik relevant. Dabei
handelt es sich im vorliegenden Fall um biologische, psychologische und soziale.
Das in Entwicklung befindliche Kind stellt sich zunächst als Organismus dar, weshalb
die biologische Organisation und Struktur des Kindes für die Entwicklung und Erzie-
hung von fundamentaler Bedeutung sind. Auf der Grundlage der Ergebnisse von Matu-
6 Zum Systembegriff und Systemdenken in der Erziehungswissenschaft/Pädagogik siehe die Zusammenfassung von Oel-
kers/Tenorth 1987, S.13ff.7 „Die sogenannte Sprachbarriere, die der Nichtsystemtheoretiker sowohl in emotionaler Hinsicht als auch in Hinblick auf die
komplizierte Theorietechnik dieser ‚Supertheorie‘ empfindet, ist das wichtigste Hindernis einer theorieorientierten Beschäftigung
mit der Systemtheorie“ (Backes-Haase 1997, S.99). Die Systemtheorie erzwingt eben „schärfere Abstraktionen, aber auch größere
Genauigkeit in den Begriffen“ (Luhmann 1997, S.432).
6
rana und Varela wird im Folgenden die Körperlichkeit des Menschen als biologisches
System erklärt. Der Mensch wird als lebendiges, von Anfang an sich selbstorganisie-
rendes und damit selbstbestimmendes System aufgefaßt (vgl. Maturana 19852 und Ma-
turana/Varela 19872).
Für die Erziehung von größerem Interesse scheint aber nach wie vor das psychische
System zu sein, auf das die Erziehung, vor allem die institutionalisierte, Einfluß ausübt,
indem sie insbesondere auf die kognitive Entwicklung des Kindes gerichtet ist. In der
vorliegenden Arbeit wird mit Hilfe von Piagets Erkenntnistheorie das psychische Sys-
tem beschrieben. Piagets Erkenntnistheorie ist im Grunde Systemtheorie, wenn auch
eine entsprechende Begrifflichkeit bei ihm noch nicht so deutlich wurde. Piagets Ver-
dienst ist es nachzuweisen, daß sich das Denken zu allgemeinen Systemen hin entwi-
ckelt, die systemtheoretische Erkenntnisse überhaupt erst ermöglichen (vgl. Kap.4.3).
Spätestens in dem Moment, wo die Erziehung auf die Entwicklung des Kindes Einfluß
nehmen möchte, wird das soziale System von Bedeutung. Weder Erziehung noch Ent-
wicklung sind ohne Interaktionen zwischen Kind und Umwelt denkbar. Der Aspekt der
Sozialität wird in der modernen Systemtheorie ausführlich von Luhmann erklärt (vgl.
insbesondere Luhmann 1987, 1995 und 1997). Seine Theorie sozialer Systeme, für die
auch die Theorie Maturanas grundlegend wurde, erklärt zum einen Erziehung als sozi-
ales System und läßt zum anderen den „Ort“ deutlich werden, an dem Entwicklung und
Erziehung tatsächlich in einen Zusammenhang treten, nämlich in der Erziehungssituati-
on, die ebenfalls als ein soziales System bzw. Teilsystem beschrieben werden kann.
Wenn im Folgenden von „Systemtheorie“ gesprochen wird, dann geht es vorwiegend
um die systemtheoretischen Zusammenhänge der eben genannten Theorien. Der Begriff
„Systemtheorie“ wird sozusagen als Arbeitsbegriff beibehalten.
In der Systemtheorie geht es nun aber nicht um die getrennte Darstellung von biologi-
schen, psychischen und sozialen Teilsystemen, sondern um die unauflösbare Koppelung
dieser Teilsysteme, um ihr Zusammenspiel in dem Zusammenwirken von Entwicklung
und Erziehung.
Der Mensch wird als personales System bezeichnet, weil er eben nicht als abgeschlos-
sene Einheit betrachtet werden kann, sondern als biologisch-psychisch-soziales System,
das zur Umwelt hin offen, aber operativ geschlossen ist8. Die Trennung von Leib und
8 „Tatsächlich ist mit dem Begriff der Geschlossenheit weder eine materiell-energetische noch eine informationelle Geschlossenheit
gemeint, sondern eben nur eine ‚operative Geschlossenheit‘, die sich auf die Tätigkeit des Nervensystems bezieht, was nicht mehr
7
Seele oder Körper und Geist9 wird damit aufgehoben. Die Einheit, die von einem Beob-
achter als „Individualität“ oder „Persönlichkeit“ angesehen wird, entsteht durch relatio-
nierende Operationen innerhalb des Systems, an dem person-interne Systeme, wie das
biologische und das psychische System, genauso beteiligt sind wie person-externe Sys-
teme, wie soziale Systeme (Familie, Schule) und andere Umweltsysteme, wie z.B. Me-
dien (vgl. Büeler 1994, S.104). Ein personales System ist daher niemals im Sinne einer
Substanz festzumachen, sondern man erkennt es eben nur durch seine operative Tätig-
keit.
Für die anschließende Analyse gilt, das Aussagen über das personale System sowohl für
das Kind als auch für den Erwachsenen gelten. Dem Menschen wird damit eine hohe
Komplexität zugesprochen und zugleich eine Einschränkung, wenn es um die Beein-
flussung oder Einwirkung auf andere Menschen geht. Das wird für den Zusammenhang
von Entwicklung und Erziehung von wesentlicher Bedeutung werden.
Entwicklung und Erziehung sind vor diesem systemtheoretischen Hintergrund Prozesse,
die sich durch eine spezifische Koppelung von biologischen, psychischen und sozialen
Systemen ergeben. Grundlegende Ziele der vorliegenden Arbeit sind damit die Be-
schreibung und Erklärung der jeweiligen Komplexität von Erziehung und Entwicklung,
die begriffliche Herausarbeitung der vielfältigen „Verkoppelungen“ zwischen diesen
Prozessen und schließlich die Darstellung der Erziehungssituation als die Verklamme-
rung von Entwicklung und Erziehung und damit als der Ort, an dem erzieherische
Handlungen konkret werden.
3. Begründung des methodischen Vorgehens und Aufbau der Arbeit
Der Begriff von Erziehung ist innerhalb der Pädagogik immer auf einen Begriff von
Entwicklung bezogen. In entsprechenden Entwicklungstheorien werden Möglichkeiten,
Grenzen, Formen und Aufgaben von Erziehung aufgewiesen. Deshalb muß auf die
Entwicklung eingegangen werden, will man adäquate Aussagen über Erziehung erhal-
ten. So wird im Anschluß an die Einleitung exemplarisch zunächst auf bekannte Ent-
wicklungs-theorien Bezug genommen, um zu zeigen, daß der Zusammenhang von Ent-
heißt, als zirkuläre Interaktion der neuronalen Aktivität untereinander, die ein System bilden, das keine Eingänge und Ausgänge in
dem gleichen Sinne besitzt wie ein Computer, der als Input-Output-System konstruiert worden ist und nach einem bestimmten
Programm Informationen verarbeitet“ (Oeser/Seitelberger 1988, S.44).9 Zum Leib-Seele-Problem vergleiche aus neuerer biologischer und neurophysiologischer Sicht u.a. Changeux 1984, S.11ff. und
Miketta 1994, S.9ff.
8
wicklung und Erziehung aus pädagogischer Sicht bisher immer unter spezifischen und
daher einschränkenden Perspektiven/Aspekten dargestellt wurde (Kapitel 2). Beispiel-
haft wurden dafür Ansätze bzw. Theorien ausgewählt, die möglichst unterschiedliche
Perspektiven von Entwicklung und damit Erziehung beschreiben. Dabei handelt es sich
um die entwicklungspädagogische Perspektive von Montessori, die entwicklungspsy-
chologische von Bruner, die entwicklungssoziologische von Krappmann, die anthropo-
logische von Roth und Dienelt und die philosophische von Ballauff. Es wird sich zei-
gen, daß diese Entwicklungstheorien den Zusammenhang von Erziehung und Entwick-
lung jeweils nur einseitig kennzeichnen. Die Komplexität des Zusammenhangs können
sie nicht erfassen. Dieser soll deshalb mit Hilfe der Systemtheorie analysiert werden.
Das heißt jedoch nicht, daß die pädagogischen Theorien später beiseite geschoben wer-
den, vielmehr kommt es zunächst auf den Wechsel der Perspektive an10. Man denke
zum Beispiel an Herbart, der gesagt hat, das Wesen der „eigentlichen Erziehung“ be-
steht in der Kunst, „ein kindliches Gemüt in seinem Frieden zu stören“ (Herbart in Die-
derich 1992, S.193). Aus systemtheoretischer Sicht würde diese Auffassung nun nicht
verneint, sondern erklärt, präzisiert und der Sinn systemtheoretisch überhöht. In diesem
Fall ginge es dann darum zu beschreiben, wie die Selbstorganisation des „kindlichen
Gemüts“ aussieht, was der Begriff „Frieden“ aus systemtheoretischer Sicht bedeutet
und wie eine „Störung“ durch Perturbation („das sind alle Interaktionen, die Zustands-
veränderungen auslösen“, Maturana 19872, S.108) funktionieren kann. Es wäre interes-
sant zu prüfen, inwieweit systemtheoretische Gedanken bereits in der Geschichte der
Pädagogik vorliegen. Dies kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht ge-
leistet werden. Teile der pädagogischen Theoriebildung können innerhalb der system-
theoretischen Analyse wieder an Bedeutung gewinnen, ihre Grenzen für ein umfassen-
des Verständnis von Entwicklung und Erziehung werden jedoch auch deutlich.
Eine Neuformulierung der Fragestellung und eine Präzisierung aus systemtheoretischer
Sicht schließt sich deshalb an die Darstellung der pädagogischen Theoriebildung an
(Kapitel 3). Die Prozesse von Entwicklung und Erziehung sollen in ihrem Verhältnis
zueinander und in Bezug auf ihre Erscheinungsform im System Erziehung beschrieben
werden. Der Begriff „System Erziehung“ umschließt alle an der Erziehung beteiligten
10 „Der erste Vorzug liegt sicher darin, daß die systemtheoretische Rückbindung der pädagogischen Grundbegriffe ‚Erziehung‘,
‚Sozialisation‘ und ‚Lernen‘ zu einer viel realistischeren Einschätzung der praktisch-pädagogischen Möglichkeiten führt und vor
übertriebenen Erwartungen bewahren kann“ (Huschke-Rhein 19942, S.146).
9
Systeme bzw. Teilsysteme11, er umfaßt damit auch die institutionalisierte Erziehung,
also das Erziehungssystem.
Die Systemtheorie ist damit in dem Maße von Bedeutung, insofern sie a) Aussagen über
Prozesse beinhaltet, die auch für Entwicklungsprozesse Gültigkeit haben (die sich so-
wohl auf die kognitive Entwicklung des Kindes als auch auf die Entwicklung von Er-
ziehung beziehen), b) Strukturen und strukturelle Zusammenhänge erklärt, die für die
Entwicklung und Erziehung im biologischen, psychischen und sozialen Bereich relevant
sind und c) über die an der Erziehung beteiligten personalen Systeme Auskunft geben
kann. Da Entwicklung und Erziehung hier systemisch verstanden werden, steht das
systemanalytische Arbeiten als Methode im Mittelpunkt (vgl. Kapitel 3.2).
Dann erfolgt die Darstellung der grundlegenden systemtheoretischen Ansätze, die die
Voraussetzung für die pädagogische Perspektive des Themas schaffen, die aber auch in
Hinblick auf ihre Grenzen für die pädagogische Forschung hin zu überprüfen sind (Ka-
pitel 4). Der Systembegriff und damit die Entwicklung von Systemen wird in seiner
Komplexität und in seiner unterschiedlichen Anwendung in den verschiedenen wissen-
schaftlichen Disziplinen vorgestellt. So bezeichnet der Systembegriff auch physikali-
sche Systeme, die, da sie mit der Entwicklung der biologischen Systeme wie zum Bei-
spiel dem Nervensystem, einhergehen, eine Voraussetzung für die psychische Ent-
wicklung des Kindes sind. Physikalische Systemmerkmale können deshalb in den päda-
gogischen Bereich übertragen werden und für die Erklärung der Entwicklung des Kin-
des Gültigkeit erlangen, weil Entwicklung hier als allgemeines Prinzip verstanden wird.
Der Systembegriff gilt nicht nur für unterschiedliche Systeme, wie dem physikalischen,
dem biologischen, dem psychischen, dem sozialen und damit auch dem System Erzie-
hung, sondern er bezieht sich auch auf unterschiedliche Systemebenen innerhalb eines
Systems, wie zum Beispiel auf die personale oder kommunikative Ebene in einem sozi-
alen System.
Der synergetische Ansatz von Haken (Kapitel 4.1) zeigt, daß Entwicklung letztlich nur
innerhalb von Systemen stattfindet, daß Erziehung dementsprechend als ein Kontrollpa-
rameter bzw. als Auslöser für die Entwicklung des Kindes verstanden werden kann und
11 Der Begriff „System Erziehung“ wurde von Büeler (1994, S.7) folgendermaßen eingeführt: „Das Wissenschaftssystem kann die
Wirklichkeit des Phänomens Erziehung in seiner Vielschichtigkeit beobachten und interpretieren. Ziel der Analyse ist eine zugleich
differenzierende und integrierende Beschreibung der an Erziehung beteiligten Systeme, ihrer Eigendynamik und ihrer wechselseiti-
gen Koppelung. Der in diesem Modell beschriebene Wirklichkeitsbereich soll System Erziehung genannt werden“. In diesem Sinne
wird vom System Erziehung auch in der vorliegenden Arbeit gesprochen.
10
daß es schließlich kein Steuerungszentrum im System gibt. Die biologische Sichtweise
Maturanas (Kapitel 4.2) führt zu dem Schluß, daß Entwicklung und Erziehung die glei-
che Organisation haben, die autopoietisch ist12, aber unterschiedliche Strukturen auf-
weisen und daß Erziehung und Entwicklung ko-ontogenetisch erfolgen13. Maturana
führt schließlich den Beobachter in die Systemtheorie ein, der insbesondere in Hinblick
auf die Person des Erziehers von Bedeutung sein wird. Die psychologisch-erkenntnis-
theoretische Sichtweise Piagets konkretisiert die kognitive Entwicklung des Kindes und
fragt nach einem Ende der Entwicklung, die formal in der Äquilibration14 zum Aus-
druck kommt (Kapitel 4.3). Die soziologische Theorie Luhmanns läßt den Zusammen-
hang von Entwicklung und Erziehung auf der Ebene des sozialen Systems Erziehung
deutlich werden durch die Kennzeichnung von Systemen als eine Einheit der Sys-
tem/Umwelt-Differenz. Erziehung ist nach Luhmann als Sinnsystem zu verstehen (Ka-
pitel 4.4). Die Übertragung der Systemtheorien von Maturana und Luhmann in die Pä-
dagogik erfolgt bereits bei Büeler, nach dem dem System Erziehung die Aufgabe der
Synchronisation von biologischen, psychischen und sozialen Systemen zukommt (Ka-
pitel 4.5).
Die bereichsspezifischen Kernthesen der systemtheoretischen Ansätze können den Zu-
sammenhang von Entwicklung und Erziehung aber noch nicht in seiner Komplexität
erfassen. Der Hauptteil der vorliegenden Arbeit besteht deshalb darin, die einzelnen
Systemmerkmale, die für die Entwicklung von Systemen grundlegend sind, in Hinblick
auf ihre pädagogische Bedeutung für die Begriffe Entwicklung und Erziehung zu analy-
sieren und damit systemtheoretisch den Zusammenhang von Entwicklung und Erzie-
hung zu erklären (Kapitel 5). Im einzelnen handelt es sich um die Merkmale der Kom-
plexität, Organisation, Struktur, Einheit der System/Umwelt-Differenz, Kommunikati-
on, Sinn, strukturelle Koppelung, konsensueller Bereich, Anpassung, Äquilibration und
Steuerung. Zu Beginn des jeweiligen Abschnitts wird zunächst auf die systemtheoreti-
sche Bedeutung der Begriffe hingewiesen, bevor sie mit Bezug auf das pädagogische
Thema analysiert werden.
12 Ein autopoietisches System ermöglicht die Einheiten, aus denen es besteht, durch eine Verknüpfung zwischen eben diesen Ein-
heiten.13 Das heißt, „etwas“ entsteht oder verändert sich durch eine Verbindung bzw. Koppelung von Systemen.14 Äquilibration ist ein Prozeß, „der von bestimmten erreichten Gleichgewichtszuständen über eine Vielfalt von Unausgewogenhei-
ten und Wiedereinstellungen des Gleichgewichts zu anderen, qualitativ verschiedenen Gleichgewichtszuständen führt“ (Piaget 1976,
S.11).
11
Es wird hier gemäß der systemtheoretischen Sichtweise davon ausgegangen, daß wir in
einer durch Sinneinheiten gekennzeichneten Gesellschaft leben. Unser sinnhaftes aktu-
elles Erleben und Handeln wird immer im Lichte virtuellen sinnhaften Erlebens und
Handelns gesehen, beobachtet oder bewertet15. Auch das Verständnis des Zusammen-
hangs von Entwicklung und Erziehung erfolgt durch das Verhältnis von aktuellem und
möglichem Sinn. Näher kommt man an die Phänomene Entwicklung und Erziehung
nicht heran, die Beschreibung wird mit dem phänomenologischen Geschehen nicht i-
dentisch sein können. Das bedeutet zum einen, daß von der Systemanalyse nicht un-
mittelbar konkrete Handlungsanweisungen für Erzieher, Lehrer oder Eltern erwartet
werden können. Zum anderen führen die sinngebundenen Systemmerkmale aber zu Er-
ziehungszielen, die ihrerseits auch für die Praxis Relevanz erlangen können.
Die Erklärung der systemtheoretischen Merkmale führt zu einem komplexen Verständ-
nis des Zusammenhangs von Entwicklung und Erziehung. Es muß aber nicht befürchtet
werden, daß dadurch eine Kompliziertheit des Themas entsteht. Denn die Komplexität
von Systemen reduziert sich, wenn Systeme als zusammengesetzte Einheiten in ihrer
strukturellen Koppelung begriffen werden. Was für Entwicklung gilt, gilt auf anderer
Ebene auch für Erziehung, was für personale Systeme gilt, gilt für Erzieher und Kind
gleichermaßen etc. Wenn man sich auf die Begrifflichkeit einmal eingelassen hat, ist
feststellbar, daß der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung gerade durch die
Systemtheorie so transparent gemacht werden kann, daß praktische Konsequenzen ab-
leitbar werden.
Die Beschreibung der Erziehungssituation als der zwangsläufige Schnittpunkt von Ent-
wicklung und Erziehung und als Teilsystem des sozialen Systems Erziehung schließt
sich an den Hauptteil der Untersuchung an (Kapitel 6). Die Erziehungssituation ist das
Teilsegment der sozialen Wirklichkeit von Erziehung, in der sich die Koppelung von
Entwicklung und Erziehung tatsächlich vollziehen kann, wenn grundlegende Systemge-
gebenheiten Beachtung finden. Dazu gehört zum Beispiel, daß der Erzieher nicht nur
dem Kind eine Aufgabe stellt oder eine Information mitteilt, die dem Entwicklungs-
stand des Kindes angemessen ist, sondern auch, daß er sich noch einmal vergewissert,
wie das Kind die Aufgabe aufnimmt, versteht. Eine Erziehungssituation sollte durch
eine feste Koppelung zwischen Erzieher und Kind, zwischen Entwicklung und Erzie-
15 Zum Sinnbegriff vgl. an dieser Stelle die kurze Zusammenfassung von Krause 1996, S.154-155.
12
hung gekennzeichnet sein (Kapitel 6.3). Es wird sich zeigen, daß Erziehung dann ge-
lingt, wenn sich Entwicklung und Erziehung gegenseitig steuern (Kapitel 6.4).
Schließlich ergeben sich aus der Systemanalyse des Zusammenhangs von Entwicklung
und Erziehung wissenschaftstheoretische Konsequenzen. Es ist nach den Folgen für
eine Allgemeine Systemtheorie, für die pädagogische Forschung und Praxis zu fragen
(Kapitel 7). Es geht darum zu zeigen, welche Forschungsschwerpunkte sich durch eine
systemtheoretische Perspektive in Anlehnung an das Thema noch ergeben und wie sich
diese auch für die Praxis auswirken können. Die Erziehungssituation ist nur ein allge-
meiner „Knotenpunkt“ im System Erziehung. Es ließen sich weitere, wie die Familie,
der Unterricht, die Spielgruppe, die peer-group etc. finden, die bisher nicht in ihrer
Komplexität begriffen wurden.
Die Arbeit will Transparenz komplexer, systemischer Zusammenhänge aufzeigen und
Sensibilität für diese Komplexität erzeugen. Da Komplexität immer mit Kontingenz
verbunden ist, sollen die Möglichkeiten, die Vielgestaltigkeit von Entwicklung und Er-
ziehung betont werden.
Entwicklung, systemtheoretisch verstanden als Strukturveränderungen eines Systems,
die zu Zustandsveränderungen des Systems führen, gilt nicht nur für das in Entwicklung
befindliche Kind, sondern auch für das System Erziehung und schließlich auch für das
wissenschaftliche, das wissenschaftstheoretische Bewußtsein. Dies erfolgt mit dem
Hinweis, daß alles, was gesagt wird, von einem Beobachter gesagt wird und daß die
Logik der Beschreibung die des beschreibenden Beobachters ist (so Maturana 19852,
S.34, 64, 148 und 240). Diese Aussage soll nun keineswegs zu einer zunehmenden Re-
lativität von Sichtweisen führen, sondern zu ihrer (interdisziplinären) Entwicklungsfä-
higkeit beitragen. Wo es das Thema erfordert, sollte interdisziplinäres Arbeiten dazu
beitragen, daß Komplexitäten genau erfaßt und erklärt, Kontingenzen des Themas aber
auch Kontingenzen wissenschaftlichen Arbeitens aufgedeckt werden können, was
schließlich zur Sinnentwicklung in der Wissenschaft führt.
13
2. Der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehungin der pädagogischen Theoriebildung
Die pädagogische Theoriebildung verfügt bereits über unterschiedliche Ansätze von
Erziehungs- und Entwicklungstheorien und es ist auch schon auf den Zusammenhang
von Entwicklung und Erziehung hingewiesen worden. Deshalb geht es zunächst darum,
auf die verschiedenen Sichtweisen in der bisherigen Pädagogik einzugehen, um später
feststellen zu können, ob und inwieweit eine systemtheoretische Perspektive über diese
hinausweist. Das kann jedoch in bezug auf die Vielzahl von Arbeiten zu diesem Thema
nur exemplarisch möglich sein. Dabei zeigt sich oft, daß die Bereiche Erziehung und
Entwicklung in der Forschung getrennt behandelt werden. Die Pädagogik beschäftigt
sich natürlich mit der Erziehung, überläßt ausführliche Entwicklungstheorien aber eher
der Psychologie und nimmt dann Einzelalspekte in ihre Disziplin auf.
Zunächst hat man sich damit begnügt, Bilder für den Erziehungsbegriff vorzustellen,
damit dieser besonders für den praktischen Bereich von Erziehung als Alltagsphänomen
verständlich wird (vgl. zusammenfassend Kron 19965, S.195ff.). So wurde von Erzie-
hung im Sinne von Ziehen gesprochen, in dem es um das Heraus- oder Emporziehen
aus Zwängen, wie der ‘Unmündigkeit’, zum Wissen, zur Mündigkeit ging, zu der jeder
Mensch gelangen kann. Erziehung wurde auch als Führung verstanden16, die aufgrund
der anthropologischen Differenzen zwischen Kind und Erwachsenen (in Bezug auf Al-
ter, Physis), sowie durch soziale Differenzen, die sich durch das Rollen- oder Regel-
system der Gesellschaft ergeben, notwendig wurde. Demgegenüber sprechen wir von
Erziehung als ein Wachsenlassen seit Rousseau, wobei hier auf die Naturkraft des Kin-
des vertraut wird, die es durch das Schaffen entsprechender Lernsituationen zu unter-
stützen gilt, man aber davon ausging, daß das Kind seine eigene Vernunft schon ausbil-
den würde. Damit wurde Erziehung negativ aufgefaßt (vgl. Kron ebd., S.202f.). In An-
lehnung an lernpsychologische Forschungen (z.B. Skinner oder auch Tausch/Tausch)
wurde Erziehung schließlich auch als Anpassung gesehen, da es schien, als sei gezielte
Einflußnahme auf Verhalten oder psychische Dispositionen möglich.
Diese verschiedenen Ansichten über Erziehung ergeben sich letztlich aufgrund ihrer
Abhängigkeit von der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, da Erzie-
16 Dabei ging es um das Verhältnis von Führer und Geführtem, vgl. aber auch Th. Litt: Führen oder Wachsenlassen, 1964.
14
hung als Alltagsphänomen selbst Änderungen unterworfen ist, denn das Verhältnis von
Kind und Erwachsenem, als Gegenstand von Erziehung, muß immer auch in seinem
Verhältnis zur Welt bzw. zur Gesellschaft und Kultur gesehen werden.
Auf Forschungsebene wird über so vereinfachte Vorstellungen (wie Erziehung als Zie-
hen und dem davon abgeleiteten Gärtner-Modell) hinausgegangen, indem die Komple-
xität von Erziehung zunehmend Berücksichtigung findet. So differenziert man heute
zum Beispiel zwischen a) Erziehung als ein Prozeß, der sozialer und interaktionistischer
Art ist, b) Erziehung als ein Resultat, wobei die Zeitabhängigkeit einbezogen wird, c)
Erziehung als Tätigkeit des Erziehers und d) Erzieher und dem zu erziehenden Kind als
jeweils eigenständige Persönlichkeiten mit einem spezifischen Verhältnis zueinander,
das auf eine gesellschaftliche ‘Mikrostruktur’ verweist.
Über Entwicklung wurde dabei noch nichts gesagt. Sie scheint sozusagen mit der Erzie-
hung „irgendwie“ fortzuschreiten. Jedenfalls wurde nicht thematisiert, ob Erziehung
vom Entwicklungsprozeß abhängt bzw. inwieweit Erziehung Entwicklung beeinflußt.
Die sich daran anschließende Frage, welche Faktoren denn überhaupt den Ent-
wicklungsprozeß bestimmen und ob dieser planmäßig oder gar zielgerichtet ist, wurde
parallel zu Erziehungstheorien in Entwicklungstheorien gestellt (vgl. insbesondere
Oerter: Moderne Entwicklungspsychologie, 197717). Entwicklung wurde als Reifung
verstanden oder als Folge des Umwelteinflusses. Sie wurde als „aktiver Austausch zwi-
schen Individuum und sozialer und kultureller Umwelt“ aufgefaßt, mit erhöhter Aktivi-
tät auf Seiten des Individuums (Kron ebd., S.158). Oder sie wird schließlich als „Inter-
aktion zwischen Person- und Umweltveränderungen“ bezeichnet (Oerter/Montada in
Kron ebd.), wobei der Person und der Umwelt die gleiche Aktivität zugeschrieben wird.
Da es in der vorliegenden Arbeit gerade darum geht, den Zusammenhang von Ent-
wicklung und Erziehung zu analysieren, sollen an diesem Punkt nur solche Arbeiten aus
verschiedenen Forschungsrichtungen innerhalb der Erziehungswissenschaft vorgestellt
werden, in denen der Zusammenhang bereits mehr oder weniger deutlich wird. So ist
zunächst, sozusagen aus entwicklungs-pädagogischer Sicht M. Montessoris Ansatz zu
nennen, in dem die Entwicklung als die Entfaltung endogener Faktoren und die Erzie-
hung als Hilfe der Entwicklung verstanden wird. Danach werden die entwicklungspsy-
chologischen Arbeiten J.S. Bruners angeführt, in denen es um den Zusammenhang von
Entwicklung und Erziehung durch das Lernen von strukturellen Grundlagen geht. Aus
soziologischer Sicht wird dann der soziologisch-interaktionistische Ansatz von L.
15
Krappmann unter Berücksichtigung des symbolischen Interaktionismus vorgestellt, in
dem die Interaktion für Entwicklungs- und Erziehungsprozesse die hervorragende Rolle
spielt. Anschließend wird auf die anthropologische Sichtweise von H. Roth und K.
Dienelt eingegangen. Auch hier wird der Zusammenhang von Erziehung und Entwick-
lung im Lernen gesehen und zwar in allen Persönlichkeitsbereichen. Abschließend wird
anhand der philosophischen Perspektive Th. Ballauffs die Bildung zur kosmischen Ver-
antwortung als das die Erziehung und Entwicklung einende Merkmal hervorgehoben.
Ist es vorab möglich, von Erziehung als Hilfe zur Selbsterziehung, Erziehung durch
Lernen, durch Interaktion oder durch Bildung und ebenso von Entwicklung als Entfal-
tung innerer Kräfte, Entwicklung durch Lernen, Interaktion oder Bildung zu sprechen,
so zeigt diese Vielfalt der Theorien keine Einheitlichkeit, sondern es handelt sich um
unterschiedliche Perspektiven des komplexen Zusammenhangs von Entwicklung und
Erziehung, wie er später dann durch die systemtheoretische Sicht in seiner Ganzheit
erfaßt werden soll. Deshalb werden die genannten Forschungsrichtungen bereits in Hin-
blick auf ihre Bedeutung für die Systemtheorie betrachtet, sie werden hier nicht in ihrer
Gesamtheit beschrieben. So wird auch hier und da bereits ein systemtheoretischer Hin-
weis notwendig, der vielleicht erst später vollständig verständlich ist, hier aber zur Er-
klärung der Grenzen der Ansätze hilft. Denn die kritischen Anmerkungen zu den ge-
nannten Forschungsarbeiten ergeben sich aus systemtheoretischer Sicht.
2.1 Erziehung als Entwicklungshilfe bei Montessori
„Wir verstehen unter Erziehung, der psychischen Entwicklung des Kindes von Geburt
an zu helfen“ (Montessori in Oswald 199614, S.28). Diese Auffassung von Erziehung als
Hilfe bei der Entwicklung des Kindes hin zu einer Persönlichkeit hat Montessori aus
ihrer praktischen Arbeit mit Kindern gewonnen und ist vorrangig als psychologische zu
bezeichnen17. Die Maßstäbe für die Erziehung liegen im Kind selbst, in dessen sponta-
ner, zunächst organischer Entwicklung. Die Entwicklung wird sozusagen von Innen her
gesteuert, von dem „inneren Bauplan“ (vgl. Erlinghagen 1979, S.149). Erziehung kann
nur dann sinnvoll sein, wenn sie den dem Kind immanenten Entwicklungsdrang unter-
stützt. Erziehung kann nach Montessori also nur in Abhängigkeit von der Entwicklung
17 „Denn die Psychologie des Kindes, das Leben seiner Seele, haben Schritt für Schritt das, was man als pädagogische Praxis und
Erziehungsmethode bezeichnen könnte, diktiert“ (Montessori in Böhm 19965, S.125).
16
erfolgen, sie führt sie fort. Die Umwelt spielt hierbei eine spezifische Rolle, da sie ge-
nau das bereitstellen muß, was die Entwicklung fordert.
Nach einer Erläuterung dieses Grundgedankens Montessoris sind die Grenzen ihres
Ansatzes aus heutiger und hier insbesondere aus systemtheoretischer Sicht darzustellen.
Für die Zeit, in der Montessori Kinderhäuser18 gegründet hat, also hauptsächlich in der
ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, bleiben ihre Aussagen von unschätzbarem und auch
weltweitem Wert. Durch ihr Engagement hat sich seither so viel in der Erziehung geän-
dert, ist so vieles selbstverständlich geworden, daß man es kaum noch als auf Montesso-
ri zurückgehend ansieht. Dies bezieht sich hauptsächlich auf die kindgerechte Umge-
bung, die für eine „normale“ Entwicklung des Kindes notwendig ist19.
Im Zentrum von Montessoris Ansatz steht das Kind als eine eigenständige und vom
Erwachsenen vollständig verschiedene Persönlichkeit, die als solche in der Erziehung
zu erkennen ist20. Ist diese Voraussetzung gegeben, kann Erziehung nur dann als Ent-
wicklungshilfe verstanden werden, wenn die Entwicklung des Kindes normal abläuft
und ablaufen kann21. Setzt man die normale Entwicklung des Kindes voraus, dann sollte
Erziehung erfolgen, indem sie auf endogene Impulse des Kindes achtet. Für diese Im-
pulse und damit für die Entwicklung kann dann durch die Umwelt entsprechendes Ma-
terial oder ‘Nahrung’22 bereitgestellt werden, zunächst ganz allgemein, damit die Ent-
wicklung in Gang bleibt (vgl. Böhm 19965, S.153). Das bedeutet zum einen, daß Erzie-
hung darin liegt, geeignete Lebensbedingungen für die Entwicklung des Kindes zu
schaffen und zum anderen, daß sich letztlich das Kind selbst erzieht oder wie Montesso-
ri es ausdrückt, die Erziehung leitet (vgl. Böhm 19965, S.22), weil es gemäß seinem
18 „Die ‘Kinderhäuser’ sind in Wirklichkeit die ersten Forschungsstätten der exakten Wissenschaft vom Menschen“ (Böhm in Böhm
19965, S.9)19 Was schließlich als kindgerechte Umgebung verstanden wird, ist auch zeit- und kulturabhängig und kann nicht nur einmal und
für immer festgelegt werden.20 „Wir sehen klar, daß die Kindheit ein Stadium der Menschheit ist, das sich vollkommen von dem des Erwachsenseins unterschei-
det. Wir haben die zwei verschiedenen Formen des Menschen erkannt. Das Kind trägt nicht die verkleinerten Merkmale des Er-
wachsenen in sich, sondern in ihm wächst sein eigenes Leben, das seinen Sinn in sich selber hat“ (Montessori in Oswald 199614,
S.27).21 Zu den Begriffen ‘Normalisation’ und ‘Deviation’ siehe genauer Montessori in Böhm 19965, S.34ff. In der hier gebotenen Kürze
können nicht alle Begriffe Montessoris ausführlich beachtet werden. Nach Montessori liegt Normalität dann vor, „wenn sich die
tiefere Natur entwickeln kann und einen Typ hervorbringt, der fast einheitlich und gleichförmig in seinen Charakterzügen ist, wel-
che von den sich entfaltenden Energien gesteuert werden“ (Montessori in Böhm 19965, S.37).22 „Wir müssen uns deshalb als erzieherisches Problem nicht die Suche nach den Mitteln zur Organisation der inneren Persönlichkeit
des Kindes und zur Entwicklung seiner einzelnen Charaktereigenschaften stellen; sondern nur das Problem, dem Kind die ihm
notwendige Nahrung zu vermitteln“ (Montessori in Oswald 199614, S.20).
17
‘inneren Bauplan’ handelt. Erziehung wird hier zur Selbsterziehung23. Diese wird je-
doch geleitet oder angeregt, je nach der Gestaltung der Umgebung des Kindes. Erzie-
hung kann aber nie direkt die kindliche Psyche beeinflussen.
„Das Zentrum gehört dem Individuum allein. Wir haben uns mit den Dingen, die im
Zentrum vorgehen, nicht zu befassen. Nur durch die Peripherie, die Sinne und die Be-
wegung, wird das Individuum mit der Außenwelt in Verbindung gebracht. Das Indivi-
duum nimmt durch die Sinne auf und handelt. Das ist die Peripherie. Sie ist für uns er-
reichbar ...“ (Montessori Böhm 19965, S.45).
Erreichbar eben durch das, was dem Kind an Material für seine Entwicklung bereitge-
stellt wird. Durch dieses wird die Entwicklung angeregt, in Gang gehalten und es wer-
den so Entwicklungsfortschritte erzielt, die mit der Bereitstellung von neuem, anderen
Material einhergehen. Deshalb wird es zur wesentlichen Aufgabe der Erziehung, für die
Materialauswahl und die passende Umgebung zu sorgen. Und da das Material aus der
Kultur des zu erziehenden Kindes stammt, sich aber kindgerecht und entwicklungsge-
recht dem Kind darbietet, wird es so mit seiner Kultur vertraut24. Das Material der Er-
ziehung wird als Entwicklungsmaterial und nicht Lernmaterial verstanden (vgl. Böhm
in Böhm 19965, S.117). Die für das Kind gestaltete „Eigenwelt“ bleibt so zwar das Pro-
dukt von Erwachsenen, aber in ihrer Gestaltung vom Kind geleitet.
Welches Material für welchen Entwicklungsschritt sinnvoll ist, muß der Erzieher durch
die ständige Beobachtung des Kindes erkennen lernen. Das Kind zeigt ihm nämlich
durch konzentrierte Arbeit25, was seiner Entwicklung bedarf. Durch die hingebungs-
volle, konzentrierte Aufmerksamkeit des Kindes vollziehen sich Entwicklungsfort-
schritte. Und der Erzieher muß immer wieder eine Umgebung schaffen, damit die „Po-
larisation der Aufmerksamkeit“, die von Montessori selbst als „Schlüssel der ganzen
Pädagogik“ bezeichnet wurde (vgl. Oswald in Böhm 19965, S.135), erneut erreicht wer-
den kann zum Fortschritt der Entwicklung des Kindes.
23 „.. wir können keinen Menschen schaffen. Das ist die Aufgabe, die das Kind selbst erfüllen muß“ (Montessori in Böhm 19965,
S.28).24 „Unser Material soll kein Ersatz für die Welt sein, soll nicht allein die Kenntnis der Welt vermitteln, sondern soll Helfer und
Führer sein für die innere Arbeit des Kindes. Wir isolieren das Kind nicht von der Welt, sondern wir geben ihm ein Rüstzeug, die
ganze Welt und ihre Kultur zu erobern. Es ist wie ein Schlüssel zur Welt und ist nicht mit der Welt selbst zu verwechseln“ (Montes-
sori in Oswald 199614, S.33).25 Zum Begriff der „Arbeit“ bei Montessori siehe Mario Montessori 1996, S.33f.
18
Systemtheoretisch ist hier interessant, wie sich für Montessori die Konzentration des
Kindes erklärt (vgl. hierzu den späteren Abschnitt über den Beobachter). Konzentration
bedeutet nämlich, daß das Kind seine inneren Impulse oder die internen Potentialitäten
auf ein Teil oder ein Stück, das ihm die Peripherie bietet, zentriert, wobei andere Teile
der Peripherie nicht berücksichtigt werden. Es „öffnet sich folglich in intensivster Wei-
se seiner Umwelt, es arbeitet mit seinem Zentrum (kon-zentriert)“ (Renner in Böhm
19965, S.140). Die konzentrierte Arbeit des Kindes ist somit das Mittel der Erziehung
und die Konzentration selbst wird zu einem Erziehungsziel (vgl. ebd.). Die Verbindung
zwischen dem dem Kind immanenten Entwicklungsdrang und einem Teil der Umge-
bung ist so eng26, daß Montessori auch von Absorbtion spricht (vgl. Oswald 199614,
S.63), im übrigen ganz ähnlich wie Piaget von dem Verhältnis zwischen Assimilation
und Akkomodation, auch wenn die Schwerpunkte nicht ganz gleich gesetzt werden.
Wesentlich ist, daß das Kind aufgrund innerer Anreize tätig ist und nur das aus der
Umwelt absorbiert, was seinem momentanen Entwicklungsdrang und der Entwick-
lungsphase entspricht. „Es gibt Perioden, in denen die Kinder ein ‘Verhalten’ und eine
Möglichkeit zu psychischer Ordnung aufweisen, die später verschwinden“ (Böhm
19965, S.49). Montessori kennzeichnet diese Perioden als „sensitive“27, die in der Er-
ziehung erkannt und genutzt werden müssen, weil hier Entwicklung tatsächlich stattfin-
det. Die einzelnen Entwicklungsstufen, die sich schließlich daraus beschreiben lassen,
hat Montessori zwar auch benannt, sie sind aber für ihre Kennzeichnung von Erziehung
nicht vorrangig (siehe ausführlich Böhm 19965, S.22-27). Von größerer Bedeutung
bleibt die Anerkennung der Entwicklungsfreiheit des einzelnen28.
Die Eigenschaften des Kindes, die es im Verlauf seiner Entwicklung erwirbt, sind ihm
deshalb aber nicht von Natur immanent, sondern sie müssen, in Abhängigkeit von der
ihm dargebotenen Umwelt, erworben werden. „Es bildet sich ein Verhalten heraus, das
nicht nur der Zeit und dem Ort, sondern auch der jeweiligen Mentalität entspricht (...).
26 „Die Arbeit eint das kindliche Wesen mit der Umgebung. Aber diese Arbeit zeigt sich nur bei den Kindern, die in einer Umgebung
leben, die ihnen angepaßt ist. Die erzwungene Arbeit schadet dem Kind, weil durch sie der erste Arbeitswiderwille entsteht“ (Mon-
tessori in Oswald 199614, S.34).27 „Der absorbierende Geist baut nicht mit Hilfe von Willensanstrengungen, sondern unter der Führung ‘innerer Sensibilitäten’, die
wir ‘sensitive Perioden’ nennen, weil die Sensibilität nur eine bestimmte Zeit dauert, gerade lang genug, um die von der Natur
bestimmten Eroberungen zu machen“ (Montessori in Oswald 199614, S.63).28 „Man könnte den Begriff der Entwicklungsfreiheit gar nicht fassen, wenn seiner Natur nach das Kind einer spontanen organischen
Entwicklung nicht fähig wäre, wenn der Trieb nach Entfaltung der verborgenen Kräfte, der Wunsch nach dem Erwerb der nötigen
Mittel zur angeborenen harmonischen Entwicklung nicht in ihm läge“ (Böhm in Böhm 19965, S.154).
19
Denn während der Erwachsene der alten Zeiten sich nicht an die modernen Zeiten an-
passen könnte, paßt sich das Kind an das Kulturniveau, das es vorfindet, an, wie immer
es auch sei“ (Montessori in Oswald 199614, S.56 und 57-58).
Montessoris Auffassung von Erziehung verlangt schließlich vom Erzieher, daß er lernt,
sich im Erziehungsprozeß zurückzunehmen und Bescheidenheit zu üben (vgl. Böhm
19965, S.89). Seine wesentliche Aufgabe besteht in der Gestaltung der Umgebung und
der Beobachtung des Kindes. Er muß erkennen, daß er keinen unmittelbaren Einfluß auf
die Entwicklung des Kindes hat, weder auf den „Bildungsgang“ noch auf die „innere
Disziplin“ (vgl. Böhm 19965, S.62). „Die äußere Autorität des Erziehers muß also ab-
nehmen zugunsten der Achtung vor der wahren Individualität jedes einzelnen“ (Mon-
tessori in Böhm 19965, S.53; vgl. auch Montessori in Oswald 199614, S.36). Maria
Montessoris hauptsächliches Interesse besteht dann auch gar nicht „im Finden einer
bestimmten Erziehung, sondern in der Überwindung der ‘Vorurteile’, die sich der Er-
wachsene im Hinblick auf das Kind gebildet hat“ (Oswald 199614, S.14). Diese Ansicht
ist mit ihrem Bild vom Menschen verbunden, in dem Kindheit und Jugend idealisiert
werden und der Erwachsene im Verhältnis zum Kind als degeneriert erscheint. Schon
deshalb muß das Kind seine Wachstumsaufgabe alleine erfüllen (vgl. die hierzu entge-
gengesetzte Ansicht Dienelts, nach der der Erwachsene reif und mündig ist und er dem
Kind dazu verhelfen muß. Dienelt über Montessori 1970, S.119).
Zusammenfassend zeigt sich, daß die Entwicklung in Montessoris Ansatz im Vorder-
grund steht und die Erziehung sich nach ihr zu richten hat. Denn es wird immer deut-
lich, daß der Bereich, in dem Entwicklung tatsächlich stattfindet, nämlich im Inneren
des einzelnen Kindes, für die Erziehung letztlich unzugänglich bleibt. Wissenschaftlich
ist es möglich, zu einer Theorie der Entwicklung zu gelangen, um die Erziehung in ei-
nem gewissen Sinne planbar zu machen. Damit geht auch eine enge Zusammenarbeit
der wissenschaftlichen Disziplinen Pädagogik und Psychologie einher, denn die Erzie-
hung darf nicht nur die Außenwelt des Kindes im Blick haben, sondern im besonderen
Maße dessen Innenwelt (vgl. auch Mario Montessori 1996, S.87). Und so kommt dann
doch ein ganz enger Bezug zwischen Entwicklung und Erziehung zustande, denn die
Erziehung wird zu einem wesentlichen Aspekt in der Entwicklung und kann nie von ihr
getrennt behandelt werden, es ist die „radikale ‘Erziehung vom Kinde aus’“(Böhm in
Böhm 19965, S.116). Die Pädagogik hat in ihrem Praxisbezug die Aufgabe, das Funda-
20
ment für Erziehung zu schaffen, also für die Gestaltung der Umgebung und die Vorbe-
reitung des Erziehers (Lehrers) zu sorgen (vgl. Oswald 199614, S.39f.).
Montessori ging bei ihrer Erklärung von Erziehung ausschließlich vom Kind aus als
Zentrum für aller Folgerungen. Ihre Auffassungen sind aus der Praxis gewonnen und
direkt für diese auch wieder fruchtbar gemacht worden. Eine umfassende theoretische
Erklärung fehlt bei diesem Ansatz. Der Hinweis auf den ‘inneren Bauplan’ und die
‘Antriebskraft’, die dem Menschen immanent sind, sind entwicklungstheoretisch zu
allgemein gehalten, als daß man tatsächlich von einer Entwicklungstheorie als Grundla-
ge für die Erklärung von Erziehung sprechen könnte (wie es beispielsweise bei Piaget
der Fall ist). Auch werden die biologischen Gegebenheiten nicht so umfassend und
schon gar nicht so konsequent dargestellt, daß man ihren Ansatz ausschließlich als bio-
logistischen bezeichnen könnte. Denn letztlich ist der ‘innere Bauplan’ von Gott selbst
in das Kind hineingelegt29. Die Maßstäbe für Erziehung und Entwicklung allein im
Kind zu suchen, greift heute zu kurz. Die Maßstäbe liegen vielmehr in einem komple-
xen System, das Erziehung genannt wird (vgl. hierzu u.a. den Ansatz von Büeler) und
das sich dementsprechend durch vielfältige Zusammenhänge darstellt, die biologischer,
psychischer und vor allem auch sozialer Art sind. Spricht man von Erziehung als Sys-
tem, dann begibt man sich auf eine theoretische Ebene, von der aus die Praxis beschrie-
ben werden kann. Der Zugang ist ein anderer, aber es wird in der vorliegenden Arbeit
davon ausgegangen, daß sich der komplexe Zusammenhang von Entwicklung und Er-
ziehung so vollständiger erfassen läßt.
Faßt man Erziehung als System auf, dann läßt sie sich eben nicht nur durch den Hinweis
auf einen Teilbereich desselben erklären, wie dies bei Montessori durch den Entwick-
lungsdrang des Kindes als Zentrum aller Erkenntnis geschieht. Und so wünschenswert
es auch für die Praxis sein mag, so ist im theoretischen Arbeiten keine das individuelle
Kind einbeziehende Entwicklungs- oder Erziehungstheorie vorstellbar. Schließlich
bleiben die von Montessori ins Leben gerufenen „Kinderhäuser“ (Schulen, Kindergär-
29 „Denn sehen Sie, wenn uns das Kind etwas lehren kann, so ist das in Wirklichkeit nicht einfach das Kind, sondern die Kraft der
Liebe, die Erbauerin des Menschen; und diese Liebe hat Gott dort hineingelegt. Das Kind hat diese Kraft direkt von Gott (...), denn
im Kinde enthüllt sich uns, wie Gott jede Persönlichkeit erschafft, und wie sich die Seele inkarniert“ (Montessori in Böhm 19965,
S.29). Dazu Böhm: „Schließlich hat man vor allem zu beachten, daß Montessori dort, wo sie Gott als den letzten Urheber vom
immanenten Bauplan, hormé und auch den kosmischen Gesetzen, die Mensch und Welt regieren, bezeichnet, nicht einen personalen
Schöpfergott vor Augen hat, sondern recht distanziert von einem ‘himmlischen Geometer’ spricht, der so wie die unabänderlichen
Sternenbahnen auch die individuelle Lebensbahn des einzelnen Menschen lenkt und in eine prästabilierte Harmonie einordnet“
(Böhm in Böhm 19965, S.118).
21
ten) Nischen, wo Erziehung ihrem Ansatz gemäß ablaufen kann. Außerhalb dieser spe-
ziellen Umgebung - und das meint außerhalb von speziellen Räumen - wird aber auch
erzogen. Erziehung erfolgt aus systemtheoretischer Sicht in Situationen, die zum Bei-
spiel innerhalb der Familie interaktionistischer Art sein können und nicht nur in einem
spezifischen Raum mit entsprechendem Material. Auf den Situationsbegriff werden wir
noch zurückkommen. Ein Raum, innerhalb dessen eine Erziehungstheorie Geltung hat,
stellt nicht nur in systemtheoretischer Sicht eine Begrenzung dar. Der Situationsbegriff,
im horizontalen Sinne verstanden, umfaßt schließlich auch den Raumbegriff, der dann
als vertikaler einzustufen ist.
Durch den mit der Systemtheorie einhergehenden Erkenntnisfortschritt soll es auch
möglich werden, Einzelaspekte interdisziplinär genauer zu erfassen. So stellt sich aus
heutiger biologischer und neurophysiologischer Sicht zum Beispiel das Phänomen des
Entwicklungsdrangs oder der Begriff des ‘inneren Bauplans’ oder auch der Konzentra-
tionsbegriff anders dar als in der wissenschaftlichen Perspektive zu Beginn des Jahr-
hunderts. Und die Pädagogik hat dem heute Rechnung zu tragen. Wir werden dies im
Hauptteil der vorliegenden Arbeit tun.
Das wesentliche Verdienst Montessoris besteht sicherlich darin, auf die Bedeutung des
Kindes als eine eigenständige Persönlichkeit30 in der damaligen Zeit aufmerksam ge-
macht zu haben. Und das darf heute, auch innerhalb des systemtheoretischen Denkens
nicht vernachlässigt werden. Gerade wenn deutlich wird, daß es in der Wirklichkeit zu
einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Systemen kommt, muß die unterschiedliche
Qualität von Systemen Berücksichtigung finden. So ist aus Montessoris Ansatz für eine
pädagogische Systemtheorie wichtig, daß die im System Erziehung stehenden Personen
(personale Systeme) niemals als gleich anzusehen sind.
Aus dem Hinweis auf die eigenständige Persönlichkeit folgt, daß es keinen unmittelba-
ren erzieherischen Einfluß auf das Kind gibt. Diese Ansicht wird innerhalb der Sys-
temtheorie durch das Konzept der Selbstorganisation des Menschen noch genauer be-
schrieben (vgl. den Abschnitt über Maturanas autopoietischen Ansatz). Wenn es um die
30 Montessori sieht den Fehler der Vergangenheit darin, das Kind nur in Hinblick auf das zu betrachten, was es in Zukunft einmal
sein sollte unter Vernachlässigung seiner Ontogenese: „Das Kind war ein bloßes ‘Zukünftiges’. Es wurde nur als etwas betrachtet,
das werden soll, und deshalb galt es nichts, bevor es das Erwachsenenstadium erreicht hatte. Doch hat das Kind, wie alle anderen
menschlichen Wesen, eine eigene Persönlichkeit ... In keiner Hinsicht wird seine Gegenwart ernst genommen; mit der ‘Gegenwart’
meine ich das, was das Kind benötigt, um vollkommen nach den psychischen Bedürfnissen seines Alters leben zu können“ (Montes-
sori in Böhm 19965, S.53 und 54).
22
Erklärung von Erziehung und Entwicklung aus systemtheoretischer Sicht geht, werden
einzelne Aspekte aus Montessoris entwicklungs-pädagogischem Ansatz in einer neuen
Sichtweise wieder bedeutsam, und es wird sich zeigen, daß diese nicht vernachlässigt,
sondern zeitgemäß und das heißt interdisziplinär bearbeitet werden können.
2.2 Entwicklung durch das Lernen von Strukturen bei J.S. Bru-ner
Als Vertreter der kognitiven Richtung der Psychologie hat sich Bruner Anfang der 60er
Jahre insbesondere mit dem Prozeß von Erziehung beschäftigt auf dem Hintergrund der
Curriculumentwicklung in den USA. Anschließend hat er sich mit der kognitiven Ent-
wicklung in Anlehnung aber auch in Abgrenzung zu Piaget und Inhelder auseinander-
gesetzt. Bei der ersten Arbeit (Bruner 19722) stehen die Wirkungen des schulischen
Lernens im Vordergrund, bei der zweiten Arbeit (Bruner u.a. 19882) geht es um eine
Entwicklungstheorie, die den Anspruch erhebt, im Gegensatz zu Piaget, Umwelt und
Erziehung stärker zu berücksichtigen (vgl. Aebli in Bruner ebd., S.9). Die wesentlichen
Ergebnisse dieser Arbeiten zeigen, daß 1. die kognitive Entwicklung durch das Erfassen
von Strukturen der zu lernenden Sachverhalte erleichtert wird und daß somit 2. die
(schulische) Erziehung durch das Lernen eben dieser jedem Unterrichtsfach zugrunde-
liegenden Strukturen erfolgen soll. Und das ist bei der Entwicklung von Curricula zu
berücksichtigen. 3. hat sich gezeigt, daß vor allem das frühe Lernen nicht aus dem Ler-
nen von Fertigkeiten besteht, sondern im Erwerben allgemeiner Begriffe, was nicht nur
auf die Struktur von Gegebenheiten, sondern auch auf die besondere Bedeutung von
Sprache hinweist, als das symbolische Darstellungssystem, das Teil des Denkmecha-
nismus wird. Das Darstellungssystem Sprache ist 4. abhängig von der Kultur, wie die
Entwicklung der Kognition selbst. Und dies, so muß hinzugefügt werden, gilt dann auch
für die Erziehung.
Es ist zunächst festzuhalten, daß es sich hierbei um einen auf die schulische Erziehung
eingeschränkten Ansatz handelt, der außerdem nochmals verengt wird dadurch, daß das
kognitive Lernen im Vordergrund steht. Und hier steht die Struktur von Sachverhalten
im Mittelpunkt und nicht die Inhalte, weil deren Bedeutung abnimmt, je mehr das Ler-
nen auf Strukturen gerichtet ist. Erziehung wird danach in Hinblick auf kognitives Ler-
nen thematisiert, im Grunde geht es um die kognitive Entwicklung durch das Lernen
von Strukturen und eine damit verbundene Forderung nach einer Änderung schulischer
23
Curricula. Dementsprechend besteht dann auch die „allgemeinste Zielsetzung der Er-
ziehung“ im „Entwickeln hoher Leistungen“ (Bruner 19722, S.23). Der Zusammenhang
von Entwicklung und Erziehung besteht somit im Lernen.
Hier liegt eine Theorie von Erziehung vor, die einen Montessoris Ansatz entgegenge-
setzten Ausgangspunkt hat. Der Erziehung ‘vom Kinde aus’, der Erziehung, die von
einem ‘inneren Bauplan’ ausgeht, wird eine Sichtweise gegenübergestellt, in der Erzie-
hung durch das Lernen von Strukturen, also durch Absorption von äußeren Gegeben-
heiten stattfindet. Der Steuerungsmechanismus von Entwicklung liegt bei Montessori
im Inneren des zu erziehenden Kindes, bei Bruner wird in den Strukturen der Umwelt
die bedeutende Rolle gesehen31.
Die Umwelt nimmt Einfluß auf die Erziehung durch das Erziehungswesen, insbesonde-
re die Schule. Hier muß das Curriculum eines jeden Unterrichtsfaches von dem „fun-
damentalen Verständnis des Faches her aufgebaut werden, das sich aus den tragenden,
seine Struktur ausmachenden Prinzipien gewinnen läßt“ (Bruner 19722, S.42). Außer-
dem muß es auf „die wichtigsten Anliegen, Prinzipien und Werte abstellen (...), welche
eine Gesellschaft der dauernden Beachtung seitens ihrer Mitglieder für wert erachtet“
(Bruner 19722, S.61). Konsequenzen daraus sind zum einen der erhebliche Aufwand,
der darin besteht, nicht nur die jeweiligen Prinzipien für die jeweiligen Unterrichtsfä-
cher herauszuarbeiten, sondern diese dann auch je nach Entwicklungsstand der Schüler
für den Unterricht fruchtbar zu machen32. Zum anderen muß auch mit der Änderung der
Prinzipien in Abhängigkeit des jeweiligen Forschungsstands im jeweiligen Fach ge-
rechnet werden. Diese Arbeit kann nur sinnvoll durch die Mitarbeit der Wissenschaftler
aus den Unterrichtsfächern erfolgen. Die damit verbundene notwendige, wenn sicher-
lich auch nicht vollständig zu realisierende engere Verbindung zwischen Wissenschaft
und Schule steht immer noch aus! Eine solche Diskrepanz ergibt sich nach Bruner
nämlich nicht aus kognitiv-psychologischer Sicht. Die geistige Tätigkeit des Wissen-
schaftlers und des Schülers ist nach seiner Auffassung gleich. „Der Unterschied liegt im
Niveau, nicht in der Art der Tätigkeit“ (Bruner 19722, S.27).
31 Reifungsprozesse treten in den Hintergrund: „Es ist pädagogisch sinnlos, einfach darauf zu warten, daß das Kind eine bestimmte
Reife entwickle“ (Bruner u.a. 19882, S.14).32 Das erfordert „einen ‘spiraligen’ Aufbau des Curriculums, der eine Wiederholung der Grundbegriffe auf den verschiedenen
kognitiven und sprachlichen Niveaus ermöglicht bis hin zu den abstrakten, formalisierten Operationen der wissenschaftlichen Beg-
riffsbildung“ (Loch in Bruner 19722, S.14). Zur Curriculum-Spirale siehe ausführlich Bruner 19722, S.61ff.
24
Und nur wenn das Kind früh die strukturellen Grundlagen eines jeden Faches kennen-
lernt33, dann wird es später umso leichter sein, dem „Studienanfänger die Früchte von
Wissenschaft und Weisheit nahezubringen“ (Bruner 19722, S.32). Dabei zeigen sich als
wesentliche Gründe für das Lernen von Strukturen 1., daß der Lehrgegenstand faßlicher
wird, wenn man die Grundlagen versteht und 2., daß die Strukturen leichter im Ge-
dächtnis gespeichert werden können als viele Einzelheiten und schließlich erleichtert 3.
das Lernen von Strukturen den Transfer von Sachverhalten.
Die Entwicklung von Strukturen erfolgt psychologisch gesehen34, ganz wie bei Piaget,
von einer handlungsmäßigen über eine bildhafte zu einer symbolischen Darstellungs-
ebene. Die wichtigste Triebkraft der geistigen Entwicklung ist zunächst die Koordinati-
on von Handlungsschemata in umfassendere Schemata. Nach Bruner ist dabei der Ü-
bergang von einer Abhängigkeit der „motorischen Darstellung zu einer autonomen sen-
sorischen Steuerung“ noch unklar (Bruner u.a. 19882, S.43).
Hat das Kind dann aber eine Welt der Wahrnehmung unabhängig von der Handlung
aufgebaut, ist es nun in der Lage, entsprechende Probleme zu lösen, allerdings fehlt
noch die Erkenntnis über tiefere Strukturen, das heißt, es kann noch keine Relationen
und/oder Hierarchien unabhängig von der Beobachtung aufbauen (vgl. Bruner u.a.
19882, S.49). Erst durch die Beherrschung der Sprache35 in ihrer Vollständigkeit gelangt
das Kind zur Erkenntnis von Strukturen, denn 1. zwingt die Sprache der Wahrneh-
mungswelt eine andere Struktur auf36, 2. ist sie unabhängig von Zeit und Ort dessen,
worüber man sprechen will und 3. wird durch die bedeutungstragenden Elemente der
Sprache, die Worte, der Gebrauch ‘künstlicher’ Systeme möglich wie wir sie z.B. in der
33 „Die Struktur eines Themas begreifen heißt, es so zu verstehen, daß viele andere Dinge dazu in eine sinnvolle Beziehung gesetzt
werden können. Kurz: die Struktur lernen, heißt lernen, wie die Dinge aufeinander bezogen sind“ (Bruner 19722, S.22).34 „Gleichzeitig und sozusagen als methodologisches Credo glauben wird, daß die intellektuelle Entwicklung nur in Begriffen von
psychologischen Mechanismen, welche sie ermöglichen, verstanden werden kann und daß man die Entwicklung nicht erklärt, indem
man auf das Wesen der Kultur, der Sprache, der inhärenten Logik des kindlichen Denkens oder auf die menschliche Evolution
hinweist“ (Bruner u.a. 19882, S.26).35 „Die Sprache entwickelt sich vielmehr aus der gleichen Wurzel, aus der sich auch die symbolisch organisierte Erfahrung entwi-
ckelt. Ich möchte eine Art grundlegende und ursprüngliche symbolische Tätigkeit annehmen, die ihren ersten und vollständigen
Ausdruck in der Sprache, sodann im Gebrauch von Werkzeugen und schließlich in der Organisation der Erfahrung findet“ (Bruner
u.a. 19882, S.70).36 „Wenn linguistische Kategorien, die in Hierarchien organisiert sind, etwas für die wirkliche Welt bedeuten sollen, dann muß die
Erfahrung selbst in hierarchisch organisierten Kategorien gestaltet sein. Wir wissen, daß die Sprache des Kindes in dieser Weise
organisiert ist, und wir wissen ebensogut aus den Experimenten, daß seine Erfahrung es nicht ist. Ich bin bereit zu glauben, daß im
linguistischen Bereich die Fähigkeit zur Kategorisierung und zur hierarchischen Organisation angeboren sind und daß es auch die
Prädikation, die Bewirkung und die Modifikation sind“ (Bruner u.a. 19882, S.69).
25
Mathematik und der Logik finden (siehe ausführlich Bruner u.a. 19882, S.66ff.). Die
Erfahrung wird somit durch die Sprache verschlüsselt37 und diese führt dann über die
Erfahrung hinaus, „indem wir den in den Regeln der Sprache enthaltenen Implikationen
folgen“ (Bruner u.a. 19882, S.78). Die symbolische Darstellungsform leitet somit
Handlung, Wahrnehmung und Kognition, aber natürlich nur in dem Maße, wie man die
Bereiche der Erfahrung der Sprache anpassen kann (vgl. Bruner u.a. 19882, S.82). Wie
eingangs schon angedeutet, wird schließlich das „Denken zum inneren Sprechen“ (vgl.
Bruner u.a. 19882, S.80)
Wie Montessori verzichtet auch Bruner auf die Formulierung von einzelnen Stufen der
Entwicklung, da diese sowieso nicht bei jedem Kind gleich ablaufen. Wesentlich ist
auch ihm, daß durch herausfordernde Gegebenheiten die geistige Entwicklung ange-
spornt wird (vgl. Bruner u.a. 19882, S.25 und 19722, S.49). Besonderes Gewicht wird
auf den einzelnen Lernakt gelegt, in dem es zunächst um die Aneignung neuer Informa-
tion geht, dann um deren Umwandlung oder Transformation38 und schließlich um die
Wertung. Dabei hängt die Länge der jeweiligen Lernepisode vom Lerngegenstand und
dem Entwicklungsstand des Kindes ab. Allerdings sollen die Lernepisoden zunehmend
länger werden; ihre Länge korreliert sozusagen mit der Kenntnis über die Struktur des
Lerngegenstands39.
Der Entwicklungsfortschritt selbst wird ausgelöst durch eine Diskrepanz, die zwischen
den verschiedenen Darstellungsformen der Erfahrung, also der Handlung, der bildhaften
Vorstellung und der symbolischen besteht. Diese Diskrepanz wird bewältigt, indem eine
Struktur glatt in ein anderes Medium übersetzt werden kann. Die ‘neue’ Struktur des
Mediums, die sich gebildet hat, ist wahrscheinlich „eine entwickeltere, adäquatere als
die beiden diskrepanten Vorläufer“ (Aebli in Bruner u.a. 19882, S.8). Entwicklung hat
somit stattgefunden.
Bei alledem legt Bruner zunehmend Wert auf die Bedeutung der Kultur, denn die kog-
nitive Entwicklung ist ohne Teilnahme an der Kultur und der Sprachgemeinschaft, in
37 „das soll nicht besagen, daß die sprachlichen Formen aus den vorsprachlichen Praktiken ‘herauswachsen’. Ich halte es für prinzi-
piell unmöglich, irgendeine formale Kontinuität zwischen einer früheren ‘präverbalen’ und einer späteren funktional ‘äquivalenten’
sprachlichen Form herzustellen“ (Bruner 1997, S.89).38 „Der Ausdruck ‘Transformation’ beinhaltet die Art und Weise, in der wir mit Information umgehen, um über sie hinauszugelan-
gen“ (Bruner 19722, S.58).39 „Je ausgeprägter jemandes Sinn für die Struktur eines Lerngegenstands ist, eine um so schwerer befrachtete, länger andauernde
Lernepisode kann er ohne Erschöpfung durchhalten“ (Bruner 19722, S.60).
26
der man aufwächst nicht denkbar. Die Kultur liefert „in der Form von Technologien
Verstärker der menschlichen kognitiven Fähigkeiten“ (Bruner u.a. 19882, S.17)40. Der
Kultur kommt hier gegenüber der Genetik eine hervorrragende Bedeutung zu, worauf
bereits hingewiesen wurde. Bruner geht in seiner jüngsten Schrift (Bruner 1997) noch
einen Schritt weiter, indem er sich direkt für eine kulturorientierte Psychologie aus-
spricht41. Es geht ihm nun darum zu zeigen, daß Kultur und auch die „Sinnsuche inner-
halb einer Kultur die eigentlichen Ursachen menschlichen Handelns sind“ (Bruner
1997, S.39) und die biologischen Grundlagen lediglich Voraussetzungen bilden42. Dabei
fühlt er sich dem (amerikanischen) Konstruktivismus der Kulturpsychologie verpflich-
tet, als einen „tiefverwurzelten Ausdruck demokratischer Kultur“ (ebd. S.48), der mit
der Forderung nach Pluralismus (und nicht Relativismus) und geistiger Offenheit ein-
hergeht43.
Zusammenfassend zeigt sich bei dem Ansatz von Bruner, daß Erziehung durch die kog-
nitive Entwicklung voranschreitet und diese wiederum durch das Lernen von Struktu-
ren. Da das Kind in eine Kultur hineingeboren wird und die zu lernenden Strukturen
von dieser Kultur abhängen, sind auch Entwicklung und Erziehung immer kulturabhän-
gig zu verstehen. Bruners Verdienst für die Erziehungswissenschaft liegt somit in der
Herausarbeitung und der präzisen psychologischen Kennzeichnung der kognitiven Ent-
wicklung für den Erziehungsprozeß. Außerdem hat er versucht, seine Ergebnisse direkt
für die schulische Praxis fruchtbar zu machen (vgl. hierzu insbesondere das Kapitel
über Unterrichtshilfen in Bruner 19722, S.88ff.). Und schließlich zeigt er, daß der Er-
zieher, wenn er nur richtig ausgebildet ist, die Möglichkeit hat, ganz gezielt die Ent-
wicklung des Kindes zu steuern, denn „jedem Kind kann auf jeder Entwicklungsstufe
40 „Die Entwicklung dieser Kräfte, so scheint mir, hängt in hohem Maße von drei Gegebenheiten ab. Die erste bezieht sich auf das
Vorhandensein von ‘Verstärkern’, die eine Kultur zur Verfügung stellt - Bilder, Fertigkeiten, Konzeptionen usw. Die zweite Gege-
benheit ist die Art des Lebens, das das Individuum führt, die Anforderungen, denen es unterworfen ist. Die dritte (und spezifischste)
Gegebenheit betrifft das Maß, in dem das Individuum angeregt wird, die Quellen der Übereinstimmung und der Diskordanz zwi-
schen den drei Modi des Wissens, der Handlung, dem Bild und dem Symbol, zu explorieren“ (Bruner u.a. 19882, S.379).41 „Eine kulturorientierte Psychologie schließt weder aus, was Menschen über ihre mentalen Zustände sagen, noch behandelt sie
diese Aussagen, als ob sie vorhersagende Indikatoren ihres beobachtbaren Verhaltens wären. Von zentraler Bedeutung ist für sie
vielmehr, daß die Beziehung zwischen Handeln und Sprechen (oder Erleben) in der alltäglichen Lebensführung interpretierbar ist
(Bruner 1997, S.37).42 „Dieses Programm einer Kulturpsychologie leugnet nicht die Biologie oder die Ökonomie, es will zeigen, wie der menschliche
Geist und das menschliche Leben Kultur und Geschichte ebenso wie Biologie und natürliche Gegebenheiten widerspiegeln“ (Bruner
1997, S.145).43 Als Ziel des Erziehungswesens hat Bruner bereits schon früher formuliert: „...ausgeglichene Bürger für eine Demokratie heranzu-
bilden“ (Bruner 19722, S.16).
27
jeder Lehrgegenstand in einer intellektuell ehrlichen Form erfolgreich gelehrt werden“
(Bruner 19722, S.44). Und indem Bruner darauf hinweist, daß Erziehung nur auf dem
Hintergrund eines demokratischen Verständnisses erfolgen soll, wird gleichzeitig jeder
anderen Interpretation dieses Ansatzes widersprochen.
So wertvoll dieser Ansatz aus psychologischer Sicht für die Erziehungswissenschaft
auch ist, so bleibt er für ein ganzheitliches pädagogisches Verständnis von Erziehung,
wie es in der vorliegenden Arbeit zu erfassen gilt, zu einseitig. Erziehung beschränkt
sich nicht nur auf die geistige Entwicklung, Erziehung ist nicht nur Vermittlung von
Strukturen, sie erfolgt auch nicht nur durch Umwelteinfluß und sie findet schon gar
nicht ausschließlich in der Schule statt. Durch systemtheoretische Erkenntnisse wird im
Verlauf dieser Arbeit die Vielfältigkeit der Perspektiven, die beim Zusammenhang von
Erziehung und Entwicklung tatsächlich mitspielen, aufgezeigt. Die Notwendigkeit des-
sen ergibt sich nicht zuletzt durch die Kulturabhängigkeit von Wissenschaft, worauf
Bruner selbst hingewiesen hat. Wenn man nämlich innerhalb der Wissenschaften zu
einem veränderten, nennen wir es einmal allgemein ein ganzheitliches ökologisches
Verständnis von Welt gelangt ist, das sich in der Theorie durch Systeme darstellt, dann
sollten in der Tat die systemtheoretischen Strukturen zumindest in die einzelnen Wis-
senschaftsbereiche hineingetragen werden, wenn sie auch nicht gleich für die verschie-
denen Unterrichtsbereiche fruchtbar gemacht werden müssen.
Abschließend, aber ohne Vollständigkeit, weil dies nicht Thema der Arbeit ist, muß
gesagt werden, daß die Ansätze von Montessori und Bruner, wenn sie sich auch auf den
ersten Blick von ihrer Ausgangsbasis her so unterschiedlich darstellen, Gemeinsamkei-
ten aufweisen. Beide Autoren verzichten nicht nur auf eine Darstellung von Entwick-
lungsstufen, nach der sich der Erzieher zu richten hat, sondern sie plädieren auch beide
für eine „Entwicklungsgemäßheit“. Während bei Montessori das Material der Entwick-
lung des Kindes gemäß ausgesucht werden muß, sind es bei Bruner die Strukturen des
Lerngegenstandes, die dem Entwicklungsstand des Kindes angepaßt werden müssen.
Der Entwicklungsstand ist dabei weniger von inneren Reifungsprozessen, als vielmehr
von der kulturellen Umwelt des Kindes (und besonders der Sprache) als Verstärker der
inneren Kräfte abhängig (vgl. Bruner 19882, S.22 und S.379).
Hier ist anzumerken, daß Montessori Wert darauf legt, daß das Kind durch den Umgang
mit dem Material zur Entwicklung nicht spezifischer Kenntnisse gelangt, die den
Strukturen von Bruner gar nicht so weit entfernt scheinen (vgl. hierzu ausführlich Mario
28
Montessori 1996, S.98ff.). Außerdem erkennen beide, daß die Entwicklung in Schüben
(Bruner) oder sensiblen Perioden (Montessori) verläuft. Durch Entwicklung gelangt das
Kind zu neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zu einer neuen Qualität führen, die als
entwickelter eingestuft wird, die aber mit dem Verlust anderer Fähigkeiten einhergeht44.
Entsteht etwas Neues, dann ist das Alte in seinen Teilen vielleicht darin aufgehoben,
aber in seiner Ganzheit ist es verloren gegangen. Dieser Aspekt wird noch systemtheo-
retisch relevant.
Die Arbeiten über die kognitive Entwicklung hat Bruner dazu geführt, in der Sprache
die Triebkraft zu sehen, durch die das Kind tatsächlich zu den grundlegenden Struktu-
ren von Lerngegenständen vordringen kann. Und diese gilt es dann zu transferieren.
Dieser Transfer muß schließlich im „Zentrum des ganzen Erziehungsprozesses“ stehen:
„das fortwährende Erweitern und Vertiefen des Wissens in Form von grundlegenden,
allgemeinen Begriffen“ (Bruner 19722, S.30). Die symbolische Vorstellung als das we-
sentliche Repräsentationssystem des Menschen wird vor allem durch den Symbolischen
Interaktionismus in den Mittelpunkt von Erziehung und Entwicklung gestellt, wie nun
gezeigt werden soll.
2.3 Erziehung zur Identität durch Entwicklung von Interakti-onsfähigkeit - Zur Bedeutung des symbolischen Interaktio-nismus
Der symbolische Interaktionismus hat sich als sozialwissenschaftliche Theorie aus der
geschichtlichen Situation in den USA (insbesondere Chicago um 1900) heraus entwi-
ckelt und ist von daher zunächst als ein auf diese Phase begrenzter Ansatz zu verstehen,
der in seinen verschiedenen Ausprägungen und unter Berücksichtigung der damaligen
politischen und sozialen Situation hier nicht entwickelt werden soll45.
Es gibt aber allgemeine Grundannahmen des symbolischen Interaktionismus, die nicht
nur im Bereich der Soziologie über den historischen Standort hinausweisen, sondern in
den pädagogischen Bereich hineingetragen wurden und, so kann gleich festgehalten
44 Vgl. z.B. Bruner 19882, S.50: „Das unanschaulich denkende Kind, auch wenn es intellektuell beweglicher ist, scheint mehr und
mehr die Fähigkeit zu verlieren, die besondere Qualität der perzeptiven Erfahrung zu bewahren“. Und Motessori in Böhm 19965,
S.49: „Es gibt Perioden, in denen die Kinder ein ‘Verhalten’ und eine Möglichkeit zu psychischer Ordnung aufweisen, die später
verschwinden“.45 Siehe Brumlik 1973.
29
werden, durch die auch systemtheoretische Erkenntnisse vorweggenommen sind. Dazu
gehört die Annahme, daß die Entstehung von Kommunikation, die Darstellung des In-
dividuums und der Gesellschaft aus interaktionistischer Sicht beschreibbar ist. Je nach
Vertreter wird der Schwerpunkt dabei entweder mehr auf die Sprache oder die Symbole
(z.B. Peirce und Strauss), den Interaktionsprozeß oder die sozialen Beziehung (z.B.
Mead) gelegt46. Auch der Situationsbegriff erhält dadurch eine besondere Bedeutung
(z.B. bei Goffman, vgl. Brumlik 1973, S.78ff.), weil Interaktionen in Situationen statt-
finden. Wir werden darauf zurückkommen, wenn es um den Situationsbegriff aus sys-
temtheoretischer Sicht geht. Es besteht jedoch über einzelne Schwerpunktsetzungen
hinweg Einigkeit darüber, daß ausschließlich durch soziale Beziehungen, durch Inter-
aktion bzw. Kommunikation Individuen ihre Identität entwickeln, weil letztlich nur auf
diese Weise (intersubjektiver) Sinn möglich wird47. Aus dieser Sicht wird schließlich
auch der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung nur beschreibbar, wenn man
die Regeln der menschlichen Interaktion kennt (vgl. Mollenhauer in Brumlik 1973,
S.8).
Am Beispiel des Ansatzes von Krappmann48 soll aus soziologischer Sicht der Zusam-
menhang von Entwicklung und Sozialisation näher beleuchtet werden, um dann auf die
Möglichkeiten und Grenzen einer soziologischen Perspektive für die pädagogische Fra-
gestellung des Zusammenhangs von Entwicklung und Erziehung einzugehen.
Entwicklung wird bei Krappmann in Hinblick auf Identität relevant, es geht bei ihm um
Identitätsentwicklung als notwendige und hinreichende Voraussetzung für die Beteili-
gung an Interaktionsprozessen in der Gesellschaft. Der Identitätsbegriff wurde von E-
rikson übernommen. Damit erhebt Krappmann in seinem Konzept den Anspruch, dieje-
nigen wissenschaftlichen Disziplinen zu verbinden, die sich bisher eher isoliert mit
menschlichem Handeln befaßt haben. Und so will er neben sozialpsychologischen, auch
psychologische und psychoanalytische Erkenntnisse in seinem soziologischen Konzept
vereinigen. Grundannahme ist, daß sich die Identität des Individuums als eine „den
Strukturen sozialer Interaktionsprozesse entsprechende Leistung“ (Krappmann 19938,
46 Einen guten Überblick über die verschiedenen Ansätze des symbolischen Interaktionismus bietet Brumlik 1973. Hier kann und
muß aus pädagogischer Sicht nicht jeder Ansatz berücksichtigt werden.47 „Im Interaktionismus konstituiert sich daher diese Gesellschaft wesentlich aus den selektiv aufgebauten Erfahrungswelten ihrer
Mitglieder“, bzw. sie geht „als ein Geflecht interagierender Individuen mit Werten und Normen dem einzelnen Individuum voraus“
(Brumlik 1973, S. 8 und S. 120).48 vgl. L. Krappmann 19938.
30
S.11) darstellt, ohne die eine Beteiligung an Interaktionsprozessen gar nicht möglich
wäre. Die vorliegenden sozialen Strukturen sind jedoch durch Inkonsistenz gekenn-
zeichnet, die sich durch verschiedene Normsysteme und „Widersprüchlichkeiten zwi-
schen den Handlungskontexten im sozialen System“ (ebd. S.10) ergeben, so daß das
Individuum die Möglichkeit zur Identitätsbildung gerade durch die an ihn herangetra-
genen diskrepanten Erwartungen erfährt und dadurch eine ‘echte Chance’ zur Individu-
alisierung erhält49. Identität wird damit als eine kreative Fähigkeit der Selbstrepräsenta-
tion verstanden, die einer Situation angemessen ist (vgl. ebd. S.19). Durch die struktu-
rellen Gegebenheiten der Situationen, in denen das Individuum Identität darstellen und
auch aufbauen kann, hat es immer eine labile Position50, die zwar gleichzeitig auf die
Flexibilität des Individuums, damit aber auf eine stets balancierende Identität51 ver-
weist, die sich, wie gesagt, durch die Nichtübereinstimmung der Erwartungen, die Dis-
krepanz der Normen und die Offenheit von Interaktionsprozessen ergibt. Das Indivi-
duum als ein spontanes und kreatives ‘Ich’ wird damit den gesellschaftlichen Verhält-
nissen nicht gegenübergestellt, sondern „in seiner Funktion als Bestandteil dieser Ver-
hältnisse beschrieben“ (ebd., S.69).
Krappmann entfernt sich, wie schon vor ihm Goffman, von der klassischen Rollentheo-
rie52 (vgl. ausführlich Krappmann 19938, S.100ff.), indem Identität zur Bedingung für
Rollenhandeln wird und die Identität das Interpretationspotential darstellt, wenn es um
die Bestimmung von Rollen geht, also die subjektive Interpretation das Rollenhandeln
49 „Völlige Übereinstimmung von Normen, Interpretationen und Bedürfnissen aller Interaktionspartner sowie eine gemeinsame
Sprache ohne Übersetzungsprobleme entzöge der Konstitution des hier vertretenen Identitätskonzepts die Grundlage. Während also
die Bemühung um Wahrung einer Identität einerseits das Individuum auf die Übernahme vorgegebener Normen, Verhaltensmuster
und Sprachen hinweist, zwingt andererseits dieselbe Aufgabe das Individuum, angesichts der konfligierenden Erwartungen den
vorgegebenen Bezugsrahmen in Frage zu stellen und in der Weise zu verändern, daß es eine dem Gesamt seiner Interaktionsbeteili-
gungen entgegenkommende Position einnehmen kann“ (Krappmann 19938, S.30).50 „In der Identität, in der es sich darstellt, muß das Individuum auf der einen Seite möglichst viel Information über seine vergange-
nen oder anderweitig eingenommenen Positionen bieten und auf der anderen Seite zugleich ausdrücken, daß all das es nicht hindern
wird, in zukünftigen Interaktionen in wiederum veränderter Weise aufzutreten. Es muß also gleichzeitig die Wichtigkeit und die
Unwichtigkeit dieser Information ausgedrückt werden (...). Es kann sich nur behaupten, wenn es gerade die labilste Position ein-
nimmt“ (Krappmann 19938, S.52).51 „Die Analyse der Identität als eine Balance, um die sich das Individuum mit Hilfe vorläufiger und daher revidierbarer Positionen
in einem gleichfalls unabgeschlossenen und nicht vollständig definierbaren Interaktionsprozeß bemüht, und der Sprache als eines
ebenfalls offenen Mediums, in dem sich Identitätsbildung vollzieht, hat dazu geführt, dem Individuum doch wieder Spontaneität und
Kreativität gegen einen - wie zunächst scheinen mochte - allein wirksamen sozialen Druck zur Konformität zuzuerkennen“ (Krapp-
mann 19938, S.68).52 Zum Rollenbegriff vgl. Brumlik 1973, S. 89ff., sowie Krappmann 19938, S,98: „Unter Rollen sind folglich sozial definierte und
institutionell abgesicherte Verhaltensweisen zu verstehen, die komplementäres Handeln von Interaktionspartnern ermöglichen“.
31
fördert und nicht hemmt53. Damit wird klar, daß ein vollständiger Konsens über Rolle
und auch Situation nicht möglich sein kann und daß institutionalisierte Normen nicht
mit den Motivationsstrukturen der Individuen übereinstimmen müssen (vgl. Krappmann
19938, S.124).
Die Entwicklung von Identität (Krappmann spricht genauer von Ich-Identität) ergibt
sich schließlich durch verschiedene Interaktionen, an denen das Individuum gleichzeitig
beteiligt ist (horizontale Ebene) und an denen es im Verlauf seines Lebens teilhat (ver-
tikale Ebene). Identität entwickelt sich somit durch den Sozialisationsprozeß (nicht
durch Erziehung!), in dem das Kind schon früh mit Erwartungsdiskrepanzen konfron-
tiert wird, die es aber nicht überfordern dürfen, sondern zu einer Auseinandersetzung
anregen sollen (vgl. Krappmann 19938, S.68). Im einzelnen geht es um die Entwicklung
von 1. Rollendistanz und somit darum, daß man sich die Möglichkeit offen hält, auch
andere Rollen einzunehmen und daß man dies in der Interaktion deutlich demonstriert54.
2. Empathie oder „role taking“55, mit dem ein kognitiver Vorgang bezeichnet wird, in
dem die Erwartungen der anderen Interaktionspartner im Verlauf des Interaktionspro-
zesses übernommen, aber auch verändert werden. Dabei weist Krappmann auf eine
notwendige „Erziehungstechnik“ hin, die auf „verbalen Hinweisen und Erläuterungen
der Eltern“ beruht, die empathiefördernd sind, allerdings auch sprachliche Differen-
ziertheit voraussetzt (s. Krappmann ebd., S.149). 3. Ambiguitätstoleranz, die besagt, daß
sich die Individuen mit Divergenzen und Inkompatibilitäten im Interaktionsprozeß ab-
finden müssen (s. Krappmann ebd., S.151)56. Die Konflikte und Ambiguitäten in der
Interaktion verweisen gerade auf die stets labile Identitätsbalance, die das Individuum
aber immer wieder anstreben muß, wenn es überhaupt interagieren will und auch seine
53 „Je mehr das Individuum von seiner Ich-Identität in seiner Rolleninterpretation sichtbar zu machen vermag, desto mehr wird eine
zutreffende Antizipation seines künftigen Verhaltens und damit der Fortgang der Interaktion erleichtert. Die subjektive Interpretati-
on der Rolle darf allerdings nicht so weit gehen, daß die Interaktionspartner sie nicht mehr mit ihren Erwartungen vereinbaren
können. Auch hier wiederholt sich das Balanceproblem“ (Krappmann 19938, S.121).54 „Wichtig ist für das Problem einer zu wahrenden Ich-Identität vor allem, daß in ihnen eine Art der Internalisierung von Normen
nachgewiesen wird, die dem Individuum die Möglichkeit läßt, Normen zu reflektieren, obwohl es sie verinnerlicht hat. Eben dies ist
die Bedingung für die Beteiligung des Individuums am Interaktionsprozeß: Es soll die Erwartungen der anderen aufnehmen und mit
ihrer Hilfe die eigenen Ansichten darstellen, indem es zeigt, in welcher Weise es diese Normen aufgrund seiner Biographie und
seiner Beteiligung an anderen Interaktionssystemen interpretiert“ (Krappmann ebd., S.142).55 „‘Role taking’ ist ein Prozeß, in dem antizipierte Erwartungen ständig getestet und aufgrund neuen Materials, das der fortschrei-
tende Prozeß liefert, immer wieder revidiert werden, bis sich die Interpretation einer bestimmten Situation und ihrer Erfordernisse
unter den beteiligten Interaktionspartnern einander angenähert haben“ (Krappmann ebd., S.145).56 „Die Ambiguitätstoleranz ist die für die Identitätsbildung mutmaßlich entscheidenste Variable, weil Identitätsbildung offenbar
immer wieder verlangt, konfligierende Identifikationen zu synthetisieren“ (Krappmann ebd., S.167).
32
eigenen Bedürfnisse (wenn auch nur teilweise) befriedigt werden sollen. Im Sozialisati-
onsprozeß muß dementsprechend ein Potential an Ambiguitätstoleranz aufgebaut wer-
den. „Die Entstehung dieses Potentials kann als Verinnerlichung der Interaktionsstrate-
gien begriffen werden, die das Kind als Partner im Rollengeflecht der Familie anwen-
den muß“ (Krappmann ebd., S.162). Schließlich gehört zur Identitätsentwicklung 4. die
Identitätsdarstellung, also die Fähigkeit, die eigene Identität zu präsentieren. Im Sozia-
lisationsprozeß sollten danach Möglichkeiten zur Entfaltung von Identität geboten wer-
den57. So erreicht dann das Individuum seine Ich-Identität „in dem Ausmaß, als es die
Erwartungen der anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoßend, seine
besondere Individualität festhalten und im Medium gemeinsamer Sprache darstellen
kann. Diese Ich-Identität ist kein fester Besitz des Individuums“ (Krappmann ebd.,
S.208).
Damit die eben genannten identitätsfördernden Fähigkeiten auch tatsächlich erreicht
werden, sind von der gesellschaftlichen Seite flexible Normsysteme, Raum zu subjekti-
ver Interpretation, Möglichkeit zur individuellen Ausgestaltung des Verhaltens und der
Abbau gesellschaftlicher Repression zu fordern.
Der symbolische Interaktionismus zeigt, wie sich Individuen in der Gesellschaft entwi-
ckeln, und er beschreibt den Entwicklungsprozeß als Sozialisationsprozeß. Die Pädago-
gik gerät dabei ausschließlich in den Dienst der Soziologie58, da Erziehung im Grunde
durch Sozialisation ersetzt wird. Das ergibt sich durch die soziologische Sichtweise,
nach der sich alles Verhalten und jede Verhaltensänderung auf dem gesellschaftlichen
Hintergrund abspielt. Diese Sichtweise ist durchaus legitim, aber sie berücksichtigt nur
einen Teil eines viel umfassenderen Verständnisses von Erziehung, wie es die Pädago-
gik fordern muß und wie es im weiteren Verlauf dieser Arbeit entwickelt werden soll.
Durch den Ansatz von Krappmann wird deutlich, mit welchen Eigenschaften Individuen
ausgestattet sein sollten, wenn sie in der Gesellschaft sinnvoll interagieren wollen. Das
dafür grundlegende Prinzip, nach dem dann erzogen werden sollte, faßt Apel (in Brum-
lik 1973, S.131) prägnant durch die „unumschränkte Verständigungsgemeinschaft“ zu-
57 „Aber tatsächlich entfalten kann sich das Individuum, wo die Situationen und ihre Implikationen überschaubar sind, wo Erwar-
tungen modifiziert werden können und Partner vorhanden sind, denen die vorgetragenen Interpretationen wiederum Möglichkeiten
bieten, nun ihrerseits auch ihre Identität zu präsentieren“ (Krappmann ebd., S.169).58 „Sie, die Pädagogik, hat als Hilfswissenschaft, Methode, Technologie oder Kasuistik nur das herzustellen, was andere Theorien,
Praxen oder Lehren ihr vorschreiben, als postuliert setzen. Sie muß sich als dienstbare, dienstleistende Handlungslehre beschreiben,
muß somit auf einen eigenen Begründungsanspruch verzichten“ (Brumlick 1973, S.136).
33
sammen. Das heißt, immer wenn erzogen oder sozialisiert wird, muß dieses Verständi-
gungsprinzip vorliegen. Es gibt keine spezifische Differenz mehr zwischen Erziehung
und Sozialisation, es geht nur um Interaktion.
Der symbolische Interaktionismus gibt auch Hinweise über den Sozialisationsvorgang,
der durch institutionalisierte Vorkehrungen wie Schule oder Probezeiten unterstützt
wird (vgl. Krappmann 19938, S.44). So können die Erkenntnisse über ein zu sozialisie-
rendes Kind zum Beispiel durch Introspektion, Empathie bzw. Selbstreflexion gewon-
nen werden und der Erzieher muß seine eigenen Erfahrungen im Erziehungsprozeß re-
flektieren, wenn er tatsächlich auf die Entwicklung von Identität Einfluß nehmen will
(vgl. hierzu Brumlik 1973, S.137). Das Kind muß außerdem stets als gleichwertiger
Partner im Interaktionsprozeß betrachtet werden und der Erzieher braucht sich auch in
keiner Weise zurückzunehmen, da dies eher zur Hemmung beim Aufbau von Identität
führt (vgl. hierzu die ganz andere Auffassung von Montessori in Abschnitt 2.1). Um
tatsächlich genaue Kenntnis über die Identitätsentwicklung des Kindes zu bekommen,
wird durch den symbolischen Interaktionismus ein biographisches Interesse gefordert.
Dabei geht es aber im Grunde nur darum, welche Regeln der Kommunikation das Kind
bisher internalisiert hat, damit man feststellen kann, welche noch gelernt werden müs-
sen (vgl. Krappmann ebd., S.45). Das Ziel von Sozialisation und damit dann auch von
Erziehung ist Kommunikationsfähigkeit ohne Verlust von Identität in Interaktionspro-
zessen.
Das wesentliche Medium, in dem Sozialisation stattfindet ist die Sprache, als verbales
Symbolsystem verstanden. Nur durch Kommunikation zwischen Interaktionspartnern,
durch die sprachliche Selbstrepräsentation und die Aufnahme der sprachlichen Präsen-
tation des anderen kann Identitätsentwicklung in Gang kommen oder fortschreiten. Auf
die vielfältigen nicht-gesprochenen Interaktionsmöglichkeiten wird kein Bezug ge-
nommen. Es wird nur auf zwischenmenschliche Beziehungen hingewiesen, das Lesen
oder die Arbeit mit Medien wie dem Computer o.ä. wird als Förderung der Identitäts-
bildung bzw. Kommunikationsfähigkeit nicht thematisiert.
Der Familie kommt, durch den historischen Hintergrund des symbolischen Interaktio-
nismus bedingt, eine besondere Bedeutung zu, da natürlich in ihr Sozialisation seinen
Ausgangspunkt hat. Von ihr wird in bezug auf die Entwicklung der Identität nichts an-
deres gefordert, als auch von der Gesellschaft im Ganzen, nämlich zur Kommunikati-
onsfähigkeit beizutragen. Dies ist im Sinne des Interaktionismus am ehesten gewähr-
34
leistet, wenn die Eltern genügend Erläuterungen, sprachliche Hinweise oder Erklärun-
gen geben und vor allem zur sprachlichen Differenziertheit fähig sind. Ist dies nicht der
Fall, muß die Schule dafür Sorgen, daß sprachliche Mängel ausgeglichen werden.
Werden die Grundannahmen des symbolischen Interaktionismus in Hinblick auf Ent-
wicklung und Erziehung zusammengefaßt, so zeigt sich, daß sich der Zusammenhang
eben durch Sozialisation, durch Interaktion bzw. Kommunikation in situativen Interak-
tionen herstellt. Der Erziehungs- und der Entwicklungsprozeß laufen damit gleichzeitig,
parallel auf der gleichen interaktionistischen Ebene ab. Die Entwicklung der Person
erfolgt durch Interaktion, die Erziehung muß zur Interaktion, bei gleichzeitig ablaufen-
der Interaktion, befähigen, damit Entwicklung möglich ist. Als Erziehungsziel kann Ich-
Identität genannt werden, mit dem ein Verhalten im Interaktionsprozeß gemeint ist, das
sowohl dem Individuum als auch der Fortentwicklung der Gesellschaft dient. Grundlage
ist hierfür eine Anpassung, die der Äquilibration (nach Piaget) ähnlich ist, eine Anpas-
sung nicht nur an die jeweilige Situation, sondern auch an die in ihr ablaufende je ver-
schiedene Interaktion, an die Interaktionspartner und an die eigene Identität. Die sich
verändernden Situationen erfordern immer wieder eine neue Anpassung und verlangen,
gerade durch ihre Inkonsistenz bedingt, flexibles, kreatives Verhalten, das der Offenheit
von Interaktionsprozessen gerecht wird bei gleichzeitig identischem Verhalten, das des-
halb als Balance beschrieben wird.
Wesentlich erscheint, daß dem Individuum aufgrund seiner Entwicklung durch Soziali-
sation nach der Theorie des symbolischen Interaktionismus schließlich zuerkannt wird,
daß es aktiver Teil der Gesellschaft ist, nicht Objekt, sondern Subjekt. Wie in vielen
soziologischen Ansätzen geht es nämlich auch hier darum, daß die Gesellschaft durch
Aktivität verbunden mit Kreativität verändert wird. So steht im Zentrum der Theorie
Gesellschaftsveränderung59.
Die Entwicklung zur Identität ist nach Meinung des Interaktionismus von außen steuer-
bar, durch Sozialisation, durch Kommunikation, durch Diskrepanzen, mit denen das
Kind konfrontiert wird, schließlich durch die Anforderungen der Gesellschaft. Ent-
wicklung erfolgt somit gemäß den Forderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse
nicht gemäß den Fähigkeiten oder Möglichkeiten des Kindes.
59 „Der hier entwickelte Identitätsbegriff versucht vielmehr dem Erfordernis Raum zu geben, kreativ die Normen, unter denen Inter-
aktionen stattfinden, zu verändern“ (Krappmann ebd., S.209). Vgl. hierzu die Auffassung von Luhmann, dem es um die Beschrei-
bung und nicht um eine Kritik der Gesellschaft geht (siehe Luhmann 1997, S.15).
35
Wenn Entwicklung aber durch Sozialisation erfolgt, dann geschieht dies gerade ohne
Rücksicht auf die Entwicklung. Sozialisation verlangt im Grunde einseitige Anpassung
des Individuums an gesellschaftliche Verhältnisse, an bestehende oder auch an wün-
schenswerte. Das hat mit Erziehung in der Tat nicht viel zu tun, denn ihr geht es gerade
um die Entwicklung des Kindes, sie soll auf die Entwicklung des Kindes Rücksicht
nehmen, sie wird gerade unter Berücksichtigung des Entwicklungstandes des Kindes in
Gang gesetzt. Die sich daraus ergebenden Erziehungssituationen erfolgen in pädagogi-
scher Absicht. Daß Sozialisationsprozesse immer nebenher ablaufen bleibt selbstver-
ständlich, aber dabei geht es nicht bewußt um die Entwicklung des Kindes. So gelangt
Krappmann auch nicht zu Entwicklungsstufen, nach denen sich der Sozialisationspro-
zeß zu richten habe. Diese können gar nicht thematisiert werden, da eine soziologische
und nicht eine entwicklungspsychologische Perspektive im Vordergrund steht. Und so
wird auch die frühkindliche Entwicklung vernachlässigt, da hier der Interaktionismus,
der zu sehr an das gesprochene Wort im Interaktionsprozeß gebunden ist, nicht viel aus-
zurichten vermag.
Aus pädagogischer Sicht bleibt der symbolische Interaktionismus eine soziologische
Perspektive von Erziehung, so wie es sich bei Bruner um eine psychologische handelt.
Der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung kann durch diese Ansätze nicht
vollständig erfaßt werden. So wie beim Interaktionismus beispielsweise durch eine Ü-
berbetonung der sprachlichen Interaktion, die kognitiven Prozesse, die gleichzeitig ab-
laufen, nicht behandelt werden, so geht es Bruner um das Lernen allgemeiner Struktu-
ren, gerade um die Kognitionsentwicklung unter Vernachlässigung von (sozialen) Be-
ziehungen und Situationen, in denen Erziehung stattfindet.
Aber die als einseitig zu bezeichnende Sichtweise der Theorie des Interaktionismus
bietet deshalb gerade aus ihrer Perspektive auch wertvolle Hinweise für die systemtheo-
retische Betrachtung des Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung. Konsequen-
zen ergeben sich durch den Verweis, daß Erziehung in Interaktionsprozessen abläuft,
Entwicklung eventuell durch Diskrepanzen im Interaktionsprozeß in Gang gesetzt wer-
den kann, Erziehung an Situationen gebunden ist, durch Sprache erzogen wird, Erzie-
hung im gesellschaftlichen Kontext stattfindet, das zu erziehende Kind stets als gleich-
wertiger Partner dem Erzieher gegenübersteht (und umgekehrt), der Familie zumindest
ein ebenso großer Stellenwert zukommt wie der Schule. Zudem bietet die Theorie das
Erziehungsziel der Identität an.
36
Der systemtheoretische Ansatz kann diese Ergebnisse aufnehmen, prüfen und weiter-
entwickeln, mit dem Anspruch, dem umfassenden Wirklichkeitsbereich von Erziehung
und Entwicklung tatsächlich näher zu kommen. Dabei muß es aufgrund der soziologi-
schen, interaktionistischen Erkenntnisse innerhalb der Systemtheorie gerade darum ge-
hen, sozusagen den Schnittpunkt festzumachen, an dem Erziehungsprozesse mit Ent-
wicklungsprozessen in Beziehung treten können und sich dadurch von Sozialisation
eindeutig unterscheiden.
2.4 Entwicklung und Erziehung aus Sicht einer anthropologi-schen Pädagogik
Die pädagogische Anthropologie verweist nicht auf einen einheitlichen Gegenstand und
es ist hier nicht möglich, auf die „verschiedenen Vorgehensweisen anthropologischen
Fragens“ genau einzugehen (vgl. z.B. die Zusammenfassung in Lenzen 19964, S.78ff.).
Wesentlich für die vorliegende Untersuchung ist zum einen der als integrativ bezeich-
nete Ansatz von Roth (1971), dem es mit Hilfe der Zusammenführung von Ergebnissen
aus den Nachbardisziplinen der Pädagogik (Psychologie, Biologie und Soziologie) um
die Frage nach der Bildsamkeit und Bestimmung des Menschen geht, wobei dann auch
der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung bedeutsam wird. Zum anderen
wird durch den Ansatz von Dienelt (1970) unter Berücksichtigung von Resultaten aus
den Disziplinen Philosophie und Psychotherapie das Menschenbild „noch umfassender“
dargestellt60 und Entwicklung und Erziehung aus philosophisch-anthropologischer Per-
spektive beleuchtet.
Allerdings läßt sich die Kritik Dienelts am Ansatz von Roth auch auf seine eigene Ar-
beit beziehen. Während er bei Roth bemängelt, daß sich dieser mit empirischer For-
schung aus den Erfahrungswissenschaften unter pädagogischer Fragestellung auseinan-
dersetzt, geschieht dies bei Dienelt mit der neuzeitlichen Philosophie und Psychothera-
pie. Es scheint, daß eine kritische Auseinandersetzung mit beiden Ansätzen vielleicht
einem umfassenden Menschenbild näher kommt, was hier jedoch nicht Thema ist. Je-
denfalls ist der Vorwurf von W. Loch in Bezug auf Roths Arbeiten nicht ganz unge-
rechtfertigt, wenn hier von einem „Sammelbecken für eine mehr oder weniger geord-
60 „Worauf es ankommt, ist die rege Achtsamkeit gegenüber all den Mißdeutungen und Verabsolutierungen der Erfahrungstatsachen
und gegenüber den darauf beruhenden Verkürzungen des Menschenbildes, wie sie uns in den nicht immer durchschauten, noch viel
weniger zugegebenen Formen von Biologismus, Psychologismus und Soziologismus entgegentreten“ (Dienelt 1970, S.37).
37
nete Anhäufung von ‘erziehungswissenschaftlich bedeutsamen’ Forschungsbefunden
anderer Wissenschaften“ (Loch in Dienelt 1970, S.6) gesprochen wird. Diese Aussage
würde dann aber nicht nur ebenso für Dienelts Ansatz gelten, dessen Arbeit sich teil-
weise als eine Aneinanderreihung von Zitaten darstellt, sondern der Vorwurf müßte
auch in Hinblick auf die Integration systemtheoretischer Forschungsergebnisse in die
Erziehungswissenschaft noch überprüft werden. Dies wird später auch geschehen. Hier
geht es zunächst um die Darstellung, wie es gelingt, mit Hilfe von Resultaten aus ver-
schiedenen Wissenschaftsbereichen, die aus anthropologischer Sicht zusammengefaßt
und interpretiert werden, den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung zu erfas-
sen, um von dort aus zu einer „realistischen Pädagogik“ zu gelangen, wie Roth und
Dienelt es für ihre Arbeiten fordern.
Roth macht hierzu ganz klare Aussagen: Die Entwicklung des Kindes ist ein Gesamtge-
schehen, die sich in Phasen und Stufen darstellt. Sie ist zwar abhängig von Wachstums-
und Reifeprozessen, in zunehmenden Maße übernimmt die Erziehung jedoch die Füh-
rung. Entwicklung wird als „Funktionsreifung“ (Roth 1971, S.275) gesehen, die nach
Betätigung verlangt und durch Erziehung in Lernprozesse übergeht. Erziehung wird,
wie bei Montessori, auch als Entwicklungshilfe verstanden, aber hier nun als aktive
Einflußnahme, die sich notwendig aus der grundsätzlichen Erziehungsbedürftigkeit des
Menschen ergibt. Diese Einflußnahme und damit der Entwicklungsfortschritt ergibt sich
durch Lehr- und Lernprozesse (vgl. Roth 1971, S.34). Mit Hilfe anderer Wissenschafts-
ergebnisse soll nun die Entwicklungsforschung die Bedingungen herausfinden, durch
die Erziehungsprozesse steuerbar sind (vgl. Roth ebd., S.19)61. Es geht Roth schwer-
punktmäßig darum, den „Anteil von Erziehung im Entwicklungsprozeß“ zu bestimmen
(Roth ebd., S.64), weshalb es so wichtig ist, genau auf die Entwicklung einzugehen.
Diese Abhängigkeit von Entwicklung und Erziehung wird bei ihm zum Gegenstand der
Pädagogik (nicht der Entwicklungspsychologie). Da Entwicklung nicht ohne Erziehung
möglich ist, ist auch eine „Entwicklungstheorie nicht mehr ohne Erziehungstheorie
denkbar, weil Entwicklung nicht mehr als unabhängige Variable verstanden werden
darf“ (Roth ebd., S.172). Diese Auffassung ergibt sich durch Forschungsergebnisse aus
den Bereichen der Humangenetik bis zur vergleichenden Kulturanthropologie, die besa-
61 Vgl. auch Roth 1971, S.91: „Danach hat es die pädagogische Entwicklungsforschung bevorzugt zu tun mit 1. dem lenkbar Verän-
derlichen, 2. der Erziehung in Richtung auf Gütemaßstäbe, 3. Konflikten zwischen Individuum und Gesellschaft und deren Über-
windung“.
38
gen, daß der Mensch als kulturelles Wesen „mehr von den vorgegebenen Rahmenbe-
dingungen seiner Gesellschaft und Kultur (...) bestimmt ist als von biologischen Deter-
minanten“ (Roth ebd., S.32). Und er ist „in weit größerem Ausmaße veränderbar, als
wir bisher zu wissen glaubten“ (Roth ebd., S.31)62. Bei Roth kommt dem kulturellen
oder gesellschaftlichen Rahmen, in dem das Kind erzogen wird, ein sehr hoher Stellen-
wert zu, weil durch ihn Einflußnahme geschieht, Erziehung erfolgt und Entwicklung
möglich wird63. Die Voraussetzung für eine pädagogische Anthropologie ist deshalb
„das Wissen um die Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit des Menschen“ (Roth in
Dienelt 1970, S.111).
So werden dann auch von einer Außenperspektive, aus der Sicht von Erwachsenen, die
bedeutsamen Persönlichkeitsmerkmale inhaltlich gleich festgelegt (wie Reife, Mündig-
keit oder Kritikfähigkeit), auf die hin erzogen werden soll und die als Erziehungsziele
markiert werden (vgl. Roth ebd., S.179ff). Die genannten Persönlichkeitsmerkmale
können dann zu Lernbereichen werden, woran sich entsprechende Lehr- und Erzie-
hungsprozesse anschließen. Erziehung umfaßt ein Lernen in allen Persönlichkeitsberei-
chen64. Mit der Forderung nach Operationalisierung der Lernbereiche befindet sich
Roths Ansatz somit auf einer ähnlichen Ebene wie J. Bruners, dessen Ergebnisse er als
entwicklungspsychologische und lerntheoretische einbezieht, wenn auch Roths Ansatz
einen umfassenderen Anspruch erheben kann, da seine Auffassung vom Lernen über
das Lernen von Strukturen hinausführt. Doch auch hier kann das gewünschte „Endver-
halten“ nur eintreten, wenn Lehr- und Erziehungsprozesse „bewußt geplant und durch-
dacht“ sind (vgl. Roth ebd., S.179).
62 Dabei rekurriert Roth auf ein Menschenbild, das er von Piaget übernommen hat (vgl. Roth 1971, S.190ff), nach dem sich die
Entwicklung als ein Wechselspiel zwischen Organismus und Umwelt darstellt. Allerdings hat Roth Piaget nicht immer richtig
verstanden. So wird bei ihm die Anpassung zur Akkomodation (siehe Roth ebd., S.198), während bei Piaget Anpassung als Adapta-
tion nicht nur Akkomodation, sondern gleichzeitig immer auch Assimilation einschließt. Auf die Differenzen soll hier nicht genauer
eingegangen werden. Aber es wird dabei eine Verschiebung zugunsten einer stärkeren Einflußnahme auf die Entwicklung des
Kindes von außen deutlich, was so nicht von Piaget beabsichtigt war, nach dem die Akkomodation „nur“ den Assimilationszyklus
verändert (vgl. z.B. Piaget 19848, S.10ff. oder auch Piaget 1983, S.174ff.).63 „...so meinen wir, einer pädagogischen Entwicklungs- und Erziehungslehre vorschlagen zu müssen-, das Produktiv-Dynamische in
einer Kultur, nämlich das, was sie geschaffen hat und lebendig hält, auf das nicht weniger Plastische und Produktive im Kind zu
beziehen“ (Roth 1971, S.41).64 „Nur indem wir alle Persönlichkeitsbereiche, die wir unterschieden haben, als Lernbereiche verstehen, ohne deren Entwicklung
und Zusammenwirken menschliche Handlungen nicht das Prädikat ‘reif’ und ‘mündig’ verdienen, begreifen wir die Gesamtaufgabe
der Erziehung voll“ (Roth 1971, S.174).
39
Entwicklung und Erziehung werden bei Roth in einem ganz engen Zusammenhang,
nämlich als ein sich gegenseitig bedingender Prozeß gesehen. Es geht hier weniger dar-
um, wie sich Entwicklung an sich darstellt, sondern von vornherein steht die Veränder-
barkeit, die Einflußnahme im Mittelpunkt, und die Richtung von Veränderungen wird
durch den Hinweis auf das Leben des Menschen in seinem zukünftigen kulturellen
Rahmen inhaltlich benannt, z.B. durch Mündigkeit.
Die Auffassung vom Menschen als ein erziehungsbedürftiges Wesen und die damit ver-
bundene Auffassung von Erziehung als vorwiegend durch Lernprozesse steuerbar, be-
arbeitet nach Dienelt nicht weit oder tief genug die anthropologische Fragestellung.
Wenn man der Wesensbestimmung tatsächlich näher kommen will, so muß man die
Grundelemente der Anlage des Menschen herausarbeiten, wie Dienelt dies mit Hilfe der
Existenzanalyse Frankls versucht65, um von dort zu den gleichnamigen Grundelementen
der pädagogischen Anlage des Menschen zu gelangen, die er im Gewissen, der Verant-
wortlichkeit und der Wertstrebigkeit sieht.
Nachdem Dienelt festgestellt hat, daß es unzureichend ist, den Menschen mit Freud als
Triebwesen zu bezeichnen66, genügt es auch nicht, von dem Menschen als Mängelwe-
sen zu sprechen, der durch seine instinktarme Natur der grenzenlosen „Weltoffenheit“
gegenübersteht (vgl. Dienelt 1970, S.57ff.). Ebenso begrenzt ist die anthropologisch-
kybernetische Auffassung, nach der der Mensch auf die Herstellung eines Gleichge-
wichtszustandes bedacht ist. So ergibt sich schließlich für Dienelt, daß der Mensch,
wenn er auch durch den Leib (Physis) und die Triebe (Psyche) gekennzeichnet ist,
grundsätzlich Geistwesen ist, für den geistige Ziele zur Notwendigkeit werden für die
„Gesundheit der Seele“ (Dienelt 1970, S.91). Und diese Auffassung zeigt sich insbe-
sondere in der Existenzanalyse Frankls, die sich für Dienelt als „die Anthropologie“
erweist (Dienelt ebd., S.92) und der er in sehr weiten Teilen folgt. Damit begibt sich
Dienelt allerdings auf psychotherapeutischen Boden und weicht von seinem grundsätz-
lichen Vorhaben ab, das Wesen des Menschen philosophisch zu begründen.
65 Nach der psychoanalytischen Sicht Frankls wird menschliches Verhalten grundlegend beeinflußt von dem Willen zur Lust (in
Anlehnung an Freud), vom Willen zur Macht (in Anlehnung an Adler) und nach Frankl auch durch den Willen zum Sinn, zur Sinn-
findung, die bei Nichtbefriedigung zu Neurosen führt, die der Psychoanalytiker zu behandeln hat, indem er bei der Sinnfindung
Hilfestellung gibt. Die damit verbundene Methode ist die Logotherapie.66 Wobei hier schon gesehen wird, daß nach Freud auch die „sogenannten höchsten Güter der Menschheit, Forschung, Kunst, Liebe,
sittliches und soziales Empfinden (...) von elementaren animalischen Triebregungen“ (Freud in Dienelt 1970, S.27) herrühren, sich
also auch höhere Güter von Freuds Menschenbild ableiten lassen.
40
Jedoch zeigt Frankl in seiner Dimensionsontologie auch bestechend deutlich, daß das
Geistige eine umfassende Dimension ist, „die den Raum des Menschlichen überhaupt
erst konstituiert“ (Dienelt ebd., S.105). Wenn man somit um die „Strukturmomente
menschlicher Existenzweise“ weiß (ebd., S.113), dann gelten diese auch für das zu er-
ziehende Kind und von daher läßt sich direkt zu den Erziehungszielen hinüberleiten, die
den menschlichen Wesensmerkmalen entsprechen und, wie schon gesagt, mit Verant-
wortlichkeit, Gewissen67 und Wertstrebigkeit zu bezeichnen sind. Dabei handelt es sich
sozusagen um nicht weiter ableitbare Urphänomene68, die der Mensch von Natur aus
mitbringt, bzw. die „an der Wurzel menschlicher Seinsentfaltung“ liegen (Dienelt ebd.,
S.142). Diese Phänomene, wobei das Gewissen die hervorragende Rolle spielt, können
nicht erst im Verlauf von Erziehung gebildet werden, sie sind von vornherein gegeben
und die Aufgabe der Erziehung besteht nun darin, deren Entwicklung voranzubringen.
Oder anders formuliert: In der Erziehung geht es um die Erfüllung von Entwicklungs-
aufgaben (vgl. Dienelt ebd., S.129).
So versucht der Mensch immer, den Sinn jeder Situation aufzuspüren, was sich in sei-
nem Gewissen ausdrückt oder in der grundsätzlichen Sinnorientiertheit des Menschen
liegt. Soll bei der Sinnfindung oder der Bildung des Gewissens als Entwicklungsaufga-
be aus pädagogischer Sicht geholfen werden, geschieht dies nicht, indem man an den
Sinn appelliert, sondern „das Kind in positive Situationen hineinstellt, in eine Situation
der sinnvollen ‘Belastung’ und der Aufforderung von einer Aufgabe her“ (vgl. Dienelt
ebd., S.279). So kann dann auch dem „Sinnlosigkeitsgefühl“ (Frankl in Dienelt ebd.,
S.340) von Jugendlichen durch Sinnhilfen entgegengewirkt werden, durch „geeignete
Betätigungsobjekte“, in denen Verantwortung gelebt, eine Entscheidung getroffen und
der Sinn der jeweiligen Situationen herausgearbeitet werden kann (vgl. Dienelt ebd.,
S.343). Das Gewissen bekommt so die Möglichkeit zur Fortentwicklung. Auch die Ver-
antwortlichkeit, die sich aus dem Gewissen ergibt, nimmt dann allmählich zu. Dies ist
umso notwendiger, als die Welt des Erwachsenen „auf Verantwortlichkeit angelegt ist“
67 In der hier gebotenen Kürze kann nicht ausführlich auf den Gewissensbegriff eingegangen werden. Es sei angemerkt, daß Dienelt
ihn von Derbolav übernimmt, nach dem das Gewissen das Bezugssystem für Bildung ist (vgl. Dienelt 1970, S.225). Wenn auch
nicht ausdrücklich thematisiert, so scheint Frankls Begriff der ‘Sinnorientierung’ sehr ähnlich zu sein. Dienelt trennt beide Begriffe
nicht scharf voneinander.68 „Das Gewissen ist, wie schon gesagt, ein ‘Urphänomen’ (Frankl), das mit der Geistigkeit des Menschen gegeben ist. Es verträgt
vor allem keine Ableitung von dem ausschließlich auf dem Wege des Triebverzichts als Anpassungsprodukt entstehenden Über-Ich,
wie immer man dessen ‘Umwandlung’ zum persönlichen Gewissen erklären mag“ (Dienelt 1970, S.147).
41
(Dienelt ebd., S.121)69. Schließlich wird durch das Treffen von Entscheidungen auch
die Wertstrebigkeit weiter entwickelt, die in Form von normierenden Elementen immer
im Leben existent ist, sie findet sich bereits vor jeder Reflexion (vgl. Dienelt ebd.,
S.159).
Dabei zeigt sich nun für die praktische Seite der Pädagogik, daß die Erziehung zum
Gewissen, zur Verantwortlichkeit und Wertstrebigkeit am ehesten durch das Lernen in
Situationen erfolgt, denn durch die Vermittlung von Wissen allein lassen sich diese
Entwicklungsaufgaben, denen der Erzieher gegenübersteht, nicht lösen. Als Methode
für die existentiellen Grunderfahrungen liegt für Dienelt das exemplarische Lernen70
nahe. Außerdem dürfen sich Eltern und Erzieher nicht ihrer Verantwortung entziehen.
Vielmehr hat der Erzieher Vorbildfunktion (siehe Dienelt ebd., S.238), weil er durch
seine persönliche Sinnorientierung oder Sinnfindung dem zu Erziehenden Verantwor-
tung und Wertstrebigkeit vorlebt und nur durch den Bezug zum ‘Anderen’ kann das
Kind seine Entwicklungsaufgaben lösen. Der Bezug zum Kind ist als ein pädagogischer
rational, existentiell und personal (ebd., S.244), er umfaßt mehr als nur eine Begegnung
und er läßt sich auch nicht als partnerschaftlich bezeichnen. Der Lehrer/Erzieher ist
stets ein „auslösender und weithin bestimmender Faktor“ (Dienelt ebd., S.243). Denn
wenn erkannt ist, welches die grundlegenden Wesensmerkmale des Menschen sind,
dann muß man helfend, eingreifend wirken, damit die Entwicklungsaufgaben nicht
verfehlt werden.
Die genannten Grundelemente vereinigen sich schließlich zu der „Ganzheit, als die uns
der Mensch auch in der Erziehung entgegentritt, als verantwortliches, entscheidendes,
letztlich um den konkreten Sinn seines Daseins geistig ringendes Wesen“ (Dienelt ebd.,
S.174). Das heißt aber nicht, daß das ‘Ich’ des Menschen schon von vornherein gegeben
ist, sondern vielmehr, daß es ihm „aufgegeben“ ist (ebd., S.259). Gerade in der pädago-
gischen Anthropologie muß es um die Ganzheit des Menschen gehen, weniger um die
Analyse, die von anderen Wissenschaftsbereichen herrühren kann (vgl. Dienelt ebd.,
S.200).
69 „Der Determinismus entschuldigt nicht, und der Indeterminismus macht nicht verantwortlich ... Wir sollten also nicht mehr lehren,
daß der Mensch frei ist, sondern daß er verantwortlich ist“ (V.von Weizsäcker in Dienelt 1970, S.122).70 „...mit dem gemeint ist ‘ein lebensnahes, anschauliches, interessengebundenes, sich auf das Wesentliche beschränkendes, selbst-
tätiges und mündiges Lernen’“ (Derbolav in Dienelt 1970, S.361).
42
Zusammenfassend zeigt sich aus den hier skizzierten anthropologischen Sichtweisen,
daß Entwicklung ein von der Erziehung abhängiger Prozeß ist und daß Erziehung als
Einflußnahme von außen diesen Prozeß so zu steuern vermag, daß die aus der mensch-
lichen Natur ableitbaren Ziele auch tatsächlich erreicht werden können, das Kind durch
Erziehung zu einem mündigen und kritikfähigen, aber auch verantwortlichen, wertstre-
benden Menschen wird. Da der Mensch wesentlich durch seinen Geist gekennzeichnet
ist, wird er auch durch kognitive Lernprozesse die wünschenswerten Eigenschaften er-
werben. Und insbesondere bei Dienelt wird deutlich, daß man von dem zu Erziehenden
nichts anderes erwartet, als das, was ihn sowieso schon kennzeichnet, was in seinem
Inneren schon vorgegeben ist und durch Erziehung nun sich voll entwickeln kann. Die
pädagogische Anthropologie kann somit immer auch auf die Selbstbildungskräfte des
Menschen rekurrieren (ähnlich wie bei Montessori), die durch Erziehung gezielt weiter-
entwickelt werden können, denn auf die „Steigerungsmöglichkeit des gesamten Intelli-
genzniveaus eines Volkes kommt es der Pädagogik an“ (Roth 1971, S.25).
In Anlehnung an entwicklungspsychologische Erkenntnisse stellt sich hier die Ent-
wicklung als durch Stufen und Phasen gekennzeichnet da, die sich bildlich wie eine
Spirale entfalten (vgl. Roth ebd., S.199). Da die Entwicklung durch Lernen voran-
schreitet, sind die Entwicklungsstufen als „Lernstufen“ zu sehen (vgl. Roth ebd.,
S.187). Diese gilt es in jedem Persönlichkeitsbereich herauszuarbeiten, wenn gezielt
erzogen werden soll. Zu den Persönlichkeitsbereichen zählen das Orientierungs- und
Handlungssystem, das Antriebs- und Motivationssystem, der emotionale Bereich, das
Lernsystem und das Steuerungssystem (vgl. ausführlich Roth 1971, S.222ff.). In jedem
Bereich lassen sich „Fortschrittsstufen“ im Sinne von Entwicklungsstufen oder Phasen
erkennen, die sich aus dem Vergleich mit dem gewünschten Erziehungsziel ergeben,
nämlich der mündigen Person. Roth gibt zwar Beispiele für Entwicklungsstufen (so
wird als Kennzeichnung einzelner Entwicklungssequenzen Piagets Stufenmodell ange-
führt, vgl. Roth 1971, S.262ff.), er verzichtet jedoch, wie auch Dienelt, auf eine überge-
ordnete klare Stufeneinteilung, zum einen, weil es ihm um die Kennzeichnung der
„großen Linie“ (Roth 1971, S.61) geht, die zum mündigen Verhalten führt. Zum ande-
ren soll seine Darlegung stets offen bleiben für neue Forschungsergebnisse aus den
Nachbardisziplinen. Jegliche Veränderungen, Stufeneinteilungen oder Einsichten über
Erziehung können nur durch das Erziehungsziel gewonnen werden. Entwicklung und
43
Erziehung aus anthropologischer Sicht ergibt sich somit rückwirkend oder rückwärts
blickend von der erwachsenen, mündigen Person aus.
Der pädagogischen Anthropologie geht es um das Ideal von Erziehung und Entwick-
lung, um die mündige Person als Erziehungsziel. Der Zusammenhang von Entwicklung
und Erziehung wird explizit, indem hier Entwicklung letztlich durch Erziehung fort-
schreitet und Erziehung durch Lernen in Situationen gekennzeichnet ist. Dadurch er-
folgt eine direkte Einflußnahme auf die Entwicklung, und diese verläuft dann in eine
bestimmte Richtung, die durch das Erziehungsziel vorgegeben ist. Durch neuere natur-
wissenschaftliche, biologische und auch neurophysiologische Erkenntnisse kann diese
Auffassung weiter differenziert, aber auch präzisiert werden, was Roth und Dienelt
nicht leisten konnten, aber durch die Offenheit ihrer Theorie generell möglich sein
sollte. So wird aus systemtheoretischer Sicht zu zeigen sein, daß das Verhältnis zwi-
schen Entwicklung und Erziehung ein gleichwertiges ist und Entwicklung der Erzie-
hung nicht ‘untergeordnet’ ist. Neue Erkenntnisse über Entwicklung werden zudem den
Bereich der Einflußnahme genau beschreiben können, aber auch Auskünfte über Erzie-
hungsziele erlauben, die nicht aus der Sicht des Erwachsenen und aus der Kultur abge-
leitet werden oder sich aus ‘Urphänomenen’ ergeben, sondern gerade durch das Zu-
sammenspiel von Entwicklung und Erziehung.
Dienelt hat gezeigt, daß Erziehung situationspezifisch ist. Diese Auffassung kann sys-
temtheoretisch nur bestätigt werden. Allerdings läßt sich aus dieser Sicht nun auch die
Organisation und die Struktur von Situationen beschreiben und damit der „Ort“ kenn-
zeichnen, an dem der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung vorliegt. Gerade
der anthropologische Ansatz ist damit ein gutes Beispiel dafür, daß pädagogische For-
schungsergebnisse innerhalb einer systemtheoretischen Erklärung aufgehoben sind,
aber, wie gesagt, differenziert werden. Von einer pädagogischen Sicht der Systemtheo-
rie wird zudem erwartet, daß auch Auskünfte über nicht-gelingende Erziehung möglich
werden. Damit haben sich weder Roth noch Dienelt intensiv beschäftigt. Ihr Ansatz
bleibt schließlich an Idealen gebunden, die den Problemen in der Praxis nur unzurei-
chend gerecht werden.
44
2.5 Entwicklung und Erziehung durch Bildung - Zu BallauffsAnsatz einer philosophischen Pädagogik
Den anthropologischen Ansätzen wird aus philosophischer Sicht vorgeworfen, daß sie
sich zu sehr auf das Menschliche konzentriert haben, durch das stete Bemühen um eine
Abgrenzung vom Tierischen. Wenn diese Sichtweise heute nicht auf die Antithese hi-
nauslaufen soll, daß der Mensch als Katastrophe für den Kosmos anzusehen ist (vgl.
Ballauff 19892, S.147ff.), dann kann nicht länger der Mensch selbst, sondern vielmehr
die kosmische Verantwortung im Sinne einer umfassenden Verantwortung gegenüber
den existierenden Verhältnissen71 im Mittelpunkt einer Pädagogik stehen, die allein
durch Bildung erreicht werden kann. Und erst wenn die notwendige Form einer Bildung
zur kosmischen Verantwortung feststeht, dann kann auch über Erziehung gesprochen
werden.
In seiner ‘Pädagogik als Bildungslehre’ ist Ballauff (Ballauff 19892) diesen Weg ge-
gangen, der hier als ein Beispiel nachgezeichnet werden soll, um von da aus die Mög-
lichkeiten und Grenzen von einer Bildungstheorie für den Zusammenhang von Ent-
wicklung und Erziehung aus systemtheoretischer Sicht aufzuzeigen.
Pädagogik entwickelt sich aus der Idee der Menschlichkeit. Sie will Menschlichkeit
durch Erziehung erreichen. Was genau darunter zu verstehen ist, muß theoretisch erklärt
werden. Die Erziehungswirklichkeit kann daraufhin nicht befragt werden - Empirie hilft
hier nicht weiter -, denn es „könnte ja so sein, daß Erziehung bisher mißverstanden
wurde“ (Ballauff ebd., S.9), also muß Erziehung „konstruiert“ werden. Die Basis für
diese Konstruktion bietet die Geschichte bzw. die Analyse geschichtlicher Interpretati-
onen, die dann in Bezug auf die pädagogische Idee hinterfragt, kritisiert und über-
schritten werden kann.
Ballauff kritisiert dementsprechend verschiedene Theorien über Erziehung, wie die De-
fizienztheorie, die Abundanztheorie, die Sozialisationstheorie und die Identitätstheorie
mit dem Verweis, daß es hierbei allenfalls um Erziehung geht, aber nur eine Bildungs-
theorie die Frage nach der Menschlichkeit beantworten kann und die genannten Theo-
71 „Wenn wir etwas über diese Einsicht nachdenken, wird uns klar, daß nicht erst im Großen und Ganzen diese Verantwortung
einsetzt oder relevant wird. In jeder noch so „kleinen Tat“, in jedem Wort, in jeder alltäglichen Verrichtung stehen wir in kosmi-
schem Bezug, sind wir verantwortlich für Ordnung und Gestaltung des Ganzen, für Zusammenhang und Verhältnis eines jeden, das
ist oder wird, im und zum Ganzen. (...) Also nicht nur von Sonne, Mond und Sternen ist die Rede, sondern von einem jeden von uns
in unserer Verantwortung für seinen Körper, seine Gefühle, seine Worte, Werke und Taten, seine Kommunikation und Interaktion,
seine Bildung“ (Ballauff 19892, S.95 und 96).
45
rien damit überschreitet (vgl. Ballauff ebd., S.43). Und da die Bildungstheorie auf dem
Hintergrund von Geschichtlichkeit entwickelt wird, es somit um Selbst- und Weltinter-
pretation geht, liegt der Schwerpunkt der Bildung im Gedanklichen (vgl. ebd., S.78).
Von da aus gelangt Ballauff zu Prinzipien, durch die Bildung überhaupt erst auftreten
kann. Er nennt sie pädagogische Maßgaben72, die Absolutheitsanspruch besitzen, weil
sie von Menschen und Dingen abgehoben sind, sich aber aus der Geschichte ergeben.
Zu ihnen zählen 1. Sachgemäßheit: Zum sachlichen Zusammenhang und durch den
sachlichen Zusammenhang soll erzogen werden73. Die Sache steht im Zentrum aller
Bildungs- und Erziehungsprozesse. Sie wird später wichtiger als der einzelne Mensch
und führt zur Selbstlosigkeit (vgl. ebd., S.108ff.). 2. Kindgemäßheit: Durch die Sach-
gemäßtheit kann deshalb nicht mehr, wie in pädagogischen Anthropologien von einer
Erziehung „vom Kinde aus“ gesprochen werden. Hier stehen die sachlichen Zusam-
menhänge im Vordergrund, denen das Kind gemäß ist74. Und auch der Begriff der
„Entwicklung“ muß dann entfallen zugunsten einer „Verwicklung“75 in immer umfas-
sendere Zusammenhänge, auf die das zu erziehende Kind sich einlassen und in die es
„eingelassen“ wird (ebd., S.87). 3. Die Relativität schränkt die Sachgemäßheit ein durch
„Nachdenken und Mitdenken“ (ebd. S.88). Denn wenn man sich mit einer Sache be-
schäftigt, schließt das auch Widerspruch oder Kritik ein. So wird Relativität eine we-
sentliche Aufgabe des Bildungsganges. 4. Autorität wird hier im Sinne von Sachautori-
tät76 verstanden und kann nicht einfach voraus- oder festgesetzt werden, sondern sie
muß sich als solche ausweisen können. 5. Sozialität: Hiermit ist soziale Reflexivität
72 „Maße umschreiben nicht so sehr ein Sollen als vielmehr das, worin und wodurch etwas allererst ‘sein kann’, ans Licht der Welt
tritt, zum Vorschein kommt. Dieser Gedanke ist für die Pädagogik so wichtig, weil er die konstitutive und limitierende Bedeutung
des Maßes für die Erziehung und Bildung von frühester Jugend an bewußt werden läßt“ (Ballauf 19892, S.80).73 „Erziehung läßt bei der Sache sein, etwa in Gestalt des Unterrichts, und erwartet, daß darin der Zögling sich ganz der Freigabe der
Sache auf sie selbst hin überlasse. Sie wünscht nicht, daß er sich die Sache in ihrem Sein aneigne, sondern daß die Sache sich selbst
zu eigen werde durch einsichtiges Ermessen“ (Ballauff ebd., S.85).74 Bei genauer Überprüfung wird dies aber auf das Gleiche hinauslaufen: Ob nun von einem bestimmten Entwicklungsstadium des
Kindes ausgehend Lerngegenstände ausgewählt oder ob Lerngegenstände dem Kind vorgelegt, dann aber verändert werden, weil das
Kind mit ihnen nicht zurechtkommt.75 „Daß sich das Kind leiblich in seinen Organen ‘entwickelt’, macht gerade nicht seine Kindheit aus. Sie taucht erst dort auf, wo
sich die ursprüngliche Erschlossenheit vom ersten gestammelten ‘Da’ über die Reflexion in sich mit dem Erschlossenen ins Verhält-
nis setzt. Von diesem Zusammenhang aus entwickelt sich nicht ein Seiendes, sondern verbindet sich ein Ich - als selbstbewußtes
Denken - immer mehr Seiendem, in Gestalt anderer Wesen, anderer Dinge und Mitmenschen, und zwar in immer verwickelter
werdenden Verhältnissen und in immer anderer Zugehörigkeit (...) Wir sollten mit diesem Gedanken eines ‘Verwicklungsprozesses
ernst machen und den biologischen Begriff der ‘Entwicklung’ verabschieden“ (Ballauff ebd., S.86 und 87).76 „Eltern, Erzieher und Lehrer haben nur dann ‘etwas zu sagen’, wenn wir sie als die Einsichtigen und Wissenden voraussetzen
können“ (Ballauff ebd., S.88).
46
gemeint, die zur Bildung beiträgt. Auch sie führt zur Selbstlosigkeit, indem dem „Mit-
einander“ mehr Raum gegeben wird und das „Selbst“ zurücktritt77. - Diesen Maßgaben,
die sich aus der Interpretation der Geschichte ergeben fügt Ballauff selbst 6. die kosmi-
sche Verantwortung hinzu. „Die Verantwortung für den Kosmos im Sinne der Freigabe
dessen, was ist und sein kann, unter der Maßgabe einer selbstlosen Gebundenheit an die
Wahrheit weiß sich nicht so sehr ‘verpflichtet’ als vielmehr in Anspruch genommen“
(ebd., S.94). Bildung umfaßt damit die Aufgabe, bei allem was getan und gedacht wird
in Hinblick auf den kosmischen Bezug in dem wir jederzeit stehen, verantwortlich zu
handeln. So führt die kosmische Verantwortung wieder zurück auf die Sachgemäßheit,
denn verantwortlich handeln heißt sachgemäß handeln und denken.
Der Mensch wird durch diese Prinzipien in Anspruch genommen und hat ihnen zu ent-
sprechen. Es geht hier nicht um eine Pflicht oder ein Sittengesetz, das vorgegeben ist
und dem man folgen soll, sondern der Mensch wird von seinem Denken, der Einsicht
und dem Wissen in Anspruch genommen. Ihm gilt es zu entsprechen ganz unabhängig
von seiner eigenen Person. Erziehung und Bildung sollen deshalb auch nicht um der
Menschen Willen erfolgen, sondern eben in Hinblick auf kosmische Verantwortung.
Und das führt dann zwangsläufig zu einer Erziehung zur Selbstlosigkeit78. Es geht also
nicht darum, daß man selbst durch Erziehung und Bildung etwas bekommt oder hat,
etwas das individuell zugeschrieben werden kann, sondern um sachgemäßes, verant-
wortungsbewußtes Denken und Handeln. Und nur das führt dann auch tatsächlich zur
Humanität, die von dem Menschen abgelöst ist79, indem der einzelne, gebildete
Mensch, sich ganz unabhängig von seinem Selbst allein nur seinem Denken zu entspre-
chen versucht. Die Selbstlosigkeit ermöglicht damit letztlich Menschlichkeit, indem
eben nicht auf den Menschen bezug genommen wird, sondern die Sachzusammenhänge
im Vordergrund stehen, was dann dem Menschen tatsächlich zugute kommt80.
77 „Die Maßgabe der Sozialität wird zu bedenken geben, daß der Denkende niemals herrschen oder dienen kann. Weder ist er ein
Diener der Wahrheit noch herrscht und verfügt er über Dinge und Mitmenschen; sicher eine der schwierigsten Aufgaben moderner
Erziehung bei der Übermächtigkeit des Willens in der modernen Welt!“ (Ballauff ebd., S.91).78 „Selbstlosigkeit besagt nicht die ‘Erfüllung des kategorischen Imperativs’, um selbst ‘gut’ zu sein, sondern um des Seins der
Dinge, Wesen, Menschen, Verhältnisse willen“ (Ballauff ebd., S.114).79 „Nicht in die ‘Innerlichkeit’ eines Menschen werden wir die Menschlichkeit verlagern, sondern sie in der Humanität der durch
einen Menschen erwirkten Verhältnisse aufsuchen“ (Klaus Schaller in Ballauff 19892, S.109).80 Hier kann nicht ausführlich auf den Humanitätsbegriff bei Ballauff eingegangen werden. Dieser ist aber nicht weit entfernt von
dem in der Systemtheorie durch Luhmann eingeführten Verständnis. Vgl. z.B. Luhmann 1995, S. 36: „Die Theorie operativ ge-
schlossener, autopoietischer Systeme, die zu einer vollständigen Trennung von psychischen und sozialen Systemen zwingt, versteht
sich als Angebot in diesem Sinne. Sie ist radikal antihumanistisch, wenn unter Humanismus eine Semantik verstanden wird, die
47
Von diesen Maßgaben aus lassen sich nun genauere Kennzeichen von Bildung formu-
lieren, durch die zugleich der Erziehungsprozeß bestimmt wird. Bildung umfaßt Frei-
gabe und Emanzipation durch eine Erziehung zur Selbständigkeit, durch eine sach- und
aufgabenzentrierte Schulbildung (vgl. ebd., S.118). Natürlich sind stete Hilfestellungen
nötig, aber Ziel sollte sein, daß sich das Kind zunehmend von seiner Selbstbezüglichkeit
befreit zugunsten der Sache; das ist mit Freigabe gemeint. Bildung ist zudem durch U-
niversalität und Wissen gekennzeichnet, im Sinne eines umfassenden Interpretationsho-
rizontes, den es aufzubauen gilt, damit sich Wissen auf Universalität81 hin orientieren
kann, was kritisches Denken und Weiterdenken nicht ausschließt. Dazu gehört die Par-
tizipation82 an der Gemeinsamkeit von Bildung, die innerhalb der Schule nur dann ge-
währleistet ist, wenn auf so grundlegende Fächer wie Sprache, Mathematik, Musik,
Sport, Politik u.a. nicht verzichtet wird. Aber es geht hier nicht nur um Kognition allein,
sondern Bildung verlangt dann auch vollbringende Einsicht, eine handelnde Aktivität,
bei der jeder „sein Bestes gibt“, um an der „Vervollkommnung der sachlichen und mit-
menschlichen Verhältnisse“ mitzuwirken (ebd., S.127). Deshalb sollte es in der Schule
auch nicht so sehr um die Leistungen gehen, die einem persönlich gut geschrieben wer-
den, sondern die „Einsicht in die Aufgaben“ steht im Mittelpunkt (ebd., S.128).
Schließlich soll durch Bildung Sozialisation überwunden werden, indem sie nicht nor-
mativ verstanden werden darf. Sie soll vielmehr Einsicht in die Rätselhaftigkeit der
Welt sein und damit die Sicht der Dinge in ihrer Unsagbarkeit zur Sprache bringen83.
Sind die genannten Kennzeichen von Bildung gegeben, dann schließt Bildung tatsäch-
lich Kompetenz ein. Sie führt so zur Befähigung und Zuständigkeit. Heute können wir
alles, auch die Gesellschaft, auf die Einheit und Perfektion des Menschen bezieht. Sie ist zugleich eine Theorie, die im Unterschied
zur humanistischen Tradition, das Individuum ernst nimmt“. Auch Ballauff geht es nicht um den ‘perfekten’ Menschen, der über ein
hohes Bildungsgut verfügt, sondern ihm geht es um das Denken schlechthin.81 „Das sollte das Prinzip der Universalität auch besagen: ... nicht von Basis und Überbau ist auszugehen, sondern von einem Gan-
zen, in welchem alles in kreisförmiger Abhängigkeit steht. Nicht Wirtschaft, Technologie, Politik und schon lange nicht mehr Reli-
gion dirigieren oder fundieren autonom ein von ihnen abhängiges Gefüge, sondern jeder Bereich ist auf den anderen angewiesen ...“
(Ballauff ebd., S.121).82 „... die Teilnahme und Teilhabe, die Partizipation an der geschichtlich erreichten Gedanklichkeit in ihrer Befragbarkeit ist der Sinn
von Bildung (...) Die Begriffe der Sozialisation, Tradition, Enkulturation sind für dieses Grundgeschehen der Partizipation zu
schwach und zu voreingenommen, weil sie Gesellschaft und Individuum als fixe Größe voraussetzen“ (Ballauff ebd., S.126).83 „Für den Gebildeten ist die Welt nicht ‘entzaubert’. Diese Interpretation, Ausdruck neuzeitlichen wissenschaftlichen Selbstbe-
wußtseins, wird in der intentio obliqua der Bildung aufgehoben: zu dem Bewußtsein einer unaufhebbaren Änigmatik und Thaumatik
alles dessen, was ist und geschieht“ (Ballauff ebd., S.130).
48
zu dieser Bildung nicht mehr durch handgreifliche Erfahrungen gelangen, sie ist nur auf
dem Umweg über das Denken möglich.
Die Erziehung kann zur Bildung in dem hier verstandenen Sinne hinführen, wenn der
Erziehungsprozeß entsprechend gestaltet wird. Dazu gehört auf jeden Fall, daß die
Kommunikation zwischen Erzieher und Kind nicht abbricht und daß ein Milieu ge-
schaffen wird, das ein Miteinander ermöglicht im Sinne einer gemeinsamen Hingabe an
„sachliche Aufgaben oder mitmenschliche Taten“ (ebd., S.158). Dann soll das Kind
auch in Anspruch genommen werden, es soll in seinem Denken sich ständig üben kön-
nen, in dem Sinne, daß sein Denken „verwickelter“ wird. Dahingehend soll das Kind
ermutigt werden, auch wenn immer wieder Grenzen zu markieren sind, denn „Rücksicht
und Vorsicht, Distanz und Respekt gehören hierher“ (ebd., S.164). Und immer geht es
dabei um den steten „Rückruf auf die Wahrheit“ (ebd., S.161). „Denn immer wieder ist
daran zu erinnern, daß nicht Erzieher und Zögling, nicht Sachen und Mitmenschen,
nicht ‘Güter’ und ‘Werte’ es sind, worum es sich bei der Erziehung dreht, auch nicht
um zu erwerbende Bestände, sondern um die Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit“
(ebd., S.162).
Bildung wird bei Ballauff zu einem Grundbegriff der Pädagogik, der über die Begriffe
Entwicklung und Erziehung hinausführt. Dabei geht es ihm um den „wahren Begriff“
von Bildung (vgl. Tenorth 1997, S.976), der sich durch kritische Exegese konstruieren
läßt, verbunden mit eigenen Ausführungen und Weiterführungen, die dann auch wieder
offen für Kritik sind84. Das geschieht auf philosophischer Basis, in der Hoffnung von
hier aus und in gezielter Abkehr vornehmlich von biologischen Sichtweisen, Bildung in
seiner Ganzheit erfassen zu können. Es liegt hier eine Beobachterperspektive vor, die
im Grunde nicht halten kann, was sie verspricht. Denn durch Bildung soll gerade - aus-
gedrückt wird dies durch den Begriff der kosmischen Verantwortung - Ganzheit erfaßt
werden (vgl. insbesondere Ballauff 19892, S.93). Die Erklärung dafür kann aber nur die
Philosophie liefern?85 Wenn es um Ganzheit geht, dann wird es problematisch, wenn
man sich mit einer Disziplin begnügt. Bildung ist, „denkt man in Revieren, weder ein
erziehungswissenschaftlicher noch ein pädagogischer Begriff, er wird vielmehr in
84 „Der Prozeß gewinnt seine eigene Stetigkeit, Exklusivität und Referenz“ (Tenorth 1997, S.976).85 Vgl. hierzu auch Tenorth 1997, S.980: „Was man von Bildung in philosophischer Redeweise wissen kann, das hat also - einerseits
- anderen Status als das Wissen, das die spezialisierten empirischen oder historischen Forscher vorlegen; aber es ist - andererseits -
auch nicht identisch mit oder restlos aufzulösen in der pädagogischen Konstruktion von Idealen der Persönlichkeit oder in normkri-
tischen Überlegungen zu öffentlichen Bildungsprozessen“.
49
zahllosen Disziplinen benutzt und hat seine Klärung auch erst dadurch gefunden“ (Te-
north 1997, S.975).
Hier soll nun Ballauff aber nicht vorgeworfen werden, daß er aus einer spezifischen
Sichtweise heraus den Bildungsbegriff erklärt, sondern daß er andere Perspektiven
hierfür ablehnt. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung des Kindes und die damit
einhergehende Abkehr von organischen Gegebenheiten. Damit verbunden ist die Her-
ausstellung des Geistigen als alleiniger Maßstab für Bildung. Das läuft aber darauf hin-
aus, daß etwas vom Menschen verlangt wird, was er im strengen Sinne von seinen bio-
logischen Grundlagen her gar nicht erreichen kann. Darauf weisen nicht nur neuere For-
schungsarbeiten aus den Bereichen der kognitiven Neurobiologie hin (vgl. z.B. Chan-
geaux 1984, Oeser/Seitelberger 1988, Roth 19982). So wird Selbstlosigkeit als Bil-
dungsprinzip, verbunden mit Sachgemäßheit, nicht in dem hier gemeinten Sinne er-
reicht werden können, weil bereits die Tätigkeit des Organismus nicht auf Selbstlosig-
keit hin angelegt ist. Und das gilt auch für die geistige Aktivität des Menschen, was aus
systemtheoretischer Sicht noch genau erklärt wird. Es soll hier angemerkt werden, daß
durch Piagets Begriff der ‘Dezentrierung’ bereits deutlicher formuliert und erklärt wur-
de, was Ballauff unter Selbstlosigkeit versteht, nämlich Abkehr von einem selbstbezüg-
lichen Denken zugunsten einer Reflexion über verschiedene Gesichtspunkte in Bezug
auf eine Sache86. Nur hat Piaget der Dezentrierung den entwicklungsnotwendigen Beg-
riff des ‘Egozentrismus’ gegenübergestellt, was Ballauff nicht für notwendig hält. Von
da aus wäre dann auch erneut zu fragen, was Sachgemäßheit meint.
Nach Ballauff bildet der Erziehungsprozeß höchstens den Weg zur Bildung, wobei Er-
ziehung gleichzeitig nie ohne Bildung zu verstehen ist, da Erziehung immer „unter der
Maßgabe von Bildung steht“ (Ballauff 19892, S.163). Genau genommen wird hier Er-
ziehung auf pädagogische Maßnahmen reduziert, die notwendig sind in Hinblick auf
Bildung, Bildung aber letztlich Erziehung in sich aufnimmt. Es geht Ballauff zusam-
menfassend nicht um Bildung durch Erziehung, sondern um Bildung anstelle von Er-
ziehung. Und im Zentrum von Bildung steht die Sache bzw. die Sachangemessenheit,
Bildung erfolgt durch und mit Sachbezogenheit. Und nur der kann wirklich bilden, der
86 Vgl. z.B. Piaget 1975b, S.244: „Nachdem das Subjekt vorerst alles mit seinem eigenen Körper in Beziehung gesetzt hat, gelangt
es später dazu, diesen ‘in’ einen immer stärker dezentrierten Raum zu stellen. Diese Dezentrierung, die schon vom geometrischen
Raum vorbereitet wurde und die die gesamte vorstellungsmäßige Erarbeitung der räumlichen Beziehungen bis zu den konkreten,
später formalen Operationen beherrscht, ist das Werk der fortschreitenden Ausprägung der Schemata und der operativen Reversibi-
lität, die deren Gleichgewicht kennzeichnet“.
50
selbst gebildet ist, d.h. die Freigabe von Sachbezogenheit weiter vermitteln kann. Des-
halb kann Bildung im Grunde erst in und durch Schule erfolgen, denn Eltern verfügen
nicht in dem gewünschten Maße und vor allem sicherlich nicht zu jeder Zeit über diese
Fähigkeit. Sie können zur Sozialisation eher als zur Bildung beitragen.
Von Ballauff wird der Terminus Erziehung als Grundbegriff der Pädagogik beibehalten,
immer in dem Bewußtsein, daß im Erziehungsprozeß Bildung als rein kognitive Form
mitvollzogen wird. Somit kommt seiner Bildungstheorie das Verdienst zu, auf die
Richtung von Erziehung /Bildung hinzuweisen, Erziehungsziele (wie Selbstlosigkeit,
Erweiterung des Interpretationshorizontes, soziale Reflexivität) zu formulieren unter
dem leitenden Ziel einer ‘kosmischen Verantwortung’; ein Ziel, das heute aktueller und
wichtiger ist, als man es vielleicht meinen mag. Es wird zu zeigen sein, ob solche Ziele,
die nur befürwortet werden können, systemtheoretisch vereinbar sind oder ob hier die
Systemtheorie, zumindest aus pädagogischer Sicht dazulernen sollte, wenn, wie es zu
Zeit gängig, eher von Erziehungszielen wie Autonomie und Selbstorganisation gespro-
chen wird. Eine Bildungstheorie kann auf jeden Fall zur inhaltlichen Fortführung von
Systemtheorie beitragen, der es vorrangig um Strukturzusammenhänge geht und sich
von da aus Erziehungsziele entwickeln.
Der Entwicklungsbegriff wird von Ballauff hingegen abgelehnt, weil er biologisch ge-
prägt ist, indem es in der Entwicklung um die Entfaltung vorhandener Anlagen geht.
Demgegenüber sollte eher von ‘Verwicklung’ gesprochen werden, da der Lebensweg
des zu erziehenden Kindes durch zunehmende Komplexität gekennzeichnet scheint, die
mit ursprünglichen Anlagen nur wenig gemein haben. Wenn das Kind zur Reflexion
fähig ist, wird der Verwicklungsprozeß in Gang gesetzt, indem „der Mensch als
selbstbewußtes Denken ... in immer umfassendere Zusammenhänge ‘eingelassen’“ wird
(Ballauff ebd., S.87). Hier wird nicht nur erneut deutlich, daß der Mensch als kognitives
Wesen angesehen wird, sondern es zeigt sich eine Abhebung von der einzelnen Person,
indem es nur um das Denken in Zusammenhängen geht. Entwicklung als eine dem Kind
zuzuschreibende Veränderung wird also nicht thematisiert, was nichts anderes bedeutet,
als daß Erziehung mit Entwicklung nach Ballauff gar nicht in einen Zusammenhang
gebracht werden muß, Erziehung scheint ohne Bezug zur Entwicklung des Kindes
möglich zu sein.
Auch Erziehung spielt im Verhältnis zur Bildung eine untergeordnete Rolle. Sie bleibt
auf die frühkindliche Erziehung beschränkt, sie ist höchstens Vorläufer für die Bildung,
51
die mit dem Schulbeginn vollständig einsetzt und Erziehung damit ersetzt. Erziehung
wird bei Ballauff also in Zusammenhang mit Bildung gesehen, aber nicht mit Entwick-
lung. Es stellt sich hier die Frage, ob Erziehung tatsächlich ohne Entwicklung gedacht
werden kann. Der weitere Verlauf der Arbeit wird zeigen, daß aus systemtheoretischer
Sicht diese Frage eindeutig verneint werden muß. Erziehung ist nicht ohne Entwick-
lung, sondern ganz im Gegenteil nur mit Rücksicht auf Entwicklung denkbar. Der Hin-
weis auf Bildung kann den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung nicht her-
stellen, wie Ballauff es gezeigt hat. Man kann schließlich nach wie vor mit dem Ent-
wicklungsbegriff als grundlegenden pädagogischen Terminus arbeiten, weil durch ihn
immer Verwicklungen mit erfaßt werden, seien sie nun biologischer oder kommunikati-
ver Struktur.
Aus systemtheoretischer Sicht wird auch gezeigt werden, daß eine zeitliche Ordnung im
Lebenslauf nicht haltbar ist, die sich erst auf Entwicklung, dann Erziehung, dann Bil-
dung bezieht, worauf Ballauffs Ansatz letztlich hinausläuft. Sein Hinweis auf zuneh-
mende Verwicklung spricht selbst dagegen. Nicht ein Nacheinander finden wir im Le-
benslauf, sondern Entwicklung und Erziehung verlaufen stets parallel.
2.6 Probleme und offene Fragen
Der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung läuft letztlich auf die anthropolo-
gische Fragestellung hinaus, was Entwicklung für die Erziehung des Menschen bedeutet
und umgekehrt, was Erziehung für die Entwicklung bedeutet. Die Beispiele aus der pä-
dagogischen Theoriebildung haben deutlich gemacht, daß der Zusammenhang aus un-
terschiedlichen Perspektiven, jedoch bisher keineswegs vollständig gesehen und behan-
delt wurde.
So zeigt sich zusammenfassend aus entwicklungs-pädagogischen Sicht bei Montessori,
daß der Entwicklung gegenüber der Erziehung Priorität eingeräumt wird, die Erziehung
steht im Dienst der Entwicklung, weshalb sie auch in einem ‘Schonraum’ stattfinden
sollte. Der Mensch wird als ein durch seine person-interne Entwicklung bestimmendes
Wesen verstanden (man erinnere sich an den ‘inneren Bauplan’), und die Erziehung
dient als Hilfe, die Entwicklung auch in äußere Handlungen und Verhalten umzusetzen,
ohne direkten Einfluß auf diese. Damit steht das Kind im Mittelpunkt der Theorie. Die
Persönlichkeit des Erziehers wird hier vernachlässigt, sie darf keine Rolle spielen. Da-
mit die Erziehung entwicklungsgemäß ablaufen kann, muß die Umwelt dem Kind ange-
52
paßt werden, und es ist entsprechendes Material bereitzustellen. Erziehung ist hier mit
der Reduktion sozialer Beziehungen verbunden und kann außerhalb einer spezifischen
Umgebung nicht fortgeführt werden. Offen bleibt nach diesem Ansatz vor allem die
Frage, wie Erziehung und Entwicklung außerhalb einer spezifischen Umgebung statt-
finden und welche Bedeutung dann der Person des Erziehers zukommt.
Aus kognitiv-psychologischer Sicht wird bei Bruner der Zusammenhang von Entwick-
lung und Erziehung im Lernen gesehen. Entwicklung und Erziehung erfolgen über
Lernprozesse, so daß ausschließlich in der einzelnen Lernepisode Entwicklung und Er-
ziehung in einen Bezug kommen. Bruner kann also gar nicht direkt die Frage beant-
worten, was Entwicklung für die Erziehung des Menschen bedeutet, denn beide bedeu-
ten nur etwas im Verhältnis zum Lernen, aber nicht im Verhältnis zueinander. So wird
aufgrund der Bedeutung einer dritten Größe, nämlich dem Lernen, eine direkte Verbin-
dung zwischen Entwicklung und Erziehung nicht thematisiert. Lernen besteht dabei in
der Reproduktion von Strukturen, die vorgegeben werden, die das Kind im Grunde aber
nicht selbst entwickeln kann. Auf die eigene Leistung des Kindes innerhalb von Lern-
und damit auch von Erziehungsprozessen wird somit kein Bezug genommen. Das Ziel
des Lernens besteht dann in einer Stabilität von Strukturen, wobei fraglich bleibt, in-
wieweit diese mit Dynamik und der heute so oft geforderten Flexibilität von Denken
und Handeln übereinstimmen. Zudem wird der einzelne Entwicklungsfortschritt nicht
ausreichend analysiert. Die Diskrepanz zwischen Darstellungsformen der Erfahrung
wird „irgendwie“ in ein anderes Medium übersetzt, was dann den Entwicklungsfort-
schritt ausmacht. Wie dies im einzelnen innerhalb der kognitiven Entwicklung aussieht,
bleibt bei Bruner offen.
In der soziologischen Perspektive, die hier am Beispiel des Ansatzes von Krappmann
dargestellt wurde, wird auf die Bedeutung von Erziehung für die Entwicklung nicht
explizit eingegangen, da Erziehung durch Sozialisation ersetzt wird. Erziehung und
Entwicklung erfolgen durch Sozialisation, aber im Grunde kann die Sozialisation auf
die Entwicklung keine Rücksicht nehmen. Entwicklung und Erziehung spielen also eine
nebengeordnete Rolle, ihr Verhältnis zueinander wird nicht beachtet, denn der Mensch
wird als ein auf Sozialisation hin angelegtes Wesen verstanden, das durch und für die
Gesellschaft lernt. Erziehung und Entwicklung erfolgen in der Interaktion und durch
Interaktion, die Sprache ist dabei von grundlegender Bedeutung. Sprachbeherrschung
und das Lernen von Interaktionsstrategien, so wie es die gesellschaftlichen Situationen
53
erfordern, bilden das Ziel von Sozialisation und auch von Erziehung. Die gesellschaftli-
chen Bedürfnisse legen somit Entwicklungs- und Erziehungsfortschritte fest.
Aus anthropologischer Sicht wird der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung
tatsächlich behandelt, wie es in den Theorien von Roth und Dienelt deutlich wurde. Im
Gegensatz zu Montessori wird hier jedoch der Erziehung Priorität eingeräumt. Die Ent-
wicklung bildet stets die Voraussetzung für die Erziehung, die Erziehung ist als aktive
Einflußnahme zu verstehen, durch die die Entwicklung - und zwar in allen Persönlich-
keitsbereichen des Menschen - gezielt gesteuert werden kann. Der Mensch ist ein erzie-
hungsbedürftiges Wesen. Erziehung verfügt somit über große Macht, wobei durch die
Vorgabe bestimmter Ziele nicht jeder ideologischen Vorstellung von Erziehung Vor-
schub gewährleistet wird. Ein gleichwertiges Verhältnis von Entwicklung und Erzie-
hung kann es aus dieser anthropologischen Sicht jedoch nicht geben, denn die Erzie-
hung übernimmt zunehmend die Führung auf dem Lebensweg des Kindes, die Ent-
wicklung spielt mit zunehmenden Alter eine untergeordnete Rolle und das Lernen ge-
winnt schließlich an Einfluß, ähnlich wie bei Bruner. Mit Erziehung als aktive Einfluß-
nahme auf die Entwicklung wird zugleich der Entwicklung eine nur aufnehmende Pas-
sivität zugeschrieben, die angesichts neuerer Forschungsergebnisse nicht mehr haltbar
ist. Erziehung wird bei Dienelt und Roth ganzheitlich verstanden, in bezug auf alle Per-
sönlichkeitsbereiche bzw. die grundlegenden Wesensmerkmale des Menschen. Für Frei-
räume des zu Erziehenden und für Individualentwicklung bleibt hier wenig Raum. Auch
die Ansprüche an den Erzieher sind enorm, denn er hat Vorbildfunktion, die zulasten
seiner Persönlichkeit geht, die im Erziehungsgeschehen zurückgenommen werden muß.
Schließlich verliert in der philosophischen Perspektive von Ballauff der Zusammenhang
von Entwicklung und Erziehung an Wert, da hier die Bildung im Mittelpunkt steht. Et-
was überspitzt kann formuliert werden, daß Erziehung nicht in Abhängigkeit von Ent-
wicklung, sondern allein durch Bildung erfolgt. Und dies gilt auch umgekehrt, da auch
die Entwicklung durch Bildung voranschreitet, anscheinend unabhängig von Erziehung.
Abgeschwächt kann das Verhältnis von Entwicklung, Erziehung und Bildung auch als
ein ‘Nacheinander’ auf dem Lebensweg des Kindes verstanden werden, wobei die Bil-
dung, wie die Sozialisation bei Krappmann oder das Lernen bei Bruner, insbesondere ab
dem Schulalter die Führung übernimmt. So wird der Zusammenhang von Entwicklung
und Erziehung, wenn überhaupt, in einzelnen Bildungsprozessen sichtbar, das Verhält-
nis von Entwicklung und Erziehung wird jedenfalls außerhalb von Bildung nicht rele-
54
vant. Erziehung wird bei Ballauff geistig konstruiert, ganz unabhängig von der in der
Wirklichkeit ablaufenden alltäglichen Erziehung. Es wird letztlich ein Konstrukt gebil-
det, dem sich die Wirklichkeit im idealen Fall anzupassen hätte. Es bleibt dabei offen,
inwieweit dies auch möglich wäre bzw. ob dies geleistet werden kann. Die geforderte
Sachkenntnis als wesentliche Maßgabe von Erziehung setzt zudem voraus, das der
Mensch über objektives Wissen und die „Wahrheit“ verfügen kann, wenn er sich nur
geistig entsprechend anstrengt. Diese erkenntnistheoretische Einstellung ist heute, nicht
zuletzt aufgrund systemtheoretischer Erkenntnisse, fragwürdig.
Es zeigt sich, daß die Frage nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung
bisher nicht explizit behandelt wurde. Zum einen wurden Schwerpunkte entweder auf
Entwicklung oder Erziehung gesetzt, zum anderen erfolgt durch die Einführung von
Sozialisation, Lernen und Bildung eine inhaltliche und damit auch eine begriffliche
Vermengung. So wurden Teilaspekte des Zusammenhangs von Entwicklung und Erzie-
hung beleuchtet, dieser aber nicht in seiner Gesamtheit erfaßt. Letztlich liegt eine Ver-
einfachung vor, wenn Erziehung entweder auf Lernen, Sozialisation, Bildung oder, wie
bei Montessori, auf Entwicklung selbst reduziert wird. Dabei bildet die Entwicklung,
bis auf den Ansatz von Montessori, nur eine Voraussetzung für Erziehung, sie scheint
nach wie vor innerhalb der Pädagogik in Hinblick auf die ihr zugrundeliegende Struktur
nicht eigens in ihrem Verhältnis zur Erziehung thematisierungswürdig (auch wenn bei-
spielsweise bei Roth die Entwicklungsstufen von Piaget übernommen werden). Außer-
dem sind die in der Literatur verwendeten und die Erziehung kennzeichnenden Begriffe
selbst oft unklar. Eine deutliche Abgrenzung, beispielsweise von Bildung gegenüber
Erziehung und Lernen in Abhängigkeit von der Entwicklung, wie es von Ballauff hätte
erwartet werden können oder die Bezeichnung des Unterschieds zwischen Sozialisation
und Erziehung in ihrem Verhältnis zur Entwicklung, wie es durch einen soziologischen
Ansatz möglich gewesen wäre, findet nicht statt. Zudem liegen die Begriffe auf unter-
schiedlichen Ebenen, nämlich entweder auf der psychischen oder der sozialen Ebene,
wobei auf der psychischen Ebene zwischen einer entwicklungspsychologischen und
einer lerntheoretischen Sicht unterschieden werden kann. So wird beispielsweise auf
sozialer Ebene Erziehung im Sinne von Sozialisation verstanden, während auf kogniti-
ver und damit psychischer Ebene Erziehung im Sinne von Bildung aufgefaßt wird, so-
55
daß durch die verschiedenen Perspektiven der Wissenschaftler der Zusammenhang von
Entwicklung und Erziehung unterbestimmt87 bleibt.
Zusammenfassend ergeben sich in Bezug auf das Thema nach wie vor folgende noch
offene Fragen:
- Das wechselseitige Verhältnis zwischen Entwicklung und Erziehung, so wie es im
Alltag stattfindet, wird in keinem Ansatz explizit thematisiert.
- Nach dem Verhältnis zwischen Entwicklungsstufen wird nicht eindeutig gefragt. So
bleiben die Fragen offen, wann von einer entwickelteren Stufe gegenüber einer weniger
entwickelten Stufe überhaupt gesprochen werden kann, was auf einer höheren Ent-
wicklungsstufe erhalten bleibt und/oder ob etwas verlorengeht.
- Hier schließt sich die Frage an: Von welchen Faktoren ist Entwicklung denn abhängig
und inwieweit werden diese Faktoren in der Erziehung berücksichtigt?
- Wenn Lernen als Reproduktion von Wissen oder Strukturen zu verstehen ist, wie sieht
diese Reproduktion auf kognitiver Ebene aus? Wie stellt sich also das person-interne
Entwicklungsgeschehen dar?
- Gibt es überhaupt eine sogenannte Eigenleistung des Kindes und worin besteht diese,
wenn immer wieder deutlich wird, daß das Kind genau die Information aufnimmt, die
ihm vorgegeben wird?
- Welche Bedeutung haben Interaktionen auf die Entwicklung des zu erziehenden Kin-
des, wie müssen sie gestaltet sein und reichen sie alleine aus, um Entwicklungsfort-
schritte hervorzurufen?
- Innerhalb des Interaktionsprozesses wird Anpassung zur Fortführung des Prozesses
notwendig. Wie sieht die Anpassung tatsächlich aus?
- Nicht nur Sozialisation, sondern auch Erziehung ist an Situationen gebunden. Wie
gestalten sich aber Erziehungssituationen?
87 Vgl. hierzu die prägnante Zusammenfassung von Oelkers 1992, S.81: „Die klassischen Positionen zeigen, bei sonst starken Unter-
schieden, Übereinstimmungen in den Deduktionen auf Erziehung hin, die zugleich demonstrieren, wie unterbestimmt das Thema
„Erziehung“ selbst ist. Die Theorien referieren auf einen christlich getönten Begriff der Person, der pädagogisch so verstanden wird,
als sei ‘Person’ ein nach oben hin ansteigendes, leibseelisches Kontinuum, das allmählich an innerem Gehalt zunimmt und doch
seine ursprüngliche Einheit bewahrt. „Erziehung“ ist entweder die Herausbildung von Potentialen (Anlagen), die dem Kontinuum
vorausliegen und zugleich innewohnen, oder ‘Erziehung’ ist Ausrüstung mit notwendigen Fähigkeiten, nicht nur, aber hauptsächlich
solchen der Tugend. In beiden Fällen ist eine einfache Innen:Außen-Unterscheidung grundlegend, die ‘Einwirkung’ von Außen, die
irgendwie parallel geschaltet wird zur Resonanz nach Innen, oder die ‘Entwicklung von Innen heraus, die ähnlich vage mit der
Außenwelt verbunden wird“.
56
- Wie sieht das Verhältnis zwischen Kind und Erzieher aus und welchen Stellenwert hat
die Familie im Erziehungsgeschehen?
- Wie stellt sich die biologische Grundlage von Entwicklung dar, wenn von Urphäno-
menen wie Verantwortlichkeit und Gewissen gesprochen wird, die angeblich von Ge-
burt an vorliegen?
- Was ist in diesem Zusammenhang unter Selbstbildungskräften zu verstehen, die durch
Erziehung gezielt weiterzuentwickeln sind?
- Was wird vom Erzieher tatsächlich erwartet, wenn er Vorbildfunktion haben soll und
welche Position nimmt er in der Erziehung ein?
- Ist schließlich eine Erziehung und damit auch die Entwicklung in allen Persönlich-
keitsbereichen möglich und ist sie überhaupt nötig?
- Welche Erziehungsziele können dann als grundlegende herausgestellt werden?
Wir verfügen mittlerweile über neue Forschungsergebnisse, die auch die pädagogische
Fragestellung nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung zu berück-
sichtigen hat. Dabei handelt es sich nicht um Erkenntnisse direkt aus der Pädagogik
oder der Psychologie, sondern hier muß dem naturwissenschaftlichen Fortschritt im
Bereich der Technik und der Biologie seit dem Beginn der kybernetischen Wissenschaft
Rechnung getragen werden, verbunden mit deren Auswirkungen in den Bereichen Neu-
rophysiologie und Soziologie. Angesichts der Forschungsergebnisse, die auch zur Aus-
bildung der Systemtheorie geführt haben, soll es deshalb in der vorliegenden Arbeit
darum gehen, den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung direkt aus system-
theoretischer Sicht zu behandeln. Die bisherigen Theorien werden somit nicht dahinge-
hend analysiert, daß sich ein weiterer Ansatz ergibt, der aus Teilstücken der bisherigen
besteht. Die Systemtheorie bietet einen vollständig anderen Zugang, so daß im Verlauf
der Arbeit auf andere pädagogische Ansätze auch nicht ausführlich eingegangen werden
kann. Es sollen aber nicht nur aus systemtheoretischer Perspektive die aufgetretenen
Fragen beantwortet werden, sondern es wird zudem Folgendes möglich:
- Die Frage nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung kann direkt an-
gegangen werden. Es wird nicht nur ein Aspekt von Erziehung, wie Lernen oder Sozia-
lisation dargestellt, sondern es geht um einen Gesamtzusammenhang.
- Entwicklung und Erziehung als Teile im pädagogischen Prozeß werden ohne Schwer-
punktsetzung gleichwertig behandelt. Es wird nicht von vornherein ein Vorrang der
Erziehung gegenüber der Entwicklung oder umgekehrt eingeräumt, wie es in bisherigen
57
Theorien der Fall ist. Allerdings kann mit Hilfe der Systemtheorie aus naturwissen-
schaftlicher Sicht insbesondere auf den Entwicklungsbegriff eingegangen werden, weil
die Entwicklung von Systemen innerhalb der Systemtheorie selbst im Zentrum steht.
Thema des vierten Kapitels wird es daher sein, vorrangig Entwicklung aus systemtheo-
retischer Sicht darzustellen, verbunden mit Konsequenzen für die Pädagogik und damit
auch bereits für Erziehung. Von diesem Ausgangspunkt aus kann dann der Zusammen-
hang von Entwicklung und Erziehung aus einer systemtheoretisch orientierten pädago-
gischer Sicht analysiert werden.
- Da es ausschließlich um Entwicklung und Erziehung geht, wird auch eine Vermen-
gung mit anderen Begriffen, wie Sozialisation oder Bildung ausgeschlossen. Es geht
hier weniger um die Klärung verschiedener pädagogischer Begriffe, als um die Be-
schreibung eines pädagogischen Phänomens. Diese neue Beschreibung kann dann aber
auch Rückwirkungen auf diese Begriffe haben.
- In den bisherigen Theorien ging es um die Darstellung von Erziehung, so wie sie in
idealer Weise aussieht. Damit verbunden ist dann aber die Vernachlässigung der Frage
nach nicht-gelingender Erziehung. Die dargestellten Theorien zeigen auf, daß Erzie-
hung gelingt, wenn ein Schonraum eingerichtet wird (Montessori), die Strukturen des
Lernens genügend ausgearbeitet sind (Bruner), die Interaktionsspielregeln eingehalten
werden (Krappmann), der Lernprozeß auf alle Persönlichkeitsbereiche ausgedehnt
(Roth) oder Bildung anstelle von Erziehung favorisiert wird (Ballauff). Erziehungs-
schwierigkeiten sind dann entweder auf Entwicklungsstörungen beim Kind zurückzu-
führen und fallen in den Bereich der Psychologie oder Medizin oder auf mangelnde
Fähigkeit des Erziehers. Auf jeden Fall liegen sie außerhalb der pädagogischen Per-
spektive (vgl. hierzu die gute Zusammenfassung über den Wandel von Erklärungsver-
suchen für Erziehungsschwierigkeiten in Speck 1991, S.68ff.). Das liegt auch daran,
daß der Erziehungsprozeß oder die Erziehungssituation von ihrer Struktur her nicht ei-
gens beachtet wird. Wie Erziehungssituationen organisiert sind und strukturell ablaufen
wird nicht zum Thema, auch wenn Einzelheiten als Beispiele gerne aufgegriffen werden
(vgl. z.B. Roth, der ausführlich das Trinkverhalten des Kleinkindes beschreibt, Roth
1971, S.228ff.). Systemtheoretisch ist es daher notwendig, den Prozeßcharakter von
Erziehung in seiner Ganzheit zu bestimmen, wobei alle Gegebenheiten, die dabei mit-
spielen, berücksichtigt werden müssen.
58
Das Thema der vorliegenden Arbeit gewinnt somit an Komplexität (eine Reduktion z.B.
von Erziehung auf Lernen wird es nicht geben und damit auch keine Vereinfachung).
Die Komplexität der Darstellung hat aber den Vorteil, daß das Erziehungsgeschehen
und die Entwicklung insgesamt transparenter werden. Wenn der Zusammenhang von
Entwicklung und Erziehung durch dessen Organisation und Struktur explizit vorliegt,
dann können auch die Stellen genauer bezeichnet werden, wo es zu Entwicklungs- oder
Erziehungsschwierigkeiten kommt. Das ist jedoch bereits ein Thema der Umsetzung
von systemtheoretisch-pädagogischen Erkenntnissen in eine daran anschließende päda-
gogische Handlungstheorie, die hier nicht berücksichtigt werden kann. Es werden
höchstens Voraussetzungen dafür geschaffen.
Die Systemtheorie ist als Offerte zu sehen, durch die tatsächlich Zusammenhänge sicht-
bar gemacht und analysiert werden können. Sie sollte nicht als eine Theorie neben ande-
ren aufgefaßt werden, die sich nun in die Reihe nach Montessori, Bruner et.al. anfügt
und je nach Ansicht der zu erziehenden Person vielleicht fovorisiert werden kann. Sie
bietet vielmehr durch ihren Ganzheitscharakter auch die Aufnahme einiger bereits dar-
gestellter Auffassungen.
59
3. Weiterführende Neuformulierung der Fragestellungaus systemtheoretischer Sicht
Die Systemtheorie erhebt als Universaltheorie den Anspruch, die Welt als aus Systemen
bestehend beschreiben zu können88. Dabei geht es zusammenfassend um die folgenden
Fragen: 1. Was ist ein System und welche Systemarten gibt es? So ist beispielsweise
zwischen psychischen, sozialen oder autopoietischen Systemen zu unterscheiden, es
wird aber auch vom Wirtschaftssystem oder Erziehungssystem gesprochen. 2. Wie sieht
die Organisation und die Struktur von Systemen aus? 3. Wie entwickeln sich Systeme
und wie erfolgt die Regelung? Dabei geht es neben der Frage nach der Entwicklung um
die Darstellung des Ist-Zustands und somit darum, ob ein System selbstregulierend ist
und inwiefern es nach einem Gleichgewichtszustand strebt. 4.Wie sieht das Verhältnis
aus zwischen a) dem System und der Umwelt, b) Systemen untereinander und c) den
Systemteilen untereinander? Daran schließt sich die Frage nach offenen oder geschlos-
senen System an. 5. Wie werden Systeme beobachtet? Der Beobachter, also derjenige,
der sich mit Systemen beschäftigt ist insofern von Bedeutung, da er selbst Teil eines
Systems (vielleicht des Wissenschaftssystems) und als Mensch selbst ein System ist
(man spricht dann vom personalen System). Diese Fragen lassen sich weiter differenzie-
ren, und zwar in Hinblick auf eine Allgemeine Systemtheorie oder bereichsspezifisch,
also für einen speziellen Wissenschaftsbereich.
In Bezug auf die Frage nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung
konnte man in der pädagogischen Theoriebildung bisher feststellen, daß der Schwer-
punkt auf Erziehung gelegt wurde. Aus systemtheoretischer Sicht steht hier nun vor
allem der Entwicklungsaspekt von Systemen im Vordergrund. Von einer bereichsspezi-
fischen Systemtheorie - und das bedeutet hier einer pädagogisch orientierten - kann nun
der Versuch gemacht werden, die vorliegende Frage zu beantworten. Das heißt, die
Systemtheorie kann helfen,
- den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung darzustellen, da sie als Theorie-
offerte angesehen werden kann, durch die Ganzheiten, Gesamtzusammenhänge über-
haupt erfaßt werden können.
88 „...; denn es geht ja gerade um Rekonstruktion dieser Lebenswelt vor dem Hintergrund anderer Möglichkeiten“ (Luhmann 1987,
S.163).
60
- das Funktionieren vor allem von Entwicklung, dann aber auch von Erziehung als Pro-
zeß bis auf die fundamentale Ebene, sei sie biologischer, chemischer oder auch kom-
munikativer Natur aufzudecken und so tatsächlich zu den Grundlagen von Entwicklung
und Erziehung hinzuführen.
- über das Funktionieren hinaus dann auch Aussagen zur Qualität von Prozessen zu ma-
chen, wobei es in Hinblick auf Entwicklung und Erziehung nicht nur um Qualitätser-
kennung, sondern um die für die Pädagogik bedeutsame Frage nach Qualitätssicherung
und Qualitätssteigerung geht.
Zum einführenden Verständnis werden zunächst die Grundbegriffe der Allgemeinen
Systemtheorie aufgeführt, womit eine Voraussetzung geschaffen wird für die später (in
Kap.4) ausführlich darzustellenden systemtheoretischen Ansätze, die für die pädagogi-
sche Fragestellung relevant sind. Daran schließen sich allgemeine erkenntnistheoreti-
sche Voraussetzungen an, die für die vorliegender Arbeit insgesamt grundlegend blei-
ben. Nach der Darstellung des methodischen Vorgehens kann dann die Fragestellung
weiter präzisiert werden, wodurch ihre bisher unbefriedigende Bearbeitung in der päda-
gogischen Forschung deutlich wird.
3.1 Grundbegriffe und erkenntnistheoretische Voraussetzun-gen der Systemtheorie
Im Zusammenhang mit einem historischer Abriß sollen die Grundbegriffe der System-
theorie eingeführt werden. Dabei zeigt sich, daß es derzeit kein Werk gibt, in dem es um
die Darstellung einer Allgemeinen Systemtheorie geht. Auch wenn solche Titel zu lesen
sind (z.B. Krieger 1996 oder Willke 19872, siehe aber auch Anmk.2), so beziehen sie
sich immer auf die Systemtheorie, wie sie innerhalb eines Wissenschaftsbereichs gültig
ist. Und das gilt nicht nur für den soziologischen Bereich, sondern auch für den natur-
wissenschaftlichen (vgl. z.B. Kriz 1992). Die Tendenz geht wohl eher dahin, system-
theoretische Erkenntnisse im jeweiligen Bereich zu erweitern oder, wie es für die Päda-
gogik wohl eher gilt, diese aus anderen Disziplinen in den eigenen Bereich zu überfüh-
ren. Dadurch erhöht sich aber die inhaltliche Komplexität und die damit einhergehende
Vielzahl der Fachtermini, die nun dem systemtheoretischen Bereich im allgemeinen
zugerechnet werden, und es kann leicht der Überblick über die grundlegenden Konzepte
und Begriffe verloren gehen. So kann eine knappe Einführung im Rahmen dieser Arbeit
auch nicht mehr leisten, als auf die Herkunft der „Allgemeinen Systemtheorie“ hinzu-
61
weisen89. Es ist hier nicht der Ort, alle Konzepte, in denen systemtheoretisches Gedan-
kengut enthalten ist90, auf ihre grundlegenden und gemeinsamen Merkmale hin zu über-
prüfen, um diese dann als Gesamtheit zu erfassen; obwohl es sich hierbei um eine Ar-
beit handeln würde, die notwendig ist, wenn interdisziplinäres Forschen in Hinblick auf
eine Allgemeine Systemtheorie angestrebt wird.
Der Systembegriff wird erst seit den Arbeiten des Biologen Ludwig von Bertalanffy zu
einem Terminus, der nun in den verschiedensten Wissenschaftsgebieten verwendet
wird91, auch wenn man Ansätze zur Systemtheorie bereits bei Aristoteles vermutet (wie
Müller 1996).
Eine Allgemeine Systemtheorie konnte sich überhaupt erst im 20. Jahrhundert heraus-
bilden92, weil hierfür entsprechende erkenntnistheoretische und technisch-
mathematische Voraussetzungen geschaffen werden mußten93. Vorher wurde vorwie-
gend ein Weg in die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen: Es ging in diesen Berei-
chen in erster Linie um die Analyse von Elementen. Beziehungen zwischen Variablen
sollten aufgelöst und nicht in ihrer Gesamtheit erfaßt werden. Während in der Tat die
Technik dadurch große Fortschritte machte, blieben die Fragen nach der Ordnung und
Organisation jedoch ohne Bedeutung. Gerade darauf weist v.Bertalanffy dann aus bio-
logischer Sicht in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts hin: „Da der fundamentale
Charakter eines Lebewesens in seiner Organisation liegt, kann die übliche Untersu-
89 Aus dem Bereich Sozialwissenschaft stammt die Darlegung einer Allgemeinen Systemtheorie von Müller (1996), unter Berück-
sichtigung der Geschichte und Methodologie dieser Disziplin. Hier wird auch der schwierige Versuch unternommen, eine Definition
von Systemen zu geben (ebd., S.199ff.), mit folgender Einführung, der hier nur zugestimmt werden kann: „Ein allgemeiner System-
begriff hat freilich von vornherein mit einem Dilemma zu kämpfen: um auf Systeme jeglicher Art anwendbar zu sein, muß er mit
dem Anspruch auf universale Zuständigkeit antreten; um nicht zu einer Leerformel herabzusinken, muß er gleichwohl spezifische
Aussagen über Systeme im allgemeinen zulassen. Pädagogisch gemeinte ‘Einführungen’ umgehen solche Schwierigkeiten in der
Regel mit dem Appell an plausible Beispiele - sofern Systeme nicht schlicht als ‘gegeben’ vorausgesetzt sind. Anhand vertrauter
biologischer oder soziologischer Anwendungen ‘konkretisiert’, bleibt der Begriff des Systems indessen an einzelwissenschaftliche
Gesichtspunkte gefesselt. Ein Systembegriff, der eine eigenständige Wissenschaft rechtfertigen soll, muß sich dagegen, mit Kant
gesprochen, vom Gängelband der Beispiele lösen“ (Müller 1996, S.199). Aufgrund der Fragestellung der vorliegenden Arbeit, aber
auch wegen der Ausführungen von Müller wird hier auf eine interdisziplinäre Definition des Systembegriffs verzichtet. Es sei auf
die Arbeit von Müller verwiesen.90 Vgl. jedoch die von Büeler (1994, S.46) erstellte „Landkarte“, die zumindest eine sehr gute Übersicht über diejenigen Theorie-
strömungen gibt, die im weitesten Sinn mit einer Allgemeinen Systemtheorie verbunden sind.91 Zum Systembegriff in der Geschichte des philosophischen Denkens siehe die Zusammenfassung von Backes-Haase 1996, S.113ff.92 Einführungen zur Systemtheorie bieten zum einen Willke 19872 und Krieger 1996, insbesondere S.7-55 (mit soziologischem
Schwerpunkt). Einen guten Überblick über Konzepte der Selbstorganisation finden sich bei Krohn/Küppers/Paslack 1987.93 Siehe hierzu und zum Folgenden v.Bertalanffy: Vorläufer und Begründer der Systemtheorie. 1972. Er führte auch den Begriff
vom „Fließgleichgewicht“ ein, als die Bezeichnung eines stationären Gleichgewichts offener Systeme (v.Bertalanffy 19772).
62
chung von Einzelteilen und Einzelprozessen keine vollständige Erklärung des Lebens-
phänomens angeben. Vielmehr müssen die Gesetze lebender Systeme auf allen Niveaus
der Organisation untersucht werden. Wir nennen diese Auffassung, betrachtet als eine
Forschungsmaxime, organismische Biologie und, als Versuch zur Erklärung, die Sys-
temtheorie des Organismus“(v.Bertalanffy 19842, S.20).
Die Allgemeine Systemtheorie sollte eine Grundwissenenschaft werden, aus der die
anderen Wissenschaftsgebiete Kenntnisse aufnehmen konnten für die Erklärung und
Beschreibung z.B. von Ganzheit, Organisation, Struktur, Wechselwirkung von Prozes-
sen. Als diese Theorie in Entwicklung begriffen war, bildete sich die Kybernetik heraus,
die als allgemeine Maschinentheorie den Systembegriff aufnahm und weiterführte durch
den Hinweis auf „selbstregulierende Systeme“94. Nachdem also die Anfänge einer All-
gemeinen Systemtheorie in der Biologie liegen und dann von der Kybernetik, die sich
weitgehend auch als allgemeine, formale und nicht ausschließlich mathematische Wis-
senschaft verstanden wissen will, fortgeführt wurden95, sollte diese Theorie in den che-
misch-physikalischen Bereich einbezogen werden. So hat Ilya Prigogine in der Ther-
modynamik irreversible Prozesse untersucht und gelangte neben der Erklärung von Ir-
reversibilität auch zur Behandlung von dissipativen Strukturen und dissipativer Selbst-
organisation96. Prigogine hat sich dabei zum einen mit Strukturen befaßt, die nach ihrer
Entstehung ohne weitere Energiezufuhr bestehenbleiben, wie zum Beispiel ein Kristall.
94 „Das grundsätzliche Modell der Kybernetik ist bekanntlich das der Rückkoppelung oder des feedback-Kreises. Man kann eine
Maschine selbstregulierend machen ...“(v.Bertalanffy 19842, S.24). Die Kybernetik ist vor allem eine mathematische Wissenschaft,
die sich insbesondere der Mittel der Wahrscheinlichkeitstheorie, der mathematischen Statistik, der Analysis und der mathematischen
Logik bedient. Neben Norbert Wiener, als Begründer der Kybernetik, war auch Gregory Bateson an der Entwicklung von Kyberne-
tik und Informationstheorie beteiligt.95 „Dabei wird aber gegenüber der klassischen Kybernetik - der ‘Kybernetik 1. Ordnung’ - insofern ein theoretischer Fortschritt
erzielt, als zum einen Prozesse der positiven Rückkopplung (...) betont werden und zum anderen die epistemologische Beobachter-
problematik ... Es wird betont, daß das Reden über Systeme und deren Eigenschaften stets aus der Perspektive bestimmter kognitiver
Systeme heraus erfolgt. Im Ganzen ergibt sich daraus eine ‘Kybernetik 2. Ordnung’. Begriffe wie ‘organisatorische Geschlossen-
heit’ bzw. ‘operationale Schließung’, ‘Selbstreferentialität’, ‘Eigenwertbildung’, ‘Abweichungsverstärkung und ‘strukturelle Kopp-
lung’ (zwischen Systemen) werden zentral. Neben der Kybernetik als mathematische Disziplin gewinnt dabei vor allem die Kogniti-
onsbiologie an Bedeutung“ (Paslack 1991, S.133-134). Als Vertreter dieser Richtung der Kybernetik 2. Ordnung gilt vor allem
Heinz von Foerster, der in Illinois mit einer wechselnden, interdisziplinären Forschergruppe arbeitete, zu der auch Maturana zählte.
Bei Paslack wird deshalb in Bezug auf sein Thema ‘Selbstorganisation’ Maturanas Arbeit zunächst einer systemtheoretisch-
kybernetischen Richtung zugeordnet.96 „Dissipative Strukturen sind Systeme, die ihre Identität nur dadurch behalten können, daß sie ständig für die Strömungen und
Einflüsse ihrer Umgebung offen sind (...) Es sind offene Systeme, die Energie aus der Außenwelt beziehen und Entropie produzie-
ren, d.h. Abfallenergie, die sich in die Umgebung zerstreuen oder dissipieren“ (Briggs/Peat 1990 S. 207). Zur Erklärung von dissi-
pativen Strukturen siehe auch einführend Kriz 1992, S.159ff.
63
Zum anderen beschäftigte er sich mit Strukturen, die sich gerade durch ständige Ener-
giezufuhr erhalten. Diese Strukturen gelangen dann in einen stabilen Zustand, wenn
durch Energiezufuhr auch Energie wieder zerstreut wird, zum Beispiel durch Reibungs-
verluste, eben „dissipiert“ (vgl. die kurze Zusammenfassung bei Haken 1995, S.284ff.
und ausführlich Haken/Wunderlin 1991). So ging es in seinem Ansatz um „Selbstorga-
nisation unter Aufrechterhaltung eines Austausches von Energie und Materie mit der
Umgebung“ (Handlexikon der Wissenschaftstheorie 1989, S.332)97. Systemtheoretische
Erkenntnisse wurden aber nicht nur in die Chemie (z.B. durch Prigogine), die Physik
(durch den von Haken eingeführten Bereich der Synergetik) oder die Biologie (durch
Maturana) übertragen, sondern auch in die Soziologie (durch Luhmann).
Worum es aber in diesen Bereichen zusammenfassend immer ging und nach wie vor
geht, ist die Beschreibung und/oder Erklärung alltäglicher und natürlicher Phänomene
und Probleme. Dabei ging es zunächst, vorwiegend aus der Sicht von v.Bertalanffy, um
die Feststellung, daß Systeme nicht nur aus Einheiten bestehen, sondern ebenso durch
die Beziehungen zwischen diesen Einheiten, was zu der allgemein-systemtheoretischen
Auffassung führte, daß das Ganze „mehr als die Summe der Teile“ ist (vgl. Müller
1996, S.200). Dabei ergeben sich die Beziehungen nicht nur durch die Werte der jewei-
ligen Einheiten, sondern auch aufgrund der jeweiligen Funktion. Diese Kennzeichnung
von Systemen ist so abstrakt gehalten, weil sie nur so auf alle möglichen Systeme zu-
treffen kann, nicht nur auf biologische oder physikalische, sondern auch auf mathemati-
sche. Nach dem man sich aber zunehmend mit den Wechselbeziehungen zwischen Sys-
temteilen beschäftigt hat, überwiegt heute die Auffassung, daß die Trennung zwischen
den Einheiten eines Systems und den Beziehungen nicht mehr so deutlich ist, sondern
daß die Beziehungen selbst im Mittelpunkt stehen, daß also durch sie sich Systemein-
97 „Prigogine war einer der ersten zeitgenössischen Wissenschaftler, der erkannte, welch seltsame Dinge in diesem weit vom Gleich-
gewicht entfernten Chaos geschehen können. Er entdeckte, daß in weit vom Gleichgewicht entfernten Zuständen Systeme nicht nur
untergehen, sondern auch neu geboren werden“ (Briggs/Peat 1990, S.202). Das Auftreten dissipativer Strukturen sollte „durch ein
bestimmtes universelles Prinzip bestimmt sein. Dieses von Paul Glansdorff und Prigogine aufgestellte Prinzip befaßt sich damit, wie
Entropie, das heißt wie Unordnung auf mikroskopischer Ebene bei dissipativen Vorgängen erzeugt wird. Wie von Rolf Landauer
und von Ronald F. Fox gezeigt wurde, ist dieses Prinzip leider nicht universell gültig ... Dieses Prinzip ist nämlich auch gar nicht in
der Lage vorauszusagen, welche ‘dissipativen Strukturen’ überhaupt entstehen ... Die neueren Arbeiten der Brüsseler Schule haben
inzwischen eine Richtung genommen, wie sie von der Synergetik zum Beispiel beim Laserproblem von Anfang an eingeschlagen
wurde“ (Haken 1995, S.285-286). Vgl. hierzu den Abschnitt über Synergetik. Die Prinzipien der Thermodynamik sollen hier des-
halb auch nicht weiter vertieft werden.
64
heiten herausbilden, Entwicklung von Systemen erfolgt und auch die Systemgrenzen
entstehen (vgl. Hejl 19903).
Aus der soziologischen Sichtweise der Systemtheorie heraus wurde schließlich ein ers-
ter Versuch unternommen, auch pädagogische Systeme genauer zu beschreiben, wobei
das System Schule und das Erziehungssystem als Teilbereiche des Sozialsystems ver-
standen werden98. Seit den siebziger Jahren hat in der Theorie sozialer Systeme aller-
dings eine Entwicklung stattgefunden99. So können hier folgende Ansätze unterschieden
werden: 1. Der strukturell-funktionale Ansatz, nach dem soziale Systeme bestimmte
Strukturen aufweisen und entsprechende funktionale Leistungen zur Erhaltung dieser
Strukturen erbringen (Vertreter: T. Parsons). 2. Der system-funktionale Ansatz, in dem
die Strukturen des Systems nun mehr als Variablen verstanden werden, die sich ent-
sprechend den Umweltbedingungen verändern können (Vertreter: W. Buckley und J.
Miller). 3.Im funktional-strukturellen Ansatz wird der Umwelt als konstitutiver Faktor
der Systembildung noch mehr Bedeutung beigemessen, sowie den Relationen zwischen
den Teilen des Systems im Gegensatz zu den einzelnen Faktoren (Vertreter: N. Luh-
mann). 4. Im funktional-genetischen Ansatz steht dann die Genese von Systemen, der
prozessuale Aspekt der Systembildung im Mittelpunkt von Untersuchungen. Hierzu
gehört auch Piagets Erkenntnistheorie (Vertreter: Th. Mills). 5. Schließlich entwickelte
sich die Theorie selbstreferentieller Systeme in Anlehnung an die Theorie der Autopoi-
ese von H. Maturana und F. Varela100. Hierbei geht es nun darum, daß sich die Systeme
mit Hilfe ihrer eigenen Elemente in einem „geschlossenen Prozeß“ selbst reproduzieren
(Vertreter: N. Luhmann mit seiner um den Aspekt der Selbstreferenz erweiterten Theo-
rie).
Mittlerweile wird die Systemtheorie immer häufiger mit der Evolutionstheorie101 ver-
bunden, wodurch die Anwendungsmöglichkeit auf die Geschichte von Systemen er-
weitert wurde.
98 Hierzu siehe Luhmann, N./Schorr, K.-E.: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, 1979.99 Zum Folgenden siehe ausführlich Willke, H.: Systemtheorie, 19872, S.3ff.100 „Es gibt eine Klasse mechanistischer Systeme, in der jedes Element ein dynamisches System ist, das als Einheit durch Relationen
definiert wird, welche es als ein Netzwerk von Prozessen der Produktion von Bestandteilen konstituieren ... Ich nenne solche Syste-
me autopoietische Systeme, die Organisation eines autopoietischen Systems heißt die autopoietische Organisation“ (Maturana
19852, S.141-142). Ausführlich wird der Begriff der Autopoiese in Kapitel 4 behandelt.101 „Wenn die Strukturveränderungen derart radikal sind, daß die Organisation des Systems, das heißt seine Identität, betroffen wird,
dann sprechen wir von Evolution. Evolution ist nicht bloße Strukturänderung, sondern organisationale Transformation, das heißt
65
„Systemtheorie - in Verbindung mit der Evolutionstheorie - dürfte im interdisziplinären
Theorievergleich, wenn wir dieses Metakriterium anlegen, vorteilhaft von anderen, tra-
ditionellen Theoriesystemen abstechen, denn sie verbindet eine relativ einheitliche und
übersichtliche Semantik mit einer fast unbeschränkten universellen Anwendungsmög-
lichkeit. Sollte die Systemtheorie diese interdisziplinäre Dienstleistungsfunktion tat-
sächlich einmal übernehmen, kommt auch die Erziehungswissenschaft an einem
Lernprozeß nicht vorbei“ (Treml 19942, S.151).
So wurde mit Hilfe der Evolutionstheorie bereits bei Büeler102 die Entstehung des Sys-
tems Erziehung aufgezeigt103.
In der Pädagogik hat man sich bisher hauptsächlich im Bereich der Allgemeinen Päda-
gogik104 mit der Systemtheorie auseinandergesetzt, ausgehend von der Arbeit von Luh-
mann und Schorr: „Reflexionsprobleme im Erziehungssystem“(1979), die immer wie-
der Grundlage und Ausgangspunkt für ein systemisches Theorieverständnis in der Pä-
dagogik wurde105. Überblickt man die neuere systhemtheoretisch orientierte pädagogi-
sche Literatur, so sind wir „mit den neunziger Jahren in eine Phase eingetreten ..., mit
der, zumindest wenn Proklamationen Glauben zu schenken ist, eine neue grundlegende
Auseinandersetzung mit dem Theorieangebot der Systemtheorie beginnen soll“ (Ba-
ckes-Haase 1996, S.102)106.
Aus derzeitiger Sicht kann die junge Entwicklung der Systemtheorie auch so zusam-
mengefaßt werden:
„Mit der theoretischen Fundierung der Dynamik evolvierender Systeme ist der Anstoß
zur Entwicklung einer erneuerten und erweiterten allgemeinen dynamischen System-
theorie erfolgt. Die wesensverwandte (homologe) Dynamik selbstorganisierender Sys-
teme chemisch-physikalischer, biologischer, soziobiologischer, soziokultureller, aber
die Entwicklung oder Entstehung von neuen Formen von Systemen aus der Autopoiesis und operationalen Geschlossenheit von
bestehenden Systemen heraus“ (Krieger 1996, S.41). Siehe ausführlich das Kapitel über Evolution bei Luhmann 1997, S.413ff.102 Büeler, X.: System Erziehung 1994. Zur Entstehung des Systems Erziehung in der Evolution siehe ebd. S.57ff. Ohne spezifisch
systemtheoretische Erkenntnisse wurde durch Max Liedtke (1972) der Zusammenhang zwischen Erziehung und Evolution herge-
stellt.103 So wird mittels der Evolutionstheorie zu zeigen versucht, inwieweit einzelne Systeme aus anderen emergiert sind. Darauf kann
hier nicht näher eingegangen werden, vgl. hierzu u.a. Krieger 1996, S.50ff. und Roth 19903, S.256ff.104 Zum Systembegriff und Systemdenken in der Erziehungswissenschaft siehe Oelkers/Tenorth 1987, S.15ff.105 Vgl. hierzu die Arbeiten von Schäfer 1983, Urban 1985, Oelkers/Tenorth 1987, Huschke-Rhein 19922 und 19942.106 Zu den neuen systemthoretischen Arbeiten im pädagogischen Bereich zählen insbesondere Backes-Haase 1996, Reich 1996 und
Wyrwa 1996. Systemtheoretisches Wissen wird mittlerweile auch dort einbezogen, wo es um pädagogisches Handeln geht. Dies
zeigen die Arbeiten von Spanhel/Hüber 1995, Voß 1996 und Rotthaus 1998.
66
auch psychologischer und gedanklicher Natur führte seit der Mitte der siebziger Jahre
zu ersten Ansätzen, die Evolution vom „Urknall“ bis zu den Manifestationen des Men-
schengeistes nach fast zweieinhalb Jahrtausenden der Fragmentierung in der westlichen
Wissenschaft wieder als einheitliches Gesamtphänomen zu erkennen“ (Jantsch, E.,
Handlexikon der Wissenschaftstheorie 1989, S.333).
Bei der Beschreibung von Phänomen unterschiedlichster Art ist allerdings zu beachten:
„Aufgrund ihres problemorientierten Zugangs postuliert die Systemtheorie somit nicht
mehr eine aus allen möglichen Perspektiven zu beobachtende ‘Einheit’ der Realität; sie
setzt vielmehr auf einen differenztheoretischen Zugang zu den Problemen der Welt, der
Beobachterperspektiven unterscheidet und einkalkuliert, aus denen jedoch nur mit im-
mer wieder neuen Differenzen beobachtet werden kann, ohne daß eine Beobachtung
oder ein Beobachter für sich reklamieren könnte, letztgültige Gewißheit über die einzig
berechtigte Lösungsmöglichkeit für anstehende Probleme zu verfügen“ (Backes-Haase
1996, S.122-123).
Das heißt, durch die Systemtheorie werden Ganzheiten erfaßt, die aber nicht mehr als
Einheiten im ontologischen Sinne zu verstehen sind, sondern, wie schon gesagt, sich
durch Systembeziehungen und damit einhergehenden Differenzen zu anderen mögli-
chen Beziehungen bzw. zur Umwelt ergeben. Die Erklärung und Beschreibung von
Systemen muß dementsprechend auch innerhalb der Theorie durch das Aufdecken von
Beziehungen, die durch die Feststellung von Differenzen erfolgt, geschehen und zwar
innerhalb des Systems, zwischen Systemen und zwischen System und Umwelt(en). Das
ist mit dem von Backes-Haase geforderten „differenztheoretischen“ Zugang gemeint.
Neben den Grundbegriffen von Einheit oder Element, Beziehung oder Interaktion und
der Umwelt von Systemen, bildet die Differenz eine wichtige Grundlage. Dabei wird
direkt die Frage aufgeworfen, wer denn Differenzen vornimmt. Innerhalb der System-
theorie wird von dem Beobachter gesprochen, der genau genommen die Systeme aber
weniger beobachtet als konstruiert, indem er differenziert, Beziehungen erkennt und so
Systemeinheiten und Systemzusammenhänge herausstellt.
Insgesamt handelt es sich zunächst um eine sehr abstrakte, weil umfassende Theorie107
unter der Verwendung formaler Begriffe. Dies hat den großen Vorteil, daß die Be-
107 Vgl. hierzu auch Bateson 19954, S.26f. Er weist darauf hin, daß es bei jeder Definition zwingend ist, zuerst von formalen Relati-
onen auszugehen und nicht etwa von Funktionen, denn biologisch gesehen, insbesondere von der Embryologie her, sind Funktionen
zunächst gar nicht erkennbar.
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schreibung/Konstruktion von Systemen besser in verschiedene Bereiche übertragen
werden kann, es lassen sich dann die gleichen Organisationen und Strukturen wieder-
finden. Dies gilt aber nicht nur zwischen Systemen, sondern auch innerhalb eines Sys-
tems. Auch hier finden sich auf den unterschiedlichsten Systemebenen gleiche Struk-
turgegebenheiten. Durch die Verwendung ganz allgemeiner Begriffe aus der System-
theorie können also gleich ablaufende Prozesse ganz unterschiedlicher Systemtypen
ebenso erfaßt werden wie Prozesse auf verschiedenen Systemebenen. Die Komplexität
von Systemen kann somit durch eine Theorie von eher mittlerer Komplexität umfassend
dargestellt werden. So wird zum Beispiel im weiteren Verlauf gezeigt werden, daß bio-
logische Prozesse im personalen System formal Prozessen gleichen, die innerhalb des
Systems Erziehungssituation ablaufen können. Dadurch sind allerdings Wiederholungen
unvermeidlich, denn es müssen gleiche formale Erklärungen auf verschiedenen Ebenen
erfolgen, um die Komplexität zu erfassen.
Wie die verschiedenen Ansätze einer Allgemeinen Systemtheorie in unterschiedlichen
Wissenschaftsgebieten von in der Wirklichkeit ablaufenden Prozessen ausgehen (sei es
die Maschinenlehre oder die Funktionsweise des Organismus), so gilt dies auch für die
pädagogische Forschung. Diese muß, da es keine pädagogische Systemtheorie im ei-
gentlichen Sinne gibt, aus anderen Disziplinen diejenigen systemtheoretischen Ansätze
aufnehmen, die ihren Wirklichkeitsbereich aus systemtheoretischer Sicht abdecken
können. Daß hier der kybernetische Bereich der Systemtheorie nicht weiter vertieft
werden muß, liegt auf der Hand, da es bei der vorliegenden Fragestellung um den Men-
schen und nicht um Maschinen geht. So sind in der hier verwendeten Systemtheorie
Teiltheorien aufgehoben, die durch eine Integration ihre spezifische, pädagogische Be-
deutung erhalten, was in Kapitel 4 ausgeführt wird. In Bezug auf die bisherige pädago-
gische Theoriebildung über Erziehung und Entwicklung wurde bereits Ähnliches ge-
sagt. Es wird hier nicht gegen eine bestimmte Theorie zugunsten einer anderen das
Wort geredet, sei es nun in bezug auf einen bestimmten systemtheoretischen Ansatz
oder eine pädagogische Theorie, vielmehr geht es um Intergration und damit Fortent-
wicklung von systemischen und pädagogischen Ansätzen in Bezug auf die zugrundelie-
gende Fragestellung. Oder anders gesagt: „Das traditionelle Selbstverständnis der Päda-
gogik wird mit dieser neuen Sichtweise nicht abgelehnt, sondern in einen größeren Zu-
sammenhang gestellt“ (Büeler 1994, S.102).
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Allmählich sollten die Vorzüge systemischen Denkens in der Pädagogik108 bekannt
sein. Schließlich erscheint die Systemtheorie als Integrationsdisziplin notwendig „in
einer Zeit, in der die desintegrativen Kräfte aufgrund der hohen Spezialisierung und
Parzellierung des modernen Wissenschaftssystems nur mit viel Mühe noch eingebunden
werden können“ (Treml 19942, S.150f.). Allerdings muß man sich intensiv auf die Sys-
temtheorie einlassen, denn nur dann kann man sie effektiv nutzen und das heißt auch,
daß man sich nicht vor der neuen Sprache verschließt, denn sollte sich “die systemtheo-
retische Semantik tatsächlich weiter in diese Richtung entwickeln und interdisziplinäre
Resonanz und Akzeptanz finden, besteht die begründete Hoffnung, daß so etwas wie
eine moderne, schon von Leibniz erhoffte, „Scientia Generalis“ entsteht“ (Treml 19942,
S.151).
Es gäbe keine so „umfassende“ Systemtheorie ohne eine erweiterte erkenntnistheoreti-
sche Sicht, die auf die Systemtheorie Einfluß hatte, was auch in umgekehrter Richtung
gilt, da die Systemtheorie auch die Erkenntnistheorie beeinflußt hat. Insbesondere der
Konstruktivismus109, dessen Wurzeln auch in der theoretischen Kybernetik liegen, hat
das Erkenntnisproblem wieder in den Vordergrund von Philosophie und Wissen-
schaftstheorie gerückt. Wenn im weiteren Verlauf der Untersuchung konstruktivistische
Erkenntnisse einbezogen werden, dann geht es dabei um ein Konzept, das, wie Lenzen
sehr gut zusammenfaßt, „ursprünglich aus der Neurophysiologie und -biologie stammt,
mit philosophischen Vorstellungen von Kant, Peirce und Wittgenstein verknüpft, sowie
mit der Piagetschen Kognitiven Psychologie und dem Modell autopoietischer Systeme
assimiliert wurde“ (Lenzen 1996, S.151).
Nun stellt sich, wie bei jedem Prozeß von Theoriebildung, das Erkenntnisproblem auch
bei der Behandlung von Systemen, weil immer wieder die Frage auftaucht: Wie erken-
nen wir Systeme, bzw. die Grenzen zwischen Systemen, zwischen System und Umwelt,
zwischen den Teilen innerhalb eines Systems, wie eingangs erwähnt.
108 Vgl. hierzu den Aufsatz von Treml 19942, S.150ff.109 Zum Konstruktivismus zählen im weitesten Sinne „alle diejenigen Strömungen, die sich mit der Konstitutionsleistung des Sub-
jekts im Erkenntnisprozeß befassen. Menschliches Denken, Reden und Handeln sollen rekonstruiert, d.h. hinsichtlich ihrer Invarian-
zen und jeweiligen Gültigkeit in schrittweise gewonnenen Einsichten begriffen werden“ (Brockhaus-Enzyklopädie 199019). Einfüh-
rend siehe hierzu E.v.Glaserfeld 1981: Einführung in den radikalen Konstruktivismus. Oder: S.J.Schmidt (Hrsg.): Der Diskurs des
Radikalen Konstruktivismus 19903. Piagets Theorie wird auch als konstruktivistische verstanden. Vgl. hierzu Furth 19812, S.41:
„Eines der Ergebnisse des „radikalen Konstruktivismus“ Piagets ist seine entschiedene Weigerung, Objektivität in einem anderen als
konstruktivistischen Sinne aufzufassen“. Siehe hierzu ebenfalls Rusch/Schmidt 1994, sowie v.Glaserfeld 1992 und 1994.
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Die Erkenntnistheorie110 und die heutige Auffassung über Konstruktivismus111 können
hier nicht ausführlich behandelt werden, aber es sind einige erkenntnistheoretische Vor-
aussetzungen und damit verbundene wesentliche Konsequenzen bereits hier zu nennen,
die sowohl für den formalen Rahmen, also für die Anwendung von Systemtheorie, als
auch für die inhaltliche Ausführung, nämlich die Beschreibung eines bestimmten sys-
temischen Zusammenhangs, zur Grundlage gemacht und später an entsprechender Stelle
vertieft werden. So gilt zusammenfassend:
1. Die Wirklichkeit wird vom Menschen konstruiert: Der Mensch lebt nicht nur in der
Welt, sondern vielmehr „mit dieser Welt“ (Schmidt 19903, S.42) und indem er mit
der Welt lebt, wird diese von ihm hervorgebracht. „Damit steht außer Frage, was
Realität ist: ein Bereich, der durch Operationen des Beobachters112 bestimmt wird“
(Maturana 19852, S.264).
2. Erkenntnis erfolgt durch Differenz (Unterscheidung, Beobachtung): Wir erkennen,
indem wir Differenzen113 wahrnehmen, indem Unterschiede gemacht, Sinneseindrü-
cke aufgenommen, die auch mit anderen verglichen werden, aber nicht Alles kann
von Allen gleichermaßen erfaßt werden.
3. Erkenntnis ist subjektabhängig: Erkenntnis wird biologisch als subjektabhängiger
Prozeß konstituiert. Sie entspricht damit immer der Aktivität des Subjekts und ist
Konstruktion. Allerdings ist Erkenntnis damit nicht notwendigerweise individuell
verschieden, denn die Menschen unterliegen als „Angehörige einer einzigen Spezies
dem gleichen Muster genetisch determinierter Organisation sowohl hinsichtlich ih-
110 Nach Bateson ist die Erkenntnistheorie „eine unteilbare, integrierte Meta-Wissenschaft ..., deren Thema die Welt der Evolution,
des Denkens, der Anpassung, der Embryologie und der Genetik bilden - die Wissenschaft des Geistes im weitesten Sinne des Wor-
tes“ (Bateson 19954, S.112).111 Krieger 1996, S.155-156 nennt aus neuerer Sicht als Aufgaben des Konstruktivismus die „Reflexion auf die Systemtheorie selber
als System, die damit zusammenhängenden epistemologischen und ontologischen Fragestellungen und den Anspruch auf theoreti-
sche Universalität ...“.112 „Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter zu einem anderen Beobachter gesagt. Der Beobachter kann außerdem stets in
rekursiver Weise Beobachter seines eigenen Beobachtens sein und sich außerhalb der Beschreibung seiner Umstände stellen“ (Ma-
turana 19852, S.148).113 Siehe hierzu zum einen Bateson 19954, S.99: „Aber als nächstes kommt die Differenzierung, ob es sich nun um die (sicher)
zufällige Erzeugung von Vielfalt in der Evolution oder um die geordnete Differenzierung der Embryologie handelt“. Differenzie-
rung ist mittlerweile zu einer anthropologischen Prämisse geworden. Siehe hierzu auch Büeler 1994, S.14ff. Gleiches gilt auch für
Luhmann (1987, S.112): „Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz. Nur das macht es möglich, Zufällen Informati-
onswert zu geben und damit Ordnung aufzubauen; denn Information ist nichts anderes als ein Ereignis, das eine Verknüpfung von
Differenzen bewirkt“.
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rer allgemeinen Art der Autopoiese114 als auch hinsichtlich der Architektonik des
Nervensystems. Diese strukturelle Einheit(lichkeit) bildet die Voraussetzung aller
kulturellen Einheit(lichkeit)“ (Maturana 19852, S.308)115. Insbesondere in Hinblick
auf allgemeine Handlungsorientierungen in Erziehungssituationen wird der Unter-
schied zwischen dem individuellen und dem epigenetischen Subjekt noch von Be-
deutung sein.
4. Wissen muß viabel116 sein. Wissen117 repräsentiert nicht eine Welt, die jenseits unse-
res Erfahrungshorizontes existiert, denn Wissen wird in Abhängigkeit vom Erkennt-
nisprozeß konstruiert. Vielmehr gilt, daß das Wissen viabel sein muß, d.h. es muß in
die Erfahrungswelt des Wissenden passen. Das bedeutet dann jedoch, daß Wissen
nicht Einzigartigkeit beanspruchen kann. Wenn Lösungen gefunden werden, dann
sind sie für das entsprechende Problem viabel, aber es könnten immer auch andere
Lösungen möglich sein. (Auf die damit verbundenen Kontingenz wird noch aus-
führlicher eingegangen werden).
5. Es gibt keine letztgültige Wahrheit: „Sagen wir, daß Wahrheit eine genaue Korres-
pondenz zwischen unserer Beschreibung und dem Beschriebenen oder zwischen un-
serem gesamten Netzwerk von Abstraktionen bzw. Deduktionen und irgendeinem
vollständigen Verstehen der äußeren Welt bedeuten würde. Wahrheit in diesem Sin-
ne ist nicht erreichbar. (...) Die Regelmäßigkeiten oder „Gesetze“, die Ideen anein-
ander binden - sie sind die „Wahrheiten“. Näher können wir nicht an die letzte
Wahrheit herankommen (Bateson 19954, S.37 und S.236).
Wenn diese allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundlagen angenommen werden,
befinden wir uns sozusagen auf doppeltem Boden. Zum einen gilt eben Gesagtes für die
Anwendung systemtheoretischer Erkenntnisse im allgemeinen. Das heißt, es wird hier
mit einer Theorie gearbeitet, die sich zwar zur Erklärung von Prozessen unterschiedli-
114 Zum Begriff ‘Autopoiese’ siehe Maturana/Varela 19872, S.55ff.115 Siehe hierzu auch die Zusammenfassung von Furth 19812, S.38: „Piaget ist fest überzeugt, daß Erkenntnisverhalten auf allen
Stufen der Evolution oder Entwicklung insofern eine grundlegende Kontinuität aufweist, als sich in ihm die Struktur der biologi-
schen Organisation manifestiert. Gleichzeitig erkennt er qualitative Unterschiede in der Weise des Erkennens“.116 Der Begriff Viabilität „drückt die Angemessenheit einer Wahrnehmung für ein bestimmtes System an einem bestimmten Raum-
Zeit-Punkt aus, gemessen an bestimmten Aufgaben, z.B. dem Überleben“ (Büeler 1994, S.36).117 Zum Wissensbegriff siehe ausführlich Steindorf 1985, S.13ff. Dort heißt es in Anlehnung an Max Scheler (S.21): „Wissen ist der
im Bewußtsein (in mente) befindliche, sprachlich fixierte (und formulierte) Bedeutungsgehalt einer Sache (extra mentem), das
Sosein eines Gegenstandes“. Im Konstruktivismus wird Wissen zunehmend mit dem Prozessieren von Sinn gleichgesetzt. Vgl.
hierzu Krieger 1996, S.156ff.
71
cher Art im Laufe der letzten Jahre als hilfreich und erkenntnisfördernd herausgestellt
hat, allerdings bleibt diese Theorie, trotz weitgehender Übereinstimmung im wissen-
schaftlichem Bereich, subjektabhängig; sie ist durch Beobachtung und Unterscheidun-
gen entstanden, sie wird viabel gemacht und es gibt keine Gewißheit, daß es sich hierbei
um die einzig mögliche Erklärungsform handelt. Aber deshalb ist sie nicht „weniger“
wissenschaftlich als andere Theorien, da es aus systemtheoretischer Sicht in der Wis-
senschaft nicht um Wahrheit im ontologischen Sinne geht. Die Systemtheorie bildet
heute im wissenschaftlichen Bereich m.E. die einzige Theorie, die interdisziplinäre Ge-
samtzusammenhänge oder Ganzheiten und die in ihnen ablaufenden Prozesse sichtbar
machen kann und hierfür Theorieteile aus verschiedenen Bereichen zu integrieren ver-
mag. Sie ist damit von hohem wissenschaftlichen Wert.
Zum anderen haben die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen auch Konsequenzen
für die Pädagogik im Allgemeinen und die spezifische Fragestellung der vorliegenden
Arbeit im Besonderen. Diese werden im Verlauf der Arbeit deutlich werden. Hier kann
zusammenfassend festgehalten werden, daß die Pädagogik es mit Menschen zu tun hat,
deren Erkenntnisstruktur der dargestellten Form entspricht, und das gilt natürlich auch
für das zu erziehende Kind. Der Pädagogik werden dadurch eindeutige Grenzen gesetzt,
die noch näher bestimmt werden, sich aber aus der Subjektabhängigkeit und der je eige-
nen Konstruktion von Erkenntnis beim Kind und beim Erzieher ergeben. Und die Päda-
gogik muß in Abhängigkeit davon zu Möglichkeiten kommen, auf diesen Erkennt-
nisprozeß Einfluß zu nehmen, wenn es ihr um Erkenntniserweiterung beim Kind geht.
Wenn die Welt aus Systemen besteht, die miteinander in Verbindung stehen, wenn es
unter der Vielzahl von Systemen auch ein Erziehungssystem gibt und der Mensch als
personales System auch Teil dieses Erziehungssystems sein kann, dann wird die Sys-
temtheorie als Universaltheorie für die Pädagogik interessant, um die ebenfalls univer-
salen Phänomene von Erziehung und Entwicklung auf diesem Hintergrund zu prüfen.
Und wenn die Systemtheorie mit ihrem universalen Anspruch jegliche Zusammenhänge
beschreiben bzw. konstruieren und/oder auch erklären kann, dann scheint sie besonders
geeignet für die Darstellung des Zusammenhangs von Entwicklung und Erziehung, zu-
mal wenn festgestellt wurde, daß dies pädagogische Theorien bisher nicht umfassend
leisten konnten. Und schließlich wird die Systemtheorie notwendig, weil in den für die
vorliegende Fragestellung besonders wichtigen Bereichen der Biologie, der Psychologie
und der Soziologie ein die Disziplinen übergreifender Erkenntnisfortschritt erfolgt ist,
72
der diese Bereiche enger aneinander gebunden hat, was innerhalb der Pädagogik zu
berücksichtigen ist, sofern sie sich ebenfalls diesen Disziplinen verbunden fühlt.
3.2 Methodisches Vorgehen und Präzisierung der Fragestel-lung
Die Systemtheorie ist ein begriffliches System118, das in der vorliegenden Arbeit zur
Anwendung kommt. Es wird somit Begriffsarbeit geleistet, d.h. es geht um die begriff-
liche Rekonstruktion von Aussagen über pädagogische Wirklichkeit. Nun gibt es m.E.
keine bestimmte Methode mit der gearbeitet werden könnte. Auch eine sich aus der
Allgemeinen (und das meint interdisziplinären) Systemtheorie entwickelte systemische
oder systemtheoretische Methode liegt nicht vor, bzw. sie ist noch nicht thematisiert
worden. Die Frage stellt sich, ob eine solche systemspezifische Methode überhaupt
notwendig ist. Sie würde sich sicherlich nicht als „Neuheit“ darstellen, sondern viel-
mehr durch eine Verbindung von bisher innerhalb der Systemtheorie verwendeter Me-
thoden(teile). Eine systemtheoretische Methode kann hier nun nicht eigens entwickelt
werden, das würde eine weitere Arbeit notwendig machen. Hier werden jedoch Aspekte
einer entsprechenden Methode genannt, wobei es sich um jene handelt, die in der vor-
liegenden Arbeit Einsatz finden. Dabei wird von den eher als traditionell bekannten
Methoden ausgegangen, die nach wie vor grundlegend bleiben:
- Es wird nicht konsequent phänomenologisch gearbeitet. Die phänomenologische Vor-
gehensweise führt durch Reduktion von Einzelheiten zur reinen „Wesensschau“ und
letztlich zu einem „ideellen Gegenstand“, der beim späten Husserl zur transzendentalen
Begründung der Erkenntnis führt (vgl. Tschamler 19963, S.41f.). Hier geht es aber ge-
rade nicht um Reduktion, sondern im Gegenteil um Komplexität, die Erklärung kom-
plexer Zusammenhänge, in denen z.B. auch räumliche und zeitliche Bedingungen mit
erfaßt werden. Der speziell phänomenologisch-deskriptiven Pädagogik geht es um das
Beschreiben und Erkennen von Phänomenen in der Art, „daß eine Evidenz als Gewiß-
heit erreicht werden kann“ (Tschamler 19963, S.172). Indem hier aber aus systemtheo-
retischer Perspektive (was dem Anspruch theoretischer Unvoreingenommenheit bei der
118 „Teils versteht man unter Theorie empirisch testbare Hypothesen über Beziehungen zwischen Daten, teils begriffliche Anstren-
gungen in einem weitgefaßten, recht unbestimmten Sinne. Eine Mindesterfordernis ist zwar beiden Richtungen gemeinsam: Eine
Theorie muß Vergleichsmöglichkeiten eröffnen“ (Luhmann 1987, S.7). Die Systemtheorie hat sich aus Theorien der ersten Form
herausgebildet und stellt sich heute als Theorie der zweiten Form da, also als Begriffssystem.
73
Beobachtung aus phänomenologischer Sicht nicht entspricht) das Phänomen der Erzie-
hung erfaßt werden soll, ohne daß in diesem Rahmen empirische Untersuchungen mit
einbezogen werden können, kann auch Gewißheit in dem hier verstandenen Sinne nicht
eingelöst werden, da ein Phänomen weniger beschrieben als konstruiert wird.
Phänomenologisch wird in dem Sinne gearbeitet, daß tatsächlich eine Analyse bis zu
den letzten Elementen einer Erscheinung erfolgen soll (allerdings mit dem begrifflichen
Instrumentarium der Systemtheorie), durch die dann eine physische, psychische, soziale
und hier schließlich pädagogische Realität aufgedeckt wird.
- Es wird auch nicht konsequent hermeneutisch gearbeitet. Dabei ist die Methode des
Verstehens die Voraussetzung für die Analyse, d.h. die systemtheoretischen Ansätze,
mit denen gearbeitet wird, sind zu verstehen, zu interpretieren, bevor sie in einen ande-
ren, hier pädagogischen Bereich hineingetragen werden. In der Analyse geht es aber um
die Anwendung auf einen neuen Sachverhalt, für den die Theorie (hier die Systemtheo-
rie) ursprünglich gar keine Geltung haben sollte, nun aber aufgrund ihres Allgemein-
heitsanspruchs hin geprüft wird. Wenn es in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik
eher darum geht, daß der „Objektbereich der Pädagogik gesetzt und nicht vorgefunden“
wird (Litt in Tschamler 19963, S.151), so geht es hier, wie bereits gesagt, darum, daß
ein pädagogisches Phänomen konstruiert oder genauer re-konstruiert wird.
Systemtheoretisches Arbeiten ist zunächst ein deduktives Vorgehen und widerspricht
damit der hermeneutischen Vorgehensweise, in der der „Induktionsschluß von einzel-
nen Lebensäußerungen auf das ganze des Lebenszusammenhangs“ zu Urteilen und da-
mit einer „höheren Form des Verstehen“ führt (vgl. Dilthey 1970, S.260). Zusammen-
hänge oder Ganzheiten, die in wissenschaftlichen Arbeiten herausgestellt werden (wo-
bei hier angenommen wird, daß es sich dann um die ‘höhere Form des Verstehens’ han-
delt), ergeben sich innerhalb der Hermeneutik durch Induktion. Systemtheoretisch wird
zunächst genau anders herum gearbeitet: Das Ganze in Form einer Allgemeinen Theorie
über Systeme liegt (mehr oder weniger) vor und wird Ausgangspunkt für die Analyse
eines pädagogischen Feldes oder Phänomens, wobei genaue Erkenntnisse über dieses
Phänomen eben aufgrund eines deduktiven Vorgehens erhofft werden. Ist jedoch der
Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung systemtheoretisch analysiert, dann
können - und hier käme nun ein induktives Vorgehen zum tragen - Rückschlüsse auf die
Allgemeine Systemtheorie bzw. auf pädagogische Forschung gezogen werden. Dabei
bleibt ein deduktives als auch ein induktives Vorgehen im theoretischen Bereich.
74
Die deduktive Vorgehensweise, die in der vorliegenden Arbeit durch den Einsatz der
Systemtheorie notwendig wird, widerspricht nicht dem hermeneutischen Zirkel, als dem
wesentlichen Kennzeichen der Hermeneutik, nach dem Erkenntnis immer in ein Vor-
verständnis (hier die Systemtheorie) eingebettet ist, das seinerseits hermeneutisch erfaßt
werden kann119. Die Systemtheorie (im Sinne der Hermeneutik als Ganzheit verstanden)
basiert schließlich auf induktiven Vorgängen in spezifischen Lebensbereichen (im her-
meneutischen Sinne als Einzelheiten verstanden). Hier soll das Einzelne, nämlich die
Fragestellung nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung, vom Ganzen
her, nämlich der Systemtheorie, verstanden werden, wobei das Einzelne auch zur Kon-
struktion des Ganzen beiträgt. Die geschriebene Sprache ist hierbei das Medium für
Erkenntnis.
Im Sinne des Verständnisses und der Auslegung von Texten (siehe genauer Tschamler
19963, S.38f. und Dilthey 1970, S.267ff.) wurde im 2. Kapitel dieser Arbeit bereits
hermeneutisch vorgegangen, indem verschiedene Perspektiven über Erziehung und
Entwicklung dargestellt und in Bezug auf das Thema der Arbeit interpretiert wurden.
Insofern bleibt die hermeneutische Methode Grundlage für jedes weitere Vorgehen.
- Es wird nicht empirisch gearbeitet. Aber empirisches Arbeiten in Anlehnung an die
Systemtheorie ist nicht prinzipiell ausgeschlossen. Die Systemtheorie selbst ist aus em-
pirischen Arbeiten hervorgegangen (vgl. hierzu u.a. Maturanas grundlegende Arbeit
über Wahrnehmungsvorgänge bei Fröschen in Maturana 1996, S.29ff., sowie Maturana
19852, S.88-137. Und man denke auch an Piagets frühe biologische Arbeiten, vgl. hier-
zu Kesselring 1988, S.18ff., abgesehen von seinen unzähligen Untersuchungen mit
Kindern). Es ist also zu bedenken, daß sich systemtheoretische Erkenntnisse, also die
allgemeinen Schlußfolgerungen, deren spezifischer Terminologie oft ein zu hoher Abs-
traktionsgrad vorgeworfen wird, Ergebnisse empirischer Forschung darstellen, die je-
doch - und das wird deutlich, wenn man die Forschungen genauer betrachtet - eher qua-
litativer als quantitativer Natur sind. Da hier nicht der Ort ist, näher auf empirisches
Arbeiten einzugehen, so ist dennoch festzuhalten, daß die Systemtheorie auf empirische
Forschung angewiesen ist und systemtheoretisches Arbeiten zu neuen Fragestellungen
führt, die ein empirisches Vorgehen erzwingen (vgl. hierzu den Abschnitt über Konse-
119 Den hermeneutischen Zirkel beschreibt Dilthey einmal so: „Aus den einzelnen Worten und deren Verbindungen soll das Ganze
eines Werkes verstanden werden, und doch setzt das volle Verständnis des Einzelnen schon das des Ganzen voraus“ (Dilthey in
Tschamler 19963, S.40).
75
quenzen für die pädagogische Forschung). Dabei ist heute sicherlich ein integrativer
Ansatz im Bereich empirischer Forschung, wie er zum Beispiel von Mayring (19963)
dargestellt wird, von Vorteil, indem quantitative und qualitative Methoden nebeneinan-
der bestehen und sich keineswegs ausschließen, sondern vielmehr ergänzen. In diesem
Sinne führt auch die vorliegende Arbeit zu neuen, empirisch zu überprüfenden Frage-
stellungen.
- Die deduktive Überprüfung der Systemtheorie in bezug auf ein pädagogisches Phä-
nomen erfolgt in Anlehnung an Forderungen des kritisches Rationalismus, wie er von
Popper vertreten wird, mit der Einschränkung, daß hier, da Empirie nicht vorliegt, die
Systemtheorie im streng empirischen Sinne verstanden, nicht falsifizierbar ist. Die Sys-
temtheorie wird jedoch in dem Sinne einer Überprüfung unterzogen, als sie auf ein pä-
dagogischen Feld angewendet und dieses analysiert wird. Die Methode stellt sich für
Popper zusammenfassend so dar:
„Aus (...) dem theoretischen System, werden auf logisch-deduktivem Weg Folgerungen
abgeleitet; diese werden untereinander und mit anderen Sätzen verglichen, indem man
feststellt, welche logischen Beziehungen (z.B. Äquivalenz, Ableitbarkeit, Vereinbarkeit,
Widerspruch) zwischen ihnen bestehen“ (Popper 1934 in ders. 1995, S.120).
Dabei kann die Prüfung in verschiedenen Richtungen erfolgen, wobei es im vorliegen-
den Falle darum gehen muß, inwieweit ein Vergleich mit anderen Theorien (hier den
Entwicklungs- und Erziehungstheorien) zu einem wissenschaftlichen Fortschritt führt.
Was allerdings nicht mehr geleistet wird, nämlich eine empirische Überprüfung, fordert
schließlich auch Popper als letzte Überprüfung einer Theorie. Insofern werden hier
nicht alle methodischen Schritte nachvollzogen.
- Die funktionale Methode stellt eine weitere Voraussetzung für systemtheoretisches
Arbeiten dar. Während Maturanas und Piagets Forschungen primär empirischer Natur
sind, führt Luhmann die funktionale Methode zur Analyse von Systemzusammenhän-
gen ein. Sie bildet auch eine Grundlage der vorliegenden Arbeit. Luhmann geht es um
die Gesellschaft als System, das sich zunehmend in Teilsysteme ausdifferenziert, die
nicht mehr durch eine „operative Kontrolle“ im Sinne von Idealen oder Normen, aus
denen sich methodologische Richtlinien ergeben, erfaßt werden kann. Will man den
„verschiedenartigen Funktionsweisen“ innerhalb der Gesellschaft gerecht werden, dann
muß man gleiche Strukturen innerhalb des Systems feststellen, die auch für die gesamte
Gesellschaft gelten. Methodologie heißt dann nicht mehr, daß von einem bestimmten
76
Ausgangspunkt ausgegangen wird, sondern es „bleibt nur die Möglichkeit, theoriebau-
technisch so transparent wie möglich zu verfahren und Begriffe als Entscheidungen
auszuweisen, die mit erkennbaren Folgen geändert werden können“ (Luhmann 1997,
S.42 und 43). Luhmann gelangt so zur funktionalen Methode (die auch problem- oder
äquifunktionale genannt wird), in der es nicht darum geht, die Realität „richtig“ zu be-
schreiben und in der es auch nicht um Kausalgesetzlichkeiten geht, sondern um einen
Vergleich, in den dann allerdings auch Kausalannahmen mit einfließen können120. Die
funktionale Methode wird also als vergleichende verstanden, es geht hier um die Er-
mittlung von Relationen zwischen Relationen. Das widerspricht im übrigen der kon-
struktivistischen Auffassung, in der es um Methodenviabiliät und -brauchbarkeit geht
(vgl. Tschamler 19963, S.74), die hier deshalb auch gar nicht weiter thematisiert werden
soll.
Es wurde im vorigen Abschnitt schon gesagt, daß Systemdenken immer Denken inner-
halb von und gleichzeitig über Systeme meint; man kann also nicht außerhalb von Sys-
temen Probleme lösen oder bestimmte Methoden anwenden. Auch die funktionale Me-
thode liegt innerhalb eines Systems und hat Systemzusammenhänge zu berücksichtigen,
sie kann durch Reduktion Probleme lösen, indem sie Vergleiche zieht zwischen funkti-
onalen Äquivalenzen, also zwischen Funktionen unterschiedlich ausdifferenzierter (bei
Luhmann sozialer) Teilsysteme. Es ist klar, daß es somit prinzipiell auch immer andere
Lösungsmöglichkeiten geben kann, da auch zwischen dem Problem und den Problemlö-
sungen (System-)Beziehungen bestehen, die veränderbar sind. Indem aber funktionale
Äquivalenzen möglichst vollständig erfaßt werden, wird Willkür und „normfreie Belie-
bigkeit“ ausgeschlossen (vgl. Krause 1996, Anmk.35).
In der vorliegenden Arbeit wird die funktionale Methode insofern relevant, als es tat-
sächlich um funktionale Äquivalenzen geht, nämlich zwischen organischen (oder biolo-
gischen) und psychischen (oder kognitiven) und sozialen (oder kommunikativen) Sys-
temen. Es handelt sich hierbei um den Vergleich verschiedener Systemebenen und Teil-
systeme. So ist das biologische System zum Beispiel Teil des psychischen Systems und
beide bilden die Voraussetzung für das soziale System; und so konstituieren diese Teil-
120 „...Man muß dann nur die pure Hypothezität der Kausalannahmen nicht vergessen, sondern in den Vergleich einbringen. Man
kommt dann zu Aussagen wie: Wenn (es wirklich zutrifft, daß) Inflationen Verteilungsprobleme relativ konfliktfrei lösen (mit
welchen Nebenfolgen auch immer), sind sie ein funktionales Äquivalent für politisch riskantere, weil konfliktreichere staatliche
Planung“ (Luhmann 1987, S.85).
77
systeme ihrerseits das personale System. Luhmann selbst geht es immer um die Gesell-
schaft als System und damit explizit um ein „Gesamtsystem“ im umfassenden Sinne
verstanden. Hier geht es jedoch nicht um Erziehung als soziales System, sondern um
Erziehung als Funktion innerhalb des sozialen Systems und ihre Verbindung zur Ent-
wicklung als Funktion des personalen Systems. Luhmanns Methode wird also prinzi-
piell akzeptiert, aber auf eine systeminterne Ebene bezogen (wenn man von Luhmanns
Sicht des sozialen Systems als Gesamtsystem ausgeht), auf der dann ein analytisches
Vorgehen notwendig wird. Es ist zu beachten, daß sich bei Luhmann die funktionale
Methode im Verlauf der Systemtheorie entwickelt hat und somit in Parallelität zur The-
orie selbst entstanden ist, während sie in der vorliegenden Arbeit als Voraussetzung
mitgeführt werden kann und weiter spezifizierbar erscheint.
- Die Systemtheorie hat Modellcharakter, der vergleichendes Arbeiten ermöglicht. Hier
kann nun auch die Auffassung vertreten werden, daß die Systemtheorie als Modell - im
Sinne einer Repräsentationsfunktion, die ideal oder real sein kann - eingesetzt wird, wie
dies u.a. bei Stachowiak geschieht, der eine Allgemeine Modelltheorie vertritt, die als
Weiterentwicklung und Verbindung von Empirismus, Konventionalismus und Pragma-
tismus gilt121. Danach kann eine Theorie als Modell aufgefaßt werden, da ein weiter
Modellbegriff angenommen wird122. Der Systemtheorie müssen demnach folgende
Merkmale zukommen, die für Modelle charakteristisch sind (vgl. zum folgenden aus-
führlich Pittioni in Stachowiak 1983, S.171ff.): Sie ist Abbildung von etwas, da Modelle
bereits Modelle von etwas sind. Das heißt, es werden auch nicht alle Attribute des Ori-
ginals erfaßt, sondern nur diejenigen, die für den Benutzer relevant erscheinen. Damit
geht mit der Verwendung von Modellen immer auch eine Verkürzung einher und damit
eine notwendige Reduktion von Komplexität. Die Systemtheorie ist außerdem durch ein
pragmatisches Merkmal ausgezeichnet, d.h. sie ist Modell für jemanden „zu einer be-
stimmten Zeit und vor allem zur Verfolgung bestimmter Ziele oder Zwecke“ (ebd.,
S.173). Für wissenschaftliche Modelle gilt insbesondere, daß es sich um Systeme im
121 „ Das eine Prozeßmoment, der Empirismus, band den erkennenden Menschen an ein Außen; zur vollen Bewußtwerdung unseres
aktiven Eigenanteils am Erkennen bedurfte es zweitausendjähriger Reflexionsarbeit. Geschichtlich später trat das zweite Prozeß-
moment auf, der Konventionalismus. In ihm steigerte sich die Freude am Eigenschöpferischen zu ästhetisierender Selbstgerechtig-
keit. Erst im dritten Prozeßmoment, dem des Pragmatismus, erscheint Erkenntnis schließlich im Lichte sittlichen Bewußtseins für
menschliche und insbesondere gesellschaftliche Praxis“ (Stachowiak 1983, S.113).122 „Modell in jenem mehrfach zu relativierenden Sinne ist ebenso die ‘elementarste Wahrnehmungsgegebenheit’ wie die kompli-
zierteste, umfassendste Theorie, das vermeintlich objektive Erkenntnisgebilde ebenso wie die Gedankenkonstruktion, die ihre Sub-
jektivität und Perspektivität betont“ (Stachowiak 1983, S.129). Vgl. auch Balzer in Stachowiak ebd., S.222-223.
78
Sinne ganzheitlicher Beziehungsgefüge handelt, was für eine Allgemeine Systemtheo-
rie, der es gerade um Ganzheiten und Gesamtzusammenhänge geht, auf jeden Fall gilt.
Natürlich muß ein Modell auch praktische Vorteile gegenüber dem modellierten Origi-
nal aufweisen. Das ist in der Systemtheorie sicherlich gegeben, ist aber notwendiger-
weise mit einem hohen Abstraktionsgrad und entsprechender Terminologie verbunden.
So erscheint es beispielsweise in der Tat „unpraktisch“, immer dann, wenn von Be-
wußtsein oder Selbstreferenz gesprochen wird, die damit einhergehenden physikalische
Gegebenheiten im neuronalen Netzwerk zu thematisieren. Schließlich gibt es in der
Modelltheorie auch unterschiedliche Modellstufen, wobei die Systemtheorie zu den
Satzmodellen zu zählen ist, für die gilt:
„Satzmodelle stehen zu ihren Originalen in einer ganz anderen, viel einseitiger gerich-
teten Beziehung, ja in einer Unterordnungsbeziehung: Das Original ist nicht mehr nach-
geahmtes Vorbild, sondern erfüllte Forderung“ (ebd., S.193).
Und das scheint auch für die vorliegende Arbeit der wesentliche Punkt zu sein: Die
Systemtheorie ist Modell von ganz unterschiedlichen Originalen (dazu zählen physika-
lische Gegebenheiten im Gehirn, als auch psychische oder soziale) und sie hat als Theo-
rie/Modell eine eigene Dynamik entwickelt, sobald sie auf ein anderes Abstraktionsni-
veau gehoben wurde. Von dort aus kann nun zurückgefragt werden, ob denn die Origi-
nale ihrerseits das erfüllen, was sich nun angesichts einer Allgemeinen Systemtheorie
an Forderungen ergeben hat. Genau dies wird hier untersucht, jedoch nicht in Bezug auf
Originale, aus denen sich die Systemtheorie entwickelte, sondern anhand des originalen
pädagogischen Zusammenhangs von Entwicklung und Erziehung. Indem dann gezeigt
werden kann, ob ein Original dem Modell entspricht, erfolgen nicht nur Aussagen über
das Original, sondern auch Rückschlüsse auf das Modell. So wird nicht nur der Zusam-
menhang von Erziehung und Entwicklung aus systemtheoretischer Sicht erfaßt, sondern
auch die Systemtheorie in Hinblick auf ihre Bedeutung innerhalb der Pädagogik anhand
der erfolgten Untersuchung verifiziert. Daß dies möglich ist, hängt wiederum mit dem
in diesem Abschnitt eingangs genannten Abbildungsmerkmal zusammen.
Die Systemtheorie ist von einem Isomorphismus ausgegangen, d.h. es ist angenommen
worden, daß mittels dieser Theorie bestimmte Gegebenheiten ein-ein-deutig oder um-
kehrbar-eindeutig abgebildet werden können123. Inwieweit dies gelungen ist, müßte in
123 „Im Lichte dieser strengen Betrachtungsweise gehört ‘Modell’ demnach allein dem Bereich der Logik (und damit der Wider-
spruchsfreiheit) an, ‘Isomorphie’ dagegen dem Bereich der Sachen (der inhaltlichen Interpretation). Die somit ‘für die ganze Er-
79
den einzelnen Fachwissenschaften überprüft werden. In den pädagogischen Bereich
übertragen muß zunächst Homomorphie und damit eine eindeutige Abbildung zum Ziel
gesetzt werden. Das liegt nicht zuletzt an der Lebenswelt, auf die die Systemtheorie
übertragen wird, die von den Originalen der Systemtheorie grundsätzlich als verschie-
den anzusehen ist. So entspricht z.B. der biologische oder physikalische Bereich eben
nicht dem pädagogischen. Dennoch können systemtheoretische Erkenntnisse aus diesen
Bereichen zur Beschreibung von pädagogischen Gegebenheiten herangezogen werden,
eben weil sie dort mitwirken. Sie werden diesen Bereich aber nicht vollständig abde-
cken oder erklären können. Deshalb gelangt man bei der Anwendung der Systemtheorie
nicht zur Isomorphie, wenn es um pädagogische Fragestellungen geht.
Wenn aber formale Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Lebensbereichen festgestellt
werden, dann ist es auch verständlich, daß nicht nur Methodenvielfalt (was etwas ande-
res ist als methodische Willkür), sondern damit verbundene methodische Überschnei-
dungen gegeben sind124. Auch wenn der physikalische oder der biologische Bereich
dem pädagogischen nicht entspricht, so ist der pädagogische ohne den biologischen
nicht denkbar. Wenn also z.B. biologische Erkenntnisse innerhalb pädagogisch-
systemtheoretischen Arbeitens eine Voraussetzung darstellen, dann muß es sogar zu
methodischen Überschneidungen kommen, und da die Pädagogik aus verschiedenen
Lebensbereichen Erkenntnisse mit einbezieht, kommt es so zur Methodenvielfalt. Das
besagt jedoch nicht, daß sich die lebensweltlichen Elemente selbst überschneiden. Es
bleibt somit in dieser Arbeit Aufgabe, gerade die spezifisch pädagogischen Elemente
herauszuarbeiten und diese gegenüber anderen Bereichen abzugrenzen.
- Das systemanalytische Vorgehen steht im Mittelpunkt. Es geht im Hauptteil der vor-
liegenden Arbeit darum, Systemorganisation, -funktion, -struktur und Systemverknüp-
fungen aufzuzeigen und mit Hilfe der Systemtheorie zu analysieren. Die Methode,
kenntnistheorie fundamentale Idee der Isomorphie’ wurde auch in die Kybernetik und Systemwissenschaft übernommen (vgl. z.B.
das 1945 verfaßte 3.Kap. in L.v.Bertalanffy: ‘Genaral System Theory’, 1973). Sollen zwei oder mehr Systeme hinsichtlich ihrer
Struktur verglichen werden, so versucht man eine Äquivalenz-Relation im Sinne einer Abbildung der Struktur des einen Systems auf
ein anderes zu eruieren. Ist eine solche Abbildung eindeutig (d.h. nur in eine Richtung vollständig möglich), so spricht man von
Homomorphie, ist sie umkehrbar-eindeutig oder ein-eindeutig (d.h. ohne ‘Verlust’ in beide Richtungen möglich), von Isomorphie“
(Müller in Stachowiak 1983, S.58-59).124 Siehe hierzu Wuchterl in Stachowiak 1983, S.258: „So verfolgen beispielsweise Universalisierungen im Deutschen Idealismus
ganz andere Ziele als formal analoge Tendenzen in der Systemtheorie oder im Neopragmatismus. Bei Kant geht innerhalb seiner
Antinomienlehre die Gesamtheit stets nur als regulatives Prinzip in die Philosophie ein und wirkt so indirekt auf den Erkenntnispro-
zeß; in der Systemtheorie dagegen ist die effektive Eingebundenheit in eine Gesamtheit Voraussetzung für die Existenz jeder Ein-
zeltatsache und jedes einzelnen Erkenntnisvorgangs“.
80
durch die dies am vollständigsten möglich erscheint, liegt im systemanalytischen Den-
ken. Diese Form des Denkens beruht auf der Erkenntnistheorie Piagets und wurde von
Hermanns (1992) als Methode für die Analyse von Erziehungssystemen aufgezeigt und
gleichzeitig als Erziehungsziel125 gesetzt. Danach ist systemanalytisches Denken als ein
„funktional ausdifferenziertes Teilsystem des psychischen Systems“ (Hermanns 1992,
S.12) zu verstehen, daß durch die Verknüpfung formaler Operationen im Sinne von
Piaget möglich wird. Dieser Denkvorgang kann auf Realitäten bezogen werden. Nimmt
man im vorliegenden Fall Erziehung und Entwicklung als Gegebenheiten (Piaget
spricht von Objekt, vgl. zum Folgenden auch Piaget 19884, S.23ff.), dann werden diese
nicht einfach abgebildet, sondern das psychische System wirkt auf diese ein (hier in
Form des systemanalystischen Denkens) und konstruiert genau genommen diese Gege-
benheiten (man denke an Assimilation und Akkomodation bei Piaget, vgl. hierzu aber
auch den Abschnitt über Piaget). Das systemanalytische Denken wird damit zur „be-
wußten Konstruktion systemischer Zusammenhänge“ (Hermanns, ebd. S.5), durch die
Anwendung von Operationen auf Operationen. Dies vollzieht sich in zweifacher Weise,
nämlich zum einen dadurch, daß formale, systemanalytische Operationen auf den Ge-
genstand Erziehung angewendet werden, der sich im Wirklichkeitsbereich als Ver-
knüpfung von Operationen darstellt (wobei hier der Begriff der Operation in Anlehnung
an Piaget die Handlung mit einschließt, da Operationen aus Handlungen hervorgehen).
Zum anderen werden formale Operationen zur Analyse der Systemtheorie auf diese
bezogen, die sich ihrerseits ebenfalls als Verknüpfung formaler Operationen darstellt,
weil sie eben Ergebnis menschlichen Denkens ist.
Es wird das systemanalytische Denken als ein Bereich des kognitiven bzw. des psychi-
schen Systems verstanden, wobei davon ausgegangen wird, daß es natürlich noch ande-
re operationale Bereiche gibt (man denke beispielsweise an die konkreten Operationen
bei Piaget).
„Es gibt nicht das operationale System, mit dessen Hilfe jeder Beziehungszusammen-
hang der als unabhängig gesetzten Wirklichkeit rekonstruiert werden kann. Operatio-
nale Systeme sind an die ‘Logik’ des jeweiligen Realitätsausschnittes gebunden und
verknüpfen in anderen Kombinationen und mit differierenden Operationen den jeweili-
gen als unabhängig gesetzten Realitätsbereich zu einer typischen Struktur. Auf diesem
125 Zum Erziehungsziel „Systemanalytisches Denken“ siehe Hermanns ebd., S.1 und S. 381ff. Systemanalytisches Denken ist, in
Anlehnung an Piagets Theorie über der geistigen Entwicklung, auf der formal- operationalen Ebene möglich.
81
Wege entstehen bereichsspezifisch zu differenzierende operationale Systeme“ (Her-
manns ebd., S.40).
Beim systemanalytischen Arbeiten geht es somit nicht darum, daß Aussagen miteinan-
der kombiniert werden, die einer Aussagenlogik folgen, sondern es geht um Systemlo-
gik, durch die kritische bzw. grundlegende Merkmale des Systems, wie sie vornehmlich
von Luhmann und Maturana herausgestellt wurden, miteinander kombiniert und rational
aufeinander bezogen werden (vgl. Hermanns ebd., S.92). Da alle Systemparameter, also
alle kritischen Merkmale (zu den Begriffen vgl. Hermanns ebd., S.173ff.) gleichzeitig
gelten, verweist die operationale Verknüpfung zugleich auf die Vernetzung von Syste-
men bzw. Vernetzung eines Systems (siehe Hermanns ebd., S.130).
Wie schon eingangs erwähnt, wird nun deutlich, daß in der vorliegenden Arbeit Erzie-
hung und ihr Zusammenhang mit Entwicklung durch einen systemanalytischen Prozeß
re-konstruiert wird. Das bedeutet aber auch Loslösung von ganz konkreten Interaktio-
nen, wenn man sich auf der formal-operativen Ebene bewegt. Diese ist, wir werden in
dem Abschnitt über Piaget darauf zurückkommen, im Gegensatz zur konkreten Ebene
durch vollständige Dezentrierung gekennzeichnet126; und eben diese gelingt nur durch
reflexive Distanz zum Wirklichkeitsbereich. Das ist auch ein Grund, weshalb hier keine
konkreten Handlungsmöglichkeiten am Ende erwartet werden können und empirisches
Arbeiten nicht Grundlage ist.
Systemanalytisches Arbeiten kann so zur Methode werden, durch die Merkmale im
System oder von Systemen „operational konstruiert“ und anschließend in Bezug zuein-
ander gesetzt werden können (vgl. Hermanns ebd., S.174). Zu diesen kritischen Merk-
malen zählen dann die im Hauptteil der vorliegenden Arbeit herausgestellten wie zum
Beispiel die System-Umwelt-Differenz, die Grenze oder die strukturelle Kopplung von
Systemen.
Die systemanalytische Methode ist damit a) holistisch in dem Sinne, daß möglichst alle
kritischen Merkmale erfaßt und dann b) funktional konstruiert werden können. Die
Methode hat somit c) eine Ordnungsfunktion, indem eben die Komplexität des Systems
strukturiert wird und sie hat d) Selektionsfunktion, indem abschließend festgestellt wer-
126 Dezentrierung meint in unserem Zusammenhang zum Beispiel Absehen von Erziehung ausschließlich im Erziehungssystem
Schule oder ganz konkreter Erziehungssituationen. Bei Luhmann führt die Dezentrierung bei der Konstruktion des sozialen Systems
zum Vernachlässigen personaler Perspektiven.
82
den kann, welche Merkmale nun für das System eine spezifische Bedeutung haben (vgl.
ausführlich Hermanns ebd., S.239ff.).
Systemanalyse umfaßt somit Anwendung formaler Denkstrukturen und Anwendung der
Systemtheorie auf Systeme. Dabei werden nach Fuchs-Wegner (19842) im analytischen
Vorgehen Grundschritte genannt, die zu den zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten des
Systems führen: In der Analyse der Zielsetzung geht es darum, welche Leistungen vom
System erbracht werden oder erbracht werden sollten und wie das System durch
Transformationsprozesse dazu kommt. Es geht hier um eine erste, globale „Input-
Output-Analyse“ (vgl. ebd., S.85). In der Analyse der Elemente geht es um die Einhei-
ten, die die im „System ablaufenden Prozesse vollziehen“ (vgl. ebd.). Bei der Analyse
der Beziehungen geht es dann darum, die Art derselben herauszuarbeiten, dann aber
auch die Beziehungen inhaltlich zu analysieren. „Außerdem sollen auf dieser Stufe
Aussagen darüber gemacht werden, wie sich im Rahmen bestimmter Elementenkombi-
nationen die Veränderung des Verhaltens auf andere mit ihm in Beziehung stehende
Elemente auswirken“ (ebd., S.87). Schließlich führt die Analyse des Systemverhaltens
zur funktionalen Analyse des Systems, die auf den Eigenschaften der Elemente, den
Beziehungen zwischen ihnen und die auf das System einwirkenden Einflüsse der Um-
welt basiert. Welche Bedeutung diese Analyseschritte für die vorliegende Arbeit haben,
wird im folgenden Kapitel deutlich, wenn der ‘Ort’ von Erziehung und Entwicklung
innerhalb des Systems Erziehung und damit die Systemebenen, mit denen hier gearbei-
tet wird, aus systemtheoretischer Sicht erfaßt werden. Die allgemein gehaltenen Schritte
zum Verfahren der Analyse von Systemen sind auf jeden Fall als ein erster Bezugspunkt
hilfreich, der für unterschiedliche Systemanalysen bei interdisziplinärer Ausrichtung der
Forschung gilt.
Wenn davon ausgegangen wird, daß der Zusammenhang von Erziehung und Entwick-
lung als ein Phänomen im pädagogischen Wirklichkeitsbereich vorliegt, dann kann die-
ser mittels systemanalytischen Denkens re-konstruiert werden. Das geschieht auf einer
theoretischen Ebene, mit Hilfe der Systemtheorie und in Abgrenzung zu anderen Ent-
wicklungs- und Erziehungstheorien. Letzteres führt zu einem kritischen Vergleich der
verschiedenen Ansätze. Zum Verständnis der eingesetzten Theorien bleibt ein herme-
neutisches Vorgehen unerläßlich. Durch die Systemtheorie als Maßstab für eine Re-
Konstruktion, wird hier prinzipiell deduktiv vorgegangen. Auf operativ-formaler Ebene
geht es darum herauszuarbeiten, wie der Zusammenhang von Erziehung und Entwick-
83
lung funktioniert, was ein funktional-analytisches Vorgehen verlangt und hier empiri-
sches Arbeiten zunächst ausschließt. Die Systemtheorie behält dabei schließlich Mo-
dellcharakter, da sie den pädagogischen Bereich nicht in jedem Punkt abbilden kann.
Sie kann aber am Ende aus pädagogischer Sicht ergänzt werden, weil die Analyse zur
Weiterentwicklung einer ‘Allgemeinen Systemtheorie’ aus pädagogischer Perspektive
beitragen kann, da von einer interdiziplinär verstandenen Systemtheorie ausgegangen
wird.
Es zeigt sich zusammenfassend, daß es keine spezifische Methode gibt, mit der der Zu-
sammenhang von Erziehung und Entwicklung aus systemtheoretischer Sicht erarbeitet
werden kann. Es geht vielmehr darum, die Methodenvielfalt flexibel zu nutzen und sen-
sibel dafür zu sein, wann welche methodischen Aspekte bei der Bearbeitung der Frage-
stellung weiterhelfen. Die gesamte Arbeit übergreifend zeigt sich schließlich ein her-
meneutisches Vorgehen, das zu einem systemanalytisch-phänomenologischen hinführt.
Die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist eine anthropologische. Dabei geht es
nicht nur um den einzelnen Menschen, sondern genauso um die Beziehungen zwischen
Menschen und den sich daraus ergebenden organisierten oder institutionalisierten For-
men von Beziehungen bzw. Interaktionen. Es geht insgesamt um komplexe Zusammen-
hänge. Nun beansprucht die Systemtheorie nicht nur Universalität, sondern auch die
Erfassung von Komplexität. Darin genau kann der Punkt liegen, warum die Systemtheo-
rie als ein Theorieansatz die Frage nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Er-
ziehung besser klären kann als die bisher dargestellten pädagogischen Ansätze. Denn
wenn sie universal ist, dann kann die Systemtheorie, wenn sie auch ausschließlich in
nicht-pädagogischen Bereichen entwickelt wurde, für die Pädagogik Gültigkeit bean-
spruchen. Und wenn sie Komplexität darstellen kann, dann kann sie auch komplexe
pädagogische Zusammenhänge und Beziehungen aufdecken. Die Systemtheorie, wie sie
für die Fragestellung dieser Arbeit notwendig wird, stellt sich als eine Verbindung wis-
senschaftlicher Forschungsergebnisse vorwiegend aus den Bereichen der Biologie, der
Psychologie und der Soziologie dar, die allesamt grundlegend für die Pädagogik sind.
So können aus biologischer Sicht strukturelle Zusammenhänge im Menschen bis hin zu
physikalischen Grundlagen aufgedeckt werden, was zur Klärung der Frage nach der
Entwicklung im engeren Sinne führt. Psychologische und soziologische Aspekte erlau-
ben die Darstellung der komplexen Beziehungen zwischen Menschen, die schließlich in
84
der Erziehung relevant werden. Systemtheoretisch orientierte soziologische Erkenntnis-
se können dann auch zu Erklärung sozialer Teilsysteme wie Schule oder Familie führen,
die bei der Frage nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung insbeson-
dere in der Erziehungssituation bedeutsam sind. Es werden somit durch die Systemtheo-
rie Gesamtzusammenhänge erklärbar, die gerade Gegenstand der Pädagogik sind. Und
weil hiermit Ganzheiten erfaßt werden, gilt aus systemtheoretischer Sicht umgekehrt für
die Pädagogik, daß Teilbereiche nicht ohne Bezug zum Ganzen analysiert werden kön-
nen. Wenn es also um Erziehung geht, dann muß aufgrund ihres Zusammenhangs mit
der Entwicklung (des Kindes), diese mit einbezogen werden. Aus systemtheoretischer
Sicht kann die Frage nach der Erziehung nur im Zusammenhang mit Entwicklung be-
antwortet werden und dies gilt auch umgekehrt, so wie es im weiteren Verlauf der Ar-
beit ausgeführt wird.
Außerdem erhebt die Systemtheorie einen Anspruch, der innerhalb der Pädagogik eher
als banal erscheinen mag, nämlich die Darstellung von Phänomenen, wie sie in der
Wirklichkeit vorfindbar sind. Es geht hier nicht wie bei Brunner oder Ballauff um Kon-
struktion, sondern um Re-Konstruktion der Wirklichkeit; es geht zunächst darum,
Wirklichkeit so zu beschreiben, wie sie sich aus systemtheoretischer Perspektive dar-
stellt. Aus pädagogischer Sicht kann diese Vorgehensweise zur Ist-Darstellung des Zu-
sammenhangs von Entwicklung und Erziehung führen, was innerhalb der pädagogi-
schen Theoriebildung bisher nicht geleistet wurde.
Insgesamt soll die vorliegende Arbeit zur Klärung folgender Fragen beitragen:
- Welche systemtheoretischen Voraussetzungen sind für die pädagogische Fragestellung
nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung relevant?
- Wie stellt sich Entwicklung innerhalb der Systemtheorie dar und was bedeutet dies in
Hinblick auf Erziehung? (Um diese Fragen geht es im folgenden Kapitel).
- Wie kann der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung systemtheoretisch a-
nalysiert werden? (Die analytische Arbeit erfolgt in Kapitel 5).
- Welche Konsequenzen für die pädagogische Forschung und Praxis ergeben sich aus
der systemtheoretischen Analyse?
- Und umgekehrt stellt sich auch die Frage inwieweit sich durch die hier erfolgte sys-
temtheoretisch-pädagogische Arbeit Konsequenzen für eine Allgemeine Systemtheorie
ergeben. (siehe Kapitel 7).
85
Mit dem Hinweis auf die Methode ist die Fragestellung weiter präzisiert worden. Es
muß jedoch noch einmal ihre prinzipiell anthropologische Ausrichtung betont werden.
Natürlich geht es bei der Klärung des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung
um den Menschen, denn er entwickelt sich, er wird erzogen. Aber der Mittelpunktcha-
rakter, den er in den herkömmlichen anthropologischen Schriften erhält und die damit
verbundene Individualisierung wird durch die Systemtheorie zumindest relativiert. Der
Mensch bewegt sich in Systemen und stellt sich als eine Verbindung von Systemen dar.
Wenn mit der Systemtheorie gearbeitet wird, dann heißt das, daß Systemzusammenhän-
ge aufgezeigt werden, die nun sozusagen auch quer zu dem liegen, was als personale
Einheit ‘Mensch’ bezeichnet wird. Das hat natürlich Konsequenzen für die Erziehung,
insbesondere wenn man sich die Frage stellt, auf welche Systemteile oder -ebenen sich
Erziehung und Entwicklung beziehen und wie hier Erziehungsschwerpunkte gesetzt
werden können. Wir werden bei der Darstellung des Ansatzes von Luhmann auf diesen
Aspekt noch zu sprechen kommen. Hier geht es nur darum, für den weiteren Verlauf
festzuhalten, daß der Kern der vorliegenden Fragestellung Systemzusammenhänge sind,
die für den Menschen eine spezifische Bedeutung haben, sowohl was sein Denken als
auch sein Handeln anderen Menschen und/oder Systemen gegenüber betrifft, daß der
Mensch selbst im Zuge des Systemdenkens aber nur insoweit im Mittelpunkt steht, als
er dafür Verantwortung trägt, daß er sich selbst weniger ins Zentrum allen Geschehens
setzt.
86
4. Systemtheoretische Aspekte von Entwicklung inihrer Konsequenz für Erziehung
Im Verlauf der Evolution haben sich aus systemtheoretischer Sicht verschiedene Syste-
me entwickelt (vgl. Büeler 1994, S.58ff.). Danach traten erst physikalische, dann che-
mische, biologische und schließlich psychologische und soziale Systeme auf. Bei der
Frage nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung muß gezeigt werden,
welche Systeme wie, wann und wo in Relation treten. Dabei bilden das biologische, das
psychische und das soziale System den „integrativen Rahmen für die Anthropologie“
(Huschke-Rhein 1998, S.74), das heißt der Mensch wird als aus diesen drei Grundsys-
temen bestehend aufgefaßt (vgl. ebd.), die deshalb auch im Mittelpunkt der vorliegen-
den Arbeit stehen.
Diese Sichtweise wurde bereits bei der Frage nach der Entwicklung des Kindes inner-
halb der pädagogischen Theoriebildung deutlich, allerdings mit unterschiedlicher
Schwerpunktsetzung. Wenn bei Montessori, vereinfacht gesagt, Erziehung durch Ent-
wicklung erfolgt, dann wird das biologische System in der Erziehung in den Mittel-
punkt gerückt. Erfolgt Erziehung durch Lernen oder Sozialisation wird das soziale Sys-
tem angesprochen und wenn Erziehung hauptsächlich durch Bildung erfolgt, steht das
psychische System im Vordergrund. Aus systemtheoretischer Sicht muß nun gezeigt
werden, daß alle drei Systeme gleichermaßen den Zusammenhang von Entwicklung und
Erziehung herstellen.
Deshalb geht es in diesem Kapitel um die Darstellung derjenigen Systemtheorien, durch
die die jeweiligen Systeme erklärt werden. Da auch innerhalb dieser Theorien Schwer-
punkte gesetzt werden, denn Maturana geht es zum Beispiel hauptsächlich um das bio-
logische System, müssen die verschiedenen Ansätze gleichermaßen in Hinblick auf die
pädagogische Fragestellung untersucht werden. Zusammengenommen spiegeln die hier
vorgestellten Ansätze aber das wieder, was man als Allgemeine Systemtheorie bezeich-
nen kann.
Nun geht es in den folgenden Ansätzen nicht direkt um Erziehung, wohl aber wird
durch die Analyse bereichsspezifischer Systeme gezeigt, wie Entwicklung stattfindet.
Dabei zeigt sich, daß Entwicklung nicht ohne Umweltbezug auskommt und genau da
87
kann dann angesetzt werden, wenn es um Konsequenzen dieser Theorien für Erziehung
geht.
Der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung soll mit Hilfe folgender System-
theorien erarbeitet werden: Aus dem physikalischen Wissenschaftsbereich wird auf die
Synergetik (nach ihrem Begründer Hermann Haken) eingegangen, nicht nur weil das
physikalische System die Basis für das biologische System darstellt, sondern auch, weil
synergetische Prinzipien bereits innerhalb der Pädagogik aufgenommen werden (vgl.
zum Beispiel W.L. Fischer 1991). Die Kennzeichnung des biologischen Systems erfolgt
durch die Theorie der Autopoiese von Humberto Maturana. Das psychische System
wird durch Jean Piagets Erkenntnistheorie dargestellt und das soziale System durch die
gleichnamige Theorie von Niklas Luhmann. Der Ansatz Xaver Büelers wird im
Anschluß daran vorgestellt, weil hier nun bereits aus pädagogischer Sicht insbesondere
unter Berücksichtigung der Theorien von Maturana und Luhmann der systemische Cha-
rakter von Erziehung erläutert wird. Damit wird einführend auf den Zusammenhang von
Entwicklung und Erziehung hingewiesen. Am Ende des Kapitels wird dann herausge-
stellt, durch welche systemtheoretischen Merkmale sich nun aus pädagogischer Sicht
der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung (re-) konstruieren läßt.
4.1 Synergetische Prinzipien von Entwicklung
Wenn ganz allgemein gesagt wird, daß es der Systemtheorie um die Beschreibung von
Systemen geht, dann können hier verschiedene Richtungen unterschieden werden, wie
die Kybernetik, die Synergetik und die Chaosforschung127 oder auch das Konzept der
Autopoiese. Diese, mittlerweile weitgehend eigenständigen wissenschaftlichen Diszip-
linen, stellen Teilbereiche einer Allgemeinen Systemtheorie dar, weil es immer um
grundsätzliche Prinzipien von Systemen geht, die die Entwicklung genauso betreffen
127 „Die Chaosforschung ist einerseits aus dem Bemühen entstanden, sehr ungeordnet erscheinenden Abläufen, Vorgängen oder
Strukturen doch eine gewisse Ordnung nachzuweisen, und andererseits aus der Überraschung, daß bestimmte Abläufe, von denen
man nur wohlgeordnetes Verhalten erwartet hätte, unter bestimmten Voraussetzungen völlig chaotisch erscheinendes Verhalten
zeigen. Es geht also letzten Endes darum zu verstehen, unter welchen Voraussetzungen geordnetes Verhalten vorliegt, und zu versu-
chen, innerhalb des nichtgeordneten Verhaltens den Grad und die Art der dennoch vorhandenen Ordnung nachzuweisen“ (Binnig in
Paslack 1991, S.117). Dementsprechend kann auch die Synergetik der Chaosforschung im weitesten Sinne zugerechnet werden.
Darauf sei hier hingewiesen, weil innerhalb der Synergetik von ‘chaotischen Zuständen’ gesprochen wird. Im engeren Sinne geht es
bei der Chaosforschung mehr um Arbeiten von Mathematikern, die mit Hilfe des Computers eine Art „experimenteller Mathematik“
begründen, wobei es zum Beispiel darum gehen kann, Wettergeschehen im Computer zu simulieren (vgl. Paslack 1991, S.118). Aus
88
können wie die Erhaltung oder die Kooperation von Systemen, mit spezifischer
Schwerpunktsetzung in den jeweiligen Wissenschaftsbereichen. Wenn es nun um Ent-
wicklung aus systemtheoretischer Sicht geht, ist es sinnvoll mit einer physikalisch-
systemtheoretischen Richtung zu beginnen, in der die Materie, aus der sich alles andere
aufbaut, selbst im Mittelpunkt steht. Dieser Bereich wird durch die Synergetik („Lehre
vom Zusammenwirken“, vgl. Haken 1995, S.21) abgedeckt. Indem hier Entwicklung
und damit auch Konsequenzen für die Erziehung aus synergetischer Sicht dargestellt
werden, wird somit die Voraussetzung für ein biologisches Verständnis von Entwick-
lung geschaffen, wie es im nächsten Abschnitt ausgeführt wird. Dabei wird davon aus-
gegangen, daß die Physik als grundlegende Naturwissenschaft neben der Chemie128
Basis der Biologie ist. Und es wird gleichzeitig chronologisch vorgegangen, denn die
Synergetik hat sich Ende der 60-er Jahre als Disziplin entwickelt, während die biolo-
gisch-systemtheoretische Richtung der Autopoiese erst in den 80-er Jahren auftrat. Al-
lerdings hat die Biologie (wobei es hier nur um den für die vorliegende Arbeit bedeut-
samen Ansatz von Maturana geht) die Entwicklung der Synergetik nicht berücksichtigt
bzw. nicht auf ihr aufbauend eine spezifisch biologische Systemanalyse betrieben.
Durch die prinzipiell interdisziplinäre Bedeutung der jeweiligen Ansätze lassen sich
dennoch Analogien finden, denen dann eine allgemein-systemtheoretische Bedeutung
zukommt.
Die Synergetik129 hat sich durch seinen Begründer Hermann Haken als eigenständige
Forschungsrichtung innerhalb der Physik entwickelt. Ihre Kernfrage lautet:
„Wie bringen es einzelne Teile eines Systems fertig, makroskopische Strukturen zu bil-
den“ (Haken 1993, S.81).
Es geht also um die Entstehung von Strukturen im System, durch die eine qualitative
Veränderung des Systems erfolgt. Daraus ergeben sich allgemeine Strukturgesetze, die
diesem Grund wird hier auf die Chaosforschung nicht näher eingegangen. Einführungen in die Chaosforschung bieten Briggs/Peat
und eine Zusammenfassung Kriz 1992.128 Es wird hier darauf verzichtet, den chemisch-systemtheoretischen Ansatz von Prigogine auszuführen, weil er aufgrund seiner
begrenzten Anwendbarkeit auf nicht-chemische Systeme nicht die interdisziplinäre Bedeutung erlangt hat wie die Synergetik. Eine
gute Zusammenfassung der Arbeit von Prigogine findet sich in Paslack 1991, S.91ff.129 Zum Begriff vgl. Haken in Paslack 1991, S.108: „ ...aber mir kam es eigentlich darauf an: wie entstehen Strukturen? So daß bei
mir der Blick gerichtet war (...) auf die Frage des Zusammenwirkens von Einzelteilen, um etwas neues zu erzeugen; und da gibt es ja
an sich den Begriff der ‘kooperativen Effekte’ in der Physik, aber die kooperativen Effekte sind eigentlich in Beschlag genommen
vor allem für Systeme im thermischen Gleichgewicht. Und deshalb war die Idee, man muß doch jetzt die Systeme fern vom thermi-
schen Gleichgewicht unterscheiden von denen im thermischen Gleichgewicht, und deshalb schien es mir geboten, ein neues Wort
für Kooperation zu erfinden“.
89
auch für nicht-physikalische Systeme gelten. Wichtig wird hier zum einen die Unter-
scheidung zwischen einer mikroskopischen und einer makroskopischen Ebene des Sys-
tems. Die qualitative Veränderung wird nämlich auf der makroskopischen Ebene sicht-
bar, der Verlauf einer Veränderung beginnt jedoch auf der mikroskopischen Ebene.
Zum anderen ist bedeutsam, daß es um eine qualitative Veränderung von Systemen geht
(ein für die Pädagogik nicht unwichtiger Aspekt) und eben nicht um Quantität, woran
man vielleicht zuerst denken würde, denn letztlich kann die Qualitätsänderung nur in
einer mathematischen Theorie deutlich werden (vgl. Haken 1995, S.22). Im Rahmen der
vorliegenden Arbeit stehen die allgemeinen Strukturgesetze und nicht eine mathemati-
sche Theorie im Vordergrund, weil hier die Auffassung vertreten wird, daß auch für die
Bereiche Entwicklung und Erziehung zunächst allgemeine Gesetzmäßigkeiten erkannt
werden müssen, bevor versucht wird, diese quantitativ zu erfassen.
Die Systeme, mit denen sich die Synergetik beschäftigt, werden als offen bezeichnet130,
wobei der Auslöser für eine Veränderung in der Umwelt des Systems liegt. Allerdings
hat die Umwelt bzw. die sogenannten Kontrollparameter oder äußeren Parameter (vgl.
Kriz 1992, S.144f.) keinen direkten Einfluß auf das System, dieses steuert vielmehr
seine Veränderung selbstständig. Als Disziplin geht es der Synergetik damit um das
Phänomen der Selbstorganisation von Systemen (vgl. Haken/Haken-Krell 1997,
S.67)131.
4.1.1 Zur Selbstorganisation von Systemen
Haken hat insbesondere am Beispiel des Laserlichts132 die Selbstorganisation von Sys-
temen dargestellt (vgl. zum Folgenden ausführlich Haken 19902; 1993, 1995, sowie die
gute Zusammenfassung von Kriz 1992, S.141ff.). Dabei ergeben sich die folgenden,
zentralen Prinzipien:
130 „Was wir in der Thermodynamik als System bezeichnen, unterliegt einer gewissen Willkür des Beobachters und hängt insbeson-
dere von der konkreten Fragestellung ab. Anstatt eine abstrakte Diskussion des Begriffs aufzunehmen (meist erhöht sie nur die
Verwirrung), diskutieren wir einige Beispiele. So werden wir ein Gas, das in einem Behälter eingeschlossen ist, als System bezeich-
nen, ebenso eine Flüssigkeit in einem Gefäß oder einen festen Körper“ (Haken/Wunderlin 1991, S.49).131 „Die Frage, die ich damals stellte, klang wohl ein wenig verrückt, denn ich fragte, ob es, unabhängig von der Natur der Teile,
allgemein gültige Prinzipien für die Selbstorganisation gibt. Diese Frage war deshalb so seltsam, weil es sich bei den einzelnen
Teilen um ganz verschiedene Dinge handeln konnte, wie etwa Atome in einer Flüssigkeit, Zellen in einem Organismus, oder sogar
Menschen in einer Gesellschaft. Wie wir aber zeigen konnten, läßt sich diese Frage tatsächlich für sehr viele Systeme positiv beant-
worten, wenn wir hierfür eine Einschränkung treffen. Wir beschränken uns auf solche Erscheinungen, bei denen das System quali-
tative Änderungen auf makroskopischen Skalen hervorbringt“ (Haken 1993, S.22).132 „Laser = Light amplification (by) stimulated emission (of) radiation“ (Haken 1995, S.70).
90
- Ein System befindet sich makroskopisch im Zustand der ‘Ruhe’, wenn sein prinzipiell
dynamischer Zustand als stabil zu bezeichnen ist, während mikroskopisch durchaus von
einem ‘chaotischen’ Zustand gesprochen werden kann. (Das heißt „makroskopische“
Größen wie z.B. die Helligkeit oder Temperatur einer Lichtquelle sind zeitlich konstant,
obschon die „mikroskopischen“ Größen, z.B. der energetische Zustand individueller
Atome, starken zeitlichen Schwankungen unterworfen sein kann. So senden die Atome
unabhängig voneinander Lichtwellen aus, was ein mikroskopisches Chaos darstellt133,
makroskopisch aber zu einer einheitlichen, das heißt homogen strahlenden Lichtquelle
führt).
- Wird nun ein äußerer Kontrollparameter verändert, dann kommt es zu mikroskopi-
schen Veränderungen, indem einige Variablen oder Moden134 des Systems instabil wer-
den. (Verändert man die Kontrollparameter des ‘normalen’ Lichts durch Einsatz von
Spiegeln und erhöhter Stromzufuhr, beginnen einzelne Atome mehr Licht auszusenden).
So kommt es auch zu einer makroskopischen Dynamik, das heißt zu einer zeitlichen
Änderung makroskopischer Zustandsgrößen.
- Nun verändern nicht plötzlich alle Variablen auf einmal ihre mikroskopische Lage,
sondern dies geschieht bei wenigen, die dann aber die Veränderung von schließlich al-
len Variablen nach sich ziehen. Haken spricht von (einigen) Ordnungsparametern, die
andere Variablen versklaven135. Die versklavten Variablen unterstützen gleichzeitig den
Ordner und so kommt es zur zirkulären Kausalität136. (Einige Atome geben ihre Licht-
wellen an andere weiter, wodurch die Lichtwelle insgesamt zunehmend verstärkt wird,
d.h. beim Laser hat diejenige Mode „die sich den physikalischen Randgegebenheiten -
besonders der Entfernung der beiden Spiegel im Laser - mit ihrer Wellenlänge am bes-
ten anpaßt, eine leichten Vorteil gegenüber anderen“ (Kriz 1992, S.149). Sie wird zum
133 „Es werden dabei Lichtwellen erzeugt, genauso wie wenn wir unregelmäßig eine Reihe von Steinen ins Wasser werfen. Genau
wie bei der Wasseroberfläche entsteht eine wilde Bewegung des Lichtfelds, das sich aus einzelnen Wellenzügen, Spaghetti ähnlich,
zusammensetzt“ (Haken 1995, S.71).134 Moden beziehen sich auf die „Raumrichtung“ (Haken 1991, S.224) oder bestimmte Bewegungsformen des Systems (vgl. Haken
1995, S.68).135 Das Versklavungsprinzip spielt eine wichtige Rolle in der Synergetik. „Es bringt eine bestimmte Folgebeziehung zum Ausdruck,
hat aber nichts mit Versklavung im ethischen Sinne zu tun. So werden zum Beispiel die Angehörigen eines Volkes von dessen
Sprache versklavt“ (Haken 1995, S.25). Bei der Anwendung des Versklavungsprinzips auf den soziologischen Bereich hat Haken
statt von Versklavung dann von „Einbindung“ oder „Konsensualisierung“ gesprochen (vgl. Haken 1993, S.98).136 „Wie sich herausstellt, wirken die einzelnen Teile (...) durch ihre kollektive Tätigkeit wieder auf den Ordner zurück. Während auf
der einen Seite die (...) Ordner die Bewegung der einzelnen Teile bestimmen, legen umgekehrt die einzelnen Teile die Tätigkeit des
Ordners fest, ja sie definieren ihn sogar. Diese Erscheinung wird zirkuläre Kausalität genannt“ (Haken/Haken-Krell 1997, S.81).
91
Ordnungsparameter. Oder anders formuliert: „Die Laseratome, oder besser gesagt deren
Elektronen, schwingen im Takt des Ordnungsparameters, ohne daß man dies den ein-
zelnen Laseratomen vorschreiben kann. Dieses Auf- und Abschwingen geschieht über
die zirkuläre Kausalität mit dem Lichtfeld, das nur indirekt, z.B. über die Anordnung
der Spiegel, beeinflußt werden kann“ (Haken 1993, S.99)).
- Der Prozeß des (mehr oder weniger) kooperative Verhaltens der Variablen bildet einen
sogenannten Phasenübergang137, der als Instabilität zwischen zwei unterschiedlichen
stabilen Systemzuständen zu sehen ist. In diesem Phasenübergang gibt es nun für das
System verschiedene Möglichkeiten, von einer Instabilität zu einer neuen stabilen
Struktur zu gelangen. Welche Struktur sich letztlich ergibt, hängt von der Autokataly-
se138 ab, der selbst-verstärkenden Dynamik des Systems, die in ihrem Prozeß unabhän-
gig von den Kontrollparametern ist. Hier wird die Selbstorganisation explizit. (Der Pro-
zeß der Versklavung beschleunigt sich, so daß schließlich eine streng periodisch geord-
nete Lichtwelle entsteht. Es ist eine neue dynamische Ordnung entstanden, die nun
makroskopisch sichtbar wird als Laser).
Nach dem Phasenübergang stellt sich das System mit einer veränderten makroskopi-
schen Struktur dar, die stabil bleibt solange die Kontrollparameter unverändert bleiben
und teilweise auch noch darüber hinaus. Durch das Beispiel des Lasers wurde diese
Entwicklungsfolge auch als eine dargestellt, die von einem anfänglichen Ungleichge-
wicht oder Unordnung139 durch Selbstorganisation zu einer Ordnung oder zu einem
Gleichgewicht hinführt.
Zusammenfassend erscheint die Selbstorganisation von Systemen einfach: Von einem
makroskopischen Zustand der Ruhe, der aber mikroskopisch dynamisch ist und chao-
137 In der Physik nennt man die verschiedenen Aggregatzustände fest, flüssig, gasförmig Phasen, und die Übergänge zwischen
verschiedenen Phasen heißen dementsprechend Phasenübergänge. Ein Phasenübergang ist zum Beispiel der Übergang vom System-
zustand der statistischen Abstrahlung einer Lichtquelle zum Systemzustand des geordneten „lasern“ mittels Energiezufuhr und
Spiegeln.138 „Den Schwingungen und Wellen (...) liegen immer autokatalytische Prozesse zugrunde. Eine vorhandene Molekühlsorte ermög-
licht durch ihre Anwesenheit und ihre Mitwirkung die Produktion weiterer Molekühle derselben Sorte. Aus dieser Perspektive
erscheint das Geschehen im Laser in einem neuen Licht. Auch hier war es eine schon vorhandene Lichtwelle, die durch ihr Vorhan-
densein die Elektronen der Atome zwang, ihre Energie zur Verstärkung dieser Lichtwelle selbst wieder herzugeben. Nichts anderes
also als ein autokatalytischer Prozeß“ (Haken 1995, S.87-88).139 „ Diese Vielzahl der verschiedenen Möglichkeiten gibt auch in der Physik das Maß für die Unordnung an“ (Haken 1995, S.32).
„Hier setzt nun die neue Erkenntnis der Synergetik ein. Für offene Systeme gilt das Prinzip nicht mehr, daß die Unordnung in einem
System immer größer wird, wenn man dieses System sich selbst überläßt Das alte Boltzmannsche Prinzip, nach dem die Entropie ein
Maß für die Unordnung ist und einem Maximum zustrebt, gilt eben nur für abgeschlossene Systeme“ (Haken 1995, S.288).
92
tisch erscheinen kann, zeigt das System durch Änderung von Umweltgegebenheiten
eine makroskopische Dynamik, bei der mikroskopisch ein Phasenübergang durch Insta-
bilität von Moden, Entwicklung von Ordnern und kooperatives Verhalten von Variablen
durch Autokatalyse erfolgt, der zu einer veränderten makroskopischen Struktur des
Systems führt und damit zu einem qualitativ veränderten stabilen Zustand. Entwicklung
ist dann Strukturveränderung des Systems aufgrund von Synergieeffekten innerhalb des
Systems.
Für den Entwicklungsprozeß des Systems ist hierbei zum einen besonders hervorzuhe-
ben, daß die internen Systemeigenschaften die Richtung der Bewegung festlegen, ge-
nauso wie auch die externen Bedingungen der Umwelt. Das bedeutet, daß die System-
geschichte für die Selbstorganisation eine Rolle spielt, aber auch, daß die Kontrollpa-
rameter erfaßt werden müssen, wenn man dem ‘Ausgangswert’ von Selbstorganisation
näher kommen will (vgl. Haken 1995, S.162). Zum anderen muß betont werden, daß die
Selbstorganisation nicht in einem Umschalten von einem Steuerungszentrum auf ein
anderes besteht, vielmehr gibt es kein eigentliches Steuerungszentrum im System,
höchstens können Ordner, wenn sie sich herauskristallisieren, eine Art Steuerungsfunk-
tion übernehmen.
Haken selbst hat bereits seine Theorie in andere Bereiche übertragen, die zu nennen
sind, weil sie zur pädagogischen Fragestellung hinführen. So kann, aufgrund von Unter-
suchungen über Wahrnehmungsvorgänge und Musterbildung (siehe Haken 1997,
S.93ff. und S.157ff.), auch dem Gehirn eine synergetische Arbeitsweise zugeschrieben
werden140. In diesem Sinne bedingen sich Körper und Geist gegenseitig. Die Ordner
sind dann von immaterieller Art, sie bestehen aus unseren Gedanken, während die elekt-
rochemischen Vorgänge im Neuronennetzwerk das Untersystem bilden (vgl. Haken
1995, S.235). Es ist demnach kein Widerspruch, daß eine immaterielle Größe mit einer
materiellen synergiert.
Auch im sozialen System liegen die gleichen, strukturverändernden Prinzipien vor. So
bilden neben der Sprache zum Beispiel auch Rituale, die Staatsform, das Recht oder das
Betriebsklima Ordnungsparameter im sozialen System bzw. in sozialen Teilsystemen
140 „Wir fassen das Gehirn als ein gigantisches komplexes System auf, das den Gesetzen der Synergetik genügt, das heißt, es arbeitet
nahe an Instabilitätspunkten, wobei die makroskopischen Muster durch Ordner bestimmt werden. Die Brücke zwischen der
makroskopischen und der mikroskopischen Betrachtung wird dabei durch das Versklavungsprinzip geschlagen“ (Haken/Haken-
Krell 1997, S.255).
93
der Gesellschaft (vgl. Haken 1995, S.166ff. und Haken/Krell 1997, S.243ff.). Das heißt,
die Menschen erkennen diese Ordnungsparameter an, indem sie sich entsprechend ver-
halten, denn sonst würden diese gar nicht zustande kommen (zumindest nicht in einer
demokratischen Gesellschaft). Deutlicher hat sich Haken im Rahmen einer Tagung zum
Thema Entwicklungspolitik und Entwicklungspädagogik geäußert (Haken 1993), indem
er der eher gängigen Meinung, daß die Oberschicht für die Verhältnisse in den Ent-
wicklungsländern verantwortlich sei, aus synergetischer Sicht so widersprach:
„Ich habe nämlich den Eindruck, daß sich in einigen Fällen die Verhaltensmuster von
Oberschicht und Unterschicht gegenseitig stabilisieren, und die gesamte Situation ver-
fahren ist. Zum Beispiel kann durch jahrelange, sagen wir ruhig Unterdrückung der
Unterschicht die Eigeninitiative genommen worden sein, und es wird dann schwierig,
daß der Einzelne bereit ist, genügend Eigenverantwortung auf sich zu nehmen, selbst
wenn sich die Situation geändert hat. Alles, was ich hier sagen möchte, ist, daß wir hier
ein ungeheures Erziehungsproblem vor uns haben“ (Haken 1993, S.101).
Und dieses Problem kann aus synergetischer Sicht nie direkt gelöst werden (z.B. durch
finanzielle Unterstützung der einzelnen Menschen), sondern nur indirekt, indem Um-
weltparameter (z.B. politisches Klima) verändert werden, so daß durch Änderung äuße-
rer Bedingungen Selbstorganisationseffekte ermöglicht werden, die langfristig („hier
muß man wohl in Generationen denken“) zu einem neuen Ordnungszustand141 hinfüh-
ren.
Erziehung ist hier, wie auch die politische Situation als eine äußere Bedingung zu ver-
stehen, die, wenn sie verändert wird, Selbstorganisationseffekte bei den einzelnen Men-
schen hervorbringt, die nach Haken als Systeme aufzufassen sind (wir sprechen genauer
von personalen bzw. psychischen Systemen). Durch Erziehung läßt sich die Verhal-
tensweise der Menschen verändern. In welcher Form sich diese Änderung aber letztlich
darstellt, kann nicht von vornherein gesagt werden, weil auf die selbstorganisierenden
Strukturen im Menschen direkt kein Einfluß ausgeübt werden kann. Es wäre aus ent-
wicklungspolitischer und -pädagogischer Sicht dann nur zu hoffen, daß sich neue und
wünschenswerte Verhaltensweisen herausstellen, die sich in der Gesellschaft als Ordner
stabilisieren, andere Verhaltensweisen zunehmend verstärken und von wieder anderen
141 „... wobei natürlich dieser Ordnungszustand auch wieder nicht optimal ist, und wir uns auch darüber im klaren sein müssen, daß
Ordnungsprinzipien, die für uns alle wünschenswert erscheinen, für andere Völker keineswegs wünschenswert sein müssen“ (Haken
1993, S.101).
94
Unterstützung finden, so daß schließlich eine Änderung der Gesellschaftsstruktur er-
folgt, die dann in anderen Ländern als makroskopische Strukturveränderung sichtbar
wird. Aber, wie gesagt, diese Strukturänderung muß nicht der intendierten entsprechen.
4.1.2 Pädagogische Folgerungen
Was nun für ein soziales System gilt, ist dann auch für ein Teilsystem desselben gültig,
da die Strukturgesetze prinzipiell die gleichen sind. Der Zusammenhang von Erziehung
und Entwicklung innerhalb des Erziehungssystems als Teilsystem des sozialen Systems
Gesellschaft, könnte aus einer synergetisch-pädagogischen Perspektive so aussehen:
Erziehung ist als äußerer Kontrollparameter zu verstehen, der das ‘offene’ personale
System Kind zu Selbstorganisationsprozessen anstoßen kann. Das Kind befindet sich
auf einer bestimmten Entwicklungsstufe, die, wenn es keine Veränderung gibt, als sta-
bil-dynamisch bezeichnet werden kann. Durch Änderung in der Erziehung (zum Bei-
spiel durch Unterricht) kann nun dieser stabil-dynamische Zustand instabil werden. D.h.
auf der mikroskopischen Ebene des personalen Systems, also zum Beispiel auf der ge-
danklichen Ebene, kommt es zu einer Instabilität in der Form, daß verschiedene Gedan-
ken ausgelöst werden, die zueinander in Konkurrenz treten, bis ein Gedanke oder die
Verbindung spezifischer Gedankenvorgänge (immaterielle Ordner) sich gegenüber den
anderen durchsetzen und dann in einer äußeren Form wie Handlung oder sprachlicher
Ausdruck, also makroskopisch sichtbar werden und auch in ähnlichen Fällen erhalten
bleiben. Wenn nun festgestellt wird, daß diese makroskopische Änderung auch gegen-
über dem vorherigen Zustand eine Veränderung darstellt, dann hat Entwicklung statt-
gefunden.
Diese vereinfachte Darstellung, die man auf den verschiedensten Ebenen noch erwei-
tern und natürlich weiter vertiefen könnte, führt zunächst zu folgenden, hier bedeutsa-
men Ergebnissen: - Die Erziehung ist Auslöser für die Entwicklung des Kindes. - Die
Entwicklung läuft innerhalb der Person ab und erfolgt sozusagen getrennt von der Er-
ziehung; es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Erziehung und Entwicklung.
- Entwicklung erfolgt von einem stabilen über einen instabilen hin zu einem qualitativ
veränderten stabilen Zustand. - Entwicklung erscheint aus dieser Perspektive von Erzie-
hung abhängig zu sein, weil sie prinzipiell einen Auslöser benötigt oder anders gesagt,
die Erziehung ist eine Antriebskraft für die Entwicklung. - Die Entwicklung liegt im
Bereich der Selbstorganisation und sie kann nicht vorhergesagt werden.
95
Bezieht man die synergetischen Strukturgesetze einmal auf das Erziehungssystem im
Ganzen, ist hier sicherlich das Fehlen eines zentralen Steuerungszentrums von Interes-
se. Eine Strukturänderung im Erziehungssystems bedarf eines Auslösers, der außerhalb
desselben liegt, also zum Beispiel im politischen System. Inwieweit die politischen
Vorgaben aber im Erziehungssystem tatsächlich erfüllt werden können, muß dann den
Selbstorganisationsprozessen des Systems überlassen bleiben, denn auf die vielfältigen
Systemteile des Erziehungssystems, die zum Beispiel an einer Umsetzung politischer
Vorgaben beteiligt sind, haben die Auslösemechanismen selbst keinen Einfluß. Und je
komplexer ein System ist, desto schwieriger scheint es, die Kontrollparameter so zu
gestalten, daß die intendierte Veränderung des Systems auch wirklich eintritt, d.h. daß
die Kontrollparameter so beschaffen sind, daß sie das Auftreten bestimmter Ordner ga-
rantieren können.
Die grundlegenden Erkenntnisse der Synergetik und auch eine mögliche (hier pauscha-
le) Übertragung auf den pädagogischen Bereich sind wohl deutlich geworden. Es stellt
sich nun die Frage, inwieweit eine direkte Anwendung physikalischer Gesetzmäßigkei-
ten auf pädagogische zulässig ist. Die Synergetik hat sich, wie gesagt, mit Systemen
beschäftigt, die zunächst physikalischer Natur sind, d.h. wie auch beim Licht handelt es
sich um Systeme, deren Strukturen und Eigenschaften vollständig erfaßt werden können
und sich auch experimentell immer wieder auf gleiche Weise herstellen lassen, wie dies
beim Laser der Fall ist. So sind nicht nur die Systeme selbst in ihrer Ganzheit erfaßbar,
sondern auch die notwendigen Umweltgegebenheiten, die dann auch zwecks System-
veränderung gezielt gesteuert werden können, sind so genau bekannt, daß sie mathema-
tisch darstellbar werden (vgl. ausführlich Haken/Wunderlin 1991).
Nun geht es innerhalb der Pädagogik natürlich nicht um physikalische Systeme, son-
dern, wenn eine systemtheoretische Ausrichtung vorliegt, dann beschäftigt sich die Pä-
dagogik u.a. mit dem Menschen als personales System und dem Erziehungssystem.
Steht der Mensch im Mittelpunkt, dann können physikalische Gesetzmäßigkeiten inso-
fern von Bedeutung werden, als sie sich im menschlichen Körper selbst abspielen, man
denke zum Beispiel an elektrische Vorgänge in der Nervenfaser neben chemischen. In
Hinblick auf die Frage nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung kann
die Synergetik Auskunft über die Arbeitsweise der neuronalen Struktur geben, die ins-
besondere bei der kognitiven Entwicklung eine große Rolle spielt. Die neuronalen Pro-
zesse im Gehirn bilden, wie bereits gesagt, das Untersystem für die synergetische Ar-
96
beitsweise der Gedanken, die immaterieller Art sind (siehe Haken/Krell 1997, S.255ff.).
Die immateriellen Wirkungen des Gehirns sind also mit den materiellen Vorgängen
verknüpft in dem Sinne, daß sie sich gegenseitig bedingen, indem sie nach dem Ordner-
und Versklavungsprinzip arbeiten. „Mit anderen Worten, unsere Interpretation ist, daß
sich die abstrakten Vorgänge, die durch Ordner und deren Wechsel regiert werden, die
materiellen Vorgänge, die durch Teile, zum Beispiel die Neuronen, des Systems be-
schrieben werden, gegenseitig bedingen“ (Haken/Krell 1997, S.259). Das neuronale
Netzwerk des Gehirns und die Gedanken sind damit als zwei offene Systeme zu verste-
hen, die sich gegenseitig beeinflussen. Da dies durch die Erzeugung von Ordnern ge-
schieht, wodurch andere Systemeinheiten versklavt werden, kommt es stets zur Komp-
rimierung von Information, die nur so übertragen werden kann. Gleichzeitig wird gera-
de durch die Bildung von Ordnern Information erzeugt, die z.B. von der gedanklichen
auf die neuronale Ebene weitergegeben wird142. Nur indem einzelne Variablen des
Systems versklavt werden und sich Ordner herausbilden, kann Entwicklung erfolgen.
Offene Systeme sind damit indirekt steuerbar, eben über veränderbare Kontrollparame-
ter. Das bedeutet aber, daß ein Einfluß auf die an Kognition beteiligten Systeme prinzi-
piell möglich ist. Es stellt sich dabei die Frage, wie die Information auszusehen hat,
damit die „Informationskompression“ (Haken/Krell 1997, S.260) möglichst gering ist,
was dann Aufgabe der Erziehung ist, die die Entwicklung des Kindes steuern will.
Die Synergetik läßt schließlich Fragen offen, die bei einer pädagogischen Ausrichtung
nicht vernachlässigt werden dürfen. Hier sollen lediglich grundsätzliche angesprochen
werden:
Erstens kann die Synergetik keine Antwort geben auf die Frage, inwieweit sich Erzie-
hung als Umweltgegebenheit zum Beispiel von Sozialisation unterscheidet. Denn na-
türlich kann nach synergetischen Prinzipien die Sozialisation genauso Auslöser für
Selbstorganisation werden. Es wäre hier nach dem speziell Erzieherischen als Auslöser
für die Entwicklung des Kindes zu fragen im Verhältnis zu den vielfältigen Umweltge-
gebenheiten, mit denen das Kind auch noch und teilweise auch gleichzeitig konfrontiert
wird. Worin könnte ein sogenannter erzieherischer Parameter bestehen?
142 „Wie kann eine immaterielle Größe, wie ein Ordner, das Verhalten eines materiellen Systems, wie der Muskeln, steuern? Vom
rein mathematischen Standpunkt aus gibt es hier keinerlei Schwierigkeit. Die Phase und die Kontraktion der Muskeln können durch
mathematische Variable und durch deren Bewegungsgleichungen beschrieben werden. Gemäß den Resultaten der Synergetik geben
die einzelnen Teile mit ihren Variablen Anlaß zu einem Ordner, und umgekehrt regiert der Ordner nach dem Versklavungsprinzip
das Verhalten der Teile ...“ (Haken/Haken-Krell 1997, S.260).
97
Zweitens zeigt sich im physikalischen Bereich, daß die äußeren Kontrollparameter vom
Menschen festgelegt und hergestellt werden, wie zum Beispiel der Einsatz von Spiegeln
und die Erhöhung der Stromzufuhr, um Laserlicht aus herkömmlichen Licht zu erzeu-
gen. Prinzipiell könnte man sich dies auch innerhalb der Erziehung vorstellen. Aber hier
legt nicht nur der Erzieher bestimmte Parameter fest, sondern er bringt sich selbst als
Person mehr oder weniger mit in den Erziehungsprozeß ein, denn bei jedem Erzieher
können intendierte Erziehungsziele oder verwendete Erziehungsmittel jeweils anders
ausfallen. Der Mensch steht hier eben im Mittelpunkt des Geschehens. Hinzu kommt,
daß der Erzieher schließlich auch auf den Entwicklungsfortschritt, der ja auch ausblei-
ben kann, reagieren muß. Es treten Rückkopplungsprozesse ein, die innerhalb der Sy-
nergetik nicht ausreichend behandelt werden.
Drittens wird von Haken das Problem von Zufall und Notwendigkeit angesprochen. Der
„Zufall“ bezieht sich dann auf die Ordner, die im System entstehen und die „Notwen-
digkeit“ auf die daraus folgenden Konsequenzen für die gesamte Strukturänderung des
Systems143. Nun scheinen aber die Zufälle, wie man es am Beispiel des Lasers wieder
sehen kann, nicht von so komplexer Natur zu sein, wie dies in anderen Bereichen der
Fall ist (denn welche Atome zufällig als Ordner fungieren und die anderen versklaven
ist im Grunde unwichtig, weil am Ende immer Laserlicht entsteht, wenn die Bedingun-
gen stimmen). Im Erziehungsprozeß steht nun der Erzieher einem Kind gegenüber, das
als personales System über eine umfassende Systemgeschichte verfügt, die sich inner-
halb des personalen Systems zum Beispiel auch auf das biologische oder das kognitive
System erstreckt. Und ist der Erzieher Lehrer, dann wird er gleich mit vielen ‘System-
geschichten’ konfrontiert, wodurch sich der Zufall enorm erhöht, welche Ordnungspa-
rameter sich denn nun im Erziehungsprozeß beim einzelnen personalen System heraus-
bilden und damit zur intendierten Entwicklung führen (oder auch nicht). So könnte man
leicht zu einer desillusionierenden Einstellung gegenüber Erziehung gelangen, die sich
die Pädagogik gar nicht leisten kann. Vielmehr muß es darum gehen, diese Zufälle in-
sofern in den Griff zu bekommen, als sie nicht gelöst werden, aber ihre Struktur erkannt
143 In Bezug auf die Selbstorganisation des Lasers heißt es. „Wir haben hier das für die Synergetik typische Wechselspiel zwischen
Zufall und Notwendigkeit vor uns, wobei ‘Zufall’ durch die spontane Ausstrahlung und die ‘Notwendigkeit’ durch das unerbittliche
Gesetz des Wettbewerbs verkörpert wird“ (Haken 1995, S.77). Vgl. auch Haken/Haken-Krell 1997, S.76: „Viele Gebiete der Wis-
senschaft werden von der Vorstellung beherrscht, daß es keine Zufallsereignisse gibt, sondern daß alle Prozesse völlig determinis-
tisch ablaufen. Es gibt aber dennoch eine Reihe wichtiger Vorgänge, bei denen diese Zufallsereignisse eine wichtige Rolle spielen.
Sie sind überall in der Quantenphysik anzutreffen ...“.
98
wird. Und diese ist im personalen System sicherlich komplexer als im physikalischen,
das nur ein Teilsystem desselben darstellt.
Abschließend sei noch auf zwei Aspekte hingewiesen, die im weiteren Verlauf erst an
Bedeutung erlangen, wenn sie näher bestimmt werden. So befaßt sich zum einen die
Synergetik mit offenen Systemen, die aber bei näherer Betrachtung eine durchaus ge-
schlossene Struktur aufweisen. Der Unterschied zwischen offenen und geschlossenen
Systemen wird noch zu betrachten sein. Zum anderen kann sich die Interpretation von
synergetischen Prinzipien, wenn sie in einen nicht-physikalischen Bereich übertragen
werden, in Abhängigkeit des jeweiligen Beobachters des Systems und der Beobachter-
perspektive ändern (siehe auch Anmk.4). Deshalb muß für die pädagogische Fragestel-
lung auf jeden Fall zunächst die Beobachterperspektive festgelegt werden, von der aus
dann Strukturgesetze im System beschreibbar sind. Dies geschieht im nächsten Ab-
schnitt, weil bereits für die biologische Sichtweise Maturanas der Beobachter eine we-
sentliche Rolle spielt.
Die Synergetik gibt schließlich prinzipielle Denkanstöße, die auch im weiteren Verlauf
der Arbeit Beachtung finden sollen, aber wie Haken selbst sagt, kann er keine „Patent-
rezepte“ (Haken 1993, S.102) bieten, die sicherlich auch nicht erwartet werden. Es
bleibt deshalb Vorsicht geboten, wenn, im mittlerweile alltäglichen Umgang, von ‘syn-
ergetischen Effekten’ oder von ‘Synergieen’ gesprochen wird. Es handelt sich nach wie
vor um eine physikalische Form von ‘Kooperation’.
4.2 Die Organisation des Lebendigen nach Maturana
Der chilenische Biologe H. Maturana und sein Mitarbeiter F. Varela haben in den acht-
ziger Jahren zu einer neuen Sichtweise von Leben beigetragen, aus der sich weitrei-
chende Folgen ergaben für das Verständnis von Erkenntnis und Kognition, die Arbeits-
weise des Nervensystems, die Sprache, die Wahrnehmung, kurz gesagt, durch ihre Ar-
beiten wurde die Allgemeine Systemtheorie stark beeinflußt, sie selbst dem Konstrukti-
vismus zugerechnet (vgl. Schmidt 19903). Das Besondere an dieser Theorie besteht in
der Verbindung zweier Wissenschaftsgebiete, die bisher in dieser Deutlichkeit und mit
dem Bemühen um Allgemeinverständlichkeit nicht verbunden waren; und zwar die Bio-
systemtheorie, die sich auf die Organisation von Lebewesen bezieht und die Kogniti-
onstheorie, die sich mit der Erkenntnis von Lebewesen befaßt (vgl. Roth 19903,
S.257ff.). Der Ausgangspunkt der Arbeiten Maturanas ist somit ein kognitionsbiologi-
99
scher. Dabei „wird das Verhältnis zwischen Kognition und Leben (Organismus mit oder
ohne Nervensystem) auf radikal neuartige Weise bestimmt: der Prozeß des Erkennens
und der Prozeß des Lebens erweisen sich als letzthin identische“ (Paslack 1991, S.152).
Diese neue Sichtweise ergibt sich für Maturana durch die Feststellung, daß die Systeme,
die am Erkenntnisprozeß und am Prozeß des Lebens beteiligt sind, die gleiche Organi-
sation aufweisen, die als autopoietische Organisation bezeichnet wird (griech. autos =
selbst, poiein = machen). Das heißt, das Nervensystem (das am Erkenntnisprozeß we-
sentlich beteiligt ist) verfügt über die gleiche Organisation wie der gesamte Organismus
(der den Lebensprozeß insgesamt bestimmt), so daß Erkennen als auch das Leben in
gleicher Weise wissenschaftlich beschrieben werden können. Das Ziel von Maturanas
Arbeit ist dementsprechend die „Darstellung einer Theorie der Organisation lebender
Systeme als autonome Gebilde und eine Theorie der Organisation des Nervensystems
als eines geschlossenen Netzwerks interagierender Neuronen, das mit dem lebenden
System, zu dessen Verwirklichung es beiträgt, strukturell verkoppelt ist“ (Maturana
19852, S.138)144.
Die „innere Beschaffenheit“ von lebenden Systemen will Maturana aufdecken (vgl.
Maturana 1996, S.34 und75f.) und mit System meint er „die wahrhaft wirkliche, in ih-
ren Wirkungen existierende ‘Totalität’“ (zur Lippe in Maturana 1996, S.15). Wird vom
System gesprochen, dann geschieht dies, um auf die internen Zusammenhänge einer
Einheit hinzuweisen, die nicht unbedingt durch die äußeren und sichtbaren Interaktio-
nen dieser Einheit erfaßt werden können145.
Die Einheit eines Lebewesens wird nun dadurch hervorgehoben, daß die Teile die glei-
che funktionelle Organisation aufweisen wie die Einheit selbst. Was für die Teile der
Einheit gilt (hier für das Nervensystem) gilt auch für die gesamte Einheit (hier für den
Organismus). Dadurch erscheint die Theorie der Autopoiese selbst wenig kompliziert
oder komplex, was aber nicht mit dem Phänomen des Lebens selbst verwechselt werden
144 Oder anders formuliert: „Das Ziel dieser Theorie besteht darin, die Grundmenge notwendiger und hinreichender Begriffe an-
zugeben, mit denen die gesamte Erscheinungswelt lebender Systeme erklärt werden kann“ (Maturana 19852, S.148).145 „Einstweilen verwende ich den Systembegriff im Sinne jeder Ansammlung von Elementen, die untereinander stärker verbunden
sind als mit den Abläufen jenseits einer Grenze. (...) Die besondere Relevanz des Systembegriffs beruht darauf, daß interne Kohä-
renzen eine Totalitätsdimension eröffnen, da jede partielle Modifikation das Ganze betrifft. Genau darin liegt auch die Differenz zur
linearen Kausalität, bei der man nur Relationen und Zusammenhänge innerhalb der linear angeordneten Interaktionen berücksichtigt.
Der Systembegriff soll nun Verbindungen aufdecken, die weder sichtbar noch begrifflich faßbar sein müssen“ (Maturana 1996,
S.195 und S.215).
100
darf. Maturana und Varela haben vielmehr gezeigt, daß durch ihren Ansatz die enorme
Komplexität von Leben erfaßt werden kann.
Da Teil und Einheit analog funktionieren, erfolgt keine Reduktion146, sondern wird eine
prinzipiell offene Struktur insofern beschrieben, als die Teile untereinander durch Kop-
pelungen147 zu neuen, erweiterten Zuständen des gesamten Systems führen (z.B. die
Relationen zwischen dem Nervensystem und dem Organismus). Koppelungen sind dann
auch zwischen autopoietischen Systemen möglich, wodurch ganz neue Phänomenberei-
che entstehen (z.B. der sprachliche Bereich). Schließlich können autopoietische Syste-
me auch zu sich selbst in Relation treten und Zustandsveränderungen hervorrufen (so
wird z.B. Selbstreflexion erklärt).
Durch die nun folgende Erklärung des „autopoietischen Systems“ wird das Systemver-
ständnis Maturanas deutlich. Dann können auch Schlüsse gezogen werden in Hinblick
auf die Entwicklung autopoietischer Systeme. Schließlich wird der Mensch als autopoi-
etisches System verstanden148, der im Mittelpunkt von Erziehung steht, sei es nun als
Kind oder als Erzieher.
4.2.1 Kennzeichen autopoietischer Systeme149
Autopoiese ist das Organisationsmerkmal lebender Systeme150. Dem lebenden System
geht es stets um die Erhaltung dieser grundlegenden Variable, denn wenn die Organisa-
tion gestört wird, dann kann das System selbst nicht mehr existieren (vgl. Maturana
19852, S.185). Alle weiteren Kennzeichen lebender Systeme sind damit nur in Abhän-
gigkeit der autopoietischen Organisation zu sehen, weil sie sich nur durch sie überhaupt
146 Die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus versteht sich dementsprechend als nicht-reduktionistisch: „Das soll heißen, sie
ersetzt die traditionelle epistemologische Frage nach Inhalten oder Gegenständen von Wahrnehmung und Bewußtsein durch die
Frage nach dem Wie und konzentriert sich auf den Erkenntnisvorgang, seine Wirkungen und Resultate“ (Schmidt 19903, S.13).147 Bei rekursiven Interaktionen mit stabilem Charakter ist es so, „daß die Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten
Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt), was auch umgekehrt für das Milieu
gilt. Das Ergebnis wird - solange sich Einheit und Milieu nicht aufgelöst haben - eine Geschichte wechselseitiger Strukturverände-
rungen sein, also das, was wir strukturelle Koppelung nennen“ (Maturana/Varela 19872, S.85).148 Genau genommen hat Maturana dies direkt nicht ausgesprochen. Es werden zum einen Organismen als dynamische Systeme
bezeichnet, die über eine autopoietische Organisation verfügen (vgl. Maturana/Varela 19872, S.113), oder es wird die ‘autopoieti-
sche Einheit’ mit dem ‘autopoietischen System’ gleichgesetzt (vgl. ebd., S.58-59). Meistens spricht Maturana aber nur von ‘leben-
den Systemen’ (z.B. in Maturana 19852, S.74), die allerdings auch als ‘autopoietische Maschinen’ bezeichnet werden (vgl. ebd.,
S.191).149 Siehe ausführlich Maturana 19852, 19903 , Varela 19903 und Maturana/Varela 19872.150 „Kurz, Autopoiese ist weder ein Erklärungsprinzip noch ein Aspekt der Systemtheorie, sondern eine Organisationsform wie
‘Stuhlheit’, ‘Tischheit’, ‘Hausheit’ - je nachdem , mit welcher Entität wir uns gerade befassen wollen“ (Maturana 1996, S.164).
101
entwickeln können. Im einzelnen kann das lebende System folgendermaßen erklärt
werden:
- Es verfügt über die autopoietische Organisation. Diese ist gekennzeichnet durch Rela-
tionen zwischen „Prozessen der Produktion von Bestandteilen“ (Maturana 19852,
S.186), nicht durch Relationen zwischen Bestandteilen. Es ist wichtig zu erkennen, daß
bei autopoietischen Systemen die Prozesse, die die Bestandteile des Systems produzie-
ren, die eigentlichen Teile des Systems sind und daß sich durch die Herstellung von
Relationen zwischen diesen Prozessen die Einheit des Systems ergibt. Das ist mit auto-
poietischer Organisation von autopoietischen Systemen gemeint151. Maturana hat dies
am Beispiel des Nervensystems immer wieder deutlich gemacht (vgl. Maturana 19852,
S. 142f., 226ff. oder 282ff.). Dabei geht es zusammengefaßt darum, daß die neuronale
Aktivität des Nervensystems stets wieder zu neuronaler Aktivität führt, so daß durch
ständige (neuronale) Aktivitäten oder Interaktionen der Nerven, die Einheit als auch die
Bestandteile des Nervensystems selbst konstituiert werden152. Folgerung daraus ist zum
einen die Zirkularität der Organisation, durch die die Aufrechterhaltung der Bestand-
teile des Systems genau dadurch sichergestellt wird, daß die Bestandteile in ihren Inter-
aktionen so funktionieren, daß sie sich selbst erhalten oder neue Bestandteile erzeugen.
(vgl. Maturana 19852, S.72). Zum anderen handelt es sich gerade deshalb um ein homö-
ostatisches System, weil es die autopoietische Organisation immer aufrechterhält153.
Und somit sind lebende Systeme Individuen, weil sie jeweils als „einheitliches Interak-
tionselement“ bestimmt werden können, das seine eigene autopoietische Organisation
festlegt (Maturana ebd., S.192).
151 „Der Ausdruck ‘autopoietische Organisation’ bedeutet daher schlicht Prozesse, die auf spezifische Weise verkettet sind: auf eine
Weise, in der die verketteten Prozesse die Bestandteile erzeugen, die das System als eine Einheit aufbauen und kennzeichnen“
(Maturana 19852, S.186).152 Differenzierter, aber auch Aspekte vorwegnehmend heißt es bei Maturana: „Ein in ein autopoietisches System integriertes neuro-
nales Netzwerk konstituiert dann ein Nervensystem, wenn es als zusammengesetzte dynamische Einheit durch Interaktionsrelationen
zwischen seinen Nervenzellen definiert wird, die es zu einem geschlossenen Netzwerk interagierender Neuronen machen, d.h. wenn
es ein dynamisches System sich verändernder Relationen neuronaler Aktivitäten bildet, in dem definitorisch jeder Zustand neurona-
ler Aktivität durch neuronale Interaktion zu einem neuen Zustand relativer neuronaler Aktivität führt. Aus dieser Organisation folgt,
daß alle Aktivitätszustände des Nervensystems zur selben Klasse gehören, d.h. sämtliche Zustände relativer neuronaler Aktivität
sind, die in geschlossener Weise ausschließlich weitere Zustände relativer neuronaler Aktivität herbeiführen“ (Maturana 19852,
S.282).153 „Da ein lebendes System durch seine autopoietische Organisation als Einheit definiert wird, sind alle Transformationen, die es
ohne Verlust seiner Identität durchlaufen kann, Transformationen, in denen seine Organisation invariant bleibt: ein autopoietisches
System ist ein homöostatisches System...“ (Maturana 19852, S.302).
102
- Von der Organisation autopoietischer Systeme ist die Struktur derselben zu unter-
scheiden, die nicht bei allen lebenden Systemen einheitlich ist, denn die Struktur be-
zieht sich auf die konkreten Bestandteile des Systems sowie auf die konkreten Interakti-
onen zwischen diesen Bestandteilen. So sieht die Struktur des Nervensystems anders
aus als die des Organismus, oder, auf nicht-biologische Systeme übertragen zeigt sich,
daß die Struktur des Erziehungssystems anders ist als die des Wirtschaftssystems, bei
gleicher autopoietischer Organisation. Dabei umfaßt die Struktur neben den Bestand-
teilen also auch den Prozeß zu dessen Konstruktion (vgl. Maturana ebd., S.140). Die
Struktur konstruiert und erhält sich selbst und seine Bestandteile und bildet damit die
Einheit. Daraus folgt, daß es sich bei autopoietischen Systemen um operational ge-
schlossene Systeme handelt (neuronale Aktivität kann immer nur zu erneuter neuronaler
Aktivität führen). Inwieweit können dann diese Systeme beeinflußt werden? Die Orga-
nisation und die Struktur des Systems determinieren den „Bereich der Beeinflußbar-
keit“154.
- Ein autopoietisches System ist autonom und kann durch Perturbationen, das sind
(Stör-) Einwirkungen (vgl. Maturana 19852, S.144), beeinflußt werden155. Mit Autono-
mie ist gemeint, daß die Veränderungen des Systems bzw. sein gesamtes Prozessieren
immer im Dienst der Erhaltung des Systems steht (ebd., S.186). Eine direkte, d.h. in
Hinblick auf eine lineare Kausalität wirkende Beeinflussung von autopoietischen Sys-
temen gibt es demnach nicht. Aber durch Interaktionen des Systems, sei es mit seiner
Umwelt, mit anderen Systemen oder mit seinen Teilsystemen bzw. Bestandteilen kön-
nen Zustandsveränderungen des Systems ausgelöst werden. Und diese Interaktionen
können dann als Einwirkungen auf das System bezeichnet werden. Der Bereich der
Einwirkungen ist somit durch den Interaktionsbereich der Bestandteile des Systems
festgelegt. Meistens wird nur davon gesprochen, daß das System mit seiner Umwelt
154 „Organisation und Struktur eines strukturdeterminierten Systems determinieren daher a) den Bereich der Zustände des Systems,
indem sie die Zustände bestimmen, die das System im Ablauf seiner internen Dynamik oder aufgrund seiner Interaktionen einneh-
men kann, b) den Bereich seiner Beeinflußbarkeit, indem sie die passenden Eigenschaftskonfigurationen des Mediums eingrenzen,
die auf das System einwirken können, und c) den Bereich seiner Auflösung, indem sie alle Eigenschaftskonfigurationen des Medi-
ums angeben, die zur Zerstörung des Systems führen können“ (Maturana 19852, S.243). Zum Begriff des Mediums siehe weiter
untern oder Maturana ebd., S.143.155 „Es ist möglich nachzuweisen, daß bestimmte Zustände von neuronaler Aktivität (z.B. das Sehen von Blaugrün) durch eine große
Anzahl von verschiedenen Lichtkonfigurationen, die wie ‘Perturbationen’ wirken, ausgelöst werden können ... Es ist möglich, eine
Korrespondenz zwischen der Benennung von Farben und Zuständen neuronaler Aktivität, jedoch nicht mit Wellenlängen festzu-
stellen. Welche neuronalen Aktivitäten durch welche Perturbationen ausgelöst werden, ist allein durch die individuelle Struktur jeder
Person und nicht durch die Eigenschaften des perturbierenden Agens bestimmt“ (Maturana/Varela 19872, S.27).
103
inter-agiert, so daß man sagen kann, daß sich aus der Umwelt der Bereich der Einwir-
kungen ergeben kann. Maturana differenziert noch genauer, was in Hinblick auf die
autopoietische Organisation von Bedeutung ist. Er sagt, daß die Umwelt des Systems
zunächst der physikalische Raum ist156, der aber ein Medium beinhalten muß, das genau
die Elemente bereitstellt, die eine Fortführung der autopoietischen Organisation erlau-
ben. Das Medium umfaßt dann das, was vom System verschieden ist, aber auf dieses
einwirken kann (vgl. Maturana ebd., S.143). Es ist nicht nur eine konstitutive Bedin-
gung für die autopoietische Organisation157, sondern es „erzeugt die konkrete histori-
sche Abfolge von Einflüssen“ und hat damit Teil am Verlauf der Ontogenese des indi-
viduellen Systems (siehe ebd., S.244). Ein System ist auf Interaktionen angewiesen.
Spezifische Zustandsveränderungen des Systems werden somit durch spezifische Zu-
standsveränderungen des Mediums ausgelöst, wobei letztere auch zum Aufbau der
Struktur des Systems (vgl. ebd., S,144) und damit zu dessen Entwicklung beitragen.
- Das autopoietische System baut seine Struktur somit durch die Herstellung einer dy-
namischen strukturellen Koppelung mit einem Medium auf (das, wie oben gesagt, aus
verschiedenen Einheiten bestehen kann). Diese Koppelungen ergeben sich durch Inter-
aktionen die einen „rekursiven oder sehr stabilen Charakter erlangt haben“ (Matura-
na/Varela 19872, S.58). Die mit den strukturellen Koppelungen einhergehenden Zu-
standsveränderungen von Systemen beschreiben nichts anderes als die Ontogenese von
Systemen. Und die „Verbindung der sich verändernden Struktur einer strukturell plasti-
schen autopoietischen Einheit mit der sich wandelnden Struktur des Mediums wird on-
togenetische Anpassung genannt“ (Maturana 19852, S.247. Der Begriff der Anpassung
wird hier hervorgehoben, weil er insbesondere in Piagets Ansatz von Bedeutung ist).
Trotz Autonomie und operationaler Geschlossenheit von Systemen gibt es gerade durch
den Bereich der strukturellen Koppelungen Anpassung von Systemen an sich verän-
dernde Umweltgegebenheiten158. Aber gerade auch aufgrund von Autonomie und ope-
156 „Der physikalische Raum, definiert als der Raum, in dem lebende Systeme existieren, ist daher sowohl ontologisch als auch
epistemologisch einzigartig; ontologisch, weil er für die Erscheinungswelt lebender Systeme konstitutiv ist, epistemologisch, weil er
die operationalen Grenzen unseres kognitiven Bereichs definiert“ (Maturana 19852, S.150).157 In Bezug auf das Nervensystem heißt es dazu: „Kann daher der Organismus trotz der strukturellen Veränderung des Nervensys-
tems seine Autopoiese fortsetzen, dann kann die neu hergestellte Struktur des Nervensystems die Basis für eine weitere strukturelle
Veränderung abgeben, die es dem Organismus auch wieder erlaubt, seine Autopoiese fortzusetzen. Im Prinzip kann dieser Prozeß
ohne Ende in rekursiver Weise fortgesetzt werden, solange der Organismus lebt...“ (Maturana 19852, S.144).158 „Anpassung ist folglich stets ein trivialer Ausdruck für den strukturellen Zusammenschluß eines strukturell plastischen Systems
und eines Mediums“ (Maturana 19852, S.248).
104
rationaler Geschlossenheit wählt das System im Medium die Einheiten aus, die eine
strukturelle Koppelung möglich machen. Anpassung ist damit immer mit Selektion ver-
bunden (vgl. ebd.).
- Durch die strukturellen Koppelungen kann es zu ineinandergreifenden oder verzahnten
Zustandssequenzen zwischen interagierenden Systemen kommen, die einen konsen-
suellen Bereich bilden159. Durch wechselseitige Interaktionen werden so Zustände des
Systems weitgehend konstant gehalten und damit steht auch der konsensuelle Bereich
im Dienst der Erhaltung bzw. der Autopoiese von Systemen. Ein konsensueller Bereich
kann durch direkte oder auch durch indirekte strukturelle Koppelungen erzeugt werden.
So ist die Mutter-Kind-Beziehung ein konsensueller Bereich, der durch direkte struktu-
relle Koppelungen erzeugt wurde, während z.B. durch die Mitgliedschaft in einer Grup-
pe oder einem Verein ein konsensueller Bereich durch indirekte strukturelle Koppelung
entsteht (vgl. Maturana ebd., S.153). Operieren Systeme in einem konsensuellen Be-
reich, dann heißt das, daß hier „identische Zutsandsbereiche“ (ebd., S.290) der Systeme
vorliegen, die durch übereinstimmendes Verhalten erhalten bleiben. Ist dies der Fall,
dann kann auch von „kommunikativen Interaktionen“ gesprochen werden (ebd.).
Schließlich ist die Sprache selbst ein konsensueller Bereich, der durch Strukturenkop-
pelung entstanden und erhalten bleibt (vgl. Maturana/Varela 19872, S.223f.). Konsen-
suelle Bereiche liegen damit aber außerhalb der Systeme, sie können nicht im Inneren
von Systemen geortet werden, sie ergeben sich durch und in Beziehungen160.
In dem konsensuellen Bereich der Sprache bewegt sich auch der Beobachter, der Be-
schreibungen und Erklärungen über autopoietische Systeme gibt. Der Beobachter kann
nur die Interaktionen, die konsensuellen Bereiche wahrnehmen, aber nicht das system-
interne Geschehen. Der Beobachter spielt in Maturanas Theorie eine bedeutende Rolle.
Auf ihn muß deshalb genauer eingegangen werden, zumal wir später nicht nur den Er-
zieher, sondern auch das Kind als Beobachter bezeichnen können.
159 „Wenn zwei oder mehr Organismen in rekursiver Weise als strukturell plastische Systeme interagieren und jeder Organismus so
zum Medium der Verwirklichung der Autopoiese des anderen wird, ergibt sich wechselseitige ontogenetische Strukturenkoppelung
... Ich werde daher den Bereich ineinandergreifender Verhaltensweisen, der sich aus der ontogenetischen reziproken Koppelung der
Strukturen strukturell plastischer Organismen ergibt, einen konsensuellen Bereich nennen“ (Maturana 19852, S.255-256).160 „Eine Interaktion orientiert die Orientierung einer früheren, und daraus ergibt sich koordiniertes Verhalten. Interessant ist nun
folgendes. Wenn unser Sprachhandeln über Verhaltenskoordinationen läuft, dann kann es sich also weder in uns noch im Gehirn
abspielen. Daher formulierte ich, der Geist sei nicht im Kopf ... Der Geist geistert durch die Beziehungsdynamik“ (Maturana 1996,
S.296).
105
4.2.2 Der Beobachter
Mit dem Satz: „Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter zu einem anderen
Beobachter gesagt, der er selbst sein kann“ (Maturana 19852, S.240) führt Maturana den
Beobachter in seine Epistemologie ein. Dies war eine notwendige Folge der biologi-
schen Erklärung von Kognition, da diese Theorie letztlich darauf hinausläuft, auch sich
selbst begründen zu können. Der kognitive Bereich entspricht nämlich dem gesamten
Interaktionsbereich des Organismus (vgl. Maturana 19852, S.63) und ist somit autopoi-
etisch organisiert. Das bedeutet, alles was über Autopoiese gesagt wurde, gilt für den
kognitiven Bereich des Menschen als ein lebendes System, das Beschreibungen, Erklä-
rungen oder Begründungen vornimmt161. Der Mensch wird zum Beobachter, der a)
Systeme, b) das Medium, indem Systeme interagieren, c) andere Beobachter und d)
schließlich auch sich selbst und seine Umwelt beobachten kann.
Dabei erfolgt Beobachtung, wie Erkenntnis selbst162, durch Unterscheidungen, die vor-
genommen werden. Diese Unterscheidungen werden nun vom Beobachter als eine von
ihm verschiedene Größe, als unabhängige Einheit abgegrenzt und der Beobachter ver-
sucht dann so zu handeln, „als ob er außerhalb der Situation stünde“ (vgl. Maturana
19852, S.276). Allerdings lebt der Beobachter in einem Gesprächsbereich, er interagiert
im konsensuellen Bereich der Sprache in rekursiver Weise163 und kann so stets neue
Interaktionselemente erzeugen, die aber wiederum im sprachlichen Bereich liegen. Der
Wissenschaftler operiert dann in einem metasprachlichen Bereich, indem er „Unter-
scheidungen von Unterscheidungen oder Bestimmungen von Bestimmungen“ vornimmt
(Maturana 19903, S.110). Das bedeutet zum einen, daß Beobachtungen immer an kon-
sensuelle Bereiche gebunden sind164 und zum anderen, daß die Beobachtung, die durch
ein kognitives System erzeugt wird, immer auch von diesem abhängig ist. Der Beob-
achter ist somit nicht „mehr passiver, nur aufzeichnender Beobachter, sondern er muß
nun buchstäblich damit ‘rechnen’, daß er selbst stets das Ergebnis seiner Beobachtun-
161 „Alles, was in einem lebenden System stattfindet, ist eine Operation des Organismus in einem konsensuellen Bereich, die im
Dienste seiner Autopoiese steht“ (Maturana 19903, S.111).162 Vgl. hierzu Krieger 1996, S.56: „Ohne diese grundlegende Unterscheidung gibt es überhaupt keine Erkenntnis. Beobachtung ist
immer Erkenntnis, und alle Erkenntnis erfolgt nur über Beobachtung“.163 „Wir, die wir diese Dinge als Wissenschaftler sagen, sind in keiner anderen Position. Entweder erzeugen wir durch das, was wir
sagen und tun, einen sprachlichen Bereich (sozialen Bereich), indem unsere Identität als Wissenschaftler erhalten wird, oder wir
verschwinden als solche“ (Maturana/Varela 19872, S.253).164 „Ein Beobachter operiert darum nur in einem konsensuellen Bereich, und er kann nicht außerhalb dieses Bereichs existieren; jede
Feststellung, die er trifft, ist notwendig konsensuell“ (Maturana 19903, S.110).
106
gen dadurch aktiv beeinflußt, daß er als Beobachter an der Konstituierung seiner eige-
nen Beobachtungen (und ihrer Mitteilung) beteiligt ist“ (Backes-Haase 1996, S.136).
Alles, was von einem Beobachter beobachtet wird, bleibt somit immer Teil des autopoi-
etischen Systems, und zudem kann nur das beobachtet werden, „was im Bezugsrahmen
des beobachtenden Systems Sinn macht“ (Willke 1987, S.122). Zusammenfassend er-
gibt sich dann für Maturana die ontologische Aussage: „Die Logik der Beschreibung ist
die Logik des beschreibenden (lebenden) Systems (und seines kognitiven Bereichs)“
(19852, S.64).
Das hat natürlich für die wissenschaftliche Beobachtung Konsequenzen, die nicht zu-
letzt auch für die Untersuchung des Zusammenhangs von Entwicklung und Erziehung
von Bedeutung sind:
Eine Beobachtung erfolgt, so wurde gesagt, durch das Treffen von Unterscheidungen.
Dieser Moment des ‘Unterscheidens’ kann aber nicht gleichzeitig beobachtet werden.
Es kann somit zwischen basalen Operationen und Beobachtungen unterschieden wer-
den, der Beobachter kann aber nicht alles und dieses auch noch gleichzeitig beobachten.
Für die Wissenschaft bedeutet dies, „daß die Ansprüche an (wissenschaftliche) Beo-
bachtungsergebnisse in der Folge ‘reduziert’ werden müssen, da es keine Beobachter-
position mehr geben kann, in der es möglich wäre, dem Beobachtungsparadox zu ent-
gehen und etwa ‘(allgemein-)verbindliche Beobachtungen’ zu formulieren“ (Backes-
Haase 1996, S.145). Das Ergebnis von Beobachtung kann als ein Netzwerk bezeichnet
werden, indem wir aber kein Zentrum feststellen können, von dem aus dem Beobachter
eine vollkommene Übersicht über seine Beobachtungen zugeschrieben werden könnte,
denn als ein Zentrum kann man systemtheoretisch und konstruktivistisch nur die sich
selbst regulierende Struktur des lebenden Systems bezeichnen.
Nun ergibt sich die Frage, inwieweit überhaupt zwischen einer sogenannten alltäglichen
und einer wissenschaftlichen Beobachtung zu unterscheiden ist. Da hier diese Frage
nicht hinreichend diskutiert werden kann, soll einführend auf das Sinnsystem verwiesen
werden (vgl. hierzu den Abschnitt über Sinn). Denn das, was Beobachtung genannt
wird, ist „Konstruktion von Unterschieden, die ein Sinnsystem konstituiert“ (Krieger
1996, S.56). Wir müssen nun davon ausgehen, daß dieses Sinnsystem bei einer wissen-
schaftlichen Beobachtung von spezifischer Struktur ist, die sich insbesondere hinsicht-
lich des Reflektions- und Abstraktionsgrads und der verwendeten Beobachtungsprinzi-
107
pien von einer alltäglichen Beobachtung unterscheidet und damit, allgemein formuliert,
als umfassender oder komplexer als diese zu bezeichnen ist.
Im Anschluß an die Arbeiten von Maturana kann man auch von Beobachtungen erster
und zweiter Ordnung sprechen (vgl. Büeler 1994, S.6f.). Beobachtung erster Ordnung
liegt dann vor, wenn der Beobachter sich selbst und sein Umfeld beobachtet, also zum
Beispiel der Erzieher oder das Kind das System Erziehungssituation oder sich selbst
beobachten. Eine Beobachtung zweiter Ordnung würde demnach die Beobachtung ers-
ter Ordnung zum Gegenstand haben, das wäre dann bei wissenschaftlichen Beobach-
tungen und Beschreibungen der Fall165. Da in beiden Fällen die Beobachtung im kon-
sensuellen Bereich liegt, kommen wir so zu der Feststellung, daß der Wissenschaftler,
wie schon gesagt, im metasprachlichen Bereich operiert166. Konstruktivistisch genauer
müßte gesagt werden, daß über das Operieren im sprachlichen Bereich, der Mensch
vielmehr „eine Welt durch das In-der-Sprache-Sein hervorbringt“ (Maturana/Varela
19872, S.253).
Für die weitere Untersuchung gilt zusammenfassend, daß der Zusammenhang von Ent-
wicklung und Erziehung in einem metasprachlichen Bereich durch Beobachtungen
zweiter Ordnung (re-)konstruiert wird. Dabei müssen wir uns bewußt sein, daß dieses
System sprachlich erzeugt und mittels Sprache wiedergegeben wird, was nicht mit der
Organisation von Erziehung und Entwicklung selbst verwechselt werden darf. Der Be-
obachter befindet sich in einem von dem zu beobachtenden Einheiten verschiedenen
System (Wissenschaftssystem) und operiert dementsprechend auch auf einer anderen
Ebene, als die Einheiten selbst.
Es wurde gesagt, daß Beobachtungen an konsensuelle Bereiche gebunden sind. Hier ist
nun zu unterscheiden, zwischen der wissenschaftlichen Beobachtung, bei der hier in
Hinblick auf das zugrundeliegende Thema der konsensuelle Bereich u.a. die verwende-
ten Systemtheorien beinhaltet, mit deren Hilfe der Zusammenhang von Entwicklung
und Erziehung erklärt werden soll. Eine ganz andere Form der Beobachtung trifft zum
165 Siehe hierzu auch Bateson 19954, S.103-112: „In der Wissenschaft werden diese beiden Typen der Organisation von Daten
(Beschreibung und Erklärung) durch das verbunden, was man technisch als Tautologie bezeichnet“ (S.104). Auf die eher sprachwis-
senschaftlichen Bedeutung von Beobachtung und Beschreibungen wird später noch hingewiesen.166 So gelangt dann auch Büeler zu der Aussage: „Mit Erziehung bezeichnen wir ein kommunikationsnotwendiges Konstrukt, in
welches die Erfahrungen und Deutungen der Beteiligten rekursiv einfließen und das künftige erzieherische Kommunikation struktu-
riert. Der Bezug auf der Ebene des Beobachtens des Beobachtens ist nicht zufällig oder nebensächlich; nur auf dieser Ebene kann
das System Erziehung wissenschaftlich modelliert werden“ (1994, S.97).
108
Beispiel das Kind in einer Erziehungssituation, wenn es aufgrund von einer Interaktion
mit dem Erzieher bestimmte Schlüsse zieht, die nun aber auf Seiten des Erziehers in
derselben Erziehungssituation und aufgrund derselben Interaktion anders ausfallen kön-
nen. Denn die Beobachtung, die zu bestimmten Schlußfolgerungen führen kann, ist vom
kognitiven System des Beobachters abhängig. Wird nun z.B. diese Schlußfolgerung
eines Kindes in einer Erziehungssituation nicht vom Kind mitgeteilt, dann bleibt sie
Teil des kognitiven Systems und kann für den Erzieher explizit auch nicht Gegenstand
für eine weitere Beobachtung werden (es sei denn er mutmaßt aufgrund des Verhaltens
über eine Schlußfolgerung). Die Bedeutung von Kommunikation im Erziehungsprozeß
erhält damit einen hohen Stellenwert. Und wenn es innerhalb von Erziehungssituationen
um sinnvolle Anschlußoperationen auf Seiten des Erziehers geht, dann kann Erziehung
im Sinne Maturanas genaugenommen nur von dem ausgehen, was sozusagen außerhalb
vom kognitiven System, z.B. in Form von Kommunikation, sichtbar wird. Aber damit
befinden wir uns bereits bei den pädagogischen Konsequenzen von Maturanas Theorie.
4.2.3 Entwicklung aus biologischer Sicht und Konsequenzen für Erzie-hung
Entwicklung ist Strukturveränderung des Systems und damit veränderte Fortführung der
autopoietischen Organisation. Die Strukturveränderung erfolgt aufgrund von struktu-
rellen Koppelungen der Bestandteile des Systems und damit aufgrund der Prozesse, die
die Bestandteile des Systems erzeugen und erhalten167. Entwicklung umfaßt somit im-
mer einen Prozeß. Die Strukturveränderungen von Systemen können jeweils konserva-
tiver Natur sein, dann verändern sich die Werte der Bestandteile des Systems, z.B. der
Wert eines zu regulierenden Verhaltens (vgl. Maturana ebd., S.203). Die Veränderun-
gen können aber auch innovativ sein, dann verändert sich das Verhalten selbst bzw. die
Bestandteile des Systems. Und dann kann auch im eigentlichen Sinne von einer verän-
derten Fortführung der Autopoiese gesprochen werden. Entwicklung spiegelt damit die
Selbstregulation des Systems wieder. Ob man dabei von einem Fortschritt innerhalb von
Entwicklung sprechen will, das hängt von der Interpretation des Beobachters ab, nicht
167 „Es wird eine mechanistische Erklärung aller biologischen Phänomene geliefert, d.h. gezeigt, daß alle biologischen Phänomene
Ergebnis der Interaktionen der notwendigen Bestandteile und nicht Ausdruck bestimmter Eigenschaften von Bestandteilen sind“
(Maturana 19852, S.149).
109
von der Selbstregulation des Systems, dem es zunächst um die Erhaltung seiner Organi-
sation geht.
Entwicklung ist aber nicht unabhängig vom Medium denkbar, mit dem das System
strukturell verkoppelt ist. Die Zustandsveränderungen des Mediums bilden die Stör-
einwirkungen des Systems, die eine systeminterne strukturelle Veränderung und damit
Entwicklung zur Folge haben.
Die Einheit, die als System bezeichnet wird, ist als Ergebnis von Entwicklung zu ver-
stehen. Sie ist kein mitwirkender Faktor von Veränderungen im System. Der Ent-
wicklungsprozeß formt die Einheit. Wenn wir dies auf den Menschen als System bezie-
hen, dann bildet der Entwicklungsprozeß und die Umwelt die Voraussetzungen für das
Mensch-sein und ist damit von erheblicher pädagogischer Relevanz. Maturana ist dem-
entsprechend auch der Auffassung, daß es eine genetische Determination nicht gibt.
„Um überhaupt irgendwelche Eigenschaften ausbilden zu können, ist der Organismus
auf seine individuelle Lebensgeschichte angewiesen, die man in der Biologie als ‘Epi-
genese’ bezeichnet. Unter diesem Begriff versteht man die Systemtransformationen auf
der Grundlage einer bestimmten Anfangsstruktur, wobei sich die je spezifischen Eigen-
schaften im Wechselspiel mit der ‘Umwelt’ zeigen sollen“ (Maturana 1996, S.83-84)168.
Durch die biologische Perspektive Maturanas wird die Bedeutung der Organisation des
Organismus zu einer wesentlichen Voraussetzung für Erziehung und ist damit für eine
pädagogische Perspektive nicht zu unterschätzen. Der Körper ist immer als Bedingung
für Möglichkeiten zu verstehen, er darf nicht Mittel zum Zweck werden.
Bis jetzt ging es um die systeminterne Entwicklung. Dies soll an dieser Stelle zunächst
genügen, um von Erziehung zu sprechen, die dann systemextern stattfindet. Wenn wir
uns ausführlich mit dem Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung beschäftigen,
was im nächsten Kapitel der Fall sein wird, dann ist noch zu prüfen, wie sich der biolo-
gische Entwicklungsbegriff Maturanas auch auf die Entwicklung von Erziehung im
168 Ausführlicher heißt es ebd., S.162: „Bei strenger Analyse zeigt sich allerdings, daß man den ‘Phänotyp’ nicht als Teilaspekt vom
‘Genotyp’ behandeln darf, da er aufgrund der besonderen dynamischen Anfangsstruktur des Organismus erst aus dem Transformati-
onsprozeß selbst erwächst. Wenn Merkmale genetisch determiniert sein sollen müssen sich die Anfangsstruktur im Sinne der geneti-
schen Konstitution und daneben die historischen Merkmale der Epigenese wiederholen. Ansonsten entsteht etwas anderes - frei von
genetischer Determination. So gesehen gibt es gar keine genetisch determinierten Merkmale, da sie alle epigenetisch im Wechsel-
spiel zwischen Anfangsstruktur und Medium realisiert werden. Die Interaktion lebender Systeme mit dem Medium (also die syste-
mische Dynamik ihrer Epigenese) zeigt: Leben verwirklicht sich in Systemformen, die den herrschenden Umständen entsprechen“.
110
allgemeinen und von Erziehungssituationen im besonderen auswirkt, denn auch dort
findet Entwicklung statt, sie wird sogar vom Erzieher intendiert.
Wenn durch die Interaktion mit dem Medium Einwirkungen und damit Entwicklung des
Menschen möglich ist, dann ist Erziehung als Perturbation des Systems zu verstehen.
Sie ergibt sich durch eine wechselseitige ontogenetische Strukturenkoppelung, die zwi-
schen Kind und Erzieher in Form von Interaktionen stattfindet. Nun hat sich gezeigt,
das ein konsensueller Bereich entsteht, wenn zwei Systeme interagieren und ihre
Strukturen dadurch ontogenetisch gekoppelt werden (vgl. Maturana 19852, S.147). Er-
ziehung erfolgt damit in einem konsensuellen Bereich, der dann von anderen, wie zum
Beispiel Sozialisation abzugrenzen wäre bzw. von anderer Qualität sein müßte. Darauf
wird im nächsten Kapitel genauer eingegangen, weil Maturana dazu explizit nicht Stel-
lung nimmt.
Nach Maturana ist Erziehung als Ko-Ontogenese oder Ko-Epigenese zu verstehen. Da-
bei ist zu unterscheiden zwischen a) dem Bereich der internen Zustände des Menschen
als personales System, der auf Seiten des zu erziehenden Kindes verändert werden soll,
b) dem Interaktionsbereich des Systems als eine Einheit, der durch die beobachtbare
„Handhabung einer Umwelt“ des Menschen stattfindet (Maturana ebd., S.146), wobei
der Erzieher versucht, den Interaktionsbereich des Kindes zu beobachten, weil er so
Rückschlüsse auf die Entwicklung des Kindes ziehen kann und c) dem Bereich der
Einwirkungen auf das zu erziehende Kind als System, die dann durch Interaktionen
zwischen Kind und Erzieher in der Erziehungssituation gestaltet werden müssen. We-
sentlich sind damit erstens die systeminterne Strukturveränderung und zweitens die
Strukturveränderung des Mediums. Entwicklung läuft systemintern ab und Erziehung
ist dem Bereich des Mediums zuzuordnen.
Nach der biologischen Sichtweise ist Erziehung als System als ein autopoietisches Sys-
tem höherer Ordnung zu verstehen, wobei die in ihm handelnden Menschen als Einhei-
ten und gleichzeitig Bestandteile des Systems auftreten169. Der Erzieher als Beobachter
spielt in diesem System eine spezifische Rolle. Wenn er erkennt, daß die Einwirkungen
auf das zu erziehende Kind als System nur Auslöser für Strukturveränderung sind, dann
kann er kontextfremdes Verhalten auch besser verstehen. Er muß dann prüfen, ob die
Quelle für abweichendes Verhalten im System, in der Interaktion zwischen System und
169 „Ein autopoietisches System, dessen Autopoiese die Autopoiese der es realisierenden gekoppelten autopoietischen Einheiten
notwendig bedingt, ist ein autopoietisches System höherer Ordnung“ (Maturana 19852, S.212).
111
Medium oder im Medium selbst liegt (vgl. Maturana 19852, S.202f.). Der Beobachter
unterscheidet zwischen internem und externem Systemgeschehen, das agierende System
selbst unterscheidet hier nicht. Sein gegenwärtiges Operieren ergibt sich dabei aufgrund
seiner gegenwärtigen Struktur, nicht durch seine Geschichte.
Jede Bedeutung, die dem System zugeordnet wird, sei es seine Zielgerichtetheit, sei es
daß der Mensch, wie es bei Dienelt der Fall ist, nicht als Trieb- oder Mängelwesen,
sondern als Geistwesen interpretiert werden kann, liegt im Bereich der Beobachtung
und wird vom Beobachter vorgenommen, hat aber mit der Organisation des Systems
selbst nichts zu tun. Die Theorie Maturanas bezieht sich eben auf die Struktur von Sys-
temen und deren Funktionsweise. Die Inhalte dieser Strukturen, die ein Beobachter an
einem System feststellt und beschreibt, werden der Beobachterkategorie zugeschrieben
und interessieren innerhalb dieses Ansatzes im Grunde nicht, während bei Piaget, wie
nachfolgend gezeigt wird, die Inhalte mit Hilfe der Logik beschrieben werden. Hier ist
es Aufgabe der Pädagogik zu prüfen, inwieweit sie über den Formalismus hinausgehen
muß. Auf jeden Fall können die Arbeiten Maturanas die zugrundeliegenden Prozesse
von Erziehung und Entwicklung bis ins Detail sichtbar machen und damit den Zusam-
menhang von Entwicklung und Erziehung, der hier im Bereich der strukturellen Kop-
pelung liegt, aufdecken.
Eine inhaltliche Anmerkung findet man doch bei Maturana, die aus der autopoietischen
Organisation von lebenden Systemen abgeleitet wird, aber letztlich auch Beobachter-
kategorie ist, also nicht nach anthropologischer Sichtweise dem System selbst als Be-
standteil zugerechnet werden kann. Es geht um die prinzipielle Verantwortlichkeit des
Menschen für sein Tun, die sich durch die Beobachtung auf sein eigenes Handeln, also
durch Reflexion ergibt170. Verantwortlichkeit bleibt damit gerade auch aus systemtheo-
retischer Sicht ein Ziel und Grundbestandteil von Erziehung.
170 „Zum Schönsten am Menschsein gehört, daß wir als sprachliche Wesen unser eigenes Tun stets in Konversationen reflektieren
können und damit verantwortlich sind. Verantwortlich ist, wer die Folgen des eigenen Tuns kennt und in diesem Bewußtsein han-
delt. Darin steckt die Dynamik der Verantwortung: erstens Wissen um die Konsequenzen des eigenen Tuns, zweitens Handeln im
Bewußtsein, diese zu wollen oder nicht“ (Maturana 1996, S.234).
112
4.3 Die kognitive Entwicklung des personalen Systems bei Pi-aget
Die Arbeiten Piagets171 sind aus zwei Gründen für die vorliegende Untersuchung von
Bedeutung. Zum eine hat Piaget, insbesondere in seinen frühen Schriften, die kognitive
Entwicklung genauestens zu beschreiben und zu erklären versucht. Zum anderen führt
ihn die Erklärung in seinen späteren Schriften zu einer allgemeinen Epistemologie, von
der er spricht, wenn es um die Entwicklung von Erkenntnis geht, die zum wissenschaft-
lichen Denken hinführt (vgl. Fetz 1988, S.11)172. Beide Bereiche sind eng miteinander
verbunden und können im Nachhinein der Allgemeinen Systemtheorie zugerechnet
werden, insofern es bei Piaget um Systeme173, bevorzugt aber um das kognitive System
geht. Genauso kann man seine Arbeiten auch dem Konstruktivismus zuordnen, gerade
weil in ihnen ein Modell der Genese von Erkenntnis vorgestellt wird (vgl. hierzu aus-
führlicher Fetz 1988, S.16). Anders gesagt, Piaget war als Kenner der Systemtheorie
L.v.Bertalanffys durch sein systemisches Arbeiten im Grunde Systemtheoretiker und
damit Wegbereiter des Konstruktivismus174. Piaget selbst hat sich, obwohl auch er wie
Maturana Biologe war, als Epistemologen verstanden, insofern es ihm durch die Erklä-
171 „Die jüngst veröffentlichte Bibliographie Jean Piagets (Archives Jean Piaget, 1989) enthält eine Liste von 1232 Titeln, die aller-
dings auch Übersetzungen enthält“ (v.Glaserfeld 1994, S.16). Angesichts der Fülle der von Piaget verfaßten Arbeiten wird es in
diesem Abschnitt nicht ausbleiben, um in der hier gebotenen Kürze überhaupt der Theorie Piagets gerecht zu werden, verschiedene
Zitate in die Anmerkungen aufzunehmen.172 „Die genetische Erkenntnistheorie versucht, Erkennen, insbesondere wissenschaftliches Erkennen, durch seine Geschichte, seine
Soziogenese und vor allem die psychologischen Ursprünge der Begriffe und Operationen, auf denen es beruht, zu erklären“ (Piaget
1980a, S.7). Vgl. auch Piaget 1975b, S.49-50: „Wir bezeichnen jede psychogenetische oder historisch-kritische Erforschung der
Arten des Anwachsens der Erkenntnis als spezielle genetische Erkenntnistheorie, solange sie sich auf ein Bezugssystem stützt, das
durch den Stand des Wissens im betreffenden Moment gegeben ist. Wir sprechen hingegen von allgemeiner genetischer Erkennt-
nistheorie, wenn das Referenzsystem selbst in den genetischen oder historischen Prozeß einbezogen ist, den man studieren will“.173 Von Piaget wird der Systembegriff ganz selbstverständlich angewendet und zwar in seiner umfassenden Vielfalt, die hier nicht
dargestellt werden kann. Als Beispiele muß genügen: Insbesondere spricht er vom kognitiven System (1976), aber auch vom biolo-
gischen System (1983), vom epigenetischen System (1983), dem Gleichgewichtssystem (19848), dem System der Gruppierungen
(ebd.), dem System von Handlungen (1975b), dem logischen System (1980a), dem System von Operationen (1975b), dem System
von Schemata (ebd.), dem Selbstregulierungssystem (1980a), dem System von Strukturierungen (1980) oder dem System von Trans-
formationen (ebd.). Damit verwendet Piaget den Systembegriff in klassischer Weise zur Darstellung von Ganzheiten, die sich durch
ihre Teile zusammenfügen.174 „Piaget war zweifellos der Pionier der konstruktivistisch orientierten Kognitionsforschung dieses Jahrhunderts“ (v.Glaserfeld
1994, S.18). Piaget schreibt selbst einmal dazu: „Die Absicht der genetischen Epistemologie besteht darin, durch die Untersuchung
der Entstehung des Wissens zu zeigen, daß keine der drei Hypothesen wahr sein kann, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, in der
genetischen Konstruktion im weiten Sinn eine konstruktive Konstruktion zu sehen“ (1980a, S.138). Und „Es ist jedoch evident, daß
unsere experimentelle Studien, auf die sich die genetische Psychologie stützt, nicht nur die Untersuchung der ‘großen geistigen
113
rung der kognitiven Entwicklung und damit der Erklärung von Erkenntnis im Allgemei-
nen um eine Verbindung von Biologie und Philosophie ging175. Jedoch hat er sich kei-
neswegs ausschließlich als Kinderpsychologe gesehen, als der er oft bezeichnet wurde.
Er hat die Erkenntnisentwicklung mittels biologischer und psychologischer Grundlagen
dargestellt und insbesondere durch die formalen Operationen, auf die wir später zu
sprechen kommen, systemisches176 Denken beschrieben177. Dabei nimmt er gerade die
Notwendigkeit der biologischen Funktion (im Gegensatz zur mathematischen Funktion
nicht als Operation sondern im Sinne von ‘Funktionieren’ verstanden) für die Erklärung
von Kognition Maturanas Arbeiten schon vorweg178 und erweitert diese durch die psy-
chologische Natur des Denkens, die sich mit dem „richtigen Denken befaßt, im Gegen-
satz zum Denken im allgemeinen“ (Piaget 19848, S.34). So hat dann auch Fetz festge-
stellt, daß Piaget auf der theoretischen Ebene seines Werks einen Konstruktivismus
entwirft,
„der die Erkenntnisentwicklung als Fortführung der Organisation des Lebendigen be-
greift und so am Ende die Erkenntnistheorie mit einer Theorie des Organischen verbin-
det. Daraus resultiert Piagets genetischer Strukturalismus, der wissenschaftlich und
philosophisch einer neuen Gesamtinterpretation der naturalen Wirklichkeit gleich-
kommt“ (Fetz 1988, S.27).
Obwohl Piagets Theorie älter ist als Maturanas, so wird sie gerade im Anschluß an
Maturana genannt, weil sie über die Struktur des Organischen hinaus auch auf die In-
halte von Kognition Bezug nimmt, indem diese auf der formalen Ebene mit logisch-
Konstruktionen’ anvisieren, wie die individuelle und kollektive Entwicklung des Denkens, sondern überdies und vor allem auch
sowohl das ‘Augenblickliche’ wie die Entwicklung“ (Piaget 1975b, S.240).175 „Ich begriff plötzlich, daß man auf allen Ebenen (derjenigen der Zelle, des Organismus, der Art, der Begriffe, der logischen
Prinzipien usw.) dasselbe Problem der Beziehungen zwischen dem Teil und dem Ganzen wiederfindet; jetzt war ich überzeugt, die
Lösung gefunden zu haben. Endlich tauchte die enge Verbindung zwischen der Philosophie und der Biologie auf, von der ich ge-
träumt habe, und die Möglichkeit einer Epistemologie, die mir nun wirklich wissenschaftlich schien!“ (Piaget 1952 in Kesselring
1988, S.25).176 Hier wird das Adjektiv ‘systemisch’ bewußt verwendet, um deutlich zu machen, daß die Denkentwicklung hin zu Systemen
verläuft.177 Vgl. z.B. Piaget 19848, S.170: „Die formalen Operationen bilden nur die Struktur der höchsten Gleichgewichtsformen, zu denen
die konkreten Operationen streben, wenn sie sich in allgemeine Systeme, die die verschiedenen Aussagen miteinander kombinieren,
reflektieren“.178 Die biologische Funktion „impliziert also die Existenz eines Systems, d.h. einer sich bewahrenden Struktur oder eines sich selbst
in Gang haltenden Kreisprozesses und entspricht den Aktivitäten, die zu diesem Inganghalten beitragen“ (Piaget 1983, S.55).
114
mathematischen Strukturen in Zusammenhang gesetzt werden179. Von da aus gelangt
Piaget zu einer Stufenfolge in der kognitiven Entwicklung, die bei Maturana nicht the-
matisiert wird.
Nach Piaget liegt (stark verkürzt) der Ausgangspunkt von Erkenntnis nicht in Gott (Ide-
alismus), nicht in der Erfahrung von oder mit Objekten (Empirismus), nicht in der inne-
ren Erfahrung des Subjekts (Humanismus), er ergibt sich auch nicht ausschließlich
durch die Sprache (logischer Positivismus), und er ist weder in einem genetischen Pro-
gramm zu suchen (Nativismus) noch durch evolutionäre Anpassung zu erklären (hypo-
thetischer Realismus), vielmehr folgt die Genese von Kognition der konstruktiven As-
similation180, bei der das Subjekt mit seinen Tätigkeiten und seinen Wirkungen auf die
Umwelt im Mittelpunkt steht. Im Folgenden soll nun die kognitive Entwicklung nach
Piaget in Hinblick auf ihre allgemeinen Strukturgesetzlichkeiten nachgezeichnet wer-
den.
Natürlich ist die affektive Entwicklung von ebenso großer Bedeutung und sie soll hier
keinesfalls als zweitrangig oder weniger wichtig verstanden werden, da sie parallel zur
kognitiven Entwicklung verläuft. Piagets Interesse galt aber eher den Mechanismen des
Verhaltens, die sich in Strukturen widerspiegeln, die kognitiver Art sind. Die Affekti-
vität spiegelt dabei die Motivation wieder, die zu diesen Mechanismen hinführt181.
4.3.1 Vom Egozentrismus zur intellektuellen Dezentrierung
Der folgende Abschnitt soll auf die Gesetzmäßigkeiten von kognitiver Entwicklung
hinweisen, ohne die hinlänglich bekannte Stadientheorie Piagets ausführlich wieder-
zugeben, was anderenorts schon zur Genüge geschehen ist182.
179 „Logisch-mathematische Formalisierungen sind für die genetische Epistemologie in erster Linie ein präzises Instrument zur
Erfassung tatsächlichen Denkens“ (Fetz 1988, S.37).180 „In jedem Verhalten, soweit seine Wurzeln angeboren und seine Differenzierungen erworben sind, findet man bestimmte gemein-
same funktionelle Faktoren und strukturelle Elemente. Die funktionellen Faktoren sind erstens die Assimilation, also jener Vorgang,
durch den eine Verhaltensweise reproduziert wird und sich neue Objekte integriert (zum Beispiel das Saugen am Daumen, der so in
das Schema des Saugens hineingenommen wird). ... Doch die Assimilation ist keine Struktur: sie ist nur ein funktioneller Aspekt der
strukturalen Konstruktionen“ (Piaget 1980, S.62 und 70).181 „Affektivität modifiziert die erworbene Struktur nicht im geringsten. Wenn es um die Konstruktion von Strukturen geht, ist
Affektivität als Motivation unerläßlich, aber sie erklärt nicht die Strukturen“ (Piaget 1977 in Furth 1990, S.13). Oder anders ausge-
drückt, die „Affektivität stellt die Energetik der Verhaltensweisen dar, deren Struktur die kognitiven Funktionen definiert (was nicht
heißt, die Affektivität sei durch den Intellekt bestimmt oder umgekehrt, sondern beide sind im Funktionieren der Person unlösbar
vereinigt)“ (Piaget/Inhelder 1980, S.335).182 Siehe hierzu u.a. die Arbeiten von Buggle 1985, S.49ff.; Flavell 1979, S.28ff.; Ginsburg/Opper 1975, S.43ff.; Oerter/Montada
1982, S.375ff. und Petter 1966.
115
Jedes Verhalten stellt sich für Piaget als eine Anpassung, eine Adaptation dar183 oder als
eine Wiederanpassung des Organismus an die Umwelt, die dann erfolgt, wenn das
Gleichgewicht zwischen Organismus und Umwelt gestört ist und wiederhergestellt
werden soll. Anpassung kann somit allgemein beschrieben werden als ein Gleichge-
wicht zwischen den Wirkungen des Organismus auf die Umwelt (Assimilation184) und
den Wirkungen der Umwelt auf den Organismus (Akkomodation185). Erkenntnistheore-
tisch verstanden umfaßt Assimilation186 ein Interpretieren oder Deuten von Objekten
der Außenwelt oder von Ereignissen in Begriffen der eigenen, gerade verfügbaren und
bevorzugten Art, über diese Dinge zu denken. Durch die Akkomodation wird nun der
Assimilationszyklus geändert, indem sich die Person durch Akkomodation den Eigen-
tümlichkeiten der Situation anpaßt, bzw. diese umfaßt dann das Bemerken und in kog-
nitiver Weise in Rechnung stellen der verschiedenen Eigenschaften und Beziehungen
zwischen Eigenschaften und Objekten, aber auch Ereignissen187.
Das Erkennen selbst strebt somit immer ein Gleichgewicht an zwischen den assimilie-
renden Denk- und Erklärungsschemata (Begriffe, Operationen, Systeme von Operatio-
183 „Gewisse Biologen definieren die Adaptation ganz einfach durch Erhaltung und Überleben, d.h. also durch das Gleichgewicht
zwischen Organismus und Umwelt. So verliert der Begriff aber jeden Wert, denn er vermengt sich mit dem Begriff des Lebens. In
der Fähigkeit zu überleben gibt es Abstufungen, und die Anpassung impliziert ein Mehr oder Weniger. Man muß also unterscheiden
zwischen Anpassung als Zustand und Anpassung als Prozeß. Im Zustand der Anpassung ist nichts klar und verständlich. Wenn wir
aber den Anpassungsprozeß verfolgen, klären sich die Dinge auf. Anpassung geschieht dann, wenn der Organismus sich in Abhän-
gigkeit von seiner Umwelt umgestaltet und wenn diese Umgestaltung eine Verstärkung der Austauschbeziehungen zwischen Um-
welt und Organismus zur Folge hat, die zu seiner Erhaltung beitragen“ (Piaget 1975, S.15-16).184 „Man kann die Tätigkeit und die Wirkung des Subjekts auf die Umwelt als ‘Assimilation’ im weitesten Sinne bezeichnen, inso-
fern diese Tätigkeit von früheren Handlungen, die dasselbe oder ein ähnliches Objekt zum Gegenstand hatten, abhängig ist. In der
Tat hat jede Beziehung zwischen einem lebendigen Wesen und seiner Umwelt die Eigentümlichkeit, daß das Subjekt die Einwir-
kungen der Umwelt nicht passiv erleidet, sondern seinerseits die Umwelt verändert, indem er ihr eine ihm eigentümliche Struktur
gibt“ (Piaget 19848, S.10). Und: „Wir verwenden den Begriff der Assimilation im weiten Sinn einer Integration in schon bestehende
Strukturen (...). Der Assimilationsbegriff ist in doppelter Hinsicht wichtig. Einmal impliziert er, wie wir gesehen haben, den Begriff
der Bedeutung, was wesentlich ist, da jegliche Erkenntnis sich auf Bedeutung bezieht (...). Zum anderen bringt er die fundamentale
Tatsache zum Ausdruck, daß jede Erkenntnis an Verhalten oder Handeln gebunden ist und das ein Gegenstand oder ein Ereignis
erkennen bedeutet, sie sich nutzbar machen, indem man sie an Verhaltensschemata assimiliert“ (Piaget 1983, S.4 und 6).185 „Umgekehrt wirkt auch die Umwelt auf den Organismus ein, und man kann, dem allgemeinen Brauch der Biologen folgend,
diese umgekehrte Wirkung als Akkomodation bezeichnen“ (Piaget 19848, S.11). Dabei gilt: „Jedes Assimilationsschema hat eine
bestimmte Kapazität für Akkomodationen, aber innerhalb gewisser Grenzen, denn der Zyklus, aus dem er besteht darf nicht zerstört
werden. Man könnte hier von einer ‘Akkomodationsnorm’ sprechen (Piaget 1976, S.39). „Kurz, Assimilation und Akkomodation
sind nicht zwei getrennte Funktionen, sondern die beiden einander entgegengesetzten funktionellen Pole jeder Adaptation“ (Piaget
1983, S.176).186 Die folgende Kennzeichnung der Begriffe Assimilation und Akkomodation sind übernommen worden von Flavell 1979, S.19.187 Das psychische Leben beginnt nach Piaget im Gegensatz zur organischen Anpassung mit der funktionellen Wechselwirkung, d.h.
an jenem Punkt, wo die Assimilation die Gegenstände nicht mehr physisch oder chemisch verändert, sondern sie einfach den eige-
nen Tätigkeitsformen (den bereits erworbenen Assimilationsschemata) einverleibt und die Akkomodation diese Tätigkeit umformt.
116
nen) und ihrer Akkomodation an die Eigenart der zu begreifenden Erscheinungen. Diese
Erkenntnis- oder Assimilationsakte haben eine charakteristische Struktur188, die im
Laufe der Erkenntnisentwicklung aufgebaut wird. Als Maßstab der Strukturiertheit von
Verhalten, der an einfachste Formen des Verhaltens genauso angelegt werden kann wie
an die höchsten Formen der Erkenntnis, verwendet Piaget, wie gesagt, logische und
mathematische Operationssysteme189, die im nächsten Abschnitt genauer darzustellen
sind.
Entwicklungspsychologisch bedeutsam ist hier, daß die Gesamtstrukturen der Intelli-
genz als das Ergebnis einer fortschreitenden Konstruktion anzusehen sind, die durch
akkomodationsmäßige Differenzierungen und durch damit verbundene Assimilation
fortschreitet. Damit ist die Aktivität des Subjekts190 die unerläßliche Bedingung für das
Denken (was durch die Darstellung der autopoietischen Organisation personaler Syste-
me durch Maturana bestätigt wurde).
Die Erkenntnisentwicklung verläuft nun in einzelnen Stufen, die sich ihrerseits durch
verschiedenen Stadien ergeben. Diese sind zum einen gekennzeichnet durch funktionale
Invarianten, zu denen neben dem Prozeß der Anpassung auch die Organisation191 ge-
hört, die sozusagen die innere Seite jeder Anpassung darstellt. Mit Organisation ist die
jeder lebendigen Entwicklung inhärenten Tendenz zur Integration der in einem kom-
188 Der Begriff Struktur meint „zumindest in der ihm von Piaget gegebenen Fassung das ganzheitliche Organisationsprinzip des
Wirklichen“ und kann „durchaus als authentischer wissenschaftlicher Nachfolgebegriff des philosophischen Wesens- oder Formbeg-
riff gelten“ (Fetz 1988, S.18). Piaget schreibt hierzu u.a.: „Eine Struktur ist eine Totalität, das heißt, sie ist ein System, das Gesetzen
unterliegt, die für das System als solche gelten, nicht nur für das eine oder das andere Element im System“ (Piaget 19884, S.30). Und
„Die Aufeinanderfolge der grundlegenden Strukturen oder Gestalten, die die Entwicklung der Intelligenz ausmacht, wären also
folgende: Rhythmen, Regulierungen und Gruppierungen“ (Piaget 19848, S.190). Siehe auch Piaget 1985, S.140f.189 „Mit anderen Worten, wir finden in der senso-motorischen Intelligenz eine bestimmte Logik der Inklusion, eine bestimmte Logik
der Ordnung und eine bestimmte Logik der Korrespondenz, die ich als die Grundlagen der logisch-mathematischen Strukturen
ansehe“ (Piaget 19884, S.52).190 „...ich glaube, daß menschliches Erkennen wesentlich aktiv ist. Erkennen heißt, Realität an Transformationssysteme zu assimilie-
ren. Erkennen heißt, Realität zu transformieren, um zu verstehen, wie ein bestimmter Zustand zustande kommt.“ (Piaget 19884,
S.22). „Der Aspekt der Aktivität manifestiert sich dagegen bei jedem In-Relation-Setzen, angefangen bei den ‘Koppelungen’ zwi-
schen Begegnungen bis hin zu den durch Explorationen, Übertragungen, Transpositionen, Antizipationen, Vergleichen usw. herge-
stellten Beziehungen“ (Piaget 1983, S.255).191 „Funktion und Organisation lassen sich dadurch definieren, daß sie über kontinuierlich aufeinanderfolgende Transformationen
hinweg, deren Inhalt sich im Austausch mit der Umwelt fortwährend erneuert, die Form eines Interaktionssystems erhalten“ (Piaget
1983, S.152). „Was man sich aber, als für die Theorie wesentlich, sorgfältig merken muß, ist die Tatsache, daß sich die Organisati-
onsgesetze als unabhängig von der Entwicklung und daher als allen Stufen gemeinsam auffaßt. Diese Behauptung ist eine Selbstver-
ständlichkeit, wenn man sie auf die funktionelle Organisation oder auf das ‘synchrone’ Gleichgewicht des Verhaltens beschränkt,
denn die Notwendigkeit dieses Gleichgewichts gilt für alle Stufen und ist die Grundlage jener funktionellen Kontinuität...“ (Piaget
19848, S.66).
117
plementären Prozeß der Differenzierung stetig ausgegliederten und zunehmend speziali-
sierten Teilstrukturen und -funktionen gemeint (vgl. Buggle 1985, S.26). Auf jeder
Entwicklungsstufe differenzieren sich die Aktivitäten des Subjekts, die zunehmend
systematisiert, bzw. zu komplexen Systemen integriert werden, die sich dann aber wie-
derum differenzieren können durch die ständige Wechselwirkung zwischen Subjekt und
Objekt. Durch Differenzierung und Integrierung von Strukturen des Denkens schreitet
letztlich die Entwicklung fort.
Die instrumentellen Strukturen und die Inhalte kennzeichnen den variablen Teil, der auf
jeder Entwicklungsstufe erkennbar ist, weil er ‘sichtbar’ ist, während die funktionalen
Invarianten der kognitiven Genese erst erschlossen werden müssen. Aufgrund der vari-
ablen Inhalte sind individuell unterschiedliche Entwicklungsverläufe zu beobachten. So
kann man in jeder Individualentwicklung die Anpassung oder die Organisation der Ge-
nese von Kognition erschließen, aber wann genau das personale System zum Beispiel
den „Begriff des mechanischen Gleichgewichts“ versteht192, das hängt eben ganz von
den Inhalten und dem Zeitpunkt ab, wann entsprechende Assimilationsprozesse erfolg-
ten. Man kann auch ganz allgemein sagen, daß interhuman gleichförmige kognitive
Strukturen mit interkulturell und interindividuell sehr verschiedenen Inhalten gefüllt
werden und sich zeitlich unterschiedlich entwickeln können.
Am Ende der Intelligenzentwicklung liegt ein Gleichgewicht vor, das nicht als etwas
Statisches verstanden werden darf, aber durch Stabilität gekennzeichnet ist193, da das
Individuum durch seine kognitiven Leistungen nun in der Lage ist, ein Gleichgewicht
wieder herzustellen oder aufrechtzuerhalten, wenn dieses zeitweise gestört wurde, was
dann der Fall ist, wenn Probleme, Widersprüche etc. auftreten. Das kognitive Gleich-
gewicht verfügt gerade über zunehmende Beweglichkeit und Aktivität, je höher und
stabiler es entwickelt ist. Ist diese höchste Stufe des Gleichgewichts erreicht, Piaget
192 Siehe hierzu Piaget/Inhelder 1980, S.306ff. Bei einem Experiment mit einem Kolben, der einen Druck auf eine Flüssigkeit aus-
übt, sind verschiedene Transformationen zu unterscheiden, die nach und nach erworben werden. Diese entsprechen der INRC-
Gruppe, mit deren Hilfe nicht nur das logische Gleichgewicht selber beschrieben werden kann, sondern die auch dem operativen
Schemata des personalen Systems entsprechen, dessen es sich bei der Erklärung des Experiments bedient. Vgl. auch Piaget 1980,
S.28-32.193 „Das kognitive Gleichgewicht ist nicht ein Zustand der Untätigkeit, sondern von aktiv getätigten Austauschprozessen des Sub-
jekts mit seiner Objektwelt, die aber so vor sich gehen, daß dabei das diesen Austausch vermittelnde kognitive Subjekt erhalten
bleibt. So läßt sich das kognitive Gleichgewicht in erster Annäherung als ein Stabilitätszustand eines offenen Systems bezeichnen,
das im Austausch mit der Umwelt seine eigene funktionelle und strukturelle Ordnung bewahrt“ (Fetz 1988, S.135).
118
spricht genauer von Äquilibration194, ist das Individuum theoretisch befähigt, alle an-
stehenden geistigen Probleme zu lösen, da die kognitive Struktur so beweglich gewor-
den ist, daß sie sich allen Problemen anpassen kann. Auf der obersten Stufe der Intelli-
genzentwicklung erfolgt der immer wiederkehrende Äquilibrationsprozeß selbstregula-
tiv, d.h. störende Einflüsse werden durch kompensierende Gegenmaßnahmen des Sub-
jekts ausgeglichen, wodurch der ‘ursprüngliche’ Gleichgewichtszustand wieder erreicht
wird, aber nun zu einer Verbesserung der früheren Form führt195. Man kann hier zu-
sammenfassend sagen, daß das Gleichgewicht der Selbstregulation entspricht196. Auch
die Anpassung, die Adaptation, wird optimal realisiert im zunehmenden Gleichgewicht
zwischen Assimilation und Akkomodation. Diese invarianten Faktoren der Entwicklung
stehen im Dienste immer höherer, flexibler Gleichgewichtszustände. Sie sind untrenn-
barer Bestandteil der Äquilibration. Nach Piaget bildet das fundamentale Bedürfnis je-
des Individuums nach Gleichgewicht und Widerspruchslosigkeit den Motor für Äqui-
librationsprozesse. Dieses Motiv ist im Denken des Menschen ebenso mächtig wie die
elementaren körperlichen Bedürfnisse und darf deshalb im pädagogischen Bereich nicht
vernachlässigt werden.
Ausgehend von der Wahrnehmung eines jeden Menschen (Maturanas frühe Studien
lagen auch im Bereich der Wahrnehmung) kann die gesamte Entwicklung von Kogniti-
on auch als ein Verlauf von einem anfänglichen Egozentrismus197 zu einer Dezentrie-
194 Vgl. hierzu die Einführung zu Piagets Buch über ‘Die Äquilibration der kognitiven Strukturen’: „Dieses Buch will die Entwick-
lung und sogar die Ausformung der Erkenntnisse durch einen zentralen Äquilibrationsvorgang zu erklären versuchen. Darunter
verstehen wir nicht die Anwendung ein und derselben und ein für allemal gegebenen allgemeinen Gleichgewichtsstruktur auf alle
Situationen (...). Wir meinen damit vielmehr einen Prozeß (deshalb der Begriff ‘Äquilibration’), der von bestimmten erreichten
Gleichgewichtszuständen über eine Vielfalt von Unausgewogenheiten und Wiedereinstellungen des Gleichgewichts zu anderen,
qualitativ verschiedenen Gleichgewichtszuständen führt“ (Piaget 1976, S.11).195 Siehe genauer Abschnitt 4.3.3.196 Zum Ursprung von Selbstregulation sagt Piaget, daß die „endogenen Vorgänge bei der biologischen Phänokopie vom Genom
herrühren, im Falle der kognitiven Äquivalente der Phänokopie hingegen nur von den innerlichen Selbstregulierungen des Subjekts.
Diese Selbstregulierungen haben sicher und sogar grundsätzlich einen organischen Ursprung, aber ohne daß die kognitiven Un-
gleichgewichte bis auf die Stufe des Genoms hinunter mitgeteilt werden müssen, damit eine stabile Wiederherstellung des Gleich-
gewichts veranlaßt wird. Sie werden somit nicht mit dem Erbgut weitergegeben“ (Piaget 1975c, S.87).197 Zur Stufe des anschaulichen Denkens heißt es dazu: „Eine anschauliche Beziehung besteht immer aus einer ‘Zentrierung’ des
Denkens auf die eigene Tätigkeit, im Gegensatz zur Gruppierung aller in Frage kommenden Beziehungen ... Das anschauliche
Denken weist also immer einen entstellenden Egozentrismus auf, da die anerkannte Beziehung immer auf die eigene Tätigkeit des
Subjekts bezogen ist und nicht zu einem objektiven System dezentriert wird. (...) Der intellektuelle Egozentrismus ist ... nichts als
ein Fehlen der Koordinierung und der Gruppierung mit den anderen Individuen und den Dingen“ (Piaget 19848, S.180-181).
119
rung198 beschrieben werden, wobei natürlich die operativen Strukturen nicht auf Wahr-
nehmungen (oder Gestalten der Wahrnehmung) reduziert werden können. Aber durch
die genaue Darstellung von Wahrnehmung hat Piaget auf eine wesentliche biologische
Wurzel des Denkens hingewiesen199. Unser Wahrnehmungsraum ist nämlich keines-
wegs homogen, sondern in jedem Augenblick zentrieren wir unseren Blick auf einen
bestimmten Gegenstand. Durch verschiedene Zentrierungen oder optische Regulierun-
gen erfolgt dann eine Dezentrierung, d.h. „die Herstellung einer Beziehung zwischen
den verschiedenen aufeinanderfolgenden Zentrierungen“, die „korrigierend und regulie-
rend“ ist, aber nach allgemeinen Gesetzen abläuft, die „wir in anderen Formen und auf
verschiedenen anderen Gebieten, nicht nur bei der Wahrnehmung, wiederfinden wer-
den“ (Piaget 1975b, S.173), sondern auch bei der kognitiven Tätigkeit auf der höchsten
Stufe der Denkentwicklung. Die ständigen Wahrnehmungsregulierungen bilden dabei
einen beweglichen Austauschprozeß, der die Entstehung des operativen Mechanismus
ermöglicht. Übertragen auf die Genese des Denkens soll durch den Egozentrismus nicht
nur darauf hingewiesen werden, daß im Verlauf der Entwicklung das Kind immer wie-
der das Subjekt mit dem Objekt vermischt200, sondern daß Erkenntnis eben nicht durch
Addition erfolgt, die dann Objektivität gewährleistet.
„Die Objektivität setzt vielmehr eine Dezentration voraus, das heißt einen fortwähren-
den Umguß der Betrachtungsweisen: Die Egozentrik ist der Zustand der Nichtunter-
scheidung, der noch nicht um die Vielfalt der Standpunkte weiß, während die Objekti-
vität zugleich eine Differenzierung und eine Koordination der Standpunkte voraussetzt“
(Piaget/Inhelder 1980, S.332)201.
198 „Neben diesen Zentrierungswirkungen ... gibt es Dezentrierungseffekte, die darin bestehen, daß mehrere aufeinanderfolgende
Zentrierungen zueinander in Beziehung gesetzt werden, die zu einer Reihe von Ausgleichungen führen“ (Piaget 1984(a), S.117-
118).199 Dies erfolgte in Abgrenzung von der Gestalttheorie; siehe hierzu Piaget 19848, S.61ff. und Piaget 1983, S.250ff.200 Das „Subjekt bestätigt sich erst als existent, wenn es zu einer freien Koordination seiner eigenen Handlung gelangt, und das
Objekt bildet sich erst aus, wenn seine Bewegungen oder Lagen in einem zusammenhängenden System koordiniert werden können“
(Piaget 1980a, S.34-35).201 „Das wichtigste Faktum für die Dezentration ist aber der Beginn der Arbeit im eigentlichen Sinne des Wortes. Durch die Über-
nahme einer wirklichen Aufgabe wird der Heranwachsende erwachsen ...“ (ebd., S.333).
120
4.3.2 Die Verwendung logisch-mathematischer Systeme als Widerspie-gelung von Kognition
Piagets Ansatz wird oft, wie eingangs schon gesagt, vorschnell als rein psychologisch
verstanden, weil sein methodisches Vorgehen den Methoden der Psychologie am
nächsten kommt. Piaget versucht jedoch, seine ‘psychologischen’ Ergebnisse zu forma-
lisieren und begibt sich damit in den logisch-mathematischen Bereich. Denn nach seiner
Auffassung können eher Logiker entscheiden, welche Erkenntnisstufen denn nun als
‘höher’, welche als ‘niedriger’ einzustufen sind, weil sie über die dafür notwendigen
formalen Aspekte verfügen (vgl. hierzu Piaget 19884, S. 18-21)202. Die logische oder
logistische Konstruktion führt nämlich über die alltäglichen Denkstrukturen hinaus,
indem sie eine Unterscheidung von Form und Denkinhalt durchführen kann, „wobei die
Formen durch reflektierende Abstraktion203 aus den auf der tieferen Stufe üblichen
Denkverfahren gewonnen werden. Die Formalisierung des Logikers erscheint deshalb
als eine Verfeinerung oder Fortsetzung der Gesamtbewegung des Denkens“ (Piaget
1980a, S.101-102). Dabei ist sich Piaget der Grenzen der Verwendung logischer Syste-
me zur Erklärung von Denkprozessen durchaus bewußt, weil es, kurz gesagt, erstens
ganz verschiedene Logiken gibt, zweitens der Formalisierung generell Grenzen gesetzt
sind und drittens weil Erkenntnis gar nicht nur rein formal ist. Allerdings muß er sie
benutzen, weil er in der Logik eben die einzige Möglichkeit sieht, die Gesamtheit von
Denkstrukturen formal erfassen zu können, was entsprechende logische oder mathema-
tische Inhalte einschließt, da Formen oder Strukturen immer an Inhalte gebunden sind,
und das gilt auch umgekehrt, Inhalte sind nicht ohne Strukturen denkbar.
Als Beispiel sei an die formale Stufe der Denkentwicklung erinnert, auf der das Subjekt
sein Denken nicht mehr nur auf konkret-reale Objekte richtet, sondern Aussagen über
diese zum Gegenstand des Denkens macht, die nach Piaget mit Hilfe der Logistik dar-
gestellt werden können204. Er verwendet hierfür die Gruppe von vier Operationen, die
202 „Die Logik scheint auf den ersten Blick den bevorzugten Bereich der Strukturen darzustellen, denn sie bezieht sich auf die For-
men der Erkenntnis und nicht auf deren Inhalte“ (Piaget 1980, S.28).203 „Die reflektierende Abstraktion enthält zwei nicht voneinander zu trennende Momente: eine ‘Reflektierung’ in dem Sinne, daß
das, was von der früheren Stufe übernommen wird, auf eine höhere Stufe projiziert wird (...), und eine ‘Reflexion’ im Sinne einer
(mehr oder weniger bewußten oder unbewußten) kognitiven Rekonstruktion oder Reorganisation dessen, was so übertragen worden
ist“ (Piaget 1976, S.41-42).204 „Als Kalkül oder Algebra wollen wir hier die Logistik anwenden. (...) Zunächst ermöglicht nur ein solches Kalkül, die genaue
Ausdehnung der möglichen Operationen im allgemeinen zu bestimmen. (...) Was aber für unser Problem besonders wichtig ist, mit
dem logistischen Kalkül läßt sich vor allem zeigen, daß diese Gesamtheiten von Operationen nicht aus nebeneinander gestellten
121
der Klein’schen Vierergruppe entspricht205. In der Mathematik wird der Begriff „Grup-
pe“ verwendet, um die gegenseitige Abhängigkeit von Operationen zu beschreiben.
Piaget überträgt diesen Begriff auf Aussagenoperationen, zu denen das Kind ab ca. dem
12. Lebensjahr fähig wird. So gelangt er zu der INRC-Gruppe, nach der Aussagen iden-
tisch sind (I) (p impliziert q), Aussagen negiert werden können (N) (p und nicht q), auch
ist die reziproke Aussagenform denkbar (R) (q impliziert p) und schließlich kann auch
die reziproke Aussage negiert werden, was zum Korrelat führt (C) (q und nicht p). Zu-
dem können diese Aussagenformen beliebig miteinander verknüpft werden, wobei jedes
Ergebnis wiederum Element der Gruppe ist (NR=C; NC=R; CR=N; NCR=I)206. Damit
wird ganzheitliches Denken durch eine entsprechende ganzheitliche Struktur dargestellt.
Wie diese logistische Struktur ein abgeschlossenes, flexibles System bildet, so hat auch
das formale Denken einen Gleichgewichtszustand erreicht, wenn es eben diese Struktur
operationalisieren kann.
Um logische Systeme verstehen, um diese gar entwickeln zu können, bedarf es einer
ausführlichen Beschäftigung mit diesem Bereich. Theoretisch ist dies nach Abschluß
der Denkentwicklung möglich, wenn endlich die entsprechenden Voraussetzungen da-
für geschaffen sind. Das ist nach Piaget, wie gesagt, auf der Stufe der formalen Denk-
operationen der Fall207, der Endstufe von Entwicklung. Hier treten die Operationen (von
Operationen) auf, die den logischen und logistischen Systemen nun vollständig entspre-
einfachen Elementen bestehen: diese Elementengruppen haben im Gegenteil eine Struktur als Ganzheiten“ (Piaget/Inhelder 1980,
S.257).205 Siehe einführend hierzu Buggle 1985, S.95ff., sowie u.a. Piaget 1983, S.78-81; Piaget 1980, S.30-31; Piaget 1980a, S.S.74-76.
Und ausführlich Piaget/Inhelder 1980, S.260ff.206 Ein einführendes Verständnis der INRC-Gruppe am Beispiel des hydrostatischen Gleichgewichts findet sich bei Piaget/Inhelder
19872, S.142: „In einer U-förmigen hydraulischen Presse bringt man auf der einen Seite einen Kolben an, dessen Gewicht man
vergrößern oder verkleinern kann, was den Flüssigkeitsstand auf der anderen Seite verändert; zudem kann man das spezifische
Gewicht der Flüssigkeit (Alkohol, Wasser oder Glyzerin) verändern, die dann um so höher steigt, je geringer ihre Dichte ist. Hier
fällt es dem Kind schwer zu begreifen, daß das Gewicht der Flüssigkeit dem Gewicht des Kolbens entgegenwirkt als eine seiner
Aktion entgegengesetzten Reaktion. Interessanterweise wird diese Reaktion oder dieser Widerstand der Flüssigkeit bis in ein Alter
von ungefähr 9 oder 10 Jahren nicht verstanden, sondern das Kind meint, daß sich das Gewicht der Flüssigkeit zum Gewicht des
Kolbens hinzufügt und in derselben Richtung wirkt. Auch hier wieder wird der Mechanismus erst aufgrund der Viererstruktur
begriffen: ist I = die Vergrößerung des Kolbengewichts und N = seine Verringerung, dann ist die Vergrößerung des spezifischen
Gewichts der Flüssigkeit reziprok ( R ) im Verhältnis zu I und seine Verringerung eine Korrelation ( C )“. Siehe auch Ascher 1984.207 Eine gute Zusammenfassung der formalen Denkoperationen bietet Seiler 1973, S.254-256. Danach kann der formal Denkende 1.
bei der Lösung von Problemen über die spezifische Problemsituation hinausgehen. 2. Er kann bei der Lösung des Problems jeden
Aspekt desselben mit jedem anderen in Beziehung setzen, er ist also zu kombinatorischem Denken fähig. 3. Das formale Denken
bildet ein integriertes System von reversiblen und reziproken Operationen, was durch die oben genannte INRC-Gruppe dargestellt
wurde. 4. Das formale System bezieht sich auf Operationen zweiten Grades. 5. Problemlösungen sind auf rein verbaler Ebene mög-
lich. 6. Phylogenetisch wie ontogenetisch handelt es sich um die höchste Stufe.
122
chen. Die personalen Systeme sind sich der Formalität ihres Denkens selbst nicht be-
wußt, sie wenden es aber an. Gerade im wissenschaftlichen Denken kann man m.E.
dann eine Fortführung der formalen Stufe feststellen, wenn der Mensch über die for-
male Struktur seines Denkens reflektieren kann. Dabei ist zu beachten, daß dies keines-
wegs in allen inhaltlichen oder formalen Bereichen der Fall sein muß. Generell sollte
man in Anlehnung an Seiler von bereichsspezifischen Denkstrukturen sprechen, die im
Verlauf der Entwicklung weniger werden, aber nicht ganz verschwinden (vgl. Seiler
1973). Dies entspricht der immer wieder festzustellenden Tatsache, das Denkstrukturen
nicht nur individuell, sondern auch interkulturell verschieden ausgebildet sind.
In seinen Werken zur genetischen Epistemologie hat Piaget somit die kognitive Ent-
wicklung des Subjekts unter Berücksichtigung des menschlichen Organismus und des-
sen Organisation zu erklären versucht und damit hat er endgültig den Dualismus von
Materie und Geist überwunden und die Theorien von Kant und Descartes weiterentwi-
ckelt. Das heißt, daß „anstelle der neuzeitlichen Spaltung der Wirklichkeit in eine me-
chanistisch konzipierte Materie und einen subjektivistisch interpretierten Geist ein or-
ganizistisches Wirklichkeitsverständnis postuliert werden muß, in dem das menschliche
Subjekt nicht mehr der materiellen Natur gegenüber als heterogenes Anderes auftritt,
sondern als die höchste Manifestation eines die ganze Natur umfassenden Organisati-
onszusammenhanges erscheint“ (Fetz 1988, S.131).
4.3.3 Entwicklung psychischer Systeme und Konsequenzen für Erzie-hung
Die Entwicklung des kognitiven Systems vollzieht sich nach Piaget durch das Wechsel-
verhältnis zwischen der Integration von Strukturen durch den Assimilationsprozeß und
eine damit verbundene interne Differenzierung der bereits vorhandenen Assimilations-
schemata208 bzw. der internen Strukturen aufgrund des Akkomodationsprozesses. Diese
Wechselwirkung führt von einem anfänglichen Ungleichgewicht zu einer Äquilibration
208 Zum Begriff des ‘Schemas’ vgl. die grundlegende Aussage Piagets: „Wir verstehen unsererseits unter einem Handlungs- und
Operationsschema das Ergebnis der aktiven Reproduktion von Handlungen jeglicher Art, vom sensomotorischen Verhalten bis zu
den verinnerlichten Operationen, gleichgültig ob es sich um einfache Handlungen (z.B. das Schema des Greifens) oder um Koordi-
nationen zwischen Handlungen (z.B. das Schema der Vereinigung oder des Aufteilens) handelt. Die Rolle des ‘Schemas’, das so mit
Bezug auf die Aktivität des Subjekts definiert wurde, besteht nun im wesentlichen darin, die Eingliederung oder Assimilation von
neuen Objekten an die Handlungen zu gewährleisten. Die Handlung erwirbt dabei durch die Wiederholung unter erneuten und
verallgemeinerten Bedingungen einen schematischen Charakter“ (Piaget 1975a, S.242-243).
123
der Strukturen, wobei es sich dann um eine majorierende Äquilibration handelt209, wenn
innerhalb der Entwicklung von einem Fortschritt gesprochen werden kann. Eine majo-
rierende Äquilibration führt zu einem verbesserten und umfassenderen Gleichgewicht,
hingegen Äquilibration auch dann vorliegt, wenn es sich um die Stabilisierung des
Gleichgewichts handelt210. Kommt es zu einer majorierenden Äquilibration, dann ist
eine neue Stufe der Entwicklung erreicht.
Die neue Stufe baut auf der vorherigen auf. Sie ergibt sich jedoch nicht, weil ihre
Strukturen bereits in der vorherigen Stufe präformiert sind, vielmehr bilden sich neue
Stufen aufgrund der gegenseitigen Assimilation von Strukturen, wobei „das Höhere mit
Hilfe von Transformationen aus dem Tieferen abgeleitet werden kann“ und umgekehrt
das Tiefere bereichert wird, indem es die neuen Strukturen integriert (Piaget 1980a,
S.144). So findet das Wechselverhältnis zwischen Integration und Differenzierung nicht
nur zwischen Subjekt und Objekt oder Umwelt statt, sondern auch bei der Entwicklung
jeder Struktur. Die neue Struktur wird in die bestehenden integriert und diese dadurch
differenziert (vgl. auch Fetz 1988 S.17). Strukturen unterliegen im Laufe der Entwick-
lung des kognitiven Systems einer Veränderung, sie bleiben nicht bestehen, wenn sie
einmal gebildet sind und sie verschwinden auch nicht, weil sie von neuen Strukturen
überlagert werden.
Diese allgemeine und daher auch abstrakte Formulierung für Entwicklung läßt sich auf
die Handlungsebene übertragen, wenn Piaget davon spricht, daß Entwicklung durch
„weiterführende konvergierende Rekonstruktion“ (Piaget 1983, S.336) erfolgt. Das
heißt, Handlungen werden ständig wiederholt (wie biologische Prozesse auch), wobei
Rekonstruktionen vorliegen, die allmählich über die ursprünglichen Konstruktionen
hinausführen, eben aufgrund der gegenseitigen Assimilation von Handlungen. Wesent-
lich ist nun für Piaget, daß dieser ständige Rekonstruktionsprozeß im kognitiven Breich
209 „Die für die Entwicklung grundlegende Reäquilibrationen bestehen jedoch in der Ausformung nicht nur eines neuen, sondern im
allgemeinen auch eines besseren Gleichgewichts. Wir sprechen dann von ‘majorierenden Äquilibrationen’“ (Piaget 1976, S.11).210 „Ein System stellt somit nie einen absoluten Abschluß der Äquilibrationsprozesse dar . (...) Deshalb muß man zusätzlich zu den
einfachen, immer begrenzten und unvollständigen Äquilibrationen von majorierenden Äquilibrationen in Richtung solcher Verbes-
serungen sprechen. (...) Diese Majorierung äußert sich auf zwei Weisen, je nachdem ob sich die Verbesserungen einfach aus dem
Gelingen der kompensatorischen Regulierungen, also aus dem momentan erreichten Gleichgewicht, ergeben oder ob das Neue
(durch reflektierende Abstraktionen) aus dem Mechanismus dieser Regulierungen abgeleitet wird. Denn jede Regulierung bringt
neue Transformationen in das zu regulierende System hinein...“ (Piaget 1976, S.37-38).
124
schließlich zu den reflektierenden Abstraktionen211 führt, von denen im Rahmen ma-
thematischer Strukturbildung gesprochen wird, im Gegensatz zur einer ‘einfachen’
Abstraktion (vgl. Piaget1980a, S.38-39 bzw. Abschnitt 4.3.2). Die reflektierende Abs-
traktion umfaßt dann genau die Operationen der INRC-Gruppe. Am Ende der kogniti-
ven Entwicklung kommt es somit zu eine Schließung der Strukturen zu einem umfas-
senden operativen System, was gleichzeitig, im Gegensatz zu den früheren Entwick-
lungsstufen, mit ehöhter Flexibilität verbunden ist. Geschlossenheit und Flexibilität
bedingen sich gegenseitig.
Die Grundlage der kognitiven Entwicklung ist die Handlung bzw. das Verhalten. Nur
aufgrund von Verhalten ist eine Weiterführung der organischen Organisation hin zur
kognitiven Organisation möglich. Und auch hier zeigt sich wieder das Wechselverhält-
nis zwischen Integration und Differenzierung, denn jeder Fortschritt im Verhalten führt
zur Fortentwicklung der Strukturen der Organisation des Lebendigen und das gilt auch
umgekehrt, wobei diese Entwicklung schließlich in den kognitiven Strukturen gipfelt
(vgl. Fetz 1988, S.241). In Hinblick auf Kognition ist dabei zu beachten, daß nicht das
Handeln an sich die Grundlage bildet, sondern die den Handlungen zugrundeliegenden
Strukturen, die bei der Koordination von Handlungen zum Ausdruck kommen (vgl.
Kubli in Piaget 1980a, S.21-22).
Es findet demnach nicht nur eine Entwicklung statt, die von Konstruktionen von Hand-
lungen, über Rekonstruktion von weiterführenden Handlungen bis hin zur reflektieren-
den Abstraktion verläuft, die dann in den bekannten Stufen der Entwicklung nach Piagt
von den sensomotorischen, über die anschaulichen und die konkreten bis hin zu den
formalen Operationen dargestellt wird, sondern auf allen Stufen und den sie unterteilen-
den Stadien lassen sich kleinste Entwicklungsfortschritte finden, die dem ständigen
Wechselverhältnis von Assimilation und Akkomodation unterliegen.
Die Entwicklung bleibt schließlich erstens abhängig (vgl. zum Folgenden ausführlich
Piaget 1984a, S.121ff.) von den biologischen Faktoren und damit zum Beispiel auch
211 „Nun ist die reflektierende Abstraktion nur ein an die logisch-mathematische Erkenntnis gebundener Sonderfall sehr allgemeiner
Prozesse, die sich in allen Bereichen des Lebens wiederfinden und die man als ‘weiterführende konvergierende Rekonstruktion’
bezeichnen könnte“ (Piaget 1983, S.338). „Wir haben gesehen, daß wir, bevor sich logisch-mathematische Operationen herausbilden
und folglich zu einem deduktiven System werden, von logisch-mathematischen Experimenten sprechen können, die ihre Information
nicht aus den Objekten selbst, sondern aus den Eigenschaften der auf Objekte gerichteten Handlungen gewinnen, was etwas ganz
anderes ist. Wir haben es also im Gegensatz zur einfachen Abstraktion mit einem neuen Aktionstypus zu tun, den wir reflektierende
Abstraktion nennen und der den Schlüssel zu dem Problem des konstruktiven Charakters der Äquilibration durch Selbstregulation
darstellt“ (Piaget 1983a, S.79).
125
von der Entwicklung des Nervensystems (das sich ebenfalls nach den oben aufgezeigten
Abläufen entwickelt). Die biologischen Faktoren sind von gesellschaftlichen Umstän-
den nicht beeinflußt, weshalb Piaget eine gewisse „Konstanz oder Gleichförmigkeit der
Entwicklung unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen“ impliziert (ebed.,
S,122). Damit wird zum einen die Entwicklungsrichtung durch die Arbeitsweise und die
Organisation des Organismus selbst vorgegeben. Zweitens ist die kognitive Entwick-
lung von den Handlungen des Individuums abhängig, womit eine je spezifische Form
von Assimilation und Akkomodation gemeint ist. Auf der Handlungsebene kann es zu
Verzögerungen oder Verschiebungen in der Reihenfolge der Entwicklungsstadien
kommen. Die Entwicklungsrichtung wird aber schließlich doch beibehalten und eine
„negative“ Entwicklung ist damit ausgeschlossen. Drittens ist die Entwicklung von den
sozialen oder interindividuellen Beziehungen abhängig, die mit dem gesellschaftlichen
Faktor zusammenhängen. Die gesellschaftlichen Kontakte des Kindes sind so grundle-
gend, daß die Sozialisationsprozesse die Äquilibrationsprozesse überlagern in dem Sin-
ne, daß man bei individuellen wie auch bei interindividuellen Handlungen dieselben
Regulierungsgesetze wiederfindet212. Schließlich ist die Entwicklung viertens von der
„erzieherischen Vermittlung“ abhängig, die sich auf die jeweilige Gesellschaft bezieht,
sodaß die „Erkenntnisvorgänge von einer Gesellschaft zur anderen verschieden sein
können“ (ebd., S.125). Die Erziehung hat damit weniger Einfluß auf die Entwicklung
der Operationen im Allgemeinen als vielmehr auf die Inhalte.
Die kognitive Strukturbildung wird letztlich immer durch die Selbstregulierung voran-
getrieben. Das gilt bereits für die Embryologie. Die Reihenfolge der Entwicklungssta-
dien ist damit konstant, jedes Stadium ist durch seine Gesamtsruktur bestimmt, wobei
die Strukturbildung durch Differenzierung und Integration erfolgt (vgl. Fetz 1988,
S.198f.). So wie sich der Mensch aufgrund biologischer Faktoren und damit aufgrund
einer inneren Notwendigkeit entwickelt, so spricht Piaget von der „Embryologie der
Vernunft“ (Piaget 1975b, S.10). Auch die kognitive Entwicklung erfolgt aufgrund einer
inneren Notwendigkeit, weil die Entwicklung Organisation voraussetzt und umgekehrt
(vgl. Piaget 19848, S.56). Erziehung wird wichtig für die Entwicklung, aber sie stellt nur
einen Faktor dar. Nur durch das funktionierende Zusammenspiel von biologischen, psy-
212 „Insofern könnte man die Logik, verstanden als Endform der Äquilibration, für gleichzeitig individuell und sozial ansehen;
individuell, insofern sie allen Individuen gemeinsam ist, sozial, insofern sie allen Gesellschaften gemeinsam ist“ (Piaget 1984a,
S.125).
126
chischen, sozialen und erzieherischen Faktoren213 verläuft die kognitive Entwicklung in
Richtung der geltenden logischen Gesetzmäßigkeiten, die sich im Verlauf der Ge-
schichte genauso entwickelt haben, wie die individuellen Denkstrukturen. Der Erzie-
hung kommt damit sozusagen ein mittlerer Stellenwert bei der Entwicklung des Kindes
zu. Sie muß erfolgen, aber sie ist nicht ausschließlich für die Entwicklung verantwort-
lich, sie greift in die Entwicklung ein, und sie kann die Richtung der kognitiven Ent-
wicklung unterstützen, diese aber nicht verändern.
Erziehung kann nach Piaget aber nur unter Berücksichtigung der strukturellen Ent-
wicklung erfolgen, denn das Kind verfügt eben nicht über dieselben intellektuellen oder
auch moralischen Strukturen wie der Erwachsene. „Dagegen ist das Kind in funktio-
neller Hinsicht dem Erwachsenen gleich“ (Piaget 1984, S.126). Erziehung muß im
Dienst der Genese von Strukturen stehen und dies in zweifacher Hinsicht: Zum einen
muß erkannt werden, welche Strukturen vorliegen und zum anderen ist in Abhängigkeit
davon festzustellen, welche Strukturen aufgebaut werden sollen, denn jede „Entstehung
geht von einer Struktur aus und mündet in einer Struktur“ (Piaget 1984, S.268). Um es
noch einmal anders auszudrücken: Auf Erziehung in Abhängigkeit von Entwicklung
kann nicht verzichtet werden, denn durch Erziehung wird sozusagen der variable Teil
der Entwicklung, nämlich die spezifischen Strukturen, geformt, die für das Leben als
Erwachsener in der jeweiligen Gesellschaft notwendig sind. Hingegen kann an der Art
der Organisation, die Piaget als Selbstregulation (vgl. Abschnitt 4.3.1) oder „Autoregu-
lation“ bezeichnet214, nichts geändert werden und damit ist letztlich die Art und Weise
gemeint, wie das Kind Äquilibrationsprozesse vollzieht. Assimilation und Akkomodati-
on vollzieht das Kind selbstständig. Aber dies geschieht nur durch Erfahrungen, die
213 „Kann man aber zur Erklärung der Denkstrukturen strenggenommen weder auf die Vererbung noch auf Lernprozesse rekurrieren,
so bleibt als biologischer Erklärungsgrund nur jene Wirklichkeit übrig, an die man meistens gar nicht denkt, weil sie die sozusagen
selbstverständliche Rahmenbedingung sowohl für Vererbungs- als auch der Lernvorgänge bildet, nämlich das allgemeine, absolut
kontinuierliche Funktionieren der Organisation des Lebendigen überhaupt“ (Fetz 1988, S.253).214 Zur Autoregulation heißt es bei Piaget 1980a, S. 94-95: „Die biologischen Wurzeln der kognitiven Strukturen und ihre schließli-
che Notwendigkeit lassen sich somit weder durch die alleinige Einwirkung der Umgebung noch durch eine angeborene Präformation
erklären, sondern nur durch die Autoregulation, mit ihrer zyklischen Funktionsweise und ihrer inneren Tendenz zum Gleichgewicht
(...). Ein positiver Grund für eine derartige Lösung (...) besteht darin, daß selbstregulierende Systeme auf allen Stufen des Organis-
mus vorkommen, vom Genom bis zum Verhalten, sie scheinen zu den allgemeinsten Eigenschaften der Organisation des Lebens zu
gehören. Die Autoregulation dürfte eine seiner wesentlichsten Eigenschaften sein - und gleichzeitig auch der allgemeinste Mecha-
nismus, der die organischen und die kognitiven Reaktionen steuert“. Die Autoregulation steht damit der Autopoiese (bei Maturana)
sehr nahe. Wir werden darauf in der Zusammenfassung zurückkommen.
127
dem Kind durch Erziehung in spezifischer Weise möglich werden (vgl. Piaget 1980a,
S.127).
Wenn also Piaget schreibt: „Erziehung heißt, das Individuum an das umgebende soziale
Milieu anpassen“ (Piaget ebd., S.125), dann ist mit Anpassung die komplexe Form der
Äquilibration gemeint, die sowohl die Autoregulation des Subjekts umfaßt als auch den
für die Assimilation notwendigen Umweltbezug, der dann in Form von Erziehung auf-
tritt, wenn er die Strukturgenese des Subjekts berücksichtigt.
Die wesentliche Aufgabe von Erziehung besteht zunächst darin, das Interesse des Kin-
des zu wecken, damit es nämlich selbst aktiv wird und die Strukturgenese in Gang
kommt215.
Nun hat Piaget, im Gegensatz zu Haken und Maturana und wie wir noch sehen werden
auch im Gegensatz zu Luhmann, ein Bezugssystem zur Hand, nämlich die logisch-
mathematischen Strukturen, die der wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechen und, das
sei hier am Rande bemerkt, seine Theorie nicht nur wissenschaftlich legitimieren, son-
dern die Entwicklung der Wissenschaft selbst erklären soll (vgl. zusammenfassend Fetz
1988, S.33ff. und ausführlich Piaget 1975b, S.42ff.). Das klingt sehr verlockend, seine
Theorie bleibt damit aber an den derzeitigen Wissenschaftsstand von Logik und Ma-
thematik gebunden und dies kann auch als „Mangel an Autonomie und Reflexion“ er-
scheinen (Fetz 1988, S.34). Es geht hier aber um die abschließende Betonung, daß Pia-
get als einziger der hier genannten Wissenschaftler eine Kategorie zur Verfügung ge-
stellt hat, an der der Fortschritt von kognitiver Entwicklung und damit auch der Fort-
schritt von Erziehung, zumindest im kognitiven Bereich, gemessen und inhaltlich kon-
kretisiert werden kann.
Mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung bei Haken und Maturana ist auch nach Pia-
get Entwicklung letztlich als interne Strukturveränderung des personalen Systems zu
verstehen. Erziehung kann auch nach Piaget keinen direkten Einfluß auf die Entwick-
lung ausüben. Sie kann zur internen Strukturentwicklung nur durch die Gestaltung der
Umweltgegebenheiten beitragen, durch die dann wünschenswerte Assimilationsprozes-
se ausgelöst werden. Dabei stört Erziehung das Gleichgewicht des kognitiven Systems,
215 „... wenn man andererseits dem Kind die Möglichkeit einer ausdauernden persönlichen Arbeit zubilligt, postuliert man eben das,
was es aufzuzeigen gilt. Ist das Kind zu dieser Aktivität fähig, die die höchststehenden Verhaltensweisen des Erwachsenen selbst
kennzeichnet - so den aus einem spontanen Bedürfnis hervorgehenden beständigen Entdeckerdrang? Das ist die Zentralfrage der
neuen Erziehung“ (Piaget 1980a, S.126).
128
sodaß ein Ungleichgewicht zwischen Assimilations- und Akkomodationsprozessen ent-
steht, die dann zur Reäquilibration und damit zur Entwicklung des kognitiven Systems
gelangen, wenn beim Kind aufgrund seines Interesses an den ihm dargebotenen Inhalten
(wobei Inhalte immer an Strukturen gebunden sind) seine spezifischen Autoregulati-
onsprozesse ausgelöst werden.
4.4 Das soziale System nach Luhmann
Luhmann hat nicht nur eine Theorie über soziale Systeme216 verfaßt, er hat darüber hin-
aus die allgemeine Systemtheorie weiterentwickelt, weil er eine soziologische Theorie
vertritt, „die den systemtheoretischen Ansatz bis in seine letzten Konsequenzen verfolgt
und bis hin zu einem ‘Systemdenken’ verallgemeinert, das eine Vielzahl philosophi-
scher und epistemologischer Implikationen mit sich bringt“ (Zolo 1985, S.520). Und
gerade diese Allgemeingültigkeit seiner Theorie erlaubt eine Übertragbarkeit oder An-
wendung auf andere, strukturell ähnliche Bereiche. Luhmann hat dabei an interdiszipli-
näre Theorieentwicklungen im systemtheoretischen Bereich angeknüpft, diese für den
soziologischen Bereich fruchtbar gemacht und bereits gezeigt, daß seine Vorstellungen
auch in den pädagogischen Bereich hineingetragen werden können, indem er sich selbst
mit dem Erziehungssystem beschäftigte217.
Formal gesehen wird die Theorie sozialer Systeme durch eine Vielzahl von Begriffen
beschrieben, die „mit Bezug aufeinander“ bestimmt werden218. Erst durch die genaue
Kennzeichnung der Begriffe und ihren Zusammenhang ergibt sich die Grundlage der
Theorie. Im Anschluß an die Arbeiten von Maturana hat sich Luhmanns Theorie der
System/Umwelt - Differenz in die Richtung der Theorie autopoietischer, selbstreferen-
216 „Der Systembegriff steht (im Sprachgebrauch unserer Untersuchungen) immer für einen realen Sachverhalt. Wir meinen mit
‘System’ also nie ein nur analytisches System, eine bloße gedankliche Konstruktion, ein bloßes Modell“ (Luhmann 1987, S.599).217 Ausgehend von dem grundlegenden Werk in Zusammenarbeit mit Karl-Eberhard Schorr „Reflexionsprobleme im Erziehungs-
system“ (1979) werden seitdem immer wieder „Fragen an die Pädagogik“ gestellt, die sich mit spezifischen systemischen Gegeben-
heiten beschäftigen. Vgl. hierzu u.a. die jüngste Arbeit: „Zwischen System und Umwelt. Fragen an die Pädagogik“ (1996). Dabei ist
festzuhalten, daß in der ersten Arbeit noch nicht die Wende zur Theorie selbstreferentieller Systeme vollzogen wurde.218 „Das geschieht mit Begriffen wie: Sinn, Zeit, Ereignis, Element, Relation, Komplexität, Kontingenz, Handlung, Kommunikation,
System, Umwelt, Erwartung, Struktur, Prozeß, Selbstreferenz, Geschlossenheit, Selbstorganisation, Autopoiesis, Individualität,
Beobachtung, Selbstbeobachtung, Beschreibung, Selbstbeschreibung, Einheit, Reflexion, Differenz, Information, Interpenetration,
Interaktion, Gesellschaft, Widerspruch, Konflikt. Man wird rasch sehen, daß herkömmliche Theoriebezeichnungen wie Handlungs-
theorie, Strukturalismus in dieser Gemengelage untergehen. Wir behalten ‘Systemtheorie’ als Firmenbezeichnung bei, weil im
Bereich der allgemeinen Systemtheorie die wichtigsten Vorarbeiten für den angestrebten Theorietypus zu finden sind“ (Luhmann
1987, S.12). Dem schließt sich auch die vorliegende Untersuchung an.
129
tieller Systeme weiterentwickelt219. Die Theorie autopoietischer Systeme220 wird dabei
als eine allgemeine, grundlegende Theorie verstanden, „die nicht vorweg schon auf
biologische, psychologische oder soziologische Grundoperationen festgelegt ist, also
auch nicht zu einer Biologisierung der Soziologie oder zu einer Soziologisierung der
Biologie tendiert, sondern die abstraktionsfähige Erkenntnisse aus all diesen Anwen-
dungsbereichen aufnehmen und zur Verfügung halten kann“ (Luhmann in
Krüll/Luhmann/Maturana 1987, S.10). So werden auch in der vorliegenden Arbeit die
hier verwendeten systemtheoretischen Ansätze verstanden. In Anlehnung an diese all-
gemeine autopoietische Theorie gibt es nun verschiedene autopoietische Systeme, die
zu unterscheiden sind. So stellt sich die Autopoiesis des Menschen anders dar, als die
der Gesellschaft, eben weil das personale System des Menschen anders strukturiert ist
als die Gesellschaft. Für Luhmann ist dabei die Frage nach der basalen Operation, die
vom sozialen System reproduziert wird, von entscheidender Bedeutung und er zeigt,
daß Kommunikation als die basale und ausschließlich die für die Gesellschaft gültige
Operation anzusehen ist221. Kommunikation wird damit auch in der Erziehung eine we-
sentliche Rolle spielen. Ausgangspunkt von Luhmanns Theorie bildet damit das radikal
operative Verständnis von Systemen und die „Annahme eines rekursiven Zusammen-
hangs der Einzeloperationen“ (Luhmann 1995, S.163).
Der Mensch wird bei Luhmann als vom Sozialsystem unabhängig verstanden. Sein psy-
chisches System konstituiert sich, im Gegensatz zum sozialen System, durch einen ein-
heitlichen Bewußtseinszusammenhang (vgl. Luhmann 1987, S.92). Luhmanns Interesse
gilt der Systemart des sozialen Systems und weniger dem Menschen als Einzelwesen,
der - systemtheoretisch gesehen - Teil der gesellschaftlichen Umwelt ist und nicht mehr
als „Maß der Gesellschaft“ verstanden wird, wie dies im Humanismus angenommen
219 Vgl. hierzu ausführlich Kiss 19902. Zum Praradigmawechsel in der Theorie Luhmanns siehe auch Krause 1996, S.10ff.220 „Es genügt meines Erachtens, von Autopoiesis oder von selbstreferentieller Geschlossenheit zu sprechen und die übliche Entge-
gensetzung von geschlossenen und offenen Systemen aufzugeben“ (Luhmann in Krüll/Luhmann/Maturana 1987, S.12). „Die (in-
zwischen klassische) Unterscheidung von ‘geschlossenen’ und ‘offenen’ Systemen wird ersetzt durch die Frage, wie selbstreferen-
tielle Geschlossenheit Offenheit erzeugen könne“ (Luhmann 1987, S.25).221 „Den Begriff der Kommunikation verwende ich dagegen nur auf der Ebene sozialer Systeme. Kommunikation ist die autopoieti-
sche Operation sozialer Systeme und kommt außerhalb der Gesellschaft nirgendwo vor. Sprache ist eine Struktur für Kommunikati-
on. Sie gewährleistet Anschlußfähigkeit trotz hoher Komplexität“ (Luhmann in Krüll/Luhmann/Maturana 1987, S.14). Siehe auch
Luhmann 1987, S.191ff.
130
wurde (vgl. Luhmann 1987, S.289)222. Gegenstand von Luhmanns Theorie ist das sozi-
ale System als ein „sinnhaft-kommunikatives“ System, weil es durch ebensolche Ope-
rationen seine Existenz schafft. Damit wird durch die operative Ebene, die Systempro-
zesse, das System als einer bestimmten Systemart zugehörig gesehen223.
Eine kurze Kennzeichnung dieser Theorie erscheint für die vorliegende Fragestellung
deshalb notwendig, weil sich das Erziehungssystem als Teilsystem des sozialen Sys-
tems ausdifferenziert hat und dort Erziehung stattfindet. Über Entwicklung im engeren
Sinne spricht Luhmann nicht. So kann hier nur über den Evolutionsbegriff Luhmanns
festgestellt werden, wie Systementwicklung abläuft.
4.4.1 Die Differenz von System und Umwelt, die Grenze von Systemenund die Entstehung der Erziehungssituation
Ein System, welcher Systemart man es auch zurechnen möchte, entsteht durch Diffe-
renz von der Umwelt. Das System erhält seine Einheit durch die Umwelt und das gilt
auch umgekehrt, die Umwelt erhält seine Einheit durch und für das System. Die Um-
welt ist Einheit aber nicht selbst ein System für das System, denn sie ist nicht von etwas
anderem differenziert, sie ist vielmehr durch „offene Horizonte“ (Luhmann 1987, S.36)
bestimmt, was dazu führt, daß sich für jedes System die Umwelt anders darstellt. Es
grenzen sich also aus einer komplexen Umwelt Systeme aus, die durch diese Ausdiffe-
renzierung letztlich sehr eng mit der Umwelt verbunden sind, weshalb Luhmann von
einer Einheit der System/Umwelt - Differenz spricht224. Das Umweltverhältnis ist damit
1. konstitutiv für Systembildung, 2. es hat nicht nur zufällige Bedeutung für das Wesen
des Systems, 3. die Umwelt ist für Nachschub von Energie und Information für das
222 „Das heißt nicht, daß der Mensch als weniger wichtig eingeschätzt würde im Vergleich zur Tradition. Wer das vermutet (...) hat
den Paradigmawechsel in der Systemtheorie nicht begriffen. Die Systemtheorie geht von der Einheit der Differenz von System und
Umwelt aus“ (ebd. S.288-289).223 „Es gibt Maschinen, chemische Systeme, lebende Systeme, bewußte Systeme, sinnhaft-kommunikative (soziale) Systeme; aber es
gibt keine all dies zusammenfassenden Systemeinheiten. Der Mensch mag für sich selbst oder für Beobachter als Einheit erscheinen,
aber er ist kein System. Erst recht kann aus einer Mehrheit von Menschen kein System gebildet werden. Bei solchen Annahmen
würde übersehen, daß der Mensch das, was in ihm an physischen, chemischen, lebenden Prozessen abläuft, nicht einmal selbst
beobachten kann“ (Luhmann 1987, S.67-68).224 „Danach besteht ein differenziertes System nicht mehr einfach aus einer gewissen Zahl von Teilen und Beziehungen zwischen
Teilen; es besteht vielmehr aus einer mehr oder weniger großen Zahl von operativ verwendbaren System/Umwelt - Differenzen, die
jeweils an verschiedenen Schnittlinien das Gesamtsystem als Einheit von Teilsystem und Umwelt rekonstruieren“ (Luhmann 1987,
S.22).
131
System bedeutsam und 4. ist für selbstreferentielle Systeme die Umwelt Voraussetzung
für deren Identität (vgl. Luhmann 1987, S.242ff.).
Aus der Sicht eines Systems entspricht dessen Umwelt nicht der Umwelt eines anderen
Systems und außerdem besteht die Umwelt selbst wiederum aus Systemen mit deren
‘relativen’ Umwelten. Aber man kann analytisch noch einen Schritt weiter gehen und
gelangt so zur Systemdifferenzierung, die besagt, daß die Einheit der System/Umwelt -
Differenz auch innerhalb des Systems selbst auftritt. So ermöglicht die Differenz von
Umwelt und System „Umweltdifferenzierung und Systemdifferenzierung zu unterschei-
den; sie verschärft sich in dem Maße (wir nennen das auch ‘Ausdifferenzierung’), als
Umweltdifferenzierung und Systemdifferenzierung verschiedenen Ordnungs-
gesichtspunkten folgen“ (Luhmann 1987, S.256). Man kann so innerhalb der System-
differenzierung artgleiche Umwelten antreffen, während die Umweltdifferenzierung
eher auf eine artfremde Umwelt hinweist225. Die Systemdifferenzierung führt zu den
Teilsystemen innerhalb des Systems, die als Gleichheiten nebeneinander bestehen oder
auch in einer Rangordnung vorliegen können. Erst durch eine genaue Beschreibung des
Systems, die die Systemdifferenzierung einschließt, die nach unterschiedlichen Ge-
sichtspunkten - funktionalen oder strukturellen - erfolgen kann, werden auch die Teil-
systeme des Systems deutlich.
Die Einheit der System/Umwelt - Differenz kann jedoch im System selbst nicht beo-
bachtet werden und führt nach Luhmann zunächst zu einer Paradoxie, die hier am Bei-
spiel des Erziehungssystems und des politischen Systems, als ein System das zur Um-
welt des Erziehungssystems gehört, kurz dargestellt werden soll226, damit auch das eben
Gesagte deutlicher wird. Zum einen möchte das Erziehungssystem als eine Einheit un-
abhängig und autonom sein. Das ergibt sich durch seine Funktion: Es will Erziehung
und Bildung vermitteln, was nicht direkt durch das politische System erfolgen kann.
Auf der anderen Seite ist das Erziehungssystem auf Entscheidungen aus dem politi-
schen System angewiesen, es verlangt sie sogar, wenn man an die Forderungen nach
Reformen denkt. Diese Entscheidungen kann das Erziehungssystem selbst nicht her-
beiführen und es erwartet somit vom politischen System Autonomie, genauso wie es
225 „Diese interne Umwelt weist nämlich besondere Komplexitätsreduktionen auf, die durch die Außengrenzen gesichert sind; sie ist
relativ zur Außenwelt eine schon domestizierte, schon pazifizierte Umwelt mit verringerter Komplexität. Sie ist überdies artgleiche
Umwelt, denn interne Differenzierung kann nur in artgleicher Weise erfolgen“ (Luhmann 1987, S.259).226 Siehe ausführlich Luhmann/Schorr 1996.
132
diese für sich beansprucht227. Sind Entscheidungen jedoch gefallen, möchte das Erzie-
hungssystem wieder ganz unabhängig vom politischen System agieren. Damit wird Un-
abhängigkeit und Abhängigkeit zugleich angestrebt, denn wer „Entscheidungen ver-
langt und bekommt, macht sich von ihnen abhängig“ (Luhmann in Luhmann/Schorr
1996, S.30). Die Einheit der System/Umwelt - Differenz wird hier sehr deutlich. Sie
kann nie ganz aufgelöst werden, aber nach Luhmann kann durch die Einsicht einer „re-
lative Autonomie“ zumindest etwas dazu beigetragen werden. Dabei geht es darum, daß
jeweils ein Kompromiß gefunden werden muß, welche Probleme von welchem System
eigenständig gelöst werden sollen, wobei die Entscheidungen, die gefunden werden,
dann für die beteiligten Systeme Gültigkeit haben.
Dementsprechend muß auch die Grenze228 von Systemen genauer bestimmt werden.
Nun verweist der Grenzbegriff in einer eher negativen Bedeutung auf eine Trennung hin
zwischen System und Umwelt oder zwischen System und anderen Systemen. Demge-
genüber gibt es aber auch eine positive Deutung des Grenzbegriffs, indem auf die Of-
fenheit des Systems hingewiesen wird, denn Grenzen können überschritten werden.
Generell gilt:
„Elemente müssen, wenn Grenzen scharf definiert sind, entweder dem System oder des-
sen Umwelt zugerechnet werden. Relationen können dagegen auch zwischen System
und Umwelt bestehen. Eine Grenze trennt also Elemente, nicht notwendigerweise auch
Relationen“ (Luhmann 1987, S.52).
Für den Beobachter ist es zunächst schwierig festzustellen, ob die Grenze vom System
oder von der Umwelt gebildet wird, das heißt es stellt sich auch die Frage, wozu denn
die Grenze gehört. Geht man aber von der Tatsache der Differenzierung der Systeme
von ihrer Umwelt zur Erhaltung der Systeme aus, wird deutlich, daß die Systeme nicht
nur ihre Grenzen selbst schaffen, sondern auch bestimmen, wann sich diese gegenüber
der Umwelt öffnen und schließen. So wird durch den Grenzbegriff der konventionelle
Begriff von offenen versus geschlossenen Systemen aufgehoben: Das soziale System
227 „Pädagogen haben Übung darin, ‘mehr Demokratie’ und zugleich Emanzipation von politischer Herrschaft zu verlangen, so als
ob Demokratie als Unabhängigkeit von der politischen Demokratie zu verstehen sei und die Mehrheitsregel des politischen Systems
durch ‘vernünftigen Konsens’ im eigenen Haus ersetzt werden könne. Aber das ist nur eine andere, vielleicht schon abklingende
Mode, die Paradoxie zu formulieren, die darin besteht, daß man Unabhängigkeit und Abhängigkeit vom politischen System zugleich
anstrebt“ (Luhmann in Luhmann/Schorr 1996, S.31).228 „Systeme haben Grenzen. Das unterscheidet den Systembegriff vom Strukturbegriff. Grenzen sind nicht zu denken ohne ein
‘dahinter’, sie setzen also die Realität des Jenseits und die Möglichkeit des Überschreitens voraus. Sie haben deshalb nach allgemei-
nem Verständnis die Doppelfunktion der Trennung und Verbindung von System und Umwelt“ (Luhmann 1987, S.52).
133
kann offen und geschlossen sein, seinen Zustand der Umwelt gegenüber kann es nach
Bedarf durch Relationen ändern. Dadurch kann es auch seine Grenzen verschieben, was
im Verlauf der Systembildung eher umfassender der Fall sein wird, als später, wenn das
System bereits Geschichte hat229. Dann können Grenzen aber immer noch „steigerbare
Leistungen“ (Luhmann 1987, S.54) sein, insofern sie zusätzliche Diskontinuitäten zwi-
schen System und Umwelt erzeugen, was aber wiederum zusätzliche Möglichkeiten
eröffnet, weil sich so zum einen das System noch genauer von der Umwelt differenzie-
ren kann, zum anderen weil noch präzisere Umweltkontakte möglich werden.
Genaugenommen entstehen die Grenzen im sozialen System durch die katalytische
Wirkung der doppelten Kontingenz230. Dieser Begriff verweist im sozialen Bereich „auf
die grundsätzliche Nicht-Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens, d.h. auf eine Dop-
pelstruktur von Kontingenz, die auf der wechselseitigen Erfahrung beruht, daß jeder
andere auch anders als erwartet reagieren kann und daß dies beide voneinander wissen“
(Kiss 19902, S.9). „Was immer zur Lösung des Problems der doppelten Kontingenz
beiträgt, gehört ins System (...) Alles andere (...) wird pauschal der Umwelt zugewie-
sen“ (Luhmann 1987, S.178). So entsteht dann eine Grenze, wenn ganz unbestimmte
Kontingenzen als unzumutbar für das System angesehen werden und nicht im System
zugelassen sind231. Kontingenzen, die das System aufnimmt, müssen dann noch abgear-
beitet werden (vgl. Luhmann ebd., S.179).
Die Gesellschaft wird von Luhmann als soziales System bezeichnet, aus dem sich neben
Religion, Recht, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft das Erziehungssystem ausdiffe-
renziert hat, das bei ihm in Hinblick auf seine Institutionalisierung in Form von Schule
im Mittelpunkt steht (vgl. Luhmann 1997, S.950ff.). Da Erziehung auch außerhalb von
Institutionen stattfindet, zum Beispiel in der Familie, die nach Luhmann wiederum ein
Teilsystem der Gesellschaft ist (vgl. Krause 1996, S.37, Abb.12a), ist es in Hinblick auf
229 „Man kann die Grenzen immer noch verschieben, den Zumutbarkeitsbereich ausweiten oder einschränken; aber dies, nachdem
das System einmal eine Geschichte hat, nur noch punktuell, nur noch für bestimmte Themen, nur noch ausnahmsweise“ (Luhmann
1987, S.179).230 „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist, was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch
anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf
mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, be-
zeichnet also nicht das Mögliche überhaupt“ (Luhmann 1987, S.152). Vgl. auch die Definition von Krause 1996, S.122.231 „Jede Operation trägt, anders gesagt, zur laufenden Ausdifferenzierung des Systems bei und kann anders ihre eigene Einheit nicht
gewinnen. Die Grenze des Systems ist nichts anderes als die Art und Konkretion seiner Operationen, die das System individualisie-
ren“ (Luhmann 1997, S.76-77).
134
den Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung sinnvoll, vom System Erziehung
(vgl. hierzu den Abschnitt 4.5) zu sprechen, bzw. von der Erziehungssituation als Sys-
tem, in der Erziehung tatsächlich stattfindet.
Die Erziehungssituation wird erst dann genauer betrachtet, wenn die Begriffe Erziehung
und Entwicklung aus systemtheoretischer Sicht erklärt worden sind. In einer ersten An-
näherung gilt aber auch für eine Erziehungssituation als System, daß sie sich im Sinne
von Luhmanns Theorie durch die Differenz zur Umwelt entwickelt. Dies geschieht auf-
grund von spezifischen Operationen, wobei es sich in der Regel um Kommunikation
handelt, die zwischen System und Umwelt so geführt wird, daß eine Differenz entsteht,
weshalb man die Erziehungssituation auch den Interaktionssystemen zurechnen könnte
(vgl. Luhmann 1987, S.263f.). Wenn sich zum Beispiel eine Mutter in erzieherischer
Absicht mit dem Kind unterhalten möchte und die Geschwister ausgrenzt, hat sie eine
Erziehungssituation geschaffen. Systemdifferenzierung besagt hier, daß verschiedene
psychische Systeme Teile des umfassenden Systems Erziehungssituation sind. Luhmann
spricht stets vom psychischen System und nicht vom Menschen, um auf die eigenstän-
dige Operationsweise von organischem und psychischem System hinzuweisen und eine
Körper-Geist-Einheit auszuschließen (vgl. zusammenfassend Krause 1996, S.25f.). Be-
zeichnen wir hier einmal Kind und Erzieher als psychische Systeme, dann sind sie in-
nerhalb der Erziehungssituation zugleich unabhängig und abhängig voneinander. Unab-
hängig und damit autonom sind sie aufgrund ihrer je eigenen Organisation, abhängig
sind sie aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Kommunikation, bzw. der struktu-
rellen Koppelung. Je nach Bereitschaft des jeweiligen psychischen Systems innerhalb
der Erziehungssituation konstruktiv zu operieren (konstruktiv meint hier in Hinblick auf
einen möglichen Entwicklungsfortschritt auf Seiten des Kindes), schafft es seine eigene
Grenze gegenüber dem anderen System. Nach dieser Auffassung ist anzunehmen, daß
Erziehung dann „erfolgreich“ ist, je offener das psychische System seine Grenze faßt,
d.h. Bereitschaft zur operativen Tätigkeit mit dem Erzieher vorliegt und Kontingenz
zugelassen und verarbeitet wird in dem Sinne, daß die Mitteilungen oder Informationen
des Erziehers überhaupt aufgenommen werden. Die Offenheit eines psychischen Sys-
tems gegenüber seiner Umwelt korrespondiert dabei mit der operativen Geschlossenheit
135
des psychischen Systems232 (Gedanken können sich nur auf Gedanken beziehen), was
der Erzieher nicht unterschätzen darf. Wir werden darauf noch zurückkommen.
Zusammenfassend zeigt sich, daß Luhmanns Begriffe der Differenz und der Grenze so
allgemeingültig sind, daß sie nicht nur für ein System gelten, sondern auch für die Teile
des Systems und die jeweiligen Umwelten. Nicht nur die Erziehungssituation entwickelt
sich aufgrund von Differenz, zum Beispiel in Abgrenzung von einer Umgangssituation,
sondern auch die psychischen Systeme, die an der Erziehungssituation beteiligt sind,
differenzieren sich voneinander auf der Basis von Kommunikation (wir werden im
nächsten Kapitel genau darauf eingehen). Gleiches gilt auch in Bezug auf die Grenzzie-
hung, denn die Erziehungssituation muß ihre Grenze schaffen und aufrechterhalten,
wenn sie selbst erhalten bleiben soll. Gleichzeitig versuchen auch die psychischen Sys-
teme ihre Grenzen zu erhalten (im Verlauf der Kommunikation oder im Bewußtsein).
Dies ist nach Luhmann möglich, weil es sich um Sinnsysteme handelt.
4.4.2 Sinn und Anschlußfähigkeit und ihre Bedeutung für die Erzie-hungssituation
Systeme, die auf Sinn bezogen sind, sind entweder psychische oder soziale Systeme.
Von Sinnsystemen kann gesprochen werden, wenn Systeme „ihre Information nicht
genetisch programmieren, sondern selektiv nach Maßgabe einer gewählten Strategie des
Verhaltens (= Sinn) verarbeiten“ (Kiss 19902, S.94)233. Sinn wird im psychischen Sys-
tem durch Gedanken im Bewußtsein produziert, im sozialen System durch Kommuni-
kationen in der Kommunikation.
Im Laufe der Evolution sind die beiden Systemarten, psychische und soziale, in Abhän-
gigkeit voneinander entstanden. „Die eine ist nicht ohne die andere möglich und umge-
kehrt. Sie haben sich, wenn man so sagen darf, am Sinn ausdifferenziert. Sinn ist die
eigentliche ‘Substanz’ dieser emergenten Ebene der Evolution“ (Luhmann 1987,
232 „Mit ‘Geschlossenheit’ ist denn auch nicht thermodynamische Abgeschlossenheit gemeint, sondern nur operative Geschlossen-
heit, das heißt: rekursive Ermöglichung eigener Operationen durch die Resultate eigener Operationen. (...) Solche rekursiven Ver-
hältnisse, in denen der Anschluß einer Operation die Bedingung für die Möglichkeit einer anderen ist, führen aber zu einer Differen-
zierung von Systemen, in denen Schließung auf eine strukturell oft kochkomplexe Weise realisiert wird, und deren gleichzeitig
existierender Umwelt. Das Ergebnis nennen wir operative Geschlossenheit“ (Luhmann 1997, S.95 und 95). Und dennoch ist das
System umweltoffen, denn: „im operativen Vollzug (dadurch daß sie geschieht) reproduziert die Kommunikation die Geschlossen-
heit des Systems. Durch die Art ihrer Beobachtungsweise (dadurch wie sie geschieht, nämlich durch die Unterscheidung von Mit-
teilung und Information) reproduziert sie die Differenz von Geschlossenheit und Offenheit. Und so entsteht ein System, das aufgrund
seiner Geschlossenheit umweltoffen operiert, weil seine basale Operation auf Beobachtung eingestellt ist“ (Luhmann, ebd., S.97).233 Siehe auch Krause 1996, S.154.
136
S.141). Sinn ist somit kein eigentliches Merkmal von Systemen wie Komplexität oder
Einheit etc., sondern Sinn ist fundamentaler, insofern hiermit die Kategorie erfaßt ist,
die eine Differenz zwischen System und Umwelt (bzw. System und anderen Systemen)
möglich macht. Soziale und psychische Systeme sind somit an „Sinn gebunden, können
daher nicht sinnfrei erleben oder handeln“ (Luhmann 1987, S.96). Entwicklung selbst
ist damit an Sinn gebunden, sofern es sich um solche Systeme handelt, die auf der Basis
von Kommunikation oder Bewußtsein operieren.
Sinnsysteme differenzieren sich von anderen Sinnsystemen durch Sinn und die Diffe-
renzierungen sind nicht vorgegeben, sondern sie werden von den jeweiligen Systemen
operativ erst entwickelt. Anders formuliert: Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten
des Handelns von Systemen, die aber nicht alle genutzt werden können. Durch Sinn
werden nur Teile des Virtuellen234 aktualisiert und das, was dann tatsächlich aktuell ist,
kann als Identität bezeichnet werden, wobei das Mögliche als Differenz weiterhin be-
stehen bleibt (vgl. Luhmann 1987, S.100-101). Sinn ist damit auch durch Instabilität
gekennzeichnet, er ist veränderbar, je nach Art und Weise von Differenz und er ver-
weist auf Selektion235, ist dieser aber insofern übergeordnet, als er Selektion überhaupt
erst ermöglicht.
Schließlich ist Sinn selbstreferentiell236. Wie schon gesagt wurde, können psychische
und soziale Systeme nicht sinnfrei handeln, Sinn verweist immer wieder auf Sinn, Sinn
differenziert sich an Sinn aus, verändert sich im Laufe der Zeit und führt zu einer
„Sinnbildungsgeschichte“, die eine „Semantik des Sozialen“ hervorgebracht hat, die
letztlich im Zusammenhang mit dem Strukturwandel des Gesellschaftssystems steht
(vgl. Luhmann 1987, S.131). Sinn ist damit als eine das gesamte System bzw. als eine
alle Sinnsysteme umfassende Dimension zu verstehen, die aber jeweils vom einzelnen
234 Vgl. hierzu das Verhältnis zwischen dem „materiell Möglichen“ und dem „strukturell Möglichen“ bei Piaget, insbesondere in
Piaget /Inhelder 1980, S.247ff.235 „Immer dann, wenn die Zahl der zu verknüpfenden Elemente ein geringes Maß überschreitet, und immer dann, wenn Komplexes
in der Form von Sinn erfahren wird, entstehen Selektionsnotwendigkeiten, entsteht eine faktische Selektivität all dessen, was reali-
siert wird. Es wird, ob als Selektion bewußt oder nicht, eine Auswahl getroffen aus der Gesamtheit von Möglichkeiten der Relatio-
nierung bzw. der Verweisung auf anderes ...“ (Luhmann 1987, S.187-188).236 „Die allgemeine Selbstreferenz allen Sinnes, die besagt, daß alles Sinnerleben sich in ein Darüberhinaus projiziert und sich darin
wiederfindet, wird durch die Differenzierung der Sinnesdimension spezifiziert. Man findet in dem Maße, als diese Differenzierung
sich einlebt, dimensionsspezifische Selbstreferenzen; und wenn diese ausgebildet sind, verstärkt das die Differenzierung der Sinn-
dimensionen“ (Luhmann 1987, S.130).
137
System selbst erstellt und spezifiziert wird, also nicht in der Weltkomplexität bereits
vorgegeben ist, diese aber für das jeweilige System verfügbar macht.
Die Erwartungen an ein Sinnsystem müssen nach der ‘Wende zur Autopoiesis’ bei
Luhmann neu erklärt werden. Im Sinne dieser Theorie gelangt man nicht mehr von ei-
ner Handlung zur nächsten, indem bestimmte Bedingungen für Wiederholungen ähnli-
cher Handlungen grundlegend sind, sondern das Grundproblem liegt hier in der
Anschlußfähigkeit237 von sinnhaften Operationen, die weitere Handlungen ermöglichen.
Sinnhafte Operationen können u.a. durch einen Dissens ausgelöst werden. Die folgen-
den Operationen sollten nun ihren Sinn bestimmen unter Berücksichtigung der bereits
erfolgten Operationen und ‘Sinnhorizonte’, die zum Beispiel in der Sachdimension238
schon bestehen. Nur so können sinnhafte Operationen und entsprechende Handlungen
sich anschließen (vgl. Luhmann 1987, S.123). Dabei werden aber nicht alle sprachli-
chen oder gedanklichen Mittel ausgeschöpft, sondern es wird eben nur so operiert, daß
Anschlußverhalten möglich wird. Damit werden allerdings Erwartungen auf beiden
Seiten der z.B. am Dissens beteiligten Sinnsysteme gestellt, die nicht explizit in die O-
perationen einfließen und die dann auch zu einem neuen Dissens führen können (siehe
Luhmann 1987, S.418). Anschlußfähigkeit wird für Sinnsysteme so zur Existenzgrund-
lage, denn wenn kein Anschlußverhalten mehr möglich ist, gibt sich das System selbst
auf, seine Selbstreferenz wird unterbrochen, die autopoietische Reproduktion ist nicht
mehr gegeben239.
Auch die Erziehungssituation kann als ein Sinnsystem verstanden werden, an der psy-
chische Systeme beteiligt sind, die Sinn jeweils für sich im Bewußtsein und in der ge-
meinsamen Kommunikation konstituieren. Außerdem wird die Erziehungssituation
selbst aufgrund von Sinn hergestellt. Dabei können verschiedene Sinndimensionen in
237 „Strukturen müssen, anders gesagt, die Anschlußfähigkeit der autopoietischen Reproduktion ermöglichen, wenn sie nicht ihre
eigene Existenzgrundlage aufgeben wollen, und das limitiert den Bereich möglicher Änderungen, möglichen Lernens“ (Luhmann
1987, S.62). Siehe auch Krause 1996, S.77.238 „Von Sachdimension soll die Rede sein im Hinblick auf alle Gegenstände sinnhafter Intention (im psychischen Systemen) oder
Themen sinnhafter Kommunikation (in sozialen Systemen)“ (Luhmann 1987, S.114).239 Es ist nochmals darauf hinzuweisen, daß im sozialen System Anschlußfähigkeit von Operationen im Bereich der Kommunikation
und damit der Sprache liegen. Hier könnten unter Einbezug sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere mittels der Sprech-
akttheorie, zum Beispiel in Anlehnung an J.R. Searle (vgl. Searle 1982 und 19862), m.E. noch weitere Bedingungen und Möglich-
keiten für Anschlußoperationen genannt werden, wenn man vertieft vorgehen möchte, was hier nicht Thema ist. Angesichts zuneh-
mender sprachlicher Probleme zwischen den Generationen, bzw. zwischen Lehrern und Schülern besteht auf diesem Gebiet noch
Forschungsbedarf.
138
Hinblick auf die Sache oder die Zeit entstehen (vgl. Krause 1996, S.9f.), was zu Kom-
munikationsproblemen führen kann.
Zur Verdeutlichung der formalen Bedeutung von Sinn kann hier auf die Erziehungssitu-
ation hingewiesen werden (vgl. zum Sinnbegriff ausführlich Kap.5.5): Der erzieherische
Sinn macht eine Erziehungssituation aus, wobei der Sinn von mindestens einer der an
ihr beteiligten psychischen Systeme hergestellt werden muß, was in der Regel durch
den Erzieher geschieht. Da es dabei viele Möglichkeiten gibt, gibt es auch entsprechend
vielfältige Initiierungen von Erziehungssituationen. Da diese an Kommunikation bzw.
Sinn gebunden sind, können sie kaum von der Umwelt hergestellt werden. (Man kann
von einem Erzieher und einem Kind vielleicht verlangen, daß sie sich in einem Zimmer
aufhalten, das führt aber nicht zwangsläufig zu einer Erziehungssituation). Der Erzieher
muß den erzieherischen Sinn in einer Situation schon selbst herstellen, damit eine Er-
ziehungssituation überhaupt entsteht. Das heißt er muß unter Berücksichtigung des
Entwicklungsstandes des Kindes kommunizieren mit der Intention des Entwicklungs-
fortschritts. So kann im Rahmen der vorliegenden Fragestellung und in Anlehnung an
Luhmann von Erziehung dann gesprochen werden, wenn Anschlußfähigkeit in Hinblick
auf die Entwicklung des zu erziehendes Kindes initiiert wird.
Wenn der Sinn instabil ist, dann gilt das auch für die Erziehungssituation. Hat sie sich
durch Sinn ausdifferenziert, kann sie auch am Sinn wieder scheitern. Die Erziehungssi-
tuation kann jederzeit in eine andere, z.B. eine Umgangssituation, umschlagen.
Derjenige, der nun eine Erziehungssituation initiieren will, ist dabei auf seine eigene
Sinnbildungsgeschichte verwiesen. Damit wird auf die Individualität von Erziehungs-
situationen hingewiesen, obwohl diese sich von ihrer Organisation her gleich entwi-
ckeln (nämlich durch Differenz, durch Grenzziehung, durch Sinn). Nicht nur der Erzie-
her stellt erzieherischen Sinn im Anschluß an seine Sinnbildungsgeschichte her, son-
dern die Anschlußfähigkeit muß, wie gesagt, auch innerhalb der Erziehungssituation
aufrechterhalten werden, damit diese bestehen bleibt. Dabei muß der Erzieher immer
zwischen Selbst- und Fremdreferenz unterscheiden und sich dessen auch gleichzeitig
bewußt sein240. Das heißt, der Erzieher wird bemüht sein, so zu operieren, daß von Sei-
240 „Systeme, die im Medium Sinn operieren, können, ja müssen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden; und dies in einer
Weise, bei der mit der Aktualisierung von Selbstreferenz immer auch Fremdreferenz und mit der Aktualisierung von Fremdreferenz
immer auch Selbstreferenz als die jeweils andere Seite der Unterscheidung mitgegeben ist. Alle Formbildung im Medium Sinn muß
deshalb systemrelativ erfolgen, gleichgültig ob der Akzent im Moment auf Selbstreferenz oder auf Fremdreferenz liegt. Erst diese
139
ten des Kindes aus Anschlußverhalten möglich ist. Das sagt natürlich noch nichts über
die Bereitschaft des Kindes aus, Anschlußverhalten überhaupt herzustellen, was zu ei-
ner Auflösung der Erziehungssituation führen kann.
4.4.3 Luhmanns Evolutionsbegriff und pädagogische Konsequenzen sei-ner Theorie
Seit Darwin hat man von der „natürlichen Selektion“ durch die Umwelt gesprochen.
Dabei ging man davon aus, daß die gut angepaßten Systeme als stabil galten, solange
die Umwelt sich nicht ändert. Heute spricht man vielmehr von der „Co-Evolution
strukturell gekoppelter, autopoietischer Systeme“ (Luhmann 1997, S.472). Damit ist
gemeint, daß nicht nur ein System evoluiert, sondern gleichzeitig auch immer Systeme
aus der Umwelt und dies geschieht parallel und je nach Systemgrenze und Umweltzu-
gehörigkeit des Systems auch in Abhängigkeit voneinander, aufgrund der strukturellen
Koppelung von Systemen. Evolution bezieht sich immer auf langsame und meistens
bruchlos fortschreitende Entwicklungen großer Zusammenhänge. Für Entwicklung gilt
das gleiche, natürlich in Bezug auf einen kürzeren Zeitraum, wenn uns besonders die
Entwicklung des Kindes interessiert. Entwicklung in Hinblick auf die Ontogenese des
Kindes muß dann, wie bei Maturana, als Ko-Ontogenese verstanden werden, wenn die
vielfältigen Beziehungen des Kindes zu anderen Menschen (Erziehern) gesehen werden.
Trotz struktureller Koppelung operieren die jeweiligen Systeme geschlossen, da die
Operationen des Systems nur innerhalb des Systems ablaufen können. Somit sorgen die
Systeme für ihre eigene Stabilität. Nach Luhmann spielt neben der Variation und der
Selektion deshalb die Restabilisierung eine entscheidende Rolle innerhalb der Evolution
der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1997, S.454f.). Variation bezieht sich dabei auf die
systeminterne Veränderung von Elementen, wodurch eine „Variante für mögliche Se-
lektion“ (ebd., S.451) hergestellt wird. Im Falle der Gesellschaft kann durch die Mög-
lichkeit der Ja-Nein-Codierung von Kommunikation Varianz entstehen. Selektion er-
folgt dann, wenn sich tatsächlich auch Strukturen des Systems verändern, in dem Falle
die Kommunikation steuernden Erwartungen. Die Restabilisierung umfaßt dann den
Zustand des Systems nach der Selektion. Hierbei geht es um den Einbau von Struktur-
Unterscheidung ermöglicht Prozesse, die man üblicherweise als Lernen, als Systementwicklung, als evolutionären Aufbau von
Komplexität bezeichnet“ (Luhmann 1997, S.51).
140
änderungen in das strukturdeterminiert operierende System (vgl. ebd., S.488)241. Dies
setzt aber eine gewisse Stabilität von Systemen voraus. „Evolution ist daher immer nur
Modifikation bestehender Zustände“ (ebd., S.455).
In Hinblick auf autopoietische Systeme sollte man nach Luhmann gar nicht zwischen
stabil und instabil unterscheiden. „Vielmehr sind selbstreferentielle Systeme immer so
gebaut, daß sie in sich Optionen freisetzen, deren Alternativen zugleich vorliegen und
deren Einheit daher als paradox beschrieben werden muß. Und nur weil dies so ist, kön-
nen Änderungen von außen ausgelöst werden“ (Luhmann 1997, S.495). Wenn wir hier
das Kind nach Luhmann noch einmal nur in Bezug auf sein psychisches System sehen,
dann sind die Bewußtseinszustände und damit die Gedanken des Kindes so vielfältig,
daß auch immer Alternativen möglich sind. Das verweist aber nicht auf eine Instabilität
von Gedanken, sondern auf ihre Selbstreferentialiät, die zur Komplexität von Gedanken
führt. Und weil verschiedene Gedanken immer gleichzeitig möglich sind, können von
außen (genauer: im Verlauf der Kommunikation mit dem Erzieher) Einfluß auf die Ge-
danken ausgeübt werden kann. Das bedeutet nicht nur, daß Erziehung prinzipiell mög-
lich ist, sondern daß sie auch notwendig ist im Sinne einer Unterstützung bei den viel-
fältigen Entscheidungen (Differenzen), die das zu erziehende Kind operativ vollzieht.
Entwicklung verläuft in Anlehnung an Luhmann von einer Restabilisierung über eine
Variation, die zur Selektion führt und diese zur erneuten Restabilisierung, ganz unab-
hängig davon, ob ein Beobachter diesen Prozeß als Fortschritt bezeichnet oder nicht242.
Wie in der Evolution, so geht es auch in der Entwicklung um Strukturveränderung (vgl.
Luhmann ebd., S.430), so wie es bei den vorangegangen systemtheoretischen Ansätzen
auch schon festgestellt wurde.
Dabei ist die Anpassung nicht das Ziel von Evolution, sondern sie ist vielmehr als Vor-
aussetzung für das Operieren und damit für die Erhaltung autopoietischer Systeme zu
verstehen. Aufgrund der strukturellen Koppelung von Systemen ist eine „ausreichende
241 „Ferner ist zu bedenken, daß ein Restabilisierungsproblem sowohl durch positive als auch durch negative Selektion ausgelöst
werden kann, also auf Selektion schlechthin reagiert. Bei positiven, Strukturen ändernden Selektionen liegt das auf der Hand. Die
innovierten Strukturen müssen dem System eingepaßt und mit seinen Umweltverhältnissen kompatibel werden, ohne daß im voraus
(bei der Selektion) ausgemacht werden könnte, ob und wie das geschieht. Im Jahre 1789 wurden Pariser Unruhen als ‘Revolution’
beobachtet und mit einem eigens dafür modifizierten Begriff beschrieben. Die Folgen waren weder aufzuhalten noch zu kontrollie-
ren ...“ (Luhmann 1997, S.487).242 Die Evolutionstheorie ist „keine Theorie des Fortschritts. Sie nimmt Emergenz und Destruktion von Systemen mit Gleichmut hin
(...). Diese Abgrenzungsüberlegungen haben Konsequenzen für das Erklärungsziel der Evolutionstheorie. Die Evolutionstheorie
leistet keine Deutung der Zukunft. Sie ermöglicht auch keine Prognosen“ (Luhmann 1997, S.428 und 429).
141
Anpassung“ (Luhmann 1997, S.446) immer schon garantiert243. Auch Entwicklung, ob
es sich nun um die kognitive Entwicklung des Kindes oder um die Entwicklung einer
Erziehungssituation handelt, ist nur möglich, weil eine gewisse Anpassung an die Um-
welt der sich entwickelnden Systeme bereits vorliegt. Dies geschieht eben aufgrund von
strukturellen Koppelungen und damit im Verlauf der Ko-Ontogenese von Systemen. Bei
Piaget haben wir bereits gesehen, wie Anpassung sich differenziert durch die Aspekte
von Assimilation und Akkomodation. Letztlich beschreiben Assimilation und Akkomo-
dation nichts anderes als den Vollzug struktureller Koppelung. Auch das Ziel von Er-
ziehung kann und soll damit nicht Anpassung sein, vielmehr muß Erziehung von An-
passung ausgehen!
Trotz prinzipieller Anpassung verweist die operative Geschlossenheit von Systemen auf
die eigenständige Entwicklung von Strukturen, die mit der Autopoiesis jeweils kompa-
tibel sein muß, damit das System erhalten bleibt. Aufgrund der operativ geschlossenen
Strukturdeterminiertheit autopoietischer Systeme kann man also nicht mehr davon spre-
chen, daß Selektion durch die Umwelt erfolgt, da die Systeme selbst ihre Strukturent-
wicklung vollziehen.
Die Perspektive, die Luhmann in seinem Ansatz vornimmt, ist die soziologische, die der
pädagogischen nicht überall gerecht werden kann. Die Grenzen von Luhmanns Ansatz
müssen deshalb erkannt werden und gleichzeitig wird damit die pädagogische Sicht, die
in der vorliegenden Arbeit den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung kenn-
zeichnet, deutlich gemacht.
Die Gesellschaft ist in operativer Hinsicht für Luhmann die Gesamtheit aufeinander
bezugnehmender Kommunikationen. Die Gesellschaft ist nicht als Einheit zu verstehen,
sondern sie repräsentiert die Einheit der Differenz der Teilsysteme (vgl. zusammenfas-
send Krause 1996, S.102f.). Eine soziale Umwelt gibt es für die Gesellschaft nicht
mehr. Vielmehr wird der Mensch zur Umwelt der Gesellschaft gerechnet. „Kein
Mensch kann derart in soziale Systeme eingefügt werden, daß seine Reproduktion (auf
welcher organischen oder psychischen Systemebene immer) eine soziale Operation
wird und durch die Gesellschaft oder eines ihrer Subsysteme vollzogen wird“ (Luh-
243 „Die strukturelle Kopplung steht orthogonal zur Selbstdetermination des Systems. Sie bestimmt nicht, was im System geschieht,
sie muß aber vorausgesetzt werden, weil andernfalls die Autopoiesis zum Erliegen käme und das System aufhören würde zu existie-
ren. Insofern ist jedes System immer schon angepaßt an seine Umwelt (oder es existiert nicht), hat aber innerhalb des damit gegebe-
nen Spielraums alle Möglichkeiten, sich unangepaßt zu verhalten- und das Resultat sieht man mit besonderer Deutlichkeit an den
ökologischen Problemen der modernen Gesellschaft“ (Luhmann 1997, S.100-101).
142
mann 1995, S.166). Was nun für die Gesellschaft gilt, gilt im gewissen Sinne auch für
den Menschen. Auch er ist nicht als Einheit zu verstehen, sondern er wird zum „Sam-
melbegriff für die Differenzierung von Aspekten des Menschen“, wie das genetische
System, das organische oder das psychische System (vgl. Krause 1996, S.133). In Hin-
blick auf die Gesellschaft, deren Operationsweise die der Kommunikation ist, wird der
Mensch als Umwelt verständlich. Mit diesem systemtheoretischen Verständnis kann
innerhalb der Pädagogik nicht gearbeitet werden. Denn hier steht der Mensch im Mit-
telpunkt. Die Pädagogik muß auf die vielfältigen Systembeziehungen zwischen den
Menschen und innerhalb des Menschen aufmerksam machen und dann zeigen, was die-
se Relationen für die Entwicklung und die Erziehung bedeuten. Wir können im Folgen-
den deshalb nicht nur vom psychischen System sprechen, wenn es um das zu erziehende
Kind geht. Die Bezeichnung des personalen Systems, das sich dann in verschiedene
Teilsysteme (im Sinne Luhmanns) aufschlüsseln läßt, ist innerhalb der Pädagogik ef-
fektiver. Durch den Begriff „personal“ kommt der Mensch als Einheit zum Ausdruck.
Die soziologische Sichtweise führt Luhmann dazu, das Kind als Medium der Erziehung
zu verstehen (vgl. Luhmann 1995, S.204ff.). Der Begriff des Mediums soll auf die
formbare Struktur von Elementen hinweisen und die damit verbundene Möglichkeit der
Einflußnahme eines Systems auf ein anderes244. Das gilt nach Luhmann jedoch nur,
wenn man von der prinzipiellen Strukturdeterminiertheit der Systeme absieht. So wird
das Kind als Medium bezeichnet245, im Sinne einer Differenz zur Form: „Ein Medium
ist nichts, was übertragbar wäre, sondern immer nur ein zeitbeständiger Vorrat von E-
lementen, in den sich bestimmte vergängliche Formen einzeichnen lassen“ (Krause
1996, S.132). Die verschiedenen Betrachtungsweisen ergeben sich durch unterschiedli-
che Beobachterperspektiven. Innerhalb des Teilsystems ‘Erziehungssystem’ wird das
Kind zum Medium, das erzogen wird. Die Pädagogik muß eine andere Beobachterper-
spektive einnehmen. Aus soziologischer Sicht beschäftigt sich die Pädagogik mit der
Umwelt von sozialen Systemen. Wenn es aber speziell um die Frage nach der Erzie-
244 „Die Unterscheidung von Medium und Form soll uns dazu dienen, den systemtheoretisch unplausiblen Begriff der Übertragung
zu ersetzen. Sie erspart uns außerdem die Suche nach ‘letzten Elementen’, die es nach den Erkenntnissen der Nuklearmetaphysik à
la Heisenberg ohnehin nicht gibt“ (Luhmann 1997, S.195).245 „Das Kind ist Medium nur in dem Sinne, daß eine hinreichende lockere Kopplung seiner Gedanken und Vorstellungen unterstellt
werden kann, die dann für Zugriffe, für formstrengere Kopplungen, insbesondere für ‘Wissen’ zur Verfügung stehen“ (Luhmann
1995, S.214-215). Das Kind ist nach Luhmann das Medium für Erziehung, so wie Geld das symbolisch generalisierte Medium der
Wirtschaft darstellt.
143
hung des Kindes geht, dann geht es wie gesagt, um den Menschen. Der einzelne
Mensch ist dann als komplexes System aufzufassen, das sich in Teilsysteme, wie zum
Beispiel das psychische System, ausdifferenziert. Andere Menschen oder soziale Teil-
systeme wie das Erziehungssystem oder die Familie gehören in dem Fall zur Umwelt.
Geht es aus systemtheoretischer Sicht um den Erziehungsprozeß, dann ist die Erzie-
hungssituation ein komplexes System, in dem sich personale Systeme als Teilsysteme
ausdifferenzieren. Bei der Frage nach der Komplexität von Systemen wird auf diesen
Punkt noch einmal ausführlich Bezug genommen. In Hinblick auf Luhmanns Theorie
muß hier deutlich werden, das die soziologische Zugangsweise zur Erklärung von sys-
temischen Zusammenhängen für spezielle pädagogische Fragestellungen nicht aus-
reicht. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit muß deshalb die Beobachterperspektive von
Luhmann zugunsten einer pädagogischen gewechselt werden. Das Kind wird dann nicht
mehr als formbares Medium aufgefaßt, denn es ist selbst Form und zwar in jedem Mo-
ment wo es dem Erzieher gegenübersteht. Das Kind bleibt aus pädagogischer Sicht eine
Einheit, die aber aus systemtheoretischer Sicht nicht geschlossen, starr oder jederzeit als
stabil zu verstehen ist246. Im nächsten Kapitel wird dies noch deutlich werden.
Der Erziehungsbegriff Luhmanns bezieht sich nur auf das psychische System (des Kin-
des), denn er bezeichnet psychische Auswirkungen von Kommunikation „und zwar, im
Unterschied zur Sozialisation, absichtsvoll herbeigeführte, als Verbesserung gemeinte
Veränderungen psychischer Systeme. Der Begriff bezeichnet, mit anderen Worten, ei-
nen Kausalnexus, der soziale Systeme (Kommunikation) und psychische Systeme (Be-
wußtsein) verknüpft, und zwar auf planmäßige, kontrollierbare, wenngleich nicht immer
erfolgreiche Weise“ (Luhmann 1995, S.204). Den modernen Erziehungslehren geht es
darum, daß die zu erziehenden Kinder für das Leben in der Gesellschaft ausgerüstet
werden müssen und dafür benötigen sie Fähigkeiten und Kenntnisse, die sie in der
Schule erwerben. Dabei wird davon ausgegangen, daß man durch Kommunikation Be-
wußtseinsoperationen verändern kann. Und genau das ist aufgrund der Theorie opera-
tiv-geschlossener Systeme nicht möglich. „Das, was der Erzieher sich vornimmt, ist
unmöglich“ (Luhmann 1995, S.206). Spezifische Kommunikation führt nicht zu den
246 Das widerspricht m.E. nicht der Auffassung Luhmanns über das Wort ‘Mensch’, wenn es bei ihm heißt: „das Wort Mensch ist
kein Mensch. Wir müssen hinzulernen: Es gibt nichts, was als Einheit eines Gegenstandes dem Wort entspricht. Worte wie Mensch,
Seele, Person, Subjekt, Individuum sind nichts anderes als das, was sie in der Kommunikation bewirken. Sie sind kognitive Operato-
ren insofern, als sie die Berechnung weiterer Kommunikation ermöglichen ... Die Einheit, die sie bezeichnen, verdankt sich der
Kommunikation. Das soll natürlich nicht heißen, daß es nichts anderes gibt als Kommunikation“ (Luhmann 1995, S.52).
144
gleichen spezifischen Bewußtseinsoperationen. Wenn man auf ein System Einfluß
nehmen will, dann geht das nur, indem man sich den Einflüssen des Systems selbst un-
terwirft (vgl. Luhmann ebd., S.210). Und die pädagogische Frage lautet nun bei Luh-
mann, ob es im System Erziehung nicht ein Medium gibt, auf das man Einfluß ausüben
kann. Von hier aus gelangt Luhmann wieder zum Kind als Medium und damit wird auf
das System Erziehung abgehoben und das Kind als personales System wird nicht weiter
analysiert. Aus pädagogischer Sicht ist ungeklärt, wie sich Erziehung konkret, also in
einer Erziehungssituation darstellt. Erziehung bleibt aus soziologischer Sicht „Verände-
rung der Konzeption des Mediums ... durch die Ausdifferenzierung eines gesellschaftli-
chen Funktionssystems für Erziehung“ (Luhmann 1995, S.216). Erziehung als Prozeß
thematisiert Luhmann aus soziologischer Sicht nicht. Auch wird der Erziehungsbegriff
mit dem Entwicklungsbegriff nicht in Beziehung gebracht. Hier bleibt eine pädagogi-
sche Vorgehensweise notwendig.
4.5 Das System Erziehung nach Büeler
Während bei Luhmann die Systemtheorie genutzt (und erheblich erweitert) wird, um
das soziale System darzustellen und das Erziehungssystem als ein ausdifferenziertes
Teilsystem desselben, unterscheidet Büeler schon zu Beginn seiner Arbeit zwischen
dem System Erziehung und dem Erziehungssystem. Letzeres wird im Sinne Luhmanns
als soziales Subsystem aufgefaßt, „das gesellschaftsintern die Funktion übernimmt, die
Sozialisation und Erziehung der heranwachsenden Generation in einem gesamtgesell-
schaftlich wünschbaren Ausmaß sicherzustellen“ (S.2)247. In Büelers Untersuchung geht
es aber nicht um das Erziehungssystem, sondern um das System Erziehung. Damit be-
finden wir uns nun auf einer anderen Systemebene, die wissenschaftstheoretisch im
pädagogischen Bereich liegt.
Vom System Erziehung soll dann gesprochen werden, wenn es um das Phänomen von
Erziehung geht, so wie es in der Wirklichkeit vorliegt. Der Ausdruck ‘System Erzie-
hung’ bezieht sich auf die wissenschaftliche Beschreibung des Phänomens Erzie-
hung248, unabhängig von seinen verschiedenen Ausprägungen im sozialen Bereich, also
z.B. unabhängig davon, ob es sich um Erziehung innerhalb der Familie oder die schuli-
247 Die Seitenangaben der hier angeführten Zitate beziehen sich im folgenden alle auf die Arbeit von Büeler 1994.248 „Der Begriff ‘System Erziehung’ steht für ein Programm: Es geht um eine radikale wissenschaftliche Aufklärung des lebenswelt-
lichen Konstruktes ‘Erziehung’“ (S.7).
145
sche Erziehung handelt. Die Beobachterperspektive im Sinne von Maturana ist hierbei
insofern von Bedeutung, als es streng genommen nicht zulässig ist, „von irgend etwas
zu sagen es sei ein System. Richtig müßte es heißen: Man kann dies oder das als Sys-
tem beobachten“ (S.51). So ergibt sich das System Erziehung dadurch, daß bestimmte
Relationen oder Beziehungen zwischen den Menschen als zusammengehörig und von
der Umwelt differenziert wahrgenommen werden, aber nicht, weil es sich tatsächlich
um eine abgeschlossene Einheit handelt. In dem Abschnitt über Luhmann wurde bereits
gesagt, daß Systeme nie abgeschlossen sind, sondern Grenzen bilden, die überschritten
werden können.
Als System ist Erziehung durch Selbstorganisation und Selbstreferentialität gekenn-
zeichnet (vgl. S.129). Das System regelt damit seine eigene Organisation und seine in-
ternen Operationen beziehen sich aufeinander. Für das System Erziehung bedeutet das,
daß es mit seinen eigenen Programmen operiert und versucht, seine internen Differen-
zen, die hier im asymmetrischen Verhältnis zwischen Kind und Erzieher (z.B. unmün-
dig versus mündig) bzw. zwischen zwei Generationen bestehen, zur Symmetrie zu füh-
ren. Das gelingt nun allerdings nicht so, daß sich das System am Ende selbst auflöst,
weil die Asymmetrien eingeebnet sind. Vielmehr wird das Ende von außen vorgegeben,
indem es von der Gesellschaft festgelegt wird249.
In der Beschreibung des Systems Erziehung sollen zum einen alle Systemebenen rekon-
struiert werden, die auch in der Wirklichkeit vorliegen und selbst als Systeme be-
schreibbar sind (vgl. S.7). Damit soll die Ganzheitlichkeit von Erziehung erfaßt werden.
Es handelt sich dabei um das biologische, das psychische und das soziale System. Im
System Erziehung sind diese Teilsysteme strukturell gekoppelt. Zum anderen wird mit
der Darstellung der Evolution des Systems Erziehung der Prozeßcharakter von Erzie-
hung und Entwicklung hervorgehoben. Beide Schwerpunkte sollen ausgeführt werden,
weil hier, aus systemtheoretischer Sicht, auf den Zusammenhang von Erziehung und
Entwicklung bereits hingewiesen wird.
249 „Schluß ist dann, wenn das Erziehungsprogramm es vorsieht, sei es mit 16 oder manchmal auch erst mit 30 Jahren. Und immer
steht wieder eine neue Klasse vor der Tür, werden neue Kinder geboren, rutschen neue Studenten nach, und mit ihnen reproduziert
sich die Asymmetrie, die nach erzieherischer Reduktion ruft“ (S.113).
146
4.5.1 Das System als Prozeß, das System Erziehung in der Evolution undKonsequenzen für den Entwicklungsbegriff
Das System Erziehung wird von Büeler als „Prozeßsystem“ bezeichnet250. Er will damit
zum Ausdruck bringen, daß es ihm um „Systemprozesse“ (S.31) geht, die im Fall des
Systems Erziehung als erzieherisch bezeichnet werden können. Der Prozeßbegriff wird
sozusagen als Abgrenzung zum sozialen Teilsystem ‘Erziehungssystem’ benutzt. Seit-
dem Luhmann von ausdifferenzierten Teilsystemen des sozialen Systems gesprochen
hat, ist es in der Tat schwierig, einen Begriff für diejenigen Phänomene zu finden, die
gleichsam quer zu den Teilsystemen liegen, weil sie in verschiedenen Teilsystemen
vorliegen, gleichzeitig aber auf theoretischer Ebene eine Ganzheit bilden, so daß man
von einem System sprechen kann. Und Erziehung ist ein solches Phänomen. Büeler hat
deshalb auch das System Erziehung gegenüber dem Erziehungssystem abgegrenzt. Das
reicht aus systemtheoretischer Sicht vollständig aus um darauf hinzuweisen, daß Erzie-
hung wissenschaftlich auch als Einheit in bezug auf seine Strukturen erfaßt werden
kann. Der Prozeßbegriff verwirrt hier mehr, als daß er zur Klärung unterschiedlicher
Systeme beiträgt. Systeme, so wie sie auch von Büeler als selbstorganisierend bezeich-
net werden, weil sie ihre „bestandsnotwendigen Strukturen durch eine interne Dyna-
mik“ selbst hervorbringen (S.62), sind immer durch „Prozesse“ gekennzeichnet, in dem
Sinne, daß ständige Veränderungen251 innerhalb und zwischen Systemen stattfinden252.
Luhmann hat bereits auf die „klassische Unterscheidung von Prozeß und Struktur“ ver-
zichtet, weil dadurch nicht die Produktion der Einheit von Systemen erfaßt wird (siehe
Luhmann 1997, Anmk.93, S.74). Nur in Hinblick auf Zeit wird oft von einem Prozeß
gesprochen. Aufgrund der zirkulären Arbeitsweise von Systemen (vgl. auch den Auto-
poiesebegriff von Maturana) handelt es sich aber vielmehr um Strukturveränderungen
(siehe Luhmann 1997, S.428).
In Bezug auf das Thema der vorliegenden Arbeit kann der Prozeßbegriff in direkter
Verbindung mit dem Systembegriff vernachlässigt werden. Hier geht es um die Ent-
wicklung von Systemen aufgrund von Strukturveränderungen. Die Strukturveränderun-
250 „Im Gegensatz dazu bezeichnet der Begriff System Erziehung kein Sozialsystem, sondern ein Prozeßsystem. Aufgrund sehr
umfangreicher theoretischer und empirischer Argumente (...) modellieren wir das System Erziehung als eine prozeßhafte strukturelle
Koppelung von sozialen, psychischen und biologischen Systemen“ (S.2, Anmk.3).251 „Veränderung bedeutet Prozeß. Aber Prozesse sind selbst der ‘Veränderung’ unterworfen“ (Bateson 19945, S.367).252 Vgl. hierzu Krieger (1996, S.21): „Ein System besteht nicht nur aus Elementen, die in festen Verbindungen stehen, sondern ein
System besteht auch aus Operationen oder Prozessen: Operationen bzw. Prozesse sind das, was das System tut“.
147
gen haben immer prozeßhaften Charakter. Deshalb kann auch nach wie vor vom Erzie-
hungs- und Entwicklungsprozeß gesprochen werden. Wenn diese Prozesse aus system-
theoretischer Sicht analysiert werden und auf die Strukturveränderungen hingewiesen
wird, dann umfaßt oder erhöht der Begriff „Strukturveränderung“ sozusagen den Pro-
zeßbegriff.
Mit der Entstehung des Systems Erziehung in der Evolution wird auf die Zeitdimension
verwiesen. Dabei geht es um die Entwicklung des Systems im Verlauf der Geschichte.
Wie Luhmann versteht auch Büeler in Anlehnung an Maturana Evolution als Erhaltung
der Anpassung und der Autopoiese des jeweiligen Systems „in einem Prozeß, in dem
Organismus und Umwelt in dauernder Strukturkoppelung bleiben“ (Maturana/Varela
19872, S.127), so daß wir heute von einer kontinuierlichen Entwicklungsgeschichte
ausgehen müssen. Die Evolution wird zusammenfassend als strukturelles Driften be-
schrieben253. So sind im Verlauf der Evolution durch emergierende Prozesse254 neue
Systemtypen aufgetreten, erst physikalische, dann chemische, biologische, psychische
und schließlich soziale und die Interaktionsformen der Systeme haben sich allmählich
verfeinert von physikalischen und chemischen über neuronale, sensorische bis zu sym-
bolischen. Und so ist letztlich auch das System Erziehung als notwendiger und sinn-
voller Schritt in der Entwicklung höheren Lebens zu begreifen (vgl. S.64ff.). Es ist als
„notwendige Erweiterung der zuvor durch die Evolution bereitgestellten Integrations-
formen“ (S.92) möglich geworden255. Damit wird auch verständlich, weshalb das biolo-
gische, das psychische und das soziale System Teile vom System Erziehung sind, wobei
das physikalische und das chemische System wiederum als Teile des biologischen gel-
ten, und diese Bereiche deshalb auch bei einer pädagogischen Fragestellung berück-
sichtigt werden müssen.
253 „Der von den beiden chilenischen Neurobiologen geprägte Ausdruck des strukturellen Driftens drückt sehr schön den Gedanken
aus, den Piaget zur Erklärung der menschlichen Entwicklung ausgearbeitet hat. Das Kind befindet sich in einer Umwelt, wird von
dieser gehalten und geprägt, wirkt aber seinerseits wieder verändernd auf diese zurück. In diesem zirkulären Einwirken auf die
Umwelt und der nachfolgenden Erfahrung des Erfolgs oder Mißerfolgs können wir eine Analogie zum evolutionären Driften erken-
nen, die nicht zufällig ist, denn die Ontogenese wiederholt in einem bemerkenswert hohen Ausmaß die Phylogenese“ (S.62).254 „Systeme können unter bestimmten Umweltbedingungen in ein rekursives Interaktionsverhältnis treten und durch Selbstorgani-
sationsprozesse einen Systemtyp höherer Ordnung ausbilden. Von Emergenz sprechen Beobachter nur dann, wenn die Charakteris-
tik des neu entstandenen Makrosystems nicht nur aus der Struktur seiner Elemente, sondern aufgrund seiner Eigenstruktur erklärbar
ist“ (S.69).255 Das anthropozentrische Weltbild, nachdem der Mensch Ziel und Zweck der Evolution ist, wird in der Systemtheorie somit nicht
mehr tradiert!
148
Die so entstandene strukturelle Komplexität von Systemen führt nun nach Büeler in
Anlehnung an E.v.Weizsäcker immer wieder zu Situationen, die neu und einmalig sind
(vgl. S.90ff.). Diese Erstmaligkeit kann vom System nicht ausschließlich zugelassen
werden, denn sonst würde es instabil. Der Gegenpol liegt nach Büeler in der Bestäti-
gung, die sich durch strukturelle Integration ergibt, das heißt es werden vom System
Strukturen ausgebildet, die sich bewährt haben, durch die Komplexität abgebaut oder
bewältigt werden kann, durch die das System kontinuierlich und ohne größere Störung
existiert. Es ist klar, daß die Dynamik des Systems gestoppt würde, wenn es nur noch
Bestätigung zuließe. Vielmehr muß es darum gehen, diese beiden Pole „gegeneinander
auszubalancieren“ (S.91). Entwicklung wird damit durch Erstmaligkeit bzw. neue Situ-
ationen, mit denen das System konfrontiert wird, provoziert. Wenn nun das System,
aufgrund von struktureller Koppelung der beteiligten Teilsysteme, seine Struktur so
ändert, daß eine für den Beobachter „emergente Art der Koppelung“ (S.91) entsteht,
dann hat Entwicklung stattgefunden. Bestätigung liegt demgegenüber vor, wenn Situa-
tionen zur Aktivierung bereits bestehender Strukturen des Systems führen. Während bei
Luhmann durch Variation, Selektion und Restabilisierung Entwicklung im Evoluti-
onsprozeß vollzogen wird, wird bei Büeler durch die Erstmaligkeit der Verlauf von
Entwicklung nicht weiter differenziert.
Büeler geht es nun aber auch darum zu zeigen, daß sich Erziehung, auch die institutio-
nalisierte Erziehung, als eine Form der Bestätigung in ausdifferenzierten Gesellschaften
herausgebildet hat, bzw. daß sich in ausdifferenzierten Gesellschaften das System Er-
ziehung durch strukturelle Integration gebildet hat.
Das soziales System Gesellschaft hat also zur Erhaltung seiner Selbstorganisation (unter
anderem) das System Erziehung als Teilsystem ausdifferenziert. Dieses System Erzie-
hung muß dabei helfen, die von dem Gesellschaftssystem erreichte Komplexität zu si-
chern, damit die komplexe Struktur der Gesellschaft insgesamt gesichert ist. Es hat den
Charakter von Bestätigung für die Gesellschaft. Das schließt aber nicht aus, daß inner-
halb des Systems Erziehung zwischen den Polen von Ertsmaligkeit und Bestätigung
ausbalanciert werden muß, denn auch wenn das System Erziehung einmal ‘etabliert’ ist,
bleibt seine innere Dynamik bestehen (was durch die Verwendung des Begriffs „Pro-
zeßsystem“ zum Ausdruck kommen soll). Wenn es also im System Erziehung zur
strukturellen Koppelung von biologischen, psychischen und sozialen Teilsystemen
kommt, die innerhalb und zwischen den an ihr beteiligten personalen Systemen erfolgt,
149
dann kann die Art der Koppelung entweder erstmalig sein oder zur Bestätigung führen.
Das spezifische am System Erziehung im Gegensatz zu anderen Systemen, soll dann,
neben der Verringerung des asymmetrischen Verhältnisses zwischen Kind und Erzieher,
darin bestehen, daß es nicht nur die strukturelle Koppelung unterstützt, sondern daß es
dafür sorgt, daß alle drei Teilsysteme gleichermaßen berücksichtigt werden. Erziehung
soll nämlich zur Synchronisierung der Teilsysteme führen und damit ganzheitlich sein.
So leitet Büeler vom System Erziehung über zum Erziehungsprozeß, der unterhalb der
Ebene des Systems Erziehung liegt. Die Teilsysteme, die in der Evolution zur Entste-
hung des Systems Erziehung geführt haben, finden sich auch bei den an der Erziehung
jeweils beteiligten personalen Systemen. Von Erziehung will Büeler dann sprechen
wenn man eine „konkrete erzieherische Interaktion“ beobachtet (Beobachtung 1. Ord-
nung, siehe S.103). Das System Erziehung ergibt sich erst durch eine Beobachtung die-
ser 1. Beobachtung, die aus systemtheoretischer Sicht dann zur Erkenntnis der struktu-
reller Koppelung der Teilsysteme führt.
Wenn auf wissenschaftlicher, systemtheoretischer Ebene von Erziehung gesprochen
wird, dann handelt es sich, wie in der Fragestellung der vorliegenden Arbeit, um Erzie-
hung aus systemtheoretischer Sicht. Eine Unterscheidung zwischen „System Erzie-
hung“ und „Erziehung“ ist nicht nötig. Um aus wissenschaftlicher Sicht deutlich zu
machen, daß das in der Wirklichkeit vorliegende Erziehungsphänomen berücksichtigt
wird, scheint m.E. der Begriff „Erziehungssituation“ angemessen und ausreichend. Bü-
eler räumt der Situation selbst einen großen Stellenwert in der Evolution ein (vgl. S.90).
Nur durch neue Situationen kann es zur Erstmaligkeit kommen und damit Entwicklung
in Gang gesetzt werden. Das gilt auch für die Erziehungssituation, die je nach Gestal-
tung die Entwicklung des zu erziehenden Kindes fördern kann. Wenn Erziehung als
Phänomen in der Wirklichkeit in Erziehungssituationen stattfindet und wenn die Erzie-
hungssituation zur Entwicklung des Kindes führt, dann wird in ihr der Zusammenhang
von Entwicklung und Erziehung explizit. Wir werden später darauf ausführlich einge-
hen. Hier ging es darum zu zeigen, daß Erziehung aus systemtheoretischer Sicht in der
Erziehungssituation stattfindet und der Begriff „System Erziehung“ im weiteren Verlauf
der Arbeit nicht mitgeführt werden muß, weil er im Grunde Ähnliches zum Ausdruck
bringt.
Zusammenfassend zeigt sich, daß nach Büeler die Entwicklung, sei es nun die eines
sozialen oder die eines personalen Systems, an Situationen gebunden ist. Die Situatio-
150
nen ergeben sich durch den Umweltkontakt des jeweiligen Systems. Die Einheit der
System-Umwelt-Differenz nach Luhmann wird hier explizit. Diese Einheit ist Voraus-
setzung für Entwicklung, die auf allen Systemebenen stattfindet. Entwicklung kann da-
nach auch durch die Umwelt bewußt initiiert werden, so wie es bei der Erziehung der
Fall ist.
4.5.2 Erziehung als Synchronisierung von biologischen, psychischenund sozialen Systemen
Als System orientiert sich Erziehung nach Büeler zum einen an Prozessen, durch die
Personen verändert werden sollen und dies geschieht zum anderen anhand von Themen,
durch die diese Prozesse initiiert werden. Das Medium hierzu ist sinnhafte Kommuni-
kation (S.114). Das Verhältnis, der an dem System beteiligten personalen Systemen
muß dabei als reziprokes angesehen werden (das Kind ist nicht nur ‘Reagens’ und der
Erzieher ‘Agens’) und die Kommunikation erfolgt rekursiv, „das heißt, man wird da-
nach fragen müssen, welche situativen Sinndeutungen auf der Seite der Lernenden zu
einem bestimmten Verhalten führen“ (S.115), wenn man tatsächlich zu den Gründen
von Veränderungen und damit auch von Entwicklung der personalen Systeme vordrin-
gen will.
Das biologische System als Teilsystem des Systems Erziehung spiegelt dabei die „Per-
son-interne Realität“ der an der Erziehung beteiligten personalen Systeme wieder (siehe
zusammenfassend Abb.11, S.104). Und da dieses Teilsystem wie das gesamte System
Erziehung auch über Selbstorganisation verfügt, muß es Aufgabe von Erziehung sein,
diese Selbstorganisation anzuregen. Erziehung muß Körper- und Gesundheitserziehung
sein (vgl. S.142). Aber auch das biologische Umfeld (wie z.B. ökologische Prozesse)
muß hierbei berücksichtigt werden, so daß Erziehung auch Umwelterziehung ein-
schließt. Das biologische System bildet schließlich die Basis des Systems Erziehung,
denn der Körper ist die materielle Basis für alle höheren Stufen der Selbstorganisation.
Der Körper spiegelt eigentlich die Prozesse „im Kleinen“ wieder, die wir auf umfassen-
dere Systeme übertragen, die sich aber in ihrer Art im großen und ganzen ähneln, da sie
auch selbstorganisierend sind. Piaget hatte das bereits festgestellt, indem er darauf hin-
wies, daß selbstregulierende Systeme eben auf allen Stufen vorkommen, vom Genom
bis zum Verhalten (vgl. den Abschnitt über Piaget). Und da Erziehung nach dem Ansatz
von Büeler grundsätzlich Ganzheitlichkeit beansprucht, muß auch versucht werden, im
151
Körper ablaufende Operationen bei der Erziehung zu berücksichtigen. Ganzheitlichkeit
im neuralen Bereich hieße dann, „das Bewußtsein von rein kognitiven Reflexionen zu
entlasten und dafür Raum und Zeit zu schaffen, für ein Bewußtsein der affektiven Seite,
der internen und peripheren Operationen“ (S.156). Praktisch würde das bedeuten, daß
nicht nur der Erzieher Kenntnisse haben muß, über die Prozesse, die im personalen
System ablaufen, er muß also nicht nur ein Grundwissen über Entwicklungs-, Persön-
lichkeits- und Lernpsychologie besitzen, sondern er muß auch an seiner eigenen Per-
sönlichkeitsentwicklung arbeiten, sofern dies in seiner Ausbildung vernachlässigt wur-
de.
Das psychische System verfügt im Gegensatz zum biologischen System über Bewußt-
seinsfähigkeit256. Der psychische Bereich ist dann definitionsgemäß auch der Selbstbe-
obachtung zugänglich (siehe S. 160ff.). Er ist für Erziehung so bedeutsam, weil sich
durch das psychische System letztlich die Persönlichkeit des Menschen widerspiegelt.
Die Persönlichkeit, ebenfalls als ein Prozeß verstanden, ist die Selbstorganisation des
Menschen (S.163). Es gibt keinen feststellbaren Ausgangspunkt für Selbstorganisation,
da alles prozeßhaften Charakter hat, alles schon im Fluß ist. Das hat natürlich Konse-
quenzen, wenn es um die Erziehung zur Persönlichkeit geht. Man muß sich der Grenzen
von Erziehung bewußt werden: Wie auch immer Erziehung gestaltet wird, die Lernpro-
zesse erfolgen in der Person, durch die Selbstorganisation des personalen Systems und
sind damit niemals direkt zugänglich für ein anderes personales System. Denn das
„Selbst in Selbstorganisation ist also kein Gegenbegriff gegen soziale Erziehungsfor-
men“, sondern es richtet sich „gegen die Vorstellung, Erfahrung und Wissen könnten
anders als durch eigene Lernprozesse erworben werden“ (S.232).
Dementsprechend plädiert Büeler für eine evolutionäre Steuerung von Systemen, durch
die die Entwicklung des Systems - vielleicht in eine intendierte Richtung - fortschreitet.
Dabei gilt diese Art der Steuerung sowohl für das personale System, zum Beispiel das
Kind, als auch für das System Erziehung im allgemeinen. Die evolutionäre Steuerung
sieht dann so aus: Das „System wird mit dosierten Diskrepanzen oder Perturbationen
konfrontiert, die systemintern gerade noch ‘verstanden’ werden können und die das
System zu neuen Selbstorganisationsprozessen anregen“ (S.213). Diese Diskrepanzen
oder Störungen mit denen das Kind als personales System konfrontiert werden kann,
256 „Zur Psyche wollen wir alle neuralen Phänomene wie Gefühle, Gedanken, Vorstellungen und innere Bilder zählen, die das
subjektive Welterleben eines Menschen begleiten, und die der Möglichkeit nach in seinem Bewußtsein erscheinen können“ (S.160).
152
werden durch Erstmaligkeit und in einer Erziehungssituation ausgelöst, sofern es sich
um erzieherisch intendierte und entwicklungsfördernde geht.
Durch Perturbationen257 ist auch das Erziehungssystem als soziales System258
beeinflußbar, da es sich auch hier um ein selbstorganisierendes System handelt.
„Selbstorganisation bedeutet, daß solche Systeme weder per Dekret noch per Input de-
terminiert werden können, eine Einsicht, die vom Polit- bis zum Erziehungssystem alle
Sphären beschäftigen müßte“ (S.212). Systeme dieser Art können also weder von außen
noch von innen direkt gesteuert werden. Erst die Verbindung von beiden Polen kann
letztlich zur Autonomie des Systems führen. Büeler führt hier den Begriff der „transfe-
rentiellen Operationen“ ein (vgl. S. 212), durch den die notwendige Verschränkung von
Selbst- und Fremdreferenz zum Ausdruck kommen soll. Die Einheit eines Systems ent-
steht somit zum einen durch relationierende Operationen im System selbst259, zum an-
deren durch den notwendigen Umweltbezug. Denn zum Beispiel im Gegensatz zum
Nervensystem, sind Systemgrenzen und Umwelten bei sozialen Systemen in ihre sinn-
haften Strukturen und Prozesse einzubeziehen (vgl. hierzu Luhmann in Krieger 1996,
S.59). So kommt die Entwicklung von Systemen auch nur durch die Verbindung von
Selbst- und Fremdreferenz auf den Weg. Und diese wiederum, das wurde nun schon
mehrfach betont, findet in Situationen statt, die durch Erstmaligkeit oder durch Bestäti-
gung gekennzeichnet sein können.
Die Aufgabe von Erziehung besteht nun darin, die genannten Teilsysteme zu synchroni-
sieren. Dabei geht Büeler von der Annahme aus, das dies in der Erziehung wohl nicht
geschieht. Das heißt, der Erzieher, der die erzieherische Kommunikation in Gang setzt,
muß sie so steuern können, daß alle Teilsysteme in und durch erzieherische Kommuni-
kation „angesprochen“ werden und eine Entwicklung dieser Teilsysteme gleichermaßen
erfolgt. Aus systemtheoretischer Sicht wird aber durch den Begriff „strukturelle Kop-
257 Der Begriff „Perturbation“ stammt von Maturana und Varela und meint einen Bereich, der von der Struktur eines Systems fest-
gelegt wird. Der Bereich von Perturbationen umfaßt alle Interaktionen, die Zustandsveränderungen im System oder in einer Einheit
auslösen (vgl. Maturana/Varela 19872, S.108ff.)258 „Soziale Systeme entstehen spontan als emergente Form der Koppelung personaler und sozialer Systeme durch sinnhafte Kom-
munikation (verstanden als die Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen), und sie grenzen sich von der Umwelt ab durch
einen spezifischen Modus der Selbstorganisation. Als Gesellschaft bezeichnen wir das soziale System, das alle aufeinander bezieh-
bare und füreinander relevante Kommunikation - d.h. alle sozialen Systeme - einschließt“ (S.195).259 „Ein System kann man als selbstreferentiell bezeichnen, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten
selbst konstruiert und in allen Beziehungen zwischen dieses Elementen eine Verweisung auf diese Selbstkonstitution mitlaufen läßt,
auf diese Weise die Selbstkonstitution also laufend reproduziert. In diesem Sinne operieren selbstreferentielle Systeme notwendi-
gerweise im Selbstkontakt, und sie haben keine andere Form für Umweltkontakt als Selbstkontakt“ (Luhmann 1987, S.59).
153
pelung“ auf die prinzipielle Vernetzung von Teilsystemen bereits hingewiesen. Man
kann nur dann von einem System, zum Beispiel dem personalen System als Einheit
sprechen, wenn strukturelle Koppelung der Teilsysteme vorliegt. In Bezug auf die
Struktur von Systemen braucht man auf die Synchronisierung der Teilsysteme somit gar
nicht hinzuweisen, weil diese immer gegeben ist. So kann das Kind nur dann (z.B. in
der Erziehungssituation) sinnvoll kommunizieren, wenn das biologische, das psychische
und auch das soziale Teilsystem strukturell gekoppelt sind, wenn also Körper und Be-
wußtsein und seine sprachlichen Fähigkeiten Kommunikation erlauben. Auf die Struk-
tur der Systems bezogen, drücken beide Begriffe („strukturelle Koppelung“ und „Syn-
chronisierung“) das gleiche aus. Die Synchronisierung in der Erziehung ist für Büeler
das Ergebnis der Übertragung der strukturellen Koppelung „niederer Teilsysteme“ in
den pädagogischen Bereich. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff „strukturelle
Koppelung“ auf verschiedene Systemebenen bezogen und auf „Synchronisierung“ ver-
zichtet. Denn die Systemtheorie hat gerade den Vorteil, daß mit spezifischen Begriffen
Phänomene auf verschiedenen Systemebenen erfaßt werden können. Der Pädagogische
Grund wiegt jedoch schwerer: Da Erziehung durch sinnhafte Kommunikation erfolgt,
spricht sie das psychische System an, während das biologische hier nur eine Vorausset-
zung darstellt, sodaß ein Beobachter von Erziehungssituationen die Synchronisierung
der verschiedenen Teilsysteme tatsächlich nicht feststellt. Das hat nichts damit zu tun,
daß sich die Kommunikation inhaltlich auf verschiedene Teilsysteme beziehen kann.
Wir werden in dem Abschnitt über Sinn darauf zurückkommen.
4.5.3 Erziehungsziele und Konsequenzen für die Entwicklung
Wesentliche Teile des Erziehungssystems als soziales System sind das Schulsystem und
die Familie. Dabei hat „die Familie ihre Rolle als Garant für wirtschaftliches, soziales
und biologisches Überleben in bemerkenswertem Maße eingebüßt“ (S.206). Und in der
Schule wird zwar von ihrem Programm her gesehen ganzheitliche Bildung angestrebt,
aber die Umsetzung in Lehr- und Lernpläne zeigt, daß letztlich nur belohnungsrelevante
Kompetenzen erworben werden. Dabei sollte Ganzheitlichkeit operationalisiert und
belohnungswirksam sein. Durch das Erziehungsziel „Lernen des Lernens“ (vgl. S.223)
kann nach Büeler diese Ganzheitlichkeit erfaßt werden. „Lernfähigkeit ist kein neuer
Begriff, aber gleichwohl bricht man mit der Tradition des Bildungsgedankens, wenn
man im Lernen des Lernens die Zentralfigur sieht, um die alles andere gravitiert“
154
(Luhmann/Schorr 1979, S.85). Dieses Konzept ergibt sich durch unser derzeitiges sozi-
ales System, bzw. „paßt sich in eine funktional differenzierte Gesellschaftsordnung ein.
Es kann insofern als Korrelat evolutionärer Veränderungen des Gesellschaftssystems
begriffen werden: Höhere Komplexität, die selektives Verhalten erzwingt, erfordert
höhere Umstellfähigkeit auf der Ebene sozialer wie personaler Systeme“ (ebd., S.87).
Lernfähigkeit, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, wird damit nicht als Uni-
versaltugend verstanden, es geht hier aber um eine „gelegentlich intensiv einsetzbare
und dafür dauerhaft bereitzuhaltende Spezialkompetenz“ (ebd.).
Wenn das Erziehungsziel „Lernen des Lernens“ (Büeler 1994, S.95) aus der Gesell-
schaftsordnung ableitbar ist und wenn die Selbstorganisation des Schulsystems von
transferentiellen Operationen abhängt, dann heißt dies auch, daß die Kluft zwischen
Schule und Lebenswelt zu beseitigen ist, indem die Lebenswelt in ihrer „ungeordneten,
unvorhersehbaren“ Form (S.184) in die Schule hineingetragen wird. Wie dies genau
erfolgen soll, das bleibt Büeler dem Leser schuldig. Für eine Umsetzung wäre schließ-
lich auch das Schulsystem selbst und nicht der Wissenschaftsbereich zuständig. Hier
wird allerdings die Auffassung vertreten, daß die Lebenswelt der Kinder aus systemthe-
oretischer Sicht prinzipiell „mit in die Schule gebracht wird“. Es müßte dann vielmehr
darum gehen, wie man erzieherisch damit umgeht.
Als weiteres Erziehungsziel wird von Büeler „Identität“ genannt, der „bewußtseinsmä-
ßig repräsentierte Anteil des Selbst“ (S.167). Durch erzieherische Kommunikation soll
letztlich die Identität der Kommunikationspartner im System Erziehung gefördert wer-
den. Oder anders ausgedrückt: „Durch erzieherische Interventionen soll ein Kontext
geschaffen werden, der die Entwicklung der Beteiligten hin zu gleichzeitiger Offenheit
und Geschlossenheit, zur Selbstentfaltung und Selbstfindung, zu Lernfähigkeit und I-
dentität fördert, wobei biologischen, psychischen und sozialen Entwicklungsprozessen
die gleiche Priorität zukommen soll“ (S.232). Die Erziehung ist damit als Auslöser von
Entwicklung zu verstehen (siehe S.99) und die Entwicklung wird nun in ihrer Qualität
näher bestimmt und zwar in Abhängigkeit der im System ablaufenden Prozesse, also in
Abhängigkeit von Organisation und Struktur des Systems. Wenn personale Systeme
selbstorganisierend und selbstreferentiell sind, wenn sie aufgrund struktureller Koppe-
lung der Teilsysteme zur Persönlichkeit werden, dann muß Erziehung das strukturelle
Systemgeschehen qualitativ umsetzen, wenn sie die Entwicklung fördern will. Das
heißt, in der Erziehung geht es darum, daß die an der Entwicklung der Person beteilig-
155
ten Systeme in ihrer Eigenlogik anerkannt werden und daß ihre jeweilige Selbstorgani-
sation zu berücksichtigen ist. So sollte Erziehung, wie gesagt, verstärkt Gesundheitser-
ziehung umfassen, um der Eigenständigkeit des biologischen Systems Rechnung tragen
zu können. Gleichzeitig muß es aber auch darum gehen, die zwischen den Systemen
bestehenden strukturellen Koppelungen mit „Sensitivität“ (S.231) auszustatten, damit
das zu erziehende Kind selbst sensibel wird für die an seiner Entwicklung beteiligten
Systeme bzw. Prozesse. Denn nur dann, so Büeler, kann Lernen leichter hin zu selb-
ständigem Lernen erfolgen und damit Selbsterziehung möglich werden. Die Selbster-
ziehung wird damit Ziel von Erziehung, gerade weil sie sich durch die selbstorganisie-
rende Tätigkeit des personalen Systems ergibt. Wenn also systemische Vorgänge der
Entwicklung in der Erziehung transparent gemacht und durch die Erziehung auch dem
zu erziehenden Kind bewußt werden, dann kann auch gezielter eine Einwirkung auf die
systemisch ablaufenden Prozesse in Form von Selbsterziehung erfolgen, wodurch die
Selbstorganisation des personalen Systems insgesamt gefördert wird.
„Die ultima ratio im System Erziehung kann dann formuliert werden als Ermöglichung
von Entwicklung hin zu intra- und intersystemischer Harmonie“ (S.231). Statt von
Harmonie wollen wir jedoch im weiteren Verlauf von „Äquilibration“ sprechen, auch
wenn bei Büeler davon auszugehen ist, daß der Harmoniebegriff nicht Eintönigkeit oder
Einförmigkeit impliziert.
Nach Büeler ist Erziehung nicht desillusionierend zu verstehen als „fremdorganisierte
Auslösung selbstorganisierter Strukturveränderungen“ (Treml in Büeler 1994, S.5). Sie
ist möglich aufgrund der Einheit der System-Umwelt-Differenz, sie kann in Situationen
initiiert werden, aber sie muß die Entwicklung berücksichtigen, die sich in Abhängig-
keit des Systemgeschehens ergibt.
Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß sich aus diesem systemtheoretischen Ansatz
weitreichende Konsequenzen für den pädagogischen Bereich ergeben, die vielleicht
jetzt noch gar nicht in ihrer Gesamtheit abzusehen sind. Es sei noch einmal an die von
Büeler geforderte Ganzheitlichkeit von Erziehung erinnert, die mit entsprechend hohen
Anforderungen an den Erzieher (Lehrer und Eltern) einhergehen und eine umfangreiche
Ausbildung für Lehrer nach sich zieht. Wenn nämlich Erziehung als „Auslösung von
Selbstorganisationsprozessen innerhalb personaler Systeme durch intentionale Setzung
von Perturbationen verstanden“ (S.184) wird, dann muß der Erzieher über entsprechen-
156
de Kenntnisse der Selbstorganisation verfügen, die in der Lehrerausbildung jedenfalls
nicht durch die Überbetonung des Fachstudiums vermittelt werden können.
4.6 Zusammenfassung und Grenzen der Ansätze aus pädago-gischer Sicht
Unter den folgenden Gesichtspunkten, die innerhalb eine Allgemeine Systemtheorie für
die Kennzeichnung von Systemen grundlegend sind, sollen die dargestellten Ansätze
kurz zusammengefaßt werden:
Systemart: In der Synergetik geht es um physikalische Systeme, die als offene Systeme
verstanden werden, während nach Maturana biologische Systeme operational geschlos-
sen arbeiten. Das psychische System ist in Anlehnung an Piaget ein offenes System mit
geschlossenen Strukturen. Die Gesellschaft ist aufgrund ihrer Operationsweise der
Kommunikation ein soziales System und durch Selbstreferentialität gekennzeichnet.
Das System Erziehung ist nach Büeler schließlich auch ein soziales System.
Organisation von Systemen: Während die Strukturen variabel sind, ist die Organisation
bei allen Systemen stabil. Es kann unterschieden werden zwischen der Autokatalyse
(physikalisches System), der Autopoiese (biologisches System), der Autoregulation
(psychisches System) und der Selbstorganisation (soziales System), womit jeweils die
umweltunabhängige eigenständige Arbeitsweise von Systemen zum Ausdruck gebracht
wird260.
Prozesse, die innerhalb des Systems ablaufen werden als Synergien (Haken) bezeichnet,
sie können auch durch strukturelle Koppelungen erfolgen (Maturana und Büeler) oder
durch das Zusammenspiel von Assimilation und Akkomodation (Piaget). Unter evoluti-
onärem Aspekt ergeben sich Prozesse innerhalb des sozialen Systems durch die Verbin-
dung von Variation, Selektion und Restabilisierung (Luhmann). Der Punkt, an dem
dann Entwicklung stattfindet, liegt im Moment des Phasenübergangs, der Strukturver-
änderung bzw. des Assimilationszyklus’.
Der Zustand des Systems vor einem Entwicklungsprozeß wird in den Theorien ebenfalls
näher bezeichnet und zwar als Unordnung oder spezifische Ordnung (physikalisches
System), als Homöostase (biologisches System), als Ungleichgewicht (psychisches
260 Nach Luhmann sind physikalische Systeme „nichtautopoietische“ Systeme, weshalb die Synergetik innerhalb der Soziologie
nicht berücksichtigt wird. „Es soll nicht bestritten werden, daß eine solche Theorie auch auf soziale Systeme angewandt werden
könnte; nur ist sie hierfür nicht spezifisch genug“ (Luhmann 1997, S.456, Anmk. 85).
157
System) oder als „Restabilisierung“ beim sozialen System. Im System Erziehung würde
es sich dann um die Nicht-Synchronisierung des biologischen, des psychischen und des
sozialen Teilsystems handeln.
Die Umwelt von Systemen: Die Umwelt wird als Kontrollparameter innerhalb der Phy-
sik beschrieben, sie ist Medium im physikalischen Raum für das biologische System,
sie wird als konstitutiv für den Assimilationsprozeß bezeichnet (psychisches System)
und sie bildet mit dem sozialen System eine Einheit, die gerade aufgrund der Differenz
zwischen System und Umwelt entsteht. Für das System Erziehung ist die Umwelt als
Initiator für Situationen zu verstehen.
Der Beobachter von Systemen wird erst in Maturanas Theorie als grundlegende Kate-
gorie genannt, wenn es um die Re-Konstruktion von Systemen geht. Seine Bedeutung
wird in den Ansätzen von Luhmann und Büeler als selbstverständlich mitgeführt. Wenn
der Beobachter Systeme analysiert, legt er letztlich auch fest, wann von Entwicklung
oder Entwicklungsfortschritt gesprochen wird.
Zusammenfassend kann die Entwicklung von Systemen beschrieben werden als a)
Strukturveränderung des Systems durch Synergieeffekte innerhalb des Systems (Ha-
ken), b) veränderte Fortführung der autopoietischen Organisation aufgrund struktureller
Koppelung der Bestandteile des Systems und damit der Prozesse, die die Bestandteile
erzeugen und erhalten (Maturana), c) Strukturveränderung durch Differenzierung und
Integration die zur majorierenden Äquilibration im Sinne einer weiterführenden kon-
vergierenden Rekonstruktion von Strukturen im kognitiven System führt, wobei Ent-
wicklungsstufen festgestellt werden können (Piaget), d) Strukturveränderung aufgrund
der „selbstselektiven Abkoppelung“ von der Umwelt, statt der umweltselektiven Anpas-
sung (Luhmann) (vgl. Krause 1996, S.96) und schließlich erfolgt e) Entwicklung im
System Erziehung durch Situationen, die entweder zur Erstmaligkeit oder zur Bestäti-
gung führen (Büeler).
Dementsprechend kann dann Erziehung in Anlehnung an die dargestellten Theorien als
Kontrollparameter für das personale System (das zu erziehende Kind), ohne direkten
Einfluß auf das System, verstanden werden, als Perturbation im Interaktionsbereich, als
Bemühung um Äquilibration unter Berücksichtigung der Strukturgenese des zu erzie-
henden Kindes und als absichtsvolle Änderung von Personen durch erzieherische
Kommunikation, wobei diese Auffassung bei Büeler durch die Berücksichtigung der
Entwicklung des Kindes innerhalb der Kommunikation noch erweitert wird. Erziehung
158
bleibt stets mit der Absicht verbunden, auf das zu erziehende Kind einzuwirken. Dies
kann nach Kenntnis der systemischen Vorgänge von Erziehung und Entwicklung durch
die absichtsvolle Gestaltung der Umwelt erfolgen (die dann zum Kontrollparameter
oder zur Perturbation führen kann) und die Erziehung ist auf die absichtsvolle Herstel-
lung und Gestaltung struktureller Koppelungen verwiesen. Darauf wird im nächsten
Kapitel ausführlich eingegangen.
Bei den Theorien handelt es sich um bereichsspezifische, weil sie sich auf spezielle
Systeme beziehen. Gleichzeitig werden sie Allgemeingültig, aufgrund ihrer Übertrag-
barkeit, die nicht zuletzt durch die Verwendung abstrakter Begrifflichkeit möglich wird.
Die Pädagogik muß die Grenzen dieser Theorien für ihre Fragestellungen erkennen und
die systemtheoretischen Erkenntnisse pädagogisch umsetzen. Unzulänglichkeiten der
Theorien aus pädagogischer Sicht wurden teilweise schon angesprochen und sollen hier
zusammengefaßt werden:
Die Synergetik hat sich bisher, aus pädagogischer Sicht, mit Systemen von geringer
Komplexität beschäftigt (Beispiel: Laser), insofern das systeminterne Geschehen als
auch die Umwelt als Kontrollparameter vollständig beschreibbar sind und beide „Teile“
der gleichen, hier physikalischen, Systemart angehören. Dabei liegt der Schwerpunkt im
systeminternen Geschehen und nur die Relation zwischen Umwelt und einem System
wird zum Forschungsgegenstand. Außerdem wird das System, das Untersuchungsge-
genstand ist, von der Umwelt so isoliert, daß von einem System mit geringem Umwelt-
bezug gesprochen werden kann.
Erziehung als System ist demgegenüber von erhöhter Komplexität. Am Beispiel der
Erziehungssituation zeigt sich, daß sich hier mindestens zwei personale Systeme gege-
nüberstehen, die wiederum komplex sind. Außerdem sind die personalen Systeme nicht
nur Systeme, sondern fungieren für das jeweils andere System als Umwelt und haben
zusätzlich Beziehung zu weiteren systemrelevanten „Umwelten“. Synergetische Prinzi-
pien können der Komplexität von Erziehung deshalb nicht gerecht werden. Hinzu
kommt, das die Beziehung zwischen den personalen Systemen nicht einseitig, sondern
durch Rückkoppelungsprozesse gekennzeichnet ist, die von der Synergetik nicht erfaßt
werden (abgesehen von den vielfältigen Rückkoppelungsprozessen zwischen Systemen
und deren Umwelten).
Die biologische Sichtweise erklärt bereits ein Teilsystem des personalen Systems, das in
der Pädagogik im Mittelpunkt steht, nämlich den Organismus. Allerdings sollte der
159
Begriff der „Autopoiese“ auf biologische Prozesse beschränkt bleiben, denn im Grunde
geht es bei jeder Strukturveränderung um die Erhaltung des Systems und primär weni-
ger um Entwicklungsfortschritte, wie sie in der Erziehung relevant werden. Natürlich
kann auch nach Maturana Entwicklung innovativ sein, aber nur insofern, als die Prozes-
se, die die Bestandteile des Systems erzeugen, fortgeführt werden können. Es geht mehr
um Systemerhaltung als Systemänderung. Um auf die eigenständige Funktionsweise
von personalen Systemen hinzuweisen, wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Ar-
beit der Begriff der „Selbstorganisation“ vorgezogen. Dabei steht das Verdienst Matu-
ranas sicherlich darin, daß er auf den Prozeß als das grundlegende Merkmal von Syste-
men so deutlich hingewiesen hat, da nicht Bestandteile die Voraussetzung für eine Ein-
heit bilden, sondern die Prozesse, die den Bestandteilen zugrunde liegen, diese erst kon-
stituieren. Die Begriffe „Erziehungsprozeß“ und „Entwicklungsprozeß“ bekommen auf
diesem Hintergrund eine wichtige Bedeutung, die noch zu kennzeichnen ist.
Dennoch hilft diese Theorie auch nur für die genaue Erklärung eines Teils des komple-
xen Systems Erziehung. Hinzu kommt, daß die Umwelt bei Maturana als Störfaktor für
Systeme verstanden wird und der Begriff „Perturbation“ vielleicht vorschnell auch in
die Pädagogik übertragen wurde, wenn Erziehung als Störung, oder milder formuliert,
als Anstoß verstanden wird (vgl. Tschamler 1996, S.208ff. und natürlich Büeler). Das
Systemgeschehen in der Erziehung muß deshalb genau untersucht werden, um festzu-
stellen, daß Erziehung mehr ist als Herstellung spezifischer Umweltgegebenheiten,
denn dann kann man auch Montessoris Ansatz wieder in den Mittelpunkt rücken.
Piagets Theorie beinhaltet bereits eine Erweiterung gegenüber Maturanas Erhaltungs-
begriff, insofern als er Entwicklung hin zu einem verbesserten Gleichgewicht, durch die
majorierende Äquilibration kennzeichnet und explizit gezeigt hat, wie eine Veränderung
von Strukturen erfolgt, nämlich durch die Integration neuer Strukturen und die damit
verbundene Differenzierung bestehender Strukturen. Allerdings bleibt sein Entwick-
lungsbegriff auf das psychische bzw. das kognitive System beschränkt. Auch wenn es in
der Erziehung um die kognitive Entwicklung des Kindes geht, so spielt der Entwick-
lungsbegriff auch in Hinblick auf den Erzieher und die Erziehungssituation eine Rolle.
Hier muß noch weiter differenziert werden, denn es wird sich noch die Frage ergeben,
inwieweit sich die unterschiedlichen ‘Entwicklungen’ gegenseitig bedingen.
Problematisch bleibt bei Piaget der Hinweis auf die Schließung der kognitiven Struktu-
ren, die natürlich mit entsprechender Flexibilität verbunden sind. Inwieweit aber aus
160
heutiger Sicht, von einem Entwicklungsende gesprochen werden kann, wird zu überle-
gen sein. Der Begriff der „Bereichspezifität kognitiver Strukturen“ sollte hier stärker
berücksichtigt werden.
Nach Piagets Auffassung ist der Entwicklungsprozeß durch die Erziehung in eine be-
stimmte Richtung beeinflußbar und zwar in die Richtung, die der Entwicklung selbst
immanent ist. Hier ist aus systemtheoretischer Sicht noch näher zu überprüfen, inwie-
weit der Entwicklungsprozeß überhaupt gerichtet ist, ob Erziehung den Ent-
wicklungsprozeß in eine bestimmte Richtung beeinflussen kann und damit stellt sich
erneut die Frage nach dem Erziehungsziel.
Aus soziologischer Sicht sind die Operationen von Systemen, und dabei handelt es sich
um Kommunikation, als die Prozesse von Bedeutung, die das soziale System überhaupt
erst erzeugen, bzw. erzeugt haben. Auch in der Erziehung als Teilsystem geht es damit
um Kommunikation. Die Entwicklung des Kindes kann aus soziologischer Sicht allein
durch Kommunikation aber nicht erfaßt werden. Luhmann hat sich schließlich auch
nicht mit Entwicklung im engeren Sinne beschäftigt. Erziehung ist in seiner Theorie
eine planmäßige Verknüpfung von psychischen und sozialen Systemen, wobei jedoch
weder der ganze Mensch noch die Beziehungen zwischen personalen Systemen berück-
sichtigt werden.
Der Ganzheit der an der Erziehung beteiligten Systeme will Büeler gerecht werden,
indem die Beziehungen zwischen dem biologischen, dem psychischen und dem sozialen
System aufgedeckt werden. Diese drei Systemarten werden auch im weiteren Verlauf
die Basis bilden. Die Entwicklung wird hier als emergente Art der Koppelung von
Strukturen bezeichnet. Piaget war bereits genauer, da er durch die Begriffe von Integra-
tion und Differenzierung auf das Verhältnis von „alten und neuen“ Strukturen hinge-
wiesen hat. Hier kann sicherlich auch mit Hilfe synergetischer Prinzipien noch weiter
differenziert werden, indem man zum Beispiel die Funktion von Ordnern betrachtet.
Für die pädagogische Sichtweise bedeutsam ist bei Büeler auf jeden Fall die asymmetri-
sche Kennzeichnung von Systemen. Es wurde bisher noch in keinem Ansatz deutlich
herausgestellt, daß Systeme miteinander bewußt interagieren oder in Relation treten,
weil sie sich durch Ungleichmäßigkeit auszeichnen und das mit dem Ziel, diese Un-
gleichmäßigkeit auszugleichen. Aus systemtheoretisch-pädagogischer Sicht muß auf
das Verhältnis zwischen Erzieher und Kind noch genau eingegangen werden. Es erge-
ben sich nämlich gerade durch dieses spezielle Verhältnis verschiedenen Fragen, die
161
bisher noch nicht gestellt wurden. So ist zu klären, welche Position Erzieher und Kind
innerhalb einer Erziehungssituation haben und inwieweit sie auch als Beobachter fun-
gieren, und zwar nicht nur als Beobachter von der Situation im Allgemeinen, sondern
auch als Beobachter der anderen Person bzw. als Beobachter von Verhalten und als Be-
obachter der eigenen Person. Und daraus ergibt sich die Frage, welche Bedeutung die
Beobachterposition für den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung hat.
Durch die genannten Theorien ist es aus systemtheoretischer Sicht möglich, den Zu-
sammenhang von Entwicklung und Erziehung aufzudecken, auch wenn die einzelnen
Ansätze für sich genommen die Komplexität von Erziehung nicht erfassen. Die pädago-
gische Sichtweise muß dabei die für ihr Thema relevanten Erkenntnisse der jeweiligen
Theorie herausarbeiten, dann aber sozusagen pädagogisch überhöhen. Als ein Beispiel
dafür, soll noch einmal auf den Entwicklungsbegriff eingegangen werden:
Es ist über Entwicklung bereits Vieles gesagt worden, was die Operationsweise von
Systemen im Entwicklungsprozeß betrifft. Und es wurde auch schon deutlich, daß Ent-
wicklung nicht immer so ablaufen muß, wie intendiert. Gerade in der Erziehung geht es
aber um die Zielgerichtetheit von Entwicklung und damit um Intention. In den Theorien
von Maturana und Luhmann steht Entwicklung im Verlauf von Evolution im Mittel-
punkt und damit geht es um Entwicklungsabläufe nicht um Zielgerichtetheit. Hier bietet
nicht nur Piagets Theorie bessere Ansatzpunkte, sondern auch die Synergetik. So kön-
nen aus physikalischer Sicht die Voraussetzungen genannt werden, die vorliegen müs-
sen, wenn man zum Beispiel Laserlicht erzeugen will. Diese Voraussetzungen haben
sich durch die Beobachtung des internen Systemgeschehens (in dem Fall von her-
kömmlichem Licht) ergeben. Im psychischen Bereich hat Piaget die systeminterne kog-
nitive Entwicklung analysiert und gelangte so zu den Entwicklungsstufen, die zum kog-
nitiven Entwicklungsziel der formalen Stufe hinführen. Es zeigt sich aus pädagogischer
Sicht, daß diese systeminterne Entwicklung nur möglich ist, wenn sie von außen zielge-
recht gesteuert wird. Und diese Steuerung macht gerade Erziehung aus. In der Erzie-
hung ist Entwicklung damit nicht ohne Erziehung möglich, genauso wie dann auch Er-
ziehung nicht ohne Rücksicht auf Entwicklung möglich ist. Ist dies nicht der Fall, dann
kann es sich zum Beispiel um Sozialisation handeln, nicht aber um Erziehung.
162
5. Die systemtheoretischen Merkmale von Entwicklungund Erziehung
Es geht jetzt nicht darum, daß ein bestimmter systemtheoretischer Ansatz auf die Päda-
gogik übertragen wird, sondern wie sich der Zusammenhang von Erziehung und Ent-
wicklung aufgrund der angeführten systemtheoretischen Erkenntnisse erklärt. Im
Hauptteil der vorliegenden Arbeit geht es somit um die Analyse des Zusammenhangs
von Erziehung und Entwicklung.
Aus der Organisation und der Struktur von Systemen ergibt sich, daß zwischen Erzie-
hung und Entwicklung ein Zusammenhang besteht, denn systemtheoretisch betrachtet
sind die unterschiedlichen Strukturen von Systemen miteinander und auch mit der Um-
welt verbunden, verkoppelt. Die Verbindung von Erziehung und Entwicklung ist somit
systemtheoretisches Faktum.
Für das Verständnis der Analyse werden hier noch einige Voraussetzungen geschaffen,
die sich daraus ergeben, daß die Ganzheit eines systemischen Zusammenhangs nicht auf
einmal erklärt werden kann.
Der grundlegenden systemtheoretischen Ansicht Maturanas wird hier gefolgt, indem der
Mensch als personales System begriffen wird. Erst durch seine Verbindungen, Bezie-
hungen, Koppelungen mit sich selbst und gleichzeitig mit der Umwelt wird der Mensch
zu einer Einheit, die nicht als abgeschlossenes Ganzen zu verstehen ist. Um dies auch
im Folgenden zum Ausdruck zu bringen, wird der Begriff des personalen Systems bei-
behalten. Im Vordergrund der Fragestellung stehen somit der Erzieher und das Kind als
personale Systeme. Wenn es um eine genauere Differenzierung geht, wenn Aussagen
gemacht werden, die nur auf den Erzieher oder nur auf das Kind zutreffen, dann wird
auch vom Erzieher und vom Kind gesprochen. Aussagen über das personale System
treffen auf jeden Menschen zu.
Der Systembegriff bezieht sich neben der personalen Ebene auch auf die soziale Ebene,
wie dies vor allem durch Luhmanns Theorie zum Ausdruck kommt. Die systemtheoreti-
schen Erkenntnisse über die personale und die soziale Ebene werden somit in Hinblick
auf die Analyse des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung betrachtet. In der
Erziehung treffen beide Ebenen aufeinander, weil Erziehung zum einen als soziales
System zu verstehen ist, zum anderen die personalen Systeme (Kind und Erzieher) als
163
Teilsysteme begriffen werden. Gleiches gilt auch für die Entwicklung. Denn, obwohl in
der vorliegenden Arbeit die Entwicklung des Kindes im Vordergrund steht und hier
wiederum, wenn es um Beispiele geht, die kognitive Entwicklung, so ist auch das Sys-
tem Erziehung einer Entwicklung unterworfen. Wenn es um die Entwicklung des sozi-
alen Systems Erziehung geht, dann wird dies auch zum Ausdruck gebracht. Ansonsten
ist, wenn von Entwicklung gesprochen wird, die des Kindes gemeint. Aus systemtheo-
retischer Sicht sind die sich daraus ergebenden Erkenntnisse jederzeit auch auf den Er-
zieher übertragbar, da sie für jedes personale System gelten.
Allen Systemen liegt ihr prozeßhafter Charakter zugrunde. Erst Prozesse, die als Kop-
pelungen, Entwicklungen, Zustandsveränderungen oder Strukturänderungen beschrie-
ben werden können, machen ein System aus, wie dies bereits bei Büeler zum Ausdruck
gebracht wurde. Wenn also im folgenden von Erziehung und Entwicklung gesprochen
wird, dann umfassen diese Begriffe die vielfältigen Prozesse, durch die sie erst zu einer
Einheit werden.
Die Analyse des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung erfolgt entlang
grundlegender systemtheoretischer Merkmale, die sich durch die Kennzeichnung perso-
naler und sozialer Systeme ergeben. Diese Merkmale gelten also sowohl für das perso-
nale System also auch für das soziale, sind also gleichzeitig gültig für das System Er-
ziehung, für den Erzieher und das Kind als Teilsysteme und auch für die einzelne Er-
ziehungssituation als weiteres Teilsystem von Erziehung. Die systemtheoretischen
Merkmale beziehen sich nämlich immer auf Ganzheiten, die als System zu bezeichnen
sind, auf deren Teile, bei denen es sich ebenfalls um Systeme handelt und sie umfassen
auch die Relationen, die zwischen den Teilen, zwischen Teil und Ganzem, Teil und
Umwelt oder Ganzheit und Umwelt bestehen können. Die vorliegenden Aussagen gel-
ten also für unterschiedliche Systemebenen, worauf später genau hingewiesen wird.
Allgemeine Aussagen sind danach für alle Systemebenen gültig. In Kapitel 6 wird je-
doch durch die Darstellung der Erziehungssituation als Schnittpunkt von Erziehung und
Entwicklung die situative Ebene nochmals besonders berücksichtigt.
Diese Vielschichtigkeit, die sich aus der systemtheoretischen Analyse ergibt, bedeutet,
daß Wiederholungen unvermeidlich sind, da für die Beschreibung eines bestimmten
Systemmerkmals auch andere Systemmerkmale von Bedeutung sind und insofern alle
Merkmale miteinander in Verbindung stehen, also erst die Einheit eines Systems aus-
machen. Der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung läßt sich eben erst durch
164
den Zusammenhang aller Systemmerkmale, die zueinander in systemischer Relation
stehen, erfassen. Dieser Zusammenhang wird von hoher Komplexität sein, weshalb im
nachfolgenden Kapitel eine Reduktion der Komplexität erfolgt, indem eingeschränkt
auf die Erziehungssituation eingegangen wird, wodurch gleichzeitig die theoretische
Analyse einen praktischen Bezug bekommt.
Der Begriff „System Erziehung“ in Anlehnung an Büeler wird beibehalten. Er umfaßt
Erziehung und Entwicklung als systemische Prozesse, die nicht auf die institutionali-
sierte Erziehung eingeschränkt sind. Wenn im Folgenden von Erziehung gesprochen
wird, dann kann es sich um die häusliche, familiäre oder die schulische Erziehung
u.a.m. handeln, worauf in einzelnen Beispielen dann auch hingewiesen wird. Erziehung
ist auf jeden Fall nicht an Orte gebunden. Erziehung ergibt sich durch systemische Re-
lationen, Strukturenkoppelung zwischen personalen und/oder sozialen Systemen. Es gilt
somit auch Luhmanns Definition, nach der Erziehung einen Kausalnexus bezeichnet,
„der soziale Systeme (Kommunikation) und psychische Systeme (Bewußtsein) ver-
knüpft, und zwar auf planmäßige, kontrollierbare, wenngleich nicht immer erfolgreiche
Weise“ (Luhmann 1991, S.19).
Die Komplexität des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung zeigt bereits
indirekt, daß neben den vielfältigen Möglichkeiten für eine erfolgreiche Erziehung (was
das heißen mag, soll hier zurückgestellt werden) Erziehung auch nicht so gelingen kann
wie intendiert.
Denn Erziehung ergibt sich durch das ständige Wechselspiel zwischen biologischen,
psychischen und sozialen Systemen, die hier in Anlehnung an die Systemtheorie als
grundlegende Systemtypen betrachtet werden (demgegenüber wird von Systemebenen
in Bezug auf die verschiedenen Ebenen der Gesellschaft gesprochen, vgl. hierzu Abb.5
in Kap.5.3.2) und auf die sich die Systemmerkmale gleichermaßen beziehen. Das heißt
also, wenn nur von „System“ gesprochen wird, dann gilt die sowohl für biologische,
psychische als auch soziale Systeme, bzw. wie bereits gesagt, für systemische Teile und
systemische Ganzheiten.
Die grundlegenden systemtheoretischen Merkmale, die sowohl für Erziehung als auch
für Entwicklung gelten sind im einzelnen: Komplexität, die sich durch die möglichen
systemischen Relationen zwischen Systemteilen ergibt; Organisation und Struktur, die
auf die Eigenständigkeit von Erziehung und Entwicklung hinweist; Einheit der Sys-
tem/Umwelt-Differenz, die im Gegensatz zur Organisation den prinzipiellen Zusam-
165
menhang von Erziehung und Entwicklung zeigt; Kommunikation und Bewußtsein, die in
ihrer Koppelung Erziehung konstituieren und Entwicklungen möglich machen; Sinn als
existentielle Basis sowohl psychischer als auch sozialer Systeme und damit auch Basis
für Erziehung und Entwicklung; Strukturenkoppelung, als die Form der Relation zwi-
schen allen Systemtypen, Systemteilen und Systemebenen; konsensueller Bereich als
der Kontext, in dem Erziehung und Entwicklung stattfinden; Anpassung von Systemen
als Voraussetzung für Entwicklung und Erziehung und Äquilibration als systemische
Zustandsbeschreibung für Entwicklung; Steuerung, durch die die Frage nach der
Beeinflußbarkeit von Entwicklung durch Erziehung beantwortet werden soll. Schließ-
lich wird in einer Zusammenfassung, der Zusammenhang von Erziehung und Entwick-
lung nochmals präzisiert, die Komplexität der Darstellung dabei reduziert.
Das Vorgehen in den einzelnen Abschnitten ist gekennzeichnet a) zunächst durch die
Erklärung der systemtheoretischen Begriffe. Dann wird b) die Bedeutung der Begriffe
für die Erziehung als soziales System genauso herausgestellt wie für das personale
System. Daran schließt sich c) die Bedeutung für die Entwicklung (sozialer und/oder
personaler Systeme) an. Abschließend wird d) das Systemmerkmal in Hinblick auf den
Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung herausgestellt.
Die Analyse erfolgt insgesamt aus einer Beobachterperspektive, die als wissenschaftli-
che Beobachtung und nach Maturana als Beobachtung 2. Ordnung bezeichnet wird (vgl.
den Abschnitt über Maturana). Gleichzeitig handelt es sich auch beim Erzieher um ei-
nen Beobachter, weil seine Aufgabe darin besteht, den Zusammenhang von Erziehung
und Entwicklung im konkreten Fall zu beobachten (Beobachtung 1. Ordnung) und des-
sen Tätigkeit hier sozusagen mitbeobachtet wird. Hier treffen zwei Beobachtungsebe-
nen aufeinander mit dem Ziel, der Beschreibung des Phänomens des Zusammenhangs
von Entwicklung und Erziehung so nah wie möglich zu kommen, ohne den Anspruch
erheben zu können, das eigentliche Geschehen, also Entwicklung und Erziehung in ih-
rem Vollzug, damit vollständig zu erfassen. Näher, als durch die Verbindung der zwei
Beobachtungsebenen, kommt man an die Phänomene von Entwicklung und Erziehung
nicht heran. Alles was über die Beobachtung gesagt wird, bezieht sich zudem sowohl
auf die wissenschaftliche Beobachtung als auch auf die Beobachtung, die durch Perso-
nen in Situationen erfolgen. Die Position des Erziehers als Beobachter wird deshalb
auch in Kapitel 6 noch deutlicher herausgestellt.
166
5.1 Komplexität von Erziehung und Entwicklung
Erziehung wird im Rahmen der vorliegenden Fragestellung als ein komplexes System
verstanden, in dem die Entwicklung des Kindes ein Prozeß ist. Von Erziehung sollte
man nur dann sprechen, wenn auch tatsächlich der Zusammenhang zum Ent-
wicklungsprozeß des Kindes intendiert ist. Erziehung als komplexes System umfaßt
dann den Entwicklungsprozeß des Kindes und die darauf gerichteten Erziehungsprozes-
se, die in Form von Erziehungssituationen aktualisiert werden. Auf diese wird später
genauer eingegangen, insofern sie den Schnittpunkt von Entwicklung und Erziehung
ausmachen. Von Entwicklung und Erziehung wird hier als eine begriffliche Einheit ge-
sprochen, wenn es um den Erziehungs- oder den Entwicklungsprozeß geht, ist eine dy-
namische Einheit gemeint. Diese Einheiten sind jeweils komplex.
5.1.1 Komplexität des Systems Erziehung
In Bezug auf biologische psychische und soziale Systeme wird mit dem Komplexitäts-
begriff auf die Vielfalt und Vielgestaltigkeit von Elementen und Relationen hingewie-
sen, deren Verknüpfungsmöglichkeit innerhalb eines Systems und zwischen Systemen
die tatsächliche Verknüpfungsfähigkeit übersteigt. Neben der Weltkomplexität und der
Umweltkomplexität von Systemen ist die Eigenkomplexität einzelner Systeme zu unter-
scheiden, wobei in unserem Zusammenhang die Eigenkomplexität vom System Erzie-
hung interessiert. Da die Umwelt eines Systems komplexer ist als das System selbst,
kann auch von einem Komplexitätsgefälle gesprochen werden (vgl. Luhmann 1987,
S.48).
Wenn das System Erziehung in seiner Komplexität erfaßt werden soll, dann muß man
es als eine zusammengesetzte Einheit261 auffassen (vgl. Luhmann in Kiss 19902, S.11).
Dabei geht es hier nun darum, die Teile und Relationen des Systems zu bestimmen,
damit die Komplexität nicht unbestimmt bleibt. Im Minimalfall sind an dem Erzie-
hungsprozeß, als ein Teil des Systems Erziehung zwei personale Systeme, ein Kind und
ein Erzieher, beteiligt. Der Erziehungsprozeß findet sozusagen zwischen ihnen haupt-
261 „Eine Einheit ist eine konkrete oder begriffliche, dynamische oder statische Entität, die durch Operationen der Abgrenzung
bestimmt werden, die sich von einer Umgebung abtrennen und ihr charakteristische Eigenschaften zuweisen (...). Wird die Einheit
als zusammengesetzt definiert, dann wird angenommen, daß sie aus Bestandteilen besteht, die durch weitere Abgrenzungsoperatio-
nen bestimmt werden können, und außerdem, daß sie durch eine spezifische Organisation realisiert wird ...“ (Maturana 19852,
S.240).
167
sächlich durch Kommunikation statt. Er ist durch Zirkularität und Rückkoppelungspro-
zesse gekennzeichnet. Auf seine Komplexität wird genauer eingegangen, wenn es um
die strukturelle Koppelung von Systemen geht.
Die personalen Systeme als Teile des Systems Erziehung sind selbst komplex. Ihre
biologischen, psychischen und sozialen Teilsysteme sind ebenfalls erneut komplexer
Natur, so wie man zum Beispiel im biologischen System physikalische und chemische
Einheiten unterscheiden kann. Und wenn man sich nun die vielfältigen Relationen vor-
stellt, die zwischen den Teilen möglich sind, dann wird deutlich, daß niemals jede Re-
lation mit jeder anderen in Beziehung treten kann und daß gar nicht alle nur denkbaren
Relationen ausgeführt werden können, ganz abgesehen von der Frage nach der Mög-
lichkeit von Relationen aufgrund der Organisation einzelner Teilsysteme. Konkret zeigt
sich, daß nicht jede biologische Relation im personalen System mit jeder anderen in
Beziehung treten kann und daß nicht jede biologische Relation mit jeder psychischen
relationieren kann. Und so kann schließlich im Erziehungsprozeß nicht jede Kommuni-
kation mit jeder anderen relationieren. Beispielsweise kann der Lehrer nicht zu jeder
Äußerung eines Schülers ausführlich Stellung nehmen oder für diese den Stellenwert
oder die Bedeutung für das gemeinsame Gespräch in der Klasse herausstellen. Auch
kann ein Lehrer, sei es nun aus sachlichen oder zeitlichen Gründen nicht an jede erzie-
herische Kommunikation eines Kollegen, der in der gleichen Klasse unterrichtet, an-
knüpfen. Ebenso ist es für eine Mutter nicht immer möglich und auch nicht zwingend
nötig, auf jede Verhaltensweise des Kindes einzugehen. Komplexität, das wird schon
auf dem für das System Erziehung niedrigsten Komplexitätsniveau, nämlich im physi-
kalischen System deutlich, ist immer mit Kontingenz und Selektion verbunden. Dazu
gleich mehr.
Nun sind die an der Erziehung beteiligten personalen Systeme durch Asymmetrie ge-
kennzeichnet. Die personalen Systeme bringen nicht die gleiche Struktur von Teilsys-
temen und eine damit verbundene gleiche Relationsfähigkeit mit in den Erziehungspro-
zeß. Sie haben nämlich unterschiedliche Entwicklungsprozesse hinter sich. Diese erge-
ben sich ihrerseits durch die unterschiedliche Entwicklung ihrer Teilsysteme, die wie-
derum mit der Entwicklung von Elementen und Relationen verbunden sind.
Die Teile eines Systems (z.B. das psychische System) erhalten ihre Einheit gerade auf-
grund der Komplexität des personalen Systems (vgl. Luhmann 1987, S.49f.). Und
gleichzeitig wird die Komplexität des personalen Systems durch die Teile und die damit
168
möglichen Relationen erhöht. Teil und Ganzes sind komplex und tragen zur jeweiligen
Komplexität bei. So sind auch Erziehung und Entwicklung Phänomene, die zur gegen-
seitigen Komplexität beitragen: Erziehung ist komplex auch aufgrund der Komplexität
von Entwicklung und Entwicklung wird komplex gerade durch die Erziehung. Die ge-
genseitige Komplexitätssteigerung bezeichnet bereits den engen Zusammenhang von
Entwicklung und Erziehung.
Die unterschiedlichen personalen Systeme des Kindes und des Erziehers bringen nun
ihre Eigenkomplexität in den Erziehungsprozeß mit hinein. Daß diese Eigenkomplexität
die Komplexität von Erziehung nicht nur erhöht, sondern zum Aufbau des Systems Er-
ziehung zur Verfügung steht, ist zwangsläufig. Luhmann spricht hier von Interpenetra-
tion (vgl. Luhmann 1987, S.290, 1997, S.108)262. Das System Erziehung stellt nicht nur
für das personale System und dessen Entwicklung seine Komplexität zur Verfügung,
sondern der Aufbau des Systems Erziehung ergibt sich auch durch die Eigenkomplexi-
tät der personalen Systeme. Die Interpenetration drückt die wechselseitige Ermögli-
chung von Systemen aus. Erziehung gibt es aufgrund der Entwicklungsbedürftigkeit
und -fähigkeit des Kindes und diese wiederum ist in unserer Gesellschaft nicht ohne
Erziehung denkbar. Auch innerhalb des Systems Erziehung liegt Interpenetration vor,
da das personale System des Erziehers seine Eigenkomplexität beim Aufbau der Ent-
wicklung des Kindes zur Verfügung stellt und das Kind seine Eigenkomplexität dem
Aufbau der Erziehungssituation. Aufgrund der Asymmetrie der personalen Systeme
Kind und Erzieher stellt sich die Interpenetration im System Erziehung anders dar als in
anderen sozialen Systemen. Darauf wird genauer eingegangen, wenn es um die struktu-
relle Koppelung geht (vgl. Kapitel 5.6). In Bezug auf die Komplexität von Erziehung
zeigt sich hier, daß sich diese koevolutiv bzw. koontogenetisch mit den an ihr beteilig-
ten personalen Systemen entwickelt (siehe genauer Abschnitt 5.2.6).
262 Eine gute Definition von Interpenetration gibt Krause 1996, S.112-113: „Systeme nehmen eigenselektiv operative Einheiten oder
Operationen anderer Systeme für den Aufbau eigener operativer Einheiten oder Operationen in Anspruch. So sind etwa mit Kom-
munikationen operierende soziale Systeme auf Gedanken als operierende Einheiten psychischer Systeme angewiesen. Die operati-
ven Einheiten psychischer wie sozialer Systeme (Gedanken wie Kommunikation) bleiben jedoch unverändert. Es findet kein Aus-
tausch der Einheiten als solche statt. Durch Interpenetration werden erst recht psychische Systeme nicht Bestandteil sozialer Syste-
me und umgekehrt. Interpenetration ist ein Konstitutions- und kein Leistungszusammenhang“. So ist beispielsweise das erzieheri-
sche Gespräch auf die Teilnahme von Erzieher und Kind angewiesen, wobei die Operationen oder die Gedanken, die insgesamt die
Einheit des Gesprächs gestalten, weiterhin dem Erzieher bzw. dem Kind eigen sind und sich allein durch ihre Darlegung auch noch
nicht verändern, aber eben zur Konstitution des Gesprächs führen.
169
Die Komplexität des Systems Erziehung ergibt sich nicht nur aufgrund der Interpenet-
ration der an ihm beteiligten personalen Systeme, sondern auch durch die Beziehung zu
anderen sozialen Teilsystemen der Gesellschaft, wie das politische, das wirtschaftliche,
das religiöse System, aber auch die Familie als System. Durch Vorgaben, Gesetze und
durch Kommunikation zwischen den Systemen erhöht sich die Komplexität des auf-
nehmenden Systems Erziehung. Denn die Struktur des Systems Erziehung wird nicht
ausschließlich von einem System, wie dem Erziehungssystem oder dem Wissenschafts-
system etc. festgelegt, sondern es handelt sich hierbei um einen Prozeß, der sich durch
die Einheit der System/Umwelt- Differenz und die strukturelle Koppelung von ver-
schiedenen sozialen sozialen Systemen ergibt (worauf später im einzelnen eingegangen
wird).
Die Eigenkomplexität des Systems kann schließlich nur dann entwickelt werden, wenn
das System eine innere Ordnung herstellt und zur operativen Schließung gelangt263, was
mit Kontingenz und Selektion verbunden ist. Das System Erziehung muß deshalb selbst
seine Relationen oder Beziehungen zu anderen Systemen bestimmen und begrenzen
können, damit es Eigenständigkeit aufbauen kann. Und das gilt auch für die einzelne
Erziehungssitiuation. Die an ihr beteiligten Personen bauen (auf der Basis von Kommu-
nikation) die Eigenkomplexität der Erziehungssituation durch eine interne Ordnung auf.
Dieser Prozeß ist autopoietisch, da „die Produktion eigener Elemente durch eigene E-
lemente“ zum Aufbau von Eigenkomplexität führt (Luhmann 1997, S.135). So zeigt
sich, daß die Komplexität von Erziehung gerade auch darin besteht, daß intern Regeln
festgelegt und dann auch eingehalten werden. Die von Luhmann bezeichnete Paradoxie
der Komplexität als Einheit einer Vielheit (ebd., S.136) wird so verständlich.
5.1.2 Reduktion von Komplexität
Komplexität ist mit Abgrenzung verbunden, und das gilt auch für die Erziehung. Da es
dem System Erziehung um Erziehung unter Berücksichtigung der Entwicklung des
Kindes geht, grenzt sie sich von Sozialisation ab. Die Bestimmung von Erziehung als
ein soziales Teilsystem ergibt sich letztlich in Abhängigkeit von Sinn, der auf der Basis
von Kommunikation erfolgt, worauf noch eingegangen wird. Wird der Sinn des Sys-
tems Erziehung oder ein pädagogisches Sinnkriterium festgelegt, dann erfolgt damit die
Abgrenzung des Systems von anderen sozialen Systemen und die Aufstellung einer in-
263 Im Abschnitt über strukturelle Koppelung wird noch genauer auf die Bedeutung der operativen Schließung eingegangen.
170
ternen Ordnung. Damit sind auch räumliche und zeitliche Festlegungen und Begren-
zungen verbunden. Durch Sinn wird Komplexität (und zwar genau genommen, die
Komplexität von Sinn) verarbeitet264; indem zum Beispiel durch die konkrete Kenn-
zeichnung der Ziele eines Systems, die prinzipiellen Möglichkeiten von Zielsetzungen
für Systeme berücksichtigt, teilweise aufgenommen und teilweise als für das in Frage
stehende System als nicht relevant zurückgewiesen werden. Wenn Mündigkeit als Sinn-
einheit von Erziehung beschrieben wird, dann unterscheidet sich dieses Ziel von Zielen
andere Systeme, wie dem Wirtschaftssystem oder dem politischen System. Dennoch
wird man Teilaspekte dieses Ziels auch in Sinneinheiten anderer Systeme wiederfinden,
weil die aktuelle Kennzeichnung von Mündigkeit aus den prinzipiell in unserer Gesell-
schaft möglichen Sinneinheiten erfolgt, aus der alle anderen Systeme ebenfalls ihre
Zielsetzungen oder Sinneinheiten gewinnen. Wie noch gezeigt wird, liegt dies daran,
daß Sinn auf Sinn basiert.
Die Möglichkeiten, die es für die Bildung, Erhaltung und die Operationen von Syste-
men gibt, sind also so komplex, daß eine Verarbeitung und eine damit einhergehende
Reduktion der Komplexität die Folge ist265. Auch Erziehung ist mit Reduktion verbun-
den, die zur Eigenkomplexität führt. Und auch die einzelne Erziehungssituation basiert
auf Reduktion der Komplexität des Systems Erziehung. Erziehung stellt sich immer
komplex dar, sei es in der Erziehungssituation zwischen Mutter und Kind, einer Erzie-
hungssituation im Kindergarten oder in der Schule. Und dennoch handelt es sich immer
um eine reduzierte Komplexität. Die Umweltkomplexität von Erziehung ist höher als
die Eigenkomplexität. Die reduzierte Komplexität des Systems Erziehung ergibt sich
unter anderem in Abgrenzung zur Umwelt und damit durch Selektion, die aufgrund von
Handlungs-, Wertungs- oder Denkmustern und damit durch die Sinnbeschreibung des
Systems, aber auch durch Gewohnheiten und Institutionen erfolgt. Dies müßten sich
alle Beteiligten als Beobachter von Erziehung oder einer Erziehungssituation bewußt
sein: Die Ganzheit von Erziehung und Entwicklung wird in der Praxis nicht erfaßt. Auf
diese Einheit kann deshalb auch nicht insgesamt eingewirkt werden, weil der Mensch
264 „Mit jedem Sinn, mit beliebigem Sinn wird unfaßbar hohe Komplexität (Weltkomplexität) appräsentiert und für die Operationen
psychischer bzw. sozialer Systeme verfügbar gehalten“ (Luhmann 1987, S.94).265 „Von Reduktion der Komplexität sollte man dagegen in einem engeren Sinne immer dann sprechen, wenn das Relationsgefüge
eines komplexen Zusammenhangs durch einen zweiten Zusammenhang mit weniger Relationen rekonstruiert wird. Nur Komplexität
kann Komplexität reduzieren. Das kann im Außenverhältnis, kann aber auch im Innenverhältnis des Systems zu sich selbst der Fall
sein“ (Luhmann 1987, S.49).
171
im konkreten (erzieherischen) Moment nicht über die Kapazität verfügt, die Komplexi-
tät erfassen, verarbeiten und gleichzeitig entsprechend handeln zu können. In diesem
Sinne erfolgt Erziehung immer reduktionistisch. Die reduzierte Komplexität und damit
die Gestaltung des Systems Erziehung oder einer Erziehungssituation könnte immer
auch anders möglich sein. Damit aber Erziehung als System und auch ein einzelner Er-
ziehungsprozeß in einem bestimmtem Moment erfolgen kann, muß Komplexität redu-
ziert werden.
5.1.3 Kontingenz
Reduktion von Komplexität beinhaltet Kontingenz266, Selektion und Risiko (vgl. Luh-
mann 1987, S.46-47). In Hinblick auf Welt- und Umweltkomplexität bedeutet Kontin-
genz für Erziehung ganz allgemein, daß es vielfältige Auffassungen über und Formen
der Verwirklichung von Erziehung geben kann. Nur wenn man sich für eine entscheidet
und damit andere ausgrenzt, dann entwickelt sich zum Beispiel in Bezug auf ein be-
stimmtes Erziehungsziel eine davon abhängige Eigenkomplexität des Systems. Das
wurde bereits in der pädagogischen Theoriebildung deutlich. Als Beispiel sei an die
Auffassung Montessoris erinnert, bei der der Entwicklungsaspekt im Mittelpunkt steht,
der die Forderung eines Schonraums für die Entwicklung des Kindes, die Bedeutung
des Materials und das Zurückziehen des Erziehers zur Folge hat. Damit wird gleichzei-
tig u.a. die ständige Präsenz des Erziehers und sein starker Einfluß auf die Entwicklung
des Kindes ausgeschlossen. Demgegenüber wird gerade bei Roth der Einfluß des Erzie-
hers auf die Entwicklung des Kindes hervorgehoben. Die Eigenkomplexität dieser An-
sätze verweist auf Kontingenz und die damit verbundene Selektion, aus der das System
Erziehung Sinn-einheiten entwickeln kann.
Durch die Differenzierungen bzw. Ausdifferenzierungen innerhalb des Systems Erzie-
hung kommen funktionale Äquivalenten und Alternativen zum Ausdruck (vgl. Luh-
mann 1987, S.84f. und Willke 1987, S.5). Danach können verschiedenartige Strukturen
und Prozesse des Systems die gleiche Funktion erfüllen bzw. man kann zwischen ver-
schiedenen Möglichkeiten wählen. Die funktionalen Äquivalenten bilden somit das
„Gegenstück zum Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und System“ (Luhmann ebd.,
266 „Der Kontingenzbegriff unterstellt eine historisch-gesellschaftliche Entwicklung, die einer einheitlichen, einzigrichtigen, so und
nicht anders möglichen Beobachtbarkeit der Welt oder der Realität (dessen, was ist) den Boden entzogen hat. Er ist folglich ein
Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung. Als solcher bezeichnet er die Einheit der Differenz von Bestimmtheit und Unbestimmt-
heit“ (Krause 1996, S.123).
172
S.242). Mit dem Bewußtsein von Kontingenz in Hinblick auf Erziehung ergibt sich die
Forderung nach Vielgestaltigkeit und damit funktionalen Äquivalenten innerhalb des
Systems Erziehung, insbesondere der organisierten und institutionalisierten Erziehung.
Damit wird nicht einem willkürlichen, aber einem vielfältigen Angebot an Methoden
und Formen von Erziehung und Schule Vorschub geleistet. Die einzelnen Teilysteme
(zum Beispiel Schultypen) müssen aber dann ihre Eigenkomplexität durch klare Profile
sichtbar und überschaubar machen, damit Komplexität nicht unbestimmt bleibt und
Kontingenz faßbar wird. Dies geschieht, indem Ziele möglichst klar definiert werden
und die Vielgestaltigkeit zum Beispiel eines Schultyps deutlich wird, so daß ein Beob-
achter Wahlmöglichkeiten (innerhalb eines Systems oder zwischen verschiedenen Sys-
temen) erkennen und einschätzen kann. Natürlich kann Kontingenz nie vollständig
transparent gemacht werden; dies widerspricht der Komplexität von Sinn. Jedoch kann
Komplexität durch Sinn strukturiert oder organisiert werden267. Das gilt nicht nur für
Schulen als System, sondern auch für einzelne Erziehungssituationen.
Auch das Verhalten personaler Systeme ist kontingent, zum Beispiel das von Erzieher
und Kind im Erziehungsprozeß. Dabei liegt im sozialen System Erziehung doppelte
Kontingenz vor268, was ebenfalls die Komplexität von Erziehung erhöht. Für die damit
verbundene grundsätzliche Nicht-Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens muß inner-
halb des Systems Orientierungssicherheit geschaffen werden, die durch Selektion er-
folgt. Diese ergibt sich durch die bereits genannte Ordnung, die systemintern aufgestellt
wird und durch Verhaltens-, oder Kommunikationsregeln zum Ausdruck kommen kann.
Dabei handelt es sich jedoch erneut um die Reduktion von Komplexität durch Komple-
xität. Denn trotz Sicherungen bleibt Kontingenz erhalten, die sich aus der prinzipiellen
„Umweltoffenheit und Plastizität des Menschen“ ergibt (Spanhel 1995, S.57).
Kontingenz bezieht sich auf den Grad der Freiheit, den die am Erziehungsprozeß Betei-
ligten in ihren Operationen haben. Gerade aufgrund von Kontingenz können aber auch
Erwartungen enttäuscht werden, wenn gewünschtes Verhalten nicht eintritt. Die Konse-
267 „Demgegenüber ziehe ich - Jantsch und v.Weizsäcker, Riedl u.a. folgend - den Begriff einer ‘strukturierten’ bzw. ‘organisierten
Komplexität’ vor, der den evolutionären Erkenntnissen zunehmender Systemkomplexität bei den höher organisierten Systemen
(Menschen) besser gerecht wird und auch für die praxisrelevante pädagogische Systemforschung eher handhabbar ist“ (Huschke-
Rhein 1998, S.205). Vgl. auch Luhmann 1997, S.137.268 „Jede soziale Interaktion involviert mindestens zwei Partner, nennen wir sie Alter und Ego, die beide sich kontingent verhalten,
das heißt: die beide über verschiedene Verhaltensmöglichkeiten verfügen und dies voneinander wissen (...). Daß sowohl Alter als
auch Ego dieses einfachen Modells in diesem Sinne kontingent handeln und dies voneinander wissen und sogar wissen, daß sie es
voneinander wissen - dies nennt man im soziologischen Fachjargon ‘doppelte Kontingenz’“ (Luhmann in Kiss 19902, S.10).
173
quenz für Erziehung ist hierbei folgende: Zum einen darf Kontingenz nicht soweit ein-
geschränkt werden, daß das Kind in seinem operativen Verhalten kaum mehr Freiheit
zugebilligt wird. Zum anderen kann Erziehung nicht vollständig beliebig oder willkür-
lich gestaltet sein, weil hierbei die Gefahr besteht, daß vom Erzieher intendierte Opera-
tionen des Kindes kaum mehr eintreten. Die Entwicklung des Kindes ist die Richt-
schnur für Kontingenz im Erziehungsprozeß. So wird der Erzieher beispielsweise einem
dreijährigen Kind nicht erlauben, eine Straße alleine zu überqueren; er wird es wohl an
die Hand nehmen. Hierbei wird die Freiheit des Kindes gemäß seinem Entwicklungs-
stand eingeschränkt. Auch die Freizeitgestaltung eines schulpflichtigen Kindes kann
eingeschränkt werden, wenn es den schulischen Verpflichtungen nicht nachkommt. Re-
gelungen, Methoden, Vorschriften oder Verbote müssen im Verhältnis stehen zu dem
aus systemtheoretischer Sicht kontingenten Verhalten des in Entwicklung befindlichen
Kindes. Für die erzieherische Praxis bedeutet das auch, daß in Schule und Familie der
Tagesablauf des Kindes nicht „verplant“ werden sollte.
5.1.4 Selektion und Risiko
Selektion ergibt sich durch die Auswahl, die Systeme durch die Einheit der Sys-
tem/Umwelt-Differenz haben269. Sie können (mehr oder weniger) selbst bestimmen,
welche Einheiten in das System Erziehung aufgenommen und welche Beziehungen zu
anderen Systemen hergestellt werden. Betrachtet man als Beispiel das zunehmende Be-
dürfnis deutscher Universitäten, ihre Studenten selbst aussuchen zu können, dann wird
nur das bestätigt, was sich durch die autopoietische Organisation und Struktur von Sys-
temen zwangsläufig ergibt. Wenn ein soziales System seine Eigenkomplexität aufbauen
muß, dann ist es natürlich leichter, wenn es die dafür notwendigen Differenzierungen
und die sich daraus ergebenen Teile oder Elemente, die in das System integriert werden,
selbst festlegen kann und nicht von der Umwelt bzw. anderen sozialen Systemen vorge-
schrieben bekommt. Die Umwelt stellt hierbei Kontingenzen zur Verfügung, sei es in
Hinblick auf personale Systeme oder Sinnfindungskriterien u.a. (vgl. den Abschnitt
269 „Die darwinistische Theorie hatte hierfür eine einfache Antwort parat: Die Variation erfolge im System, die Selektion als ‘natural
selection’ dagegen durch die Umwelt. Diese einfache Entgegensetzung wird jedoch heute kaum noch vertreten (...). Wenn man die
Theorie operativ geschlossener, strukturdeterminierter Systeme akzeptiert, muß man davon ausgehen, daß Systeme ihre Strukturen
nur mit den eigenen Operationen ändern können, wie immer diese in der Form von Störung, Irritation, Enttäuschung, Mangel etc.
auf Umweltgeschehnisse reagieren. Wir müssen also die Gesellschaft selbst auf ihre Selektionsmechanismen hin untersuchen“
(Luhmann 1997, S.477-478).
174
über Sinn). Das System kann dann, aufgrund seiner bestehenden Struktur und seinem
Sinn entsprechend selektieren. Eine andere Frage ist natürlich, ob Beobachter bzw. an-
dere soziale Systeme dies gut heißen. Die Schule als System kann die Schüler nicht
selbst auswählen, so wie sich auch der Lehrer seine Schüler nicht aussuchen kann, wäh-
rend in der Oberstufe der Schüler schon eher die Möglichkeit der Wahl des Lehrers über
die Wahl der Fächer hat. Dafür kann der Lehrer in Hinblick auf Inhalte, Didaktik etc.
wesentlich mehr selektieren als der Schüler.
Als Auswahlmöglichkeit und in Bezug auf Entscheidungen liegt Selektion jeder opera-
tiven Tätigkeit zugrunde, sie bestimmt das konkrete Operieren des personalen Sys-
tems270. Jede erzieherische Handlung erfolgt aufgrund von Selektion, so wie auch jeder
Entwicklungsprozeß mit Selektion verbunden ist. So erfolgt die erzieherische Handlung
unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes des Kindes, der eigenen operativen
Möglichkeiten und Fähigkeiten, den Bedingungen innerhalb einer Erziehungssituation
etc. Es wird hier aufgrund von Kontingenz immer selektiert. Auch konkrete Operatio-
nen des personalen Systems ergeben sich durch die derzeitigen Möglichkeiten und Fä-
higkeiten der Bewußtseinsstruktur, der zur Verfügung stehenden Umweltgegebenheiten
etc., so daß Entwicklung gerade auch aufgrund von Selektion erfolgt. Eine andere Frage
ist hier, inwieweit diese Selektion bewußt oder unbewußt abläuft, was schließlich von
der Reflexionsfähigkeit personaler und sozialer Systeme abhängt.
Wenn nun Verhalten, erzieherische Handlungen oder der Aufbau einer Erziehungssitu-
ation durch Selektion erfolgen, dann beruht Erziehung auf der Beeinflussung von Se-
lektion bzw. sie beruht auf Vorgaben (die sich durch die Einheit der System/Umwelt-
Differenz ergeben) von Selektionskriterien. Es geht in der Erziehung darum, welche
pädagogischen Selektionskriterien festgelegt werden, um Kontingenz zu nutzen. Die
Kontingenz für Erziehung setzt sich durch die gesellschaftlichen Anforderungen an Er-
ziehung, durch politische Vorgaben für das System Erziehung bzw. für das Erziehungs-
system, aber auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Bereichen der Pädago-
gik und Psychologie u.a. zusammen. So lassen sich bereits in der pädagogischen Theo-
riebildung verschiedene Schwerpunkte erkennen. Bei Bruner bildet zum Beispiel die
270 Selektion ist „stets die Folge der operationalen Auseinandersetzungen eines zusammengesetzten Systems in dem Medium, in dem
es als einfache Einheit vermittels der Eigenschaften seiner Bestandteile interagiert. Der Prozeß der Selektion in lebenden Systemen
besteht daher in der differentiellen Wirksamkeit des konkreten Operierens der unterschiedlichen Strukturen verschiedener Organis-
men derselben Art, die nebeneinander existieren, oder auch derselben Organismen in verschiedenen Phasen seiner individuellen
Geschichte“ (Maturana 19852, S.248-249).
175
zugrundeliegende Struktur von Inhalten ein wesentliches Selektionskriterium für Ler-
nen, während bei Ballauff die Sache selbst maßgebend ist für Bildung. Wieviele Selek-
tionskriterien, ob bewußt oder unbewußt, an der Gestaltung einer Erziehungssituation
schließlich beteiligt sind, läßt sich kaum beschreiben.
Mit Entscheidungen bzw. Selektionen, welcher Art auch immer, sind Risiken verbun-
den (zum Begriff des Risikos siehe ausführlich Luhmann 19932, S. 131ff.), die zu
Problemen führen können und zwar zwischen denjenigen, die eine Entscheidung ge-
troffen haben und den Betroffenen. Was für einen Entscheider ein Risiko darstellt, kann
für den Betroffenen sogar zur Gefahr werden (vgl. Luhmann 1997, S. 534). Genau das
sollte in der Erziehung nicht passieren, weil es hier um die Entwicklung des Kindes
geht, die nicht in Gefahr geraten darf. Und dennoch hat zum Beispiel das System Schule
gerade die gesellschaftliche Funktion der Selektion. Damit ist auf Seiten des Schülers
das Risiko verbunden, inwieweit er es schafft, den Selektionskriterien zu genügen, z.B.
bei einem Schulwechsel. Und auch die vom Erzieher getroffenen Entscheidungen sind
insofern risikobehaftet, als sich erst in der Zukunft zeigt, ob und inwieweit seine Ent-
scheidungen der Entwicklung des Kindes förderlich sind. Aber ohne das Treffen von
Entscheidungen, also ohne Selektion und die damit verbundene Reduzierung von Kom-
plexität, ist eine Entwicklungsförderung nicht möglich. Erziehung kann den Zusam-
menhang zur Entwicklung gerade nur durch Selektion herstellen.
Da Erziehung komplex und mit Selektion verbunden ist, beinhaltet sie immer ein Risiko
und zwar gerade auch in Bezug auf die Entwicklung des Kindes. Der Entwicklungsver-
lauf kann nie von vornherein festgelegt werden. Alle bisher genannten Systembezie-
hungen wirken hier zusammen, wie der Umweltbezug, die Komplexität von Erziehung
und die damit verbundenen Kontingenzen, die vorgegebenen und auch die von dem sich
entwickelnden personalen System selbst durchgeführten Selektionen. Entwicklung ist
auf der einen Seite mit einem Risiko verbunden, wenn man von einem Entwicklungsziel
ausgeht, das unbedingt erreicht werden soll. Auf der anderen Seite können gerade durch
das System Erziehung Risiken im Entwicklungsprozeß reduziert werden, indem sich die
Erziehung der Entwicklung des Kindes anpaßt. So sollte ein Kind nicht überfordert
werden, indem ihm zu früh Verhaltensweisen zugemutet werden, denen es physisch
oder psychisch nicht gewachsen ist, wenn es beispielsweise abends allein zu Hause
bleiben oder auf jüngere Geschwister aufpassen muß. Hierdurch können Ängste beim
Kind hervorgerufen werden, die sich auch auf andere Verhaltensweisen, denen es ei-
176
gentlich sehr wohl gewachsen ist, übertragen und zu Entwicklungsstörungen führen.
Erziehung steuert den Entwicklungsprozeß, Erziehung schafft Selektionskriterien und
hilft die Komplexität des System-Umwelt-Bezugs entwicklungsgemäß zu reduzieren.
Erziehung ist aufgrund ihres Zusammenhangs mit der Entwicklung des Kindes das sozi-
ale System, das Sicherheit für die notwendige soziale Integration schaffen kann.
5.1.5 Selbstreferenz
Die personalen Systeme Kind und Erzieher gehören, da es sich um Einheiten handelt,
für das jeweils andere System zur Umwelt. Die Komplexität, die diese Systeme zur
Verfügung stellen, ist für das jeweils aufnehmende personale System genauso wie für
das System Erziehung nicht vollständig erfaßbar (vgl. Luhmann 1987, S.291). Das
kommt auch daher, daß die personalen Systeme noch mit anderen Systemen in Bezie-
hung stehen (wie peer-group, Familienmitglieder etc.), die an dem Erziehungsprozeß
nicht selbst beteiligt sind, deren Eigenkomplexität ebenfalls nicht vollständig bestimm-
bar ist, wodurch jedoch die Eigenkomplexität des an der Erziehung beteiligten perso-
nalen Systems aufgrund möglicher Relationen mit anderen personalen oder sozialen
Systemen erhöht wird. So bleibt den am Erziehungsprozeß beteiligten personalen Sys-
temen nichts anderes übrig, als die ihnen dargebotene Komplexität ihrer je eigenen
Umwelt im Erziehungsprozeß selbst zu reduzieren, wofür das System Erziehung durch
seine eigene Ordnung Regeln schafft. Reduktion von Komplexität ist mit einem Infor-
mationsdefizit verbunden271. Die personalen Systeme bringen in den Erziehungsprozeß
reduzierte Komplexität mit ein, wodurch die Komplexität des Systems Erziehung in
einem gewissen Sinne zugleich erhöht und auch reduziert wird. Die Komplexität des
Systems Erziehung erhöht sich durch die an ihr beteiligten komplexen personalen Sys-
teme; sie reduziert sich aber auch zugleich dadurch, daß nicht die Welt- oder Umwelt-
komplexität des Systems Erziehung vollständig in das System einfließt, sondern „nur“
die Eigenkomplexität der Teilsysteme des Systems Erziehung ihre Komplexität aus-
macht.
271 „Komplexität in diesem zweiten Sinne ist dann ein Maß für Unbestimmbarkeit oder für Mangel an Information. Komplexität ist,
so gesehen, die Information, die dem System fehlt, um seine Umwelt (Umweltkomplexität) bzw. sich selbst (Systemkomplexität)
vollständig erfassen und beschreiben zu können“ (Luhmann 1987, S.50-51).
177
Komplexität wird durch Selbstreferenz272 reduziert. Für die Erziehungssituation zum
Beispiel bedeutet dies, daß die personalen Systeme über sich selbst, über das je andere
personale System und über den Erziehungsprozeß reflektieren und dann selektieren
müssen, wenn der Erziehungsprozeß eine Eigenkomplexität haben soll, womit auch die
Herausbildung einer Identität des Erziehungsprozesses einhergeht273. Da in der Erzie-
hung eine Asymmetrie der personalen Systeme vorliegt, ergibt sich hier die Frage, in
welchem Umfang eine Reflexion der beteiligten personalen Systeme einen Erzie-
hungsprozeß tatsächlich als Einheit hervorbringen kann, also ob von allen Beteiligten
eine gemeinsame Sinnorientierung im Erziehungsprozeß geschaffen wird. Im Allgemei-
nen verfügt der Erzieher wohl über eine erhöhte Kompetenz und mehr Möglichkeiten
bei der Sinnorientierung. Bei Montessori zum Beispiel erhält die Selbstreferenz perso-
naler Systeme einen größeren Spielraum als bei Bruner. Wenn man davon ausgeht, daß
in der Familie die Erziehungssituation weniger „reglementiert“ ist als in der Schule
(was nicht immer die Regel ist), dann wird hier die selbstreferentielle und reflexive Be-
teiligung beim Entstehen und im Verlauf einer Erziehungssituation auf die personalen
Systeme gleichwertig verteilt sein. Die Identität eines Erziehungsprozesses hängt letzt-
lich von der aktuellen Gestaltung des System Erziehung ab.
Reduzierte Komplexität, darauf ist ausdrücklich hinzuweisen, verweist nicht nur auf
Einschränkungen oder reglementiertes Handeln, sondern es werden gerade durch den
Aufbau der Eigenkomplexität auch „neue Spielräume und Handlungsmöglichkeiten“
(Spanhel 1995, S.58) eröffnet. So geht es ja gerade im System Erziehung darum, Situa-
tionen zu schaffen, in denen die Entwicklung des Kindes berücksichtigt wird und wo
das Kind seinem Entwicklungsstand gemäß operieren kann.
272 „Selbstreferenz ist allgemein die unterscheidende und Unterschiedenes bezeichnende (...) Bezugnahme eines Selbst auf sich
selbst (...). Selbstreferenz ist basale Selbstreferenz, wenn sich Elemente (...) durch Bezugnahme auf sich selbst ermöglichen (...), sie
ist Reflexivität, wenn relationierte Elemente auf sich selbst (relationierte Ereignisse auf relationierte Ereignisse) bezogen werden
(...), sie ist Reflexion (...), wenn ein System als ein abgrenzbarer sich selbst ermöglichender Zusammenhang von Elementen (Ereig-
nissen) sich auf sich selbst als System bezieht“ (Krause 1996, S.152-153).273 Vgl. hierzu in Bezug auf die Identität von Schulen Spanhel 1995, S.59: „Das Bewußtsein von dieser Fähigkeit zur Reflexion
ermöglicht diesen Systemen das Aufstellen und Verfolgen eigener Ziele und damit die sinnhafte Orientierung des Handeln. Auf der
Grundlage dieser Prozesse bilden Schulen als symbolische Sinn- oder Verweisungszusammenhänge eine je eigene Identität aus (...)
Der Aufbau und die Erhaltung einer eigenen Identität jeder Schule in den Prozessen der Selbstreferenz und Selbstthematisierung ist
die zweite Sicherung, die das Maß an selbsterzeugter Komplexität im sozialen System reduzieren und ein gemeinsames, aufeinander
abgestimmtes Handeln von Lehrern und Schülern garantieren soll“.
178
5.1.6 Komplexität von Entwicklung
Der Aufbau der Eigenkomplexität von Erziehung dient der Berücksichtigung der Kom-
plexität von Entwicklung. Steht die Entwicklung des Kindes im Mittelpunkt von Erzie-
hung, heißt das, daß sich die Komplexität von Entwicklung hier entfalten kann und soll,
damit sie für die Erziehung faßbar wird. Das heißt, in der Erziehung müssen Situationen
geschaffen werden, in denen der Entwicklungsstand des Kindes überhaupt erst einmal
sichtbar wird. Das Kind muß sozusagen die Möglichkeit haben, seine Entwicklung dar-
zustellen, denn nur dann kann Erziehung entwicklungsgemäß reagieren.
Jede Entwicklung eines Systems als Prozeß ist selbst durch Komplexität gekennzeichnet
und hieraus ergibt sich, wie bei der Erziehung, die damit verbundene Kontingenz, Re-
duktion, Selektion und das Risiko. Zunächst sind die für das System Erziehung unter-
schiedlichen Aspekte von Entwicklung zu nennen, die auch die Komplexität von Erzie-
hung ausmachen. In der Erziehung werden folgende Entwicklungen bedeutsam: a) die
Entwicklung des Kindes, a1) die Entwicklung insgesamt, d.h. bis ins Erwachsenenalter,
a2) die Entwicklung innerhalb einer Erziehungssituation, b) die Entwicklung des Erzie-
hers, b1) seine Entwicklung insgesamt und b2) seine Entwicklung innerhalb einer Erzie-
hungssituation, c) die Entwicklung der Erziehung, c1) die Entwicklung insgesamt um-
faßt alle Erziehungssituationen und c2) die Entwicklung einer Erziehungssituation. Es
ist also zu unterscheiden zwischen der Entwicklung personaler Systeme und sozialer
Systeme, wobei die Entwicklung einer Erziehungssituation dann ein Teil der Entwick-
lung des sozialen Systems Erziehung ist. In der Erziehung geht es um die Entwicklung
des Kindes, aber aus systemtheoretischer Sicht ist die Vielfältigkeit von unterschiedli-
chen Entwicklungen zu berücksichtigen, die die Erziehung begleiten. Auf die sich daran
anschließende Frage nach der Zielgerichtetheit von Entwicklung wird genauer Bezug
genommen, wenn es um den Sinn von Erziehung und Entwicklung geht.
Nun bedeutet in der Entwicklung Komplexität nicht Wachstum in dem Sinne, daß im-
mer mehr dazukommt. Vielmehr umfaßt Komplexität auf einer höheren Entwicklungs-
stufe die Zunahme der Selektivität und damit Zunahme der Nichtbeliebigkeit von
Strukturen (darauf wird in Kap.5.2 noch hingewiesen, wenn es um die Struktur von
Systemen geht, vgl. auch Kiss 19902, S.12. Dann wird auch die Bedeutung von Ent-
wicklungsstufen in den Mittelpunkt gerückt). Es werden also nicht nur Strukturen im
Entwicklungsverlauf angehäuft (zum Beispiel in der kognitiven Entwicklung), sondern
bestehende Strukturen werden in neue integriert oder die Integration neuer Strukturen
179
führt zu einer Verbindung bereits bestehender. Dabei ist die Entwicklung von Struktu-
ren mit Auswahl verbunden. Durch eine zunehmende Komplexität von Strukturen ver-
ändert sich schließlich das Verhältnis zwischen personalem System und Umwelt. Die
Entwicklung des Kindes ist gekennzeichnet durch zunehmende Komplexität, die zu
einer entsprechend komplexen Einheit der System/Umwelt-Differenz wird. Je weiter
das Kind in seiner Entwicklung voranschreitet, desto eher kann es mit den Anforderun-
gen seiner Umwelt, gerade auch außerhalb des Systems Erziehung, zurechtkommen.
5.1.7 Zeitliche Komplexität
Entwicklung und Erziehung sind immer verbunden mit Zeit274. An die Irreversibilität
von Zeit müssen sich Systeme anpassen. Die Eigenkomplexität muß sozusagen „tempo-
ralisiert“ werden (vgl. Luhmann 1987, S.77). Im System Erziehung sind verschiedene
Zeitverhältnisse von Bedeutung, die sich unter anderem aus den eben genannten Ent-
wicklungsaspekten ergeben. Eine Erziehungssituation oder ein spezieller Ent-
wicklungsprozeß findet in der Gegenwart statt. Wie diese Prozesse aber im einzelnen
ablaufen, hängt nicht nur von den in der Vergangenheit bereits stattgefundenen Prozes-
sen ab, sondern sie sind zugleich für die Zukunft bedeutsam. Während in der Erziehung
in der Gegenwart und aus der Sicht des Erziehers für die Zukunft operiert wird, erfolgt
ein Entwicklungsprozeß, sei es nun ein kognitiver im personalen System oder der einer
Erziehungssituation, aufgrund systeminterner Strukturveränderung ohne Rücksicht auf
die Zukunft. Die Zukunft kann bei der Reflexion über eine Situation oder bei der Selbst-
referenz bedeutsam werden und auch zur Auslösung neuer Prozesse beitragen. Ent-
wicklungs- und der Erziehungsprozesse können aber nur gegenwärtig ablaufen. Die am
Erziehungsprozeß beteiligten personalen Systeme können dann mehr oder weniger
gleichzeitig operieren, denn das Operieren ist immer an Gegenwart gebunden und dies,
obwohl ihre Operationen nicht gleichartig sind (vgl. Luhmann 1997, S.115). Erziehung
in Hinblick auf Zukunft (z.B. aufgrund von vorgegebenen oder wünschbaren Erzie-
hungszielen) steht gegenwärtig ablaufenden Entwicklungs- und Erziehungsprozessen
gegenüber. Um hier einen Zusammenhang herstellen zu können, muß selektiert werden.
Und das bedeutet nichts anderes, als daß die Komplexität von Erziehung reduziert wer-
274 „Wir lassen offen, was Zeit ‘ist’, weil man bezweifeln kann, ob irgendein Begriff von Zeit, der über das bloße Faktum des Si-
chänderns hinausgreift, ohne Systemreferenz festgelegt werden kann. Andererseits wird uns ein bloß chronologischer Zeitbegriff im
Sinne eines Maßes von Bewegung im Hinblick auf ein Früher und ein Später nicht genügen, weil er die Probleme, die Systeme in
der Zeit und mit der Zeit haben, nicht ausreichend rekonstruieren kann“ (Luhmann 1987, S.70).
180
den muß in Abhängigkeit der Entwicklung (des Kindes). Die Zukunft muß auf die Ge-
genwart bezogen und gleichzeitig muß auf die Vergangenheit Rücksicht genommen
werden. Diese zeitliche Komplexität erhöht somit die Eigenkomplexität von Erziehung.
Der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung muß die gleichzeitige Berück-
sichtigung der drei Zeitebenen erfassen. So muß beispielsweise in der schulischen Er-
ziehung, die vergangene familiäre Erziehung berücksichtigt werden. Diese ist in ein
Verhältnis zu bringen mit der gegenwärtig von der Schule intendierten Erziehung. Und
gleichzeitig muß die schulische Erziehung Zukunftsaussichten eröffnen, die auch reali-
siert werden können (vgl. hierzu die pädagogische Bedeutung des Lebenslaufs bei W.
Loch 1979, zu den Zukunftsaussichten insbesondere S. 43ff.).
5.1.8 Operative Komplexität
Die Kontingenz von Verhalten bzw. Handeln der an der Erziehung beteiligten persona-
len Systeme führt schließlich zur operativen und einer damit verbundenen kognitiven
Komplexität275, die die Eigenkomplexität des Systems Erziehung mitbestimmt (vgl.
Willke 19872, S.68ff.). Nun gilt aber in Hinblick auf den Zusammenhang von Entwick-
lung und Erziehung, daß in der Erziehung aufgrund der Asymmetrie der an der Erzie-
hung beteiligten personalen Systeme unterschiedliche operative und kognitive Komple-
xitätsniveaus vorliegen, die gerade den Sinn von Erziehung ausmachen. Die operative
und damit verbundene kognitive Komplexität des Erziehers ist eine Voraussetzung für
Erziehung, die gleichzeitig im Umgang mit dem zu erziehenden Kind reduziert werden
muß, wenn sich der Erzieher dem kognitiven Komplexitätsniveau des Kindes anpaßt.
Diese Anpassung bzw. Komplexitätsreduzierung muß so erfolgen, daß dadurch gleich-
zeitig die operative Tätigkeit des Kindes angeregt wird in dem Sinn, daß Entwicklung
stattfinden kann. Reduktion der operativen Komplexität auf Seiten des Erziehers ist
Voraussetzung für den Aufbau operativer Komplexität beim Kind. Dieses Faktum ist in
keinem anderen sozialen System durchgängig gegeben, es ist wesentliches Kennzeichen
des Systems Erziehung. Als Beispiel sei an Piagets kognitive Stufentheorie erinnert:
Danach operiert der Erzieher als erwachsene Person auf der formalen Stufe. Was ge-
schieht aber, wenn der Erzieher mit einem Kind interagiert, das sich auf der anschauli-
275 „Kognitive Komplexität wird hier vor allem im Sinne einer differenzierten Wahrnehmung, differenzierten Beurteilung und relativ
autonomen Behandlung von Informationen verwendet“ (Willke 19872, S.84). Willke trennt die operative von der kognitiven Kom-
plexität, was nach Piaget nicht notwendig ist, ist die eine doch nicht ohne die andere möglich.
181
chen Stufe der kognitiven Entwicklung befindet? Als konkretes Beispiel kann die Zu-
ordnung von Spielmarken dienen (vgl. zusammenfassend Buggle 1985, S.76): Ein Kind
von ungefähr 5-6 Jahren kann einer Reihe roter Spielmarken eine Reihe grüner Spiel-
marken so zuordnen, daß schließlich die gleiche Anzahl roter und grüner Spielmarken
vor ihm liegt. Schiebt nun der Erzieher die roten Spielmarken zu einem Haufen zusam-
men und fragt das Kind, ob immer noch die gleiche Anzahl roter und grüner Spielmar-
ken auf dem Tisch liegt, verneint das Kind die Frage, weil die Anschauung ihm zeigt,
daß der Haufen weniger Platz beansprucht als die gelegten Marken. Der Erzieher kann
nun nicht, was für das formale Operieren selbstverständlich ist, argumentieren, daß er
keine Marken hinzugefügt oder weggenommen hätte. Da die optische Veränderung die
Kognition des Kindes auf der anschaulichen Stufe prägt, muß auch der Erzieher sich der
Anschauung bedienen, indem er in diesem Beispiel den Haufen wieder auseinanderzieht
und so zeigt, daß sich nichts verändert hat. Vom Erzieher wird hier erwartet, daß er sich
gerade aufgrund seiner formalen Operationen den anschaulichen des Kindes anpaßt und
gleichzeitig auf diesem Niveau entwicklungsfördernde Operationen vollzieht. Die Re-
duktion operativer Komplexität seitens des Erziehers wird notwendig, wenn das Kind
den Erwachsenen verstehen soll. Das bedeutet aber nicht, daß z.B. im sprachlichen Be-
reich Eltern sich durch „Babysprache“ ihren Kindern anpassen, denn ein gleiches Ni-
veau führt zur Bestätigung, aber wohl nicht zu einer Veränderung von Operationen.
5.1.9 Der komplexe Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung
Bei lebenden, sozialen, kognitiven, biologischen oder anderen Systemen handelt es sich
immer um komplexe Systeme aufgrund ihrer Teilsysteme und Elemente und den damit
verbundenen Relationsmöglichkeiten. Sie ist mit der Umweltkomplexität des jeweils in
Frage stehenden Systems verbunden, sie führt aufgrund der Kontingenz zum Selekti-
onszwang und damit zur Reduktion und sie beinhaltet stets ein Risiko.
Auch der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung stellt sich als komplexes
Geschehen dar. Gegenüber der Umweltkomplexität ist das System Erziehung reduziert.
Seine Eigenkomplexität bestimmt dann die Erziehungs- und Entwicklungsprozesse, die
innerhalb des Systems ablaufen und die ihrerseits die Komplexität des Systems Erzie-
hung erhöhen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird es nun darum gehen, sukzessiv
die Komplexität und die damit verbundene Kontingenz, die Selektion und das damit
stets einhergehende Risiko von Erziehung so zu fassen, daß Erziehung ablaufen kann
182
wie intendiert, nämlich so, daß sie einen die Entwicklung des Kindes fördernden
Einfluß hat. Gemäß den Aspekten von Entwicklung bedeutet dies, daß Erziehungspro-
zesse, die in der Erziehungssituation entwickelt werden, mit den Entwicklungsprozes-
sen des Kindes, die ebenfalls in der Erziehungssituation erfolgen und mit der Entwick-
lung des Kindes insgesamt äquilibriert sein müssen.
Bisher wurde deutlich, daß Entwicklungs- und Erziehungsprozesse komplex sind. Sie
verfügen über vielfältige systeminterne und systemübergreifende Relationen, die zu
einer Reduktion und einer damit verbundenen Ordnung zwingen, weil sie gar nicht alle
ausgeführt werden können, was nicht zuletzt auch mit der zur Verfügung stehenden Zeit
zusammenhängt. In der Erziehung geht es nun um die Koordination von Relationsmög-
lichkeiten. Komplexe Erziehungsprozesse müssen so gestaltet und damit reduziert wer-
den, daß sie mit vorhandenen Entwicklungsprozessen in Relation treten können. Sie
müssen gleichzeitig so gestaltet sein, daß ein Entwicklung des Kindes möglich wird.
Komplexität allein sagt noch nichts über die Qualität von Erziehung und Entwicklung
aus. Nur daß Erziehung auch mißlingen kann, ist durch das mit der Komplexität ver-
bundenen Risiko sicher. Je enger aber der Zusammenhang zwischen Erziehung und
Entwicklung ist, desto eher verringert sich das Risiko des Mißlingens. Ziel von Erzie-
hung muß daher sein, den Zusammenhang zwischen Erziehung und Entwicklung mög-
lichst eng zu halten. Das heißt, in der konkreten Erziehungssituation muß die Komple-
xität von Erziehung äquilibrieren mit der Komplexität von Entwicklung. Dies ist nur
durch Reduktion von Komplexität möglich, was die Erziehung in der Praxis erleichtert.
Der Erzieher muß nicht die Komplexität von Erziehung in einer einzelnen Situation
vollständig beachten. Durch die Auswahl von Inhalten, den gegenwärtigen Entwick-
lungsstand des Kindes (oder der Kinder), der aktuellen sachlichen, sozialen aber auch
emotionalen Gegebenheiten in der Situation erfolgt Erziehung „reduziert“ in der Ge-
genwart.
Das spezifische am System Erziehung bleibt aber nach wie vor die durch Asymmetrie
gekennzeichnete Relation der personalen Systeme. Aus systemtheoretischer Sicht sind
Erzieher und Kind gleichwertige Einheiten innerhalb des Systems. In der Praxis er-
scheint dies zunächst anders. Im Vergleich zu anderen sozialen Systemen wird die Er-
ziehung vom Erzieher gesteuert (zum Begriff der Steuerung vgl. ausführlich Kap.5.9),
das heißt, er übernimmt, gerade aufgrund des asymmetrischen Verhältnisses, die Füh-
rung, indem er Erziehungssituationen initiiert und wesentlich durch inhaltliche bzw.
183
didaktische Vorgaben gestaltet. Der Erzieher leistet dies, weil er sich gegenüber dem
Sinn von Erziehung (oder speziellen Erziehungszielen) verpflichtet hat. Er muß für die
Entwicklung des Kindes die Komplexität von Erziehungsprozessen reduzieren, er muß
selektieren und gleichzeitig Kontingenzen bereithalten, damit die Freiheit des Kindes
nicht eingeschränkt wird. Er ist in einem umfassenderen Maße als das Kind Beobachter
von Erziehung, weil er systemübergreifende Relationen mit berücksichtigt. Und doch ist
der Erzieher und damit auch die Erziehung abhängig und gleichzeitig gerichtet auf die
Komplexität des Kindes als personales System. Die Komplexität des Zusammenhangs
von Erziehung und Entwicklung zeigt schließlich aus systemtheoretischer Sicht und in
Hinblick auf die Stellung des Erziehers in der Erziehung, daß von einer zentralen Steue-
rungsinstanz, die durch den Erzieher repräsentiert wird, nicht gesprochen werden kann
(vgl. Kap.5.9)276. Dies wird erst ganz verständlich, wenn alle Systemmerkmale berück-
sichtigt und gleichzeitig gedacht werden.
276 Thiel drückt dies für soziale Systeme wie folgt aus: „Die klassische Vorstellung von Planung komplexer sozialer Systeme, wird
als Steuerungsmöglichkeit abgelehnt, da sie, wie die vielen Kritiker zurecht monieren, nicht nur der Komplexität und Nichtlinearität
von Entwicklungszusammenhängen, sondern auch dem Sachverhalt der Selbstorganisation, der Eigendynamik und Autonomie von
sozialen Systemen nicht gerecht wird“ (Thiel 1997, S.39).
184
5.2 Organisation und Struktur von Entwicklung und Erziehung
Die Begriffe Organisation und Struktur werden von Maturana aufgrund ihres etymolo-
gischen Ursprungs getrennt voneinander erklärt (vgl. Maturana 19852, S.240f. und
314f.) Danach bezieht sich die Organisation auf die Funktion der Bestandteile und die
Relationen zwischen den Bestandteilen, die eine zusammengesetzte Einheit und damit
ein System als eine Einheit überhaupt festlegen und es einer bestimmten Klasse zuord-
nen lassen. Es handelt sich dabei um einen grundlegenden kognitiven Akt, der vom Be-
obachter immer dann vollzogen wird, wenn er ein Objekt oder auch ein komplexes
System einer bestimmten Klasse zuordnet, indem er dessen Organisation anerkennt
(vgl. Maturana/Varela 19872, S.50). Wenn von Erziehung oder Entwicklung im Sinne
einer dynamischen Einheit gesprochen wird, dann erkennt man damit die spezifische
Organisation dieser Systeme an, unabhängig von den konkreten Bestandteilen und Re-
lationen, wie sie zum Beispiel in einer einzelnen Erziehungssituation oder in einem spe-
ziellen Entwicklungsprozeß vorliegen können. Die Struktur von Systemen bezeichnet
dann genau diese konkreten „Prozesse der Bildung einer zusammengesetzten Einheit
wie auch deren Bestandteile“ (Maturana 19852, S.241). Durch die Organisation wird das
System sozusagen zu dem, was es ist. Die Organisation ist konstitutiv für das Operieren
des Systems und die Prozesse, die im System (und zwischen Systemen) ablaufen.
Da in der vorliegenden Arbeit Erziehung als Prozeßgeschehen zwischen Erzieher und
Kind im Mittelpunkt steht, bleibt die Organisation des Erziehungssystems, wie sie zum
Beispiel in der Schule existiert, unberücksichtigt. Dies geschieht aus folgendem Grund:
Das System Erziehung ist Teil des Erziehungssystems als soziales System. Die Prozesse
innerhalb des Erziehungssystems im Sinne einer institutionalisierten Erziehung (wie
Lehrplanentwicklung, Schule als System, Lehrerausbildung im Referendariat oder die
Ausbildung von Erzieherinnen etc.) vollziehen sich genauso wie im Erziehungsprozeß.
Sie sind systemtheoretisch mit den Kennzeichen von Selbstreferentialität, autopoieti-
scher Organisation, Komplexität, strukturelle Koppelung etc. verbunden. Wenn das
Erziehungssystem aus systemtheoretischer Sicht als Einheit beschrieben wird, dann
bleibt das Kind Medium von Erziehung und wird als personales System der Umwelt des
Erziehungssystems zugerechnet (vgl. Luhmann 1995, S.204ff.). Das Interesse bei der
Frage nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung liegt aber gerade
darin, das Kind (und auch den Erzieher) als Teilsystem von Erziehung zu begreifen.
185
Man kann hier auch nach der Einteilung von Bronfenbrenner von einem Mikrosystem
(System Erziehung) sprechen, das im oder für das Zusammenspiel mit dem Mesosystem
(Erziehungssystem) und dem Exosystem (Umwelt) bedeutsam ist (vgl. Huschke-Rhein
19922, S.22ff.). Es geht in dieser Arbeit somit darum, die Systemtheorie in Hinblick auf
eine spezifisch pädagogische Einheit zu beziehen, die sich durch das asymmetrische
Verhältnis zwischen Erzieher und Kind ergibt.
5.2.1 Autopoietische Organisation und Selbstorganisation
Die Autopoiese beschreibt die Organisation des Menschen. Wie bereits gesagt (vgl.
Abschnitt 4.2), geht es bei der Autopoiese um die Erhaltung von Systemen, wobei die
Teile die gleiche Organisation aufweisen wie die Einheit. Der Mensch als autopoieti-
sches System ist Ergebnis seines eigenen Operierens; die Organisation bleibt invariant,
solange er lebt. Der Mensch ist deshalb autonom. Aus biologischer Sicht basiert die
Autopoiese auf der zellulären Reproduktion (vgl. Maturana/Varela 19872, S.74f.). Re-
produktion „aus eigenen Produkten“ (Luhmann 1997, S.833) und Erhaltung bilden da-
mit die Basis von biologischen Entwicklungsprozessen, die sich in spezifischen Struktu-
ren äußern.
Im Erziehungs- und im Entwicklungsprozeß sind die Menschen die Bestandteile, wenn
es um die Innenbetrachtung von sozialen Systemen geht. Nach Maturana müßte dann
auch für Entwicklung und Erziehung die autopoietische Organisation gelten. Betrachtet
man aber den kognitiven Entwicklungsprozeß des Kindes in Abhängigkeit von Erzie-
hung, dann geht es hier gerade nicht nur um die Erhaltung von einem Entwicklungs-
stand oder die Reproduktion eines kognitiven Zustandes (im Sinne einer dynamischen
Einheit) aus bereits bestehenden. Natürlich bilden biologische Funktionen und die damit
verbundene Erhaltung der autopoietischen Organisation die Voraussetzung. Jedoch geht
es in der Entwicklung gerade um die Fortführung, die Veränderung von Operationen im
sozialen Prozeß. Auch wenn die Autopoiese als Primat darin ihren Ausdruck findet, daß
alle Strukturen den Operationen nachgeordnet sind (vgl. Luhmann 1997, S.833), ist es
in Bezug auf Entwicklung und Erziehung sinnvoller von Selbstorganisation bzw.
selbstreferentieller Organisation zu sprechen. Indem die Entwicklung des Kindes über
die biologische Ebene hinausführt und auch die psychische oder kognitive und die sozi-
ale Ebene relevant sind, geht es in der Entwicklung weniger um die zur Reproduktion
des Systems erzeugten Elemente als um die selektive Relationierung von Elementen,
186
die dann spezifische Strukturen erzeugt. Der Begriff der „Selbstorganisation“ in Anleh-
nung an Luhmann drückt hier präziser die Veränderung von Systemen aus, „die mit der
Umsetzung von Umweltereignissen in Strukturen zu tun hat“ (Krause 1996, S.153).
Erziehung und Entwicklung sind selbstorganisierend, weil es sich hierbei um Systeme
oder dynamische Einheiten innerhalb sozialer Systeme handelt, die für ihren Fortbe-
stand nicht nur auf sich selbst, sondern gerade auch auf die Umwelt bzw. ihre je eigenen
Umwelten angewiesen sind277. Die Einheit der System/Umwelt-Differenz zeigt sich hier
erneut grundlegend für Systeme (vgl. Abschnitt 4.4.1). Der Mensch als autopoietisch
organisiertes Lebewesen ist somit Teil des selbstorganisierenden Systems Erziehung.
Die Entwicklung des Menschen kann nur in der selbstorganisierenden Einheit von Ent-
wicklungsprozessen stattfinden, an denen die unterschiedlichen Systemebenen, nämlich
die biologische, die psychische und die soziale Ebene, gleichermaßen beteiligt sind. Im
Entwicklungsprozeß wirken diese drei Ebenen zusammen, auch wenn sie schließlich ins
biologische System überführt werden, indem sie zu neuronaler Aktivität werden. So ist
der Ausgangspunkt von Entwicklung nicht ohne die Verbindung von System und Um-
welt möglich. Oder anders formuliert: Entwicklung ist nur in Abhängigkeit von Selbst-
und Fremdreferenz möglich. Sie erfolgt durch das „Oszillieren zwischen Fremdreferenz
und Selbstreferenz“ (Willke in Büeler 1994, S.212).
Die Organisation von Entwicklung und Erziehung ergibt sich somit durch die dynami-
sche und stets selektive Verknüpfung autonomer (autopoietischer) Systeme.
Maturana und Luhmann haben sich nur mit einer Klasse von Systemen beschäftigt. Sie
beschränken sich auf biologische bzw. soziale Systeme. Bei der Innenbetrachtung von
Erziehung und Entwicklung zeigt sich, daß sich diese Systeme gegenseitig bedingen, sie
können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Sie sind, und darauf kommen
wir noch ausführlich zurück, strukturell gekoppelt (vgl. Abschnitt 5.6). Die Komplexität
von Erziehung und Entwicklung wird gerade durch die Verknüpfung verschiedener
Systemtypen (dem biologischen, psychischen und sozialen System) mit ihrer je spezifi-
schen Struktur erhöht. Erziehung und Entwicklung haben zwar die gleiche Organisati-
277 Vgl. hierzu Luhmann 1997, S.841: „Der Ausgangspunkt für das weitere liegt in der Einsicht, daß kein einziges Funktionssystem
seine eigene Einheit als Organisation gewinnen kann. Oder anders gesagt: keine Organisation im Bereich eines Funktionssystems
kann alle Operationen des Funktionssystems an sich ziehen und als eigene durchführen. Erziehung gibt es immer auch außerhalb
von Schulen und Hochschulen. Medizinische Behandlung findet nicht nur in Krankenhäusern statt“.
187
on, weil die Teilsysteme die gleiche Organisation aufweisen, aber sie verfügen über
unterschiedliche Strukturen.
5.2.2 Die Struktur von Erziehung
Nun müssen die konkreten Bestandteile und die Relationen zwischen diesen Bestand-
teilen aufgezeigt werden, die die Struktur von Erziehung ausmachen. Wenn man sich
nach den Grundklassen von Systemen in Anlehnung an Jantsch richtet, dann gehört
Erziehung zu den strukturbewahrenden Systemen, während Entwicklung den evolvie-
renden Systemen zugerechnet werden kann (vgl. Büeler 1994, S.55), wie gleich näher
gezeigt wird. Beide Systeme sind gleichermaßen strukturdeterminiert. Das heißt, die
Systeme werden auch von ihrer Struktur her bestimmt. Die Bedeutung der Struktur von
Systemen erhält im Rahmen systemtheoretischer Ansätze eine den anderen System-
merkmalen gleichgeordnete Rolle und insbesondere Luhmann betont, daß die System-
theorie nicht strukturalistisch ist278.
Erziehung stellt sich als ein Phänomen dar, an dem mindestens zwei personale Systeme
teilhaben. Die personalen Systeme sind immer durch eine spezifische Form der Asym-
metrie gekennzeichnet. Dabei handelt es sich um das Kind und den älteren und mit
mehr Erfahrung ausgestatteten Erwachsenen oder Erzieher. Auf der Elementebene von
Erziehung als System ist dieses asymmetrische Verhältnis zwischen Kind und Erzieher
ein die Erziehung strukturierendes Merkmal. Aus systemtheoretischer Sicht ist die Pro-
zeßebene von Systemen von größerer Wichtigkeit. Denn hier geht es um die konkreten
Relationen zwischen den Elementen. Die Beziehung zwischen Kind und Erzieher er-
278 „Im Moment genügt es zu registrieren, daß der Strukturbegriff dadurch seine Zentralstellung verliert. Der Begriff bleibt unent-
behrlich. Kein Systemtheoretiker wird leugnen, daß komplexe Systeme Strukturen ausbilden und ohne Strukturen nicht existieren
können. Der Strukturbegriff ordnet sich nun aber ein in ein vielfältiges Arrangement verschiedener Begriffe, ohne Führungsqualität
zu beanspruchen. Er bezeichnet einen wichtigen Aspekt von Realität, vielleicht auch eine unentbehrliche Hilfe für den Beobachter -
aber eben nicht mehr dasjenige Moment, in dem Erkenntnis und Gegenstand in den Bedingungen ihrer Möglichkeiten zusammen-
fallen. Deshalb handelt es sich hier nicht um Strukturalismus“ (Luhmann 1987, S.382).
In Bezug auf Piagets strukturalistisch orientierte Theorie sei als Anmerkung hinzugefügt, daß für ihn der Strukturalismus eine
Methode zur Erklärung kognitiver Entwicklung ist und keine Doktrin. Außerdem erkennt er in den Strukturen selbst bereits systemi-
sche Merkmale und die Basis seiner Theorie bildet die Operation und nicht die Struktur. Vgl. Piaget 1980, S.138: „Wenn man sich
hingegen immer vor Augen hält, daß die Struktur zunächst und grundsätzlich ein Bündel von Transformationen ist, kann man sie
nicht von den dem Objekt inhärenten physikalischen oder biologischen Operatoren oder von den durch das Subjekt ausgeführten
Operationen trennen, deren Aufbaugesetz oder Gleichgewichtsform sie darstellt (...). Es ist das Besondere der Operationen, im
Gegensatz zu beliebigen Aktionen, daß sie sich zu Systemen koordinieren und organisieren. Diese Systeme stellen durch eben ihre
Konstruktion Strukturen dar (...). Löst man aber die Strukturen von ihren Ursprüngen, so werden sie formale Essenzen, sofern sie
nicht verbal bleiben“.
188
folgt durch Kommunikation, auf der Basis des je eigenen Bewußtseins der personalen
Systeme. Durch die Art und den Sinn dieser Kommunikation wird Erziehung im eigent-
lichen Sinne vollzogen. Darauf kommen wir zu sprechen, wenn es um Kommunikation
und Sinn geht. In Bezug auf die Struktur von Erziehung kann hier genügen, daß die
Kommunikation zwischen Kind und Erzieher ein weiteres die Erziehung strukturieren-
des Merkmal ist. Dabei wird die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen initiiert,
um die Entwicklung des Kindes voranzubringen. Damit erhält die Relation zwischen
den personalen Systemen eine spezifische Richtung und einen Sinn, indem sie auf die
strukturelle Veränderung des Kindes gerichtet ist, obwohl sich, systemtheoretisch be-
trachtet, beide personalen Systeme innerhalb von Erziehungsprozessen strukturell ver-
ändern (können). Die Beziehung zwischen dem Erziehungsprozeß und dem Ent-
wicklungsprozeß des Kindes macht letztlich die Struktur von Erziehung aus.
Struktur und Prozeß sind untrennbar miteinander verbunden279. Sie bedingen sich ge-
genseitig, eine Strukturierung ist immer ein Prozeß und Prozesse haben immer auch
Strukturen (siehe Luhmann 1987, S.73). Bei Prozessen handelt es sich um einander an-
schließende oder aufeinander bezogene Ereignisse, durch die eine Strukturänderung
eintritt (vgl. Luhmann ebd., S.482f.).
Als strukturbewahrendes System geht es in der Erziehung immer um die Beziehung
zwischen Kind und Erwachsenen, die erzieherische Kommunikation zwischen ihnen
und die Berücksichtigung des Entwicklungsstandes des Kindes, nach dem sich die
Kommunikation ausrichtet. Erziehung muß von ihrer Struktur her stabil sein in dem
Sinne, daß sich das Kind auf den Erwachsenen in seiner Funktion als Erzieher verlassen
kann. In der Erziehung wird somit versucht, ein Gleichgewicht zwischen Erziehungs-
und Entwicklungsprozeß des Kindes herzustellen280. Das widerspricht nicht dem Erzie-
hungsziel, daß sich die Asymmetrie zwischen Erzieher und Kind zunehmend verringern
soll. Dies ist in einem stabilen Verhältnis zwischen Kind und Erzieher möglich.
5.2.3 Die Struktur von Entwicklung
Wie bei der Erziehung wirken bei der Entwicklung die biologischen, die psychischen
und die sozialen Systeme mit ihren konkreten Relationen zusammen. In der vorliegen-
279 „Die alte Vorstellung, es gebe zwei verschiedene Realitätsebenen in Systemen, nämlich Strukturen und Prozesse, muß aufgege-
ben werden - nicht zuletzt deshalb, weil sie die uns zentral interessierende Frage nach der Einheit des Systems nicht zu beantworten
vermag“ (Luhmann 1995, S.27). Bei Büeler findet man deshalb auch den Begriff der „Prozeßstruktur“ (siehe Büeler 1994, S.52).280 Zum Begriff der Homöostase siehe auch Dienelt 1970, S.74ff., sowie Krieger 1996, S.26f.
189
den Arbeit steht, in Anlehnung an Piaget, die kognitive Entwicklung im Mittelpunkt,
auf die zunächst eingegangen wird, um von da aus auf die Entwicklung des Erziehers
und die Entwicklung von Erziehungsprozessen Bezug zu nehmen. Da die affektive
Entwicklung des Kindes (oder die emotionale, die motivationale etc.) parallel zur kog-
nitiven verläuft, ließen sich die Ergebnisse auch auf diese übertragen, was hier aus
Platzgründen aber nicht erfolgt.
Der Entwicklungsprozeß des Kindes basiert auf Zustandsveränderungen interner
Strukturen und Prozesse, die von Zustandsveränderungen externer Strukturen und Er-
eignissen ausgelöst werden.
Der kognitive Zustand des Kindes vor einem Entwicklungsprozeß kann in Anlehnung
an die systemtheoretischen Ansätze entweder als Unordnung, Ungleichgewicht oder als
Nicht-Synchronisierung der Teilsysteme bezeichnet werden (so bei Haken, Piaget und
Büeler). Hingegen befindet sich nach Maturana und Luhmann das System vor einem
Entwicklungsprozeß im Gleichgewicht bzw. im Zustand der Restabilisierung. Diese
unterschiedlich erscheinenden Auffassungen ergeben sich jedoch aufgrund verschiede-
ner Beobachterperspektiven. Lebende Systeme implizieren immer Dynamik und es
hängt von der Sichtweise ab, ob man diese Dynamik als stabil oder instabil bezeichnet.
Wesentlich ist, daß sich diese dynamischen Prozesse, die im kognitiven Bereich durch
ständige neuronale Aktivität (biologisches System) und damit einhergehende Bewußt-
seinsprozesse (psychisches System) ausgezeichnet sind, verändern können. Dies ist aber
nur für jeden Teilbereich zirkulär möglich. Neuronale Aktivität führt immer wieder zu
neuronaler Aktivität. Entwicklung ist an die operativ geschlossene Struktur der Teil-
systeme gebunden.
Der Auslöser für den Beginn eines Entwicklungsprozesses kann in den verschiedenen
Teilsystemen liegen. Für die Entwicklung des Kindes ist natürlich das soziale System
Erziehung als Initiator von besonderer Bedeutung. Es geht hier darum, Erziehung so zu
gestalten, daß es auf das psychische System so einwirkt, daß dieses wiederum Einfluß
auf das biologische System nimmt, bis sich schließlich im biologischen System Struktu-
ren verändern, die dann ihrerseits wieder auf die anderen Teilsysteme zurückwirken.
Diese strukturelle Koppelung ermöglicht Entwicklung. Die Veränderung der systemin-
ternen Strukturen läßt die Entwicklung als evolvierenden Prozeß erscheinen, als eine
Abfolge von Strukturtypen, die dann auch als Stufen bezeichnet werden können (vgl.
Büeler 1994, S.55). Dabei hängt es wieder von der Betrachtungsweise ab, ob man die
190
Wirkung des sozialen Teilsystems auf die Entwicklung als einen Kontrollparameter
(Haken) bezeichnen möchte oder als Störeinwirkung (Maturana).
Die kognitive Entwicklung verläuft immer über interne Strukturveränderung der jeweils
in sich geschlossen operierenden Teilsysteme. Diese verändern ihre Struktur nach Maß-
gabe ihrer je spezifischen Operationen. Dabei geht es den jeweiligen Teilsystemen, wie
dem physikalischen oder dem biologischen, nicht um Entwicklung, sondern zunächst
um Anpassung bzw. Erhaltung (siehe Abschnitt 5.9). Entwicklung bleibt deshalb eine
Beobachterkategorie. Von Entwicklung wird gesprochen, wenn sich das sichtbare Ver-
halten des Kindes verändert und diese Veränderung als Fortschritt gewertet wird. Die
Bewertung von Entwicklung gehört damit zur Struktur von Erziehung. Bewertungskri-
terien für die Entwicklung des Kindes ergeben sich durch die Leistungsanforderungen
an das Kind und damit letztlich durch den Stand der kognitiven Entwicklung der Ge-
sellschaft insgesamt, also durch das soziale System Gesellschaft. Dieser Wissensstand
wird nach pädagogischen Kriterien, die sich durch den Zusammenhang von Entwick-
lung und Erziehung ergeben sollten, für das System Erziehung aufgearbeitet und dann
zum Maßstab für die Entwicklung des Kindes. Diese pädagogischen Kriterien ergeben
sich durch das Verhältnis zwischen der Kenntnis über die Entwicklung(sfähigkeit) des
Kindes (Was kann das Kind z.B. auf einer bestimmten Entwicklungsstufe leisten?) und
den Forderungen von Erziehung (Was sollte das Kind auf der bestimmten Entwick-
lungsstufe, gemäß den Anforderungen der Gesellschaft leisten oder können?). Es kann
auch allgemeiner formuliert werden: Pädagogische Kriterien sollten sich durch die
Koppelung psychischer (nämlich entwicklungsbedingter) Möglichkeiten und sozialer
(erziehungsbedingter) Anforderungen ergeben.
Eine Entwicklung des Erziehers innerhalb von Erziehung liegt ebenso vor, wie die Ent-
wicklung des Kindes und zwar deshalb, weil auch der Erzieher seine psychischen oder
Bewußtseinsprozesse verändern muß, wenn er sich dem Entwicklungsprozeß des Kin-
des im Verlauf von Erziehung anpassen will. Die Frage ist nur, inwieweit hier aus sys-
temtheoretischer Sicht die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe zwischen Kind und
Erzieher dargestellt werden können. Da die Struktur oder der Prozeß von Entwicklung
immer gleich ist, kann hier zunächst auch kein Unterschied zwischen Kind und Erzieher
gemacht werden. Jedesmal ermöglicht die strukturelle Koppelung der Teilsysteme eine
Veränderung von Strukturen. Erst durch die Bewertung der Veränderung durch einen
Beobachter und damit durch die Qualität wird man den Entwicklungsprozeß von Kind
191
und Erzieher als unterschiedlich bezeichnen. Im Idealfall besteht die Entwicklung des
Kindes zum Beispiel am Ende einer Erziehungssituation darin, daß es etwas gelernt hat
(vgl. Kap.5.6) also zu etwas fähig ist, sei es nun im Bereich der Kognition oder der
Motorik, wozu es vorher nicht imstande war. Beim Erzieher wird hingegen vorausge-
setzt, daß er über die Leistungsanforderungen, die an das Kind gestellt werden, verfügt.
Entwicklung beim Erzieher meint hier, inwieweit es ihm durch sein Verhalten gegen-
über dem Kind besser gelingt, den Entwicklungsprozeß des Kindes gemäß den Leis-
tungsanforderungen, bzw. die Erziehungssituation in Hinblick auf die Entwicklung des
Kindes zu steuern. Auch wenn die Art des Operierens von Kind und Erzieher aufgrund
der Selbstorganisation gleich sind, so bleiben Niveau oder Qualität durch die Beobacht-
erbewertung verschieden.
Schließlich findet auch in der Kommunikation, als das zentrale Element des Systems
Erziehung, Entwicklung statt. In Abhängigkeit des Entwicklungstandes des Kindes und
der damit verbundenen veränderten Fortführung der strukturellen Koppelung zwischen
Kind und Erzieher erfolgt in der Kommunikation Strukturänderung.
5.2.4 Entwicklungsstufen als Strukturänderung
Nun hat Piaget die kognitive Entwicklung des Kindes in Stufen eingeteilt, die auf die
Rekonstruktion der Logik als Widerspiegelung des Denkens zurückzuführen ist (zum
Begriff der Logik siehe Piaget 19848, S.32ff.). Dabei geht es hier um das psychische
Teilsystem von Entwicklung beim Kind, auf der biologischen Ebene und in Hinblick
auf die strukturelle Koppelung von Teilsystemen operieren Kind und Erwachsenen
gleich. Die Einteilung in Entwicklungsstufen erfolgt durch die Beschreibung möglicher
kognitiver Strukturen in Anlehnung an den „derzeitigen“ Stand der Wissenschaft und
soll qualitative Unterschiede zwischen Kind und Erwachsenen bzw. zwischen den ein-
zelnen Entwicklungsstufen zum Ausdruck bringen. Der Fortschritt von Entwicklung
wird erklärt, indem man Verhaltensweisen oder Bewußtseinszustände miteinander ver-
gleicht und die damit verbundene Problemlösefähigkeit feststellt. Kriterium für den
Fortschritt sind die Operationen, über die das Kind verfügt oder nicht (vgl. Piaget ebd.,
S.174). Diese ergeben sich wiederum in Anlehnung an die Logik des Denkens (vgl.
hierzu die Aussagenlogik als die Logik aller möglichen Kombinationen des Denkens
bei Piaget/Inhelder 1980, S.241 und S.280ff.). Dabei geht es Piaget weniger darum, daß
eine bestimmte Stufe in einem bestimmten Alter erreicht werden kann. Wichtiger ist die
192
Struktur der Stufenfolge. Zusammenfassend zeigt sich bei ihm, daß die Abfolge der
Stadien festgelegt ist, jedes Stadium sich durch eine Gesamtstruktur auszeichnet, eine
neue Struktur nur aufgebaut werden kann, indem die vorangegangenen Strukturen
transformiert und integriert werden und daß in jeder Stufe zunächst eine Periode der
Bildung und dann eine der Stabilisierung durchlaufen wird (vgl. Piaget/Inhelder 19872,
S.151f. und Fetz 1988 S.78-81). Wichtig nach Piaget ist die Logik der Abfolge. Die eine
Stufe baut auf der anderen auf. Entwicklung ist immer durch die Rekonstruktion und
Differenzierung bestehender Stufen gekennzeichnet.
Nach den Ansätzen von Maturana und Luhmann bleibt eine Einteilung in Entwick-
lungsstufen eine Beobachterkategorie, die nicht dem Prozeß von Entwicklung unter
Berücksichtigung der autopoietischen Organisation personaler Systeme entspricht.
Dennoch hat sich die Bezeichnung von Entwicklungsstufen (nicht unbedingt nur nach
Piaget) bewährt und ist hilfreich bei der Planung von Erziehung geworden. Das heißt,
die Logik der Entwicklungsstufen ist wichtig für die Bewertung förderlicher Maßnah-
men.
Der Begriff „Entwicklungsstufe“ wird weder bei Haken, noch bei Maturana und Luh-
mann thematisiert. Wohl kann man von Strukturänderungen sprechen, wobei die Tiefe
des Wandels von Strukturen mit dem Zeitraum zusammenhängt, den ein Beobachter vor
Augen hat. In Bezug auf den Zeitraum kann man dann auch von konstanten Strukturen
sprechen (vgl. Luhmann 1987, S.470ff.). Da sich in Systemen die Strukturen immer
verändern können, gehört die Strukturänderung zum Merkmal der Struktur von Ent-
wicklung und Erziehung. Innerhalb der Erziehung geht es dann um die Änderung sozi-
aler und kommunikativer Strukturen, innerhalb der Entwicklung geht es um die Ände-
rung kognitiver oder bewußtseinsmäßiger Strukturen. Die Änderung ergibt sich durch
die Art, wie Strukturen funktionieren, nämlich aufgrund der Selbstorganisation des
Systems durch Ereignisse, die auftreten und auch wieder verschwinden. „Auf Handlung
muß Handlung folgen - oder eben gar nichts“ (Luhmann 1987, S.474). Strukturände-
rung im sozialen System erfolgt damit durch die selektive Verknüpfung von Ereignis-
sen, im personalen System durch kognitive oder emotionale Operationen281. Die Ände-
rung von Strukturen gehört damit zur Selbsterhaltung von Systemen.
281 „Die Schranke für Strukturänderung liegt demnach nicht in Strukturen mit besonderen Qualitäten, die sich gegen Änderungen
sperren; sie liegt in den Problemen der selektiven Kombination von sofort wieder verschwindenden Ereignissen; sie liegt also in der
193
Entwicklung und damit Strukturänderung ist ein dem System inhärenter Prozeß, der
sich aus der autopoietischen Organisation personaler Systeme ergibt. Die Entwicklungs-
stufen werden vom Beobachter hergestellt, sie sind der Entwicklung des Systems nicht
eigen. Da sie aber den Erfahrungen in der Erziehung, wissenschaftlichen Erkenntnissen,
kurz gesagt, dem Sinn in unserer Gesellschaft entsprechen, sind sie Realität, nach der
sich Erziehung richtet.
Eine spezifische Struktur verändert sich nach Piaget durch Transformation der ‘alten’
Struktur in eine ‘neue’. Eine bestehende Struktur wird nicht durch eine neue beseitigt,
sondern neue Impulse nehmen Einfluß auf Teile der alten Struktur, die sich dann durch
Differenzierung verändert (vgl. den Abschnitt über strukturelle Koppelung). Bestehende
oder vorangegangene Strukturen werden in neue integriert und umgekehrt, gleichzeitig
werden bestehende Strukturen differenziert. (Differenz ist aber auch hier mit Selektion
verbunden). Die von Piaget geprägten Begriffe der Integration bei gleichzeitiger Diffe-
renzierung drücken m.E. nach wie vor aktuell eine spezifische Strukturänderung aus282.
5.2.5 Entwicklung von Erziehung
Nicht nur im biologischen Teilsystem und im psychischen findet Entwicklung statt,
sondern auch im sozialen Teilsystem Erziehung. Ein Erziehungsprozeß wird sich in
seinem Verlauf verändern und überblickt man einen größeren Zeitraum, dann verändert
sich auch die Erziehung. Sie muß sich aufgrund der Entwicklung des Kindes selbst fort-
entwickeln. Diese Veränderung erfolgt auf der Basis von Kommunikation. Die Struktur
von Erziehung, nämlich daß es hier um zwei personale Systeme geht, die durch Asym-
metrie gekennzeichnet sind, bleibt so lange stabil, bis festgelegt wird (in der Regel von
der Umwelt), daß sich die Asymmetrie aufgelöst hat. Aus pädagogischer Sicht sollte
man aber nicht davon sprechen, daß sich das System Erziehung dann auflöst, wenn das
Kind erwachsen geworden ist, zumal dieser Übergang fließend verläuft. Vielmehr
könnte man in Anlehnung an Maturana auch vom Wandel der Identität des Systems
dann sprechen, wenn sich die Art der Organisation durch Strukturänderung verändert,
Funktion der Strukturen (...) Autopoiesis ist also die Bedingung dafür, daß eine Struktur sich ändern oder nicht ändern kann“ Luh-
mann 1987, S.473 und 475).282 Im Grunde wird von Haken aus physikalischer Sicht diese Auffassung wieder bestätigt, wenn er Phasenübergänge in der Natur
beschreibt: „Beispiele aus der Physik werden durch das Frieren von Wasser zu Eis geliefert oder das Einsetzen eines Magneten.
Hierbei treten völlig neue physikalische Eigenschaften zutage, zum Beispiel mechanische. Auf Eis können wir gehen, auf Wasser
nicht. Wie wir sehen werden, finden wir in der Biologie eine Fülle ähnlicher qualitativer Änderungen“ (Haken/Haken-Krell 1997,
S.17).
194
aber nicht aufgelöst hat (vgl. Maturana 19852, S.241). So besteht das Verhältnis zwi-
schen Kind und Eltern noch über die Erziehung hinaus und kann dann zum Beispiel zu
einem freundschaftlichen Verhältnis führen, in dem die Eltern nach wie vor eine bera-
tende Funktion haben können, die natürlich auch umgekehrt gilt. Auf die Bedeutung der
Beratung kommen wir noch zu sprechen. Hier soll festgehalten werden, daß sich die
Strukturen von Erziehung entlang der Entwicklung des Kindes verändern. Geschieht
dies nicht, dann liegt auch keine Erziehung vor.
5.2.6 Erziehung und Entwicklung als Ko-Ontogenese
Die Geschichte der strukturellen Veränderung einer dynamischen Einheit ohne Identi-
tätsverlust stellt die Ontogenese dieser Einheit dar (vgl. Maturana 19852, S.145). Die
Entwicklung des Kindes und sein Erziehungsprozeß sind nun gleichermaßen durch
Strukturveränderung gekennzeichnet. Erziehung und Entwicklung sind aber durch
strukturelle Koppelung so eng miteinander verknüpft, daß sich beide dynamischen Ein-
heiten aufgrund ihrer Relation zueinander verändern, durch das Einbringen der jeweils
veränderten Struktur in die strukturelle Koppelung. Das ist mit Ko-Ontogenese gemeint.
Die Quelle für eine Veränderung einer Einheit liegt immer im System selbst oder in der
Umwelt (siehe auch Maturana 19852, S.201ff.). Bei der Entwicklung des Kindes liegt
die Quelle für Veränderung im personalen System Kind oder in der Umwelt, wobei es
sich auch um den Erziehungsprozeß handeln kann, der der Entwicklung des Kindes ge-
mäß ausgerichtet ist. Auf der anderen Seite liegt im Erziehungsprozeß die Quelle für
eine Veränderung ebenfalls im System selbst (hier in der Regel beim Erzieher oder sie
ist auch durch Vorschriften etc. bedingt) oder in der Umwelt, die unter anderem auch
durch das zu erziehende Kind konstituiert wird (zum Begriff der Umwelt siehe nächster
Abschnitt). Eine Quelle für die Veränderung von Entwicklung liegt somit in der Erzie-
hung und eine Quelle für Veränderung von Erziehung in der Entwicklung. Die Ge-
schichte beider dynamischen Einheiten kann nur ko-ontogenetisch begriffen werden.
Die Geschichte von Entwicklung und Erziehung basiert damit auf der Ko-Ontogenese
beider Einheiten. Das macht gerade das soziale Phänomen von Erziehung aus, daß
nämlich die an ihm beteiligten dynamischen Einheiten, also der Erziehungs- und der
Entwicklungsprozeß sich als „Teil eines Netzwerkes von Ko-Ontogenesen verwirkli-
chen“ (Maturana/Varela19872, S.209).
195
Erziehung als Ko-Ontogenese ergibt sich letztlich aufgrund der Organisation bzw. der
Selbstorganisation des Systems und der damit verbundenen spezifischen Struktur des
Systems, das gerade nicht ohne Umweltbezug auskommt. Auf die mit der Ko-
Ontogenese verbundenen Konsequenzen, nämlich Anpassung und Lernen, kommen wir
später zurück (vgl. Maturana 19852, S.145).
Die strukturelle Koppelung283 von System und Umwelt oder von personalen Systemen
wie Erzieher und Kind führt schließlich zur Ko-Ontogenese. Ko-Ontogenese ist somit
gegenseitige Strukturänderung, die sich durch strukturelle Koppelung ergibt. Durch die
strukturelle Koppelung zwischen Kind und Erzieher erfolgt die Ko-Ontogenese von
Kind und Erzieher (mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung) und gleichzeitig die von
Erziehung und Entwicklung. Löst sich die strukturelle Koppelung zwischen Kind und
Erzieher auf, kann man auch nicht mehr von Erziehung sprechen. Die enge Beziehung
zwischen Erzieher und Kind, die im Verlauf der Arbeit noch ausführlich behandelt
wird, ist die Basis für den Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung.
5.2.7 Selbstorganisation als Erziehungsziel?
Es stellt sich hier abschließend die Frage, ob sich nicht aufgrund der Organisation des
Menschen als personales System ein allgemeines Ziel von Erziehung sozusagen von
selbst ergibt und ob dies nicht durch den Begriff der Selbstorganisation bezeichnet wer-
den kann. Dies legt die systemtheoretische Sichtweise zumindest nahe. Da personale
Systeme (und diese umfassen die biologischen, psychischen und sozialen Teilsysteme)
von ihrer Natur her durch Selbstorganisation gekennzeichnet sind, kann auch das Ziel
von Erziehung sich nicht davon entfernen, denn es will das System nicht zerstören. Wer
die Selbstorganisation zu Beginn der Entwicklung bestätigt, wird sie auch im Entwick-
lungsverlauf und damit bei der Gestaltung von Erziehung beachten müssen. Nun ist von
der biologischen Selbstorganisation, die zu Beginn von Entwicklung vorherrscht (wobei
es müßig erscheint, einen Entwicklungsanfang festlegen zu wollen) eine Form von
Selbstorganisation zu unterscheiden, wie sie am Entwicklungsende bzw. am Ende der
283 „Daß sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten in ihrer Ontogenese gekoppelt haben, sagen wir, wenn ihre Interaktionen
einen rekursiven oder sehr stabilen Charakter erlangt haben (...) Bei diesen Interaktionen ist es so, daß die Struktur des Milieus in
den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weniger determiniert noch instruiert (vorschreibt, was
auch umgekehrt für das Milieu gilt. Das Ergebnis wird - solange sich Einheit und Milieu nicht aufgelöst haben - eine Geschichte
wechselseitiger Strukturänderungen sein, also das, was wir eine strukturelle Koppelung nennen“ (Maturana/Varela 19872, S.85).
Vgl. ausführlich den Abschnitt über strukturelle Koppelung.
196
Erziehung aussehen sollte. Für Letztere gibt es bereits in der systemtheoretisch orien-
tierten Literatur Hinweise.
So spricht Büeler davon, daß das Programm des Systems Erziehung darin bestehen
muß, die Operationsweise psychischer Systeme von Selbstreferenz auf Reflexion umzu-
stellen (vgl. Büeler 1994, S.125), wobei es sich bei der Reflexion um eine gesteigerte
Form von Selbstreferenz in dem Sinne handelt, daß Reflexion nicht nur Bewußtsein
seiner selbst einschließt, sondern auch die Fähigkeit, „sein Verhältnis zur Umwelt ope-
rativ zu definieren“ (Willke 19872, S.76). Hier mündet das Ziel von Erziehung schließ-
lich in der „Selbsterziehung“ (Büeler ebd., S.231)284, die dann möglich ist, wenn sich,
ganz im Sinne Piagets, die anfängliche Zentrierung auf das eigene personale System
(mit seinen Teilsystemen), zugunsten einer Dezentrierung ändert, die über die personale
Perspektive hinausführt. Auf den Begriff der Selbsterziehung wird jedoch im Sinne der
hier vorliegenden Begriffsauffassung (Erziehung wird als soziales System verstanden)
nicht weiter eingegangen, weil der Begriff impliziert, daß Erziehung und damit ein
Einfluß von außen, nicht möglich sei. (Bei Büeler erhält der Begriff aufgrund der prin-
zipiellen Selbstorganisation des Menschen aber nicht diese eingeschränkte Bedeutung).
Auch von Huschke-Rhein wird die Fähigkeit zur Selbstorganisation zum Erziehungsziel
erhoben (vgl. Huschke-Rhein 1998, S.102). Denn in Anlehnung an die „systemische
Grundfigur“ geht es in der Erziehung um die „Förderung und ‘Organisation der Selbst-
organisation’ für Personen, die sich in Entwicklung befinden“ (ebd., S.90). Das heißt,
die prinzipielle Fähigkeit zur Selbststeuerung ist da und muß von der Erziehung als
Ausgangsbasis verstanden werden. Die Selbststeuerung ist aber noch nicht hinreichend
ausgebildet, und die Aufgabe von Erziehung ist deshalb, bei der Entwicklung einer be-
wußten Selbststeuerung zu helfen.
Die Organisation von Entwicklung gibt damit die Richtung an für die Erziehung. Durch
den Sinn von Erziehung, auf den wir später zu sprechen kommen, kann versucht wer-
den, die Richtung qualitativ zu beschreiben.
284 Siehe auch Büeler 1994, S.187-188: „Daß wir als Kontingenzformel des Systems Erziehung deshalb Lernfähigkeit (definiert als
das Lernen des Lernens) und Selbsterziehung angegeben haben, wird auf diesem Hintergrund (Erklärung des AGIL-Schemas von T.
Parsons, Anmk. von U.G.) verständlicher. Inhalte und Formen des Lernens und der Erziehung mögen wechseln; unterschiedliche
Vorstellungen über Moral, Ethik, Politik und Lebensstil mögen in der postmodernen Gesellschaft austauschbar werden; all das mag
so sein oder nicht: wichtig bleibt, daß wir der nachwachsenden Generation die Kompetenz und die Selbstgewißheit vermitteln, eine
wechselnde Umwelt nicht als Bedrohung, sondern als Lernchance aufzufassen“.
197
Als ein Beispiel für die Erfassung der Qualität eines Erziehungszieles sei auf die Ver-
antwortungsethik bei Rotthaus verwiesen (vgl. Rotthaus 1998, S.146). Diese basiert auf
der systemtheoretisch orientierten Sichtweise, daß der Mensch nicht außerhalb der Welt
steht (also Teilsystem ist wie Erde, Pflanzen, Tiere) und daß er als sprachliches Wesen
zugleich immer auf andere Menschen angewiesen ist (Mensch als Teilsystem bzw.
Umwelt sozialer Systeme). So kann er sich selbst nur durch ein Miteinander von Welt
und Mensch verwirklichen. Wenn aber der andere Mensch und die Welt elementare
Voraussetzungen für die eigene Existenz sind, „dann muß ich den anderen ebenso res-
pektieren wie mich selbst“ (Rothaus ebd., S.137)285. Selbstverwirklichung und Indivi-
dualisierung ist nur in der Einheit der System/Umwelt-Differenz möglich, die nun in
Hinblick auf den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung betrachtet werden
muß.
Hier kann die Erziehungszielproblematik nicht umfassend erörtert werden. Aber es
zeigt sich aus systemtheoretischer Sicht, daß sich aus der Organisation und Struktur von
Entwicklung bereits allgemeine Erziehungsziele ableiten lassen, die aufgrund der Ko-
Ontogenese von Entwicklung und Erziehung in die Erziehung hineingetragen werden
müssen. Auf die sich daran anschließende Frage, inwieweit sich Erziehungsziele wis-
senschaftlich begründen lassen, wird eingegangen, wenn es um die Konsequenzen für
die pädagogische Forschung geht (vgl. Kap. 7.2). Die begriffliche Fassung eines über-
geordneten Erziehungsziels scheint zunächst nicht wesentlich von Bedeutung. Ob man
nämlich von Selbstorganisation (wie Huschke-Rhein) oder von Autonomie (vgl. Speck
1991) spricht oder auch den Mündigkeitsbegriff aus systemtheoretische Perspektive
aktualisiert, so handelt es sich dabei doch immer um vom Beobachter aufgestellte Kate-
gorien, die in unserem Fall dem systemtheoretischen Merkmal „Sinn“ zuzuordnen sind.
285 Erinnert sei hier an das von Ballauff genannte Erziehungsziel der kosmischen Verantwortung, das auf den ersten Blick Rotthaus
Gedanken einer Verantwortungsethik ähnlich ist. Allerdings geht Ballauffs Verständnis von kosmischer Verantwortung mit einer
Erziehung zur Selbstlosigkeit einher (siehe Abschnitt 2.5). Diese Auffassung ist heute aus systemtheoretischer Sicht nicht mehr
haltbar, denn sie widerspricht dem Prinzip von Selbstorganisation.
198
5.3 Erziehung und Entwicklung als Einheit einer Sys-tem/Umwelt-Differenz
Die systemtheoretischen Voraussetzungen für diesen Abschnitt sind bereits in Kapitel
4.4.1 geschaffen worden, in dem die Einheit der System/Umwelt-Differenz aus soziolo-
gischer Sicht bezeichnet wurde. Danach kann zum einen die Differenz zwischen einem
System und der Umwelt dieses Systems festgestellt werden, wobei dann von Umwelt-
differenz gesprochen wird. In Bezug auf die vorliegende Fragestellung geht es damit um
die Beziehung zwischen dem System Erziehung und anderen Systemen, wie zum Bei-
spiel der Familie oder auch dem politischen System. Zum anderen kann man von einer
Systemdifferenzierung sprechen, wenn es sich bei den Teilen eines Systems selbst wie-
derum um autonome Einheiten und damit um Systeme handelt, wobei das eine System
zur Umwelt des anderen Systems wird. Hier geht es dann um die Beziehung zwischen
Kind und Erzieher, die als personale Systeme für das jeweils andere System Umwelt
sind, aber auch die dingliche Umwelt des Kindes (und des Erziehers) und damit der
Raum, in dem Erziehung stattfindet gehören zur Umwelt der personalen Systeme286.
Durch die folgende Beschreibung von Umweltdifferenz und Systemdifferenz wird aus
systemexterner und systeminterner Sicht der Zusammenhang zwischen System und
Umwelt als Einheit deutlich und das gilt dann auch für den Zusammenhang von Ent-
wicklung und Erziehung. Systemtheoretisch bilden Erziehungs- und Entwicklungspro-
zesse im System Erziehung eine Einheit. Beide Prozeßtypen gelangen damit zu einer
Gleichwertigkeit, die nicht zugunsten des einen oder des anderen als Erziehung be-
zeichnet werden kann, wie dies in der pädagogischen Theoriebildung geschehen ist,
indem bei Montessori Erziehung als Entwicklungshilfe oder bei Roth Entwicklung
durch Lernen zu einseitig begriffen wurde.
5.3.1 Erziehung als System und seine Differenz zur Umwelt
Das System Erziehung muß sich von der Umwelt abgrenzen und damit differenzieren,
wenn es als dieses spezifische System gelten will. Nun gibt es aber keine Umwelt an
sich, sondern „Umwelt ist immer nur Umwelt für oder in bezug auf ein System“ (Krie-
286 Willke unterscheidet demgemäß zwischen der Innenwelt und der Außenwelt von Systemen. „Die Innenwelt umfaßt die Relatio-
nen des Systems mit seinen Mitgliedern“ und die Außenwelt „umfaßt die externen Relationen des Systems, also - abgesehen vom
Bereich der Mitglieder - alle input- und output-Beziehungen des in Frage stehenden Systems“ (Willke19872, S.40 und 41).
199
ger 1996, S.13). Was für das eine System Umwelt ist, kann für ein anderes Teilsystem
sein und umgekehrt287. Schon von daher sind System und Umwelt eng miteinander ver-
bunden und schließlich wird eine genaue Grenze erst vom Beobachter, oft vom Beob-
achter zweiter Ordnung (wozu die wissenschaftliche Beobachtung gehört) festgelegt
oder beschrieben. Die Differenz zwischen System und Umwelt ergibt sich schließlich
durch den Sinn des Systems, weshalb auch von Sinngrenzen gesprochen wird.
Erziehung als System muß sich also von seiner Umwelt abgrenzen, das heißt, es muß
sich von den Systemen differenzieren, in denen die Entwicklung des Kindes nicht kon-
stitutiv für das System ist. Die Abgrenzung dient der Erhaltung und damit dem Sinn des
Systems. Zur engeren Umwelt von Erziehung gehören die Familie, aber auch die Bera-
tung und die Medizin (siehe hierzu auch Speck 1991, S.68ff.). Auch in diesen Systemen
kann das Kind und dessen Entwicklung im Mittelpunkt stehen, aber dies stellt immer
nur einen Teilbereich der Systeme dar, zumal die kognitive Entwicklung nicht unbe-
dingt vordergründig ist. Andere soziale Systeme, wie das politische, das wirtschaftliche
oder das religiöse System gehören ebenfalls zur Umwelt von Erziehung. Sie sollen hier
insofern zur weiteren Umwelt von Erziehung gerechnet werden, weil sie eher im Vor-
feld von Erziehungsprozessen relevant sind und das gilt, obwohl sie auch an der Ziel-
setzung und damit der Zukunft von Erziehungsprozessen teilhaben können288.
Das System Erziehung hat zu seiner Umwelt ständig Kontakt. Dieser erfolgt aufgrund
spezifischer Operationen, die in Abhängigkeit der Umwelt innerhalb des Systems Er-
ziehung ausgeführt werden. Zum Beispiel wird religiöse Erziehung durch Vorgaben der
Religion als System bestimmt oder die Ausstattung der Schule, z.B. mit Computern, ist
abhängig von der wirtschaftlichen Lage der Schule und damit schließlich auch vom
politischen und/oder wirtschaftlichen System der Region. Auch die dingliche Umwelt
des Kindes, die z.B. in der Erziehung innerhalb der Familie eine Rolle spielt, ist abhän-
gig von der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Familie. Oft ergibt sie sich auch
durch einen Vergleich der Familien als Systeme untereinander (so wird ein Spielzeug
vielleicht gerade deshalb angeschafft, weil es auch das Kind der befreundeten Familie
287 Vgl. Luhmann 1987, S.36: „Die Umwelt erhält ihre Einheit erst durch das System und nur relativ zum System. Sie ist ihrerseits
durch offene Horizonte, nicht jedoch durch überschreitbare Grenzen umgrenzt; sie ist selbst also kein System. Sie ist für jedes
System eine andere, da jedes System nur sich selbst aus seiner Umwelt ausnimmt. Entsprechend gibt es keine Selbstreflexion und
erst recht keine Handlungsfähigkeit der Umwelt“.288 Vgl. hierzu Luhmann in Luhmann/Schorr 1996, S.19: „Ihre wohl wichtigsten Ziele sucht die Erziehung (was immer die Pädago-
gik davon halten mag) im Verhältnis zum Wirtschaftssystem“.
200
hat etc.). Ganz allgemein kann formuliert werden, daß das System Erziehung in ständi-
ger Abhängigkeit von der Gesellschaft steht, weil sich schließlich Erziehung aufgrund
der kulturellen Entwicklung der Gesellschaft als System ausdifferenziert hat289. Die
folgende Abbildung soll dies verdeutlichen290:
Gesellschaft(autopietisches System)
Erziehung
Wirtschaft
Medizin
Politik
Recht Religion
WissenschaftFamilie
Abb. 1: Die Teilsysteme der Gesellschaft aus der Sicht des Teilsystems Erziehung
Zu den hier dargestellten sozialen Systemen kommen noch andere hinzu, die als kom-
munikative Einheiten bezeichnet werden können. Denn auch durch die Geschichte der
Kommunikation in der Gesellschaft, die in allen und zwischen allen Systemen verläuft,
haben sich im Laufe der Zeit Kommunikationswirklichkeiten entwickelt, die ebenfalls
zur Umwelt des Systems Erziehung gerechnet werden können. Dabei handelt es sich um
Moral291, Werte292 und Normen293 (vgl. zusammenfassend Krause 1996, S.36ff.). Der
289 „Je stärker sich die Umwelt des Menschen in eine Welt sozialer Kontakte verwandelt und biologische Ausstauschprozesse in den
Hintergrund rücken, desto stärker wird die Sozietät abhängig von bewußt gesetzten erzieherischen Maßnahmen (...). In einem lautlos
vollzogenen Übergang von Sozialisation zu bewußtseinsmäßig und kulturell gesteuerter Erziehung, die zudem immer nur im
Anschluß an biologische Selbstorganisationsprozesse auf den Weg kommt, wird auf diese Notwendigkeit reagiert“ (Büeler 1994,
S.94).290 Bei der folgenden Abbildung geht es um die für das System Erziehung relevanten Umwelten und nicht um die von einem sys-
temtheoretischen Ansatz festgestellten Teilsysteme der Gesellschaft. Deshalb wird hier auch die Medizin berücksichtigt, die zum
Beispiel bei Luhmann keine Erwähnung findet.291 „Als Moral eines sozialen Systems wollen wir die Gesamtheit der Bedingungen bezeichnen, nach denen in diesem System über
Achtung und Mißachtung entschieden wird. Moralfragen können durchaus kontrovers gehandhabt werden. Der Begriff setzt keinen
Konsens voraus, obwohl natürlich das Ausmaß des erreichbaren Konsenses ein wichtiges Moment der Funktionsfähigkeit von Moral
ist. Im Hinblick auf den Zusammenhang und die Kompatibilität moralischer Anforderungen gibt es Systematisierungsbemühungen.
Ihre Theorieform heißt seit Aristoteles üblicherweise Ethik“ (Luhmann 1987, S.319). Siehe auch Speck 1996, S.55f.292 „An sich sind Werte zunächst nur Präferenzen. Nur über komplexe historische Sinnverschiebungen sind seit dem 19. Jahrhundert
in den Wertbegriff auch soziale Zumutungen eingebaut worden. Wenn Frauen Gleichbehandlung verlangen, ist damit zugleich
angedeutet, daß andere dies anzuerkennen haben, ohne daß die Prämisse, Gleichheit sei ein Wert, zur Diskussion gestellt würde“
201
Hinweis, daß Erziehung Moral, Werte und Normen zur Abgrenzung von anderen Sys-
temen benutzt, mag an dieser Stelle genügen. Es können diese Begriffe hier nicht aus
systemtheoretischer Sicht oder in Abgrenzung zu ihren Bedeutungen in der Geschichte
ausführlich behandelt werden.
Nun hat aufgrund der asymmetrischen Bewußtseinsstrukturen von Kind und Erzieher,
der Erzieher die Aufgabe im System Erziehung übernommen, verstärkt Relationen zwi-
schen dem System Erziehung und seinen spezifischen Umwelten herzustellen, bzw. zu
begrenzen. Er will bei der Entwicklung der Bewußtseinsstrukturen des Kindes helfen,
so daß das Kind die „kulturellen Objektivationen“ der Gesellschaft erkennt und ver-
steht. Dafür stellt er bewußt Relationen zu anderen Systemen her, die zum Beispiel als
sachliche Gegebenheiten in die Kommunikation einfließen. Auf diese Weise wird das
System Erziehung auch von seiten des Erziehers durch die Umwelt mit gesteuert.
Gleichzeitig differenziert sich das System Erziehung von der Umwelt dadurch, daß eben
nur die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Relationen zur Umwelt hergestellt
werden; andere Kontingenzen sollten nicht berücksichtigt werden. Die für notwendig
erachteten Relationen zu anderen Systemen (beispielsweise Inhalte aus dem Bereich der
Politik, der Wirtschaft, Kunst oder Religion) werden autonom und durch Selbstorgani-
sationsprozesse vom System Erziehung z.B. durch den Lehrplan und eigenständig in die
erzieherischen Kommunikation aufgenommen.
Das System Erziehung ist somit unabhängig und zugleich abhängig von der Umwelt,
weshalb von einer Einheit der System/Umwelt-Differenz gesprochen wird. Als System
ist es autonom, dabei aber stets auf die Umwelt angewiesen. Das wurde bereits im Ab-
schnitt über die Komplexität von Erziehung deutlich. Das System baut seine Eigenkom-
plexität durch Ausdifferenzierung von der Umweltkomplexität auf. Dies bleibt mit Se-
lektion und Risiken verbunden.
(Luhmann 1997, S.799). Auch im Erziehungssystem wird Gleichheit als Wert mitgedacht. Alle Kinder sollen die gleichen Entwick-
lungschancen gerade durch die Schule bekommen, hier aber mit dem Ziel, daß am Ende der Schulzeit Selektion stattfinden kann.293 Normierungen „werden in Anspruch genommen, und Normen werden entwickelt in dem Maße, als kontrafaktisch behauptens-
werte Generalisierungen benötigt werden. Mit diesem theoretischen Rearrangement wird nicht etwa über die soziale bzw. gesell-
schaftliche Wichtigkeit von Normen disponiert. Es wird nur gefordert, daß eine soziologische Theorie in der Lage sein muß, Nor-
mativität als Variable mit Systemtypen oder mit gesellschaftsstrukturellen Entwicklungen zu korrelieren ...“ (Luhmann 1987, S.444-
445).
202
5.3.2 Die Systemdifferenzierung von Erziehung
Der differenztheoretische Ausgangspunkt bedeutet für das Verhältnis zwischen sozia-
lem System und Umwelt, daß die Teile aus denen das System besteht, sich im Netzwerk
der Elemente (hier: Kommunikation) selbst erzeugen (autopoietische Organisation), und
daß sie gleichzeitig nicht unabhängig voneinander existieren können (vgl. Luhmann
1997, S.64ff). Bei der Innenbetrachtung des Systems Erziehung, bei der es um die Sys-
temdifferenzierung von Erziehung geht, handelt es sich bei den Teilen um die persona-
len Systeme Kind und Erzieher und die von ihnen vollzogenen Operationen. Für das
Verhältnis von Erziehungs- und Entwicklungsprozessen bedeutet dies, daß die „erziehe-
rischen Operationen“ auf Seiten des Erziehers sich in Abhängigkeit von den „entwick-
lungsbedingten Operationen“ des Kindes entwickeln und umgekehrt. Beide Operati-
onstypen erzeugen und entwickeln sich gegenseitig im System Erziehung. Dieses durch
die Selbstorganisation von Systemen festgelegte invariante Prinzip sagt noch nichts
über die Qualität von Erziehungs- und Entwicklungsprozessen aus.
Im System Erziehung lassen sich zunächst folgende Systemteile unterscheiden:
System Erziehung
Kind Erziehungssituation Erzieher
Abb. 2: Die Teilsysteme des Systems Erziehung
Das System stellt sich als Aufeinanderfolge von Erziehungssituationen dar, die durch
strukturelle Koppelung von Kind und Erzieher konstruiert werden und die selbst mit-
einander strukturell gekoppelt sind (vgl. ausführlich Abschnitt 5.6). Die Pfeile, die je-
weils vom Kind zum Kind, von Erziehungssituation zur Erziehungssituation und vom
Erzieher zum Erzieher führen, sollen den selbstorganisierten Aspekt von Entwicklung
ausdrücken, der aber zum Beispiel beim Kind durch die Entwicklung der Erziehungssi-
tuation und damit wiederum durch die Entwicklung des Erziehers in der Erziehungssi-
tuation gekennzeichnet ist.
Wendet man die Begriffe Umwelt und System innerhalb des Systems an, wie es sys-
temtheoretisch üblich ist, dann gehört der Erzieher zur Umwelt des Kindes und umge-
kehrt. Von da aus lassen sich jetzt noch weitere „Umwelten“ des personalen Systems
203
Kind unterscheiden, die bei der Entwicklung von Bedeutung sind und durch die Opera-
tionen des Kindes mit in die Erziehungssituation bzw. erzieherische Kommunikation
einfließen. Beim Kind lassen sich wenigstens folgende Umwelten unterscheiden; es
sind sicherlich noch weitere denkbar:
Kind
Erzieher
dingliche Umwelt(z.B. Spielzeug)
Eltern
Klassenkamerad Geschwister
Schule alsInstitution
peer group
Verwandte
Abb. 3: Umweltsysteme des Kindes
Die vielfältigen Einheiten, die bei der Entwicklung des Kindes (bewußt oder unbewußt)
eine Rolle spielen, zeigen bereits, daß der Mensch systemtheoretisch als personales
System aufgefaßt und nicht als abgeschlossenes Subjekt erklärt werden kann. Dies wird
von Bedeutung sein, wenn es um den Gegenstand von Erziehung geht (vgl. Abschnitt
5.5.2).
Eine ähnliche Abbildung ließe sich auch für den Erzieher herstellen; darauf soll hier
aber verzichtet werden. Wichtig ist zu erkennen, daß auch die Erziehungssituation als
Einheit mit systemrelevanten Umwelten gekoppelt ist:
204
Erziehungssituation
Kind
dingliche Umwelt
Erzieher
ZeitRaum
Abb. 4: Systemrelevante Umwelten der Erziehungssituation
Die Zeit, die für die Erziehungssituation eine Rolle spielt ergibt sich als Einheit durch
die Differenz von Vergangenheit und Zukunft und ist „symbolisiert im Begriff der Ge-
genwart“ (Krause 1996, S.184). Der Raum bezieht sich auf die Einheit der Umgebung,
in der Erziehung stattfindet und die dingliche Umwelt umfaßt das Material, wobei es
sich z.B. auch um Medien handeln kann, die für die Erziehung und Entwicklung des
Kindes zur Verfügung stehen. So gilt diese Abbildung sowohl für eine Erziehungssitua-
tion auf dem Spielplatz zwischen Mutter und Kind, im Schwimmbad zwischen Sport-
lehrer und Kind oder in der Schulklasse zwischen Lehrer und Kind. Nicht nur Kind und
Erzieher, sondern auch das Umfeld oder der Rahmen, in dem Erziehungsprozesse ab-
laufen wird somit systemtheoretisch erfaßt.
Die Komplexität von Erziehung zeigt sich eigentlich erst durch die Verbindung aller
dargestellten Schemata. Systemtheoretisch ergibt sich Erziehung als Einheit aufgrund
der Umweltdifferenz und der damit verbundene Systemdifferenzierung.
Durch die operative Schließung des Systems (vgl. die Abschnitte 5.6 und 5.7) entsteht
die Grenze zu den Umweltsystemen. Da nun Erziehung durch Kommunikation (im
weiten Sinne) erfolgt, bezieht sich die Grenze nicht auf einen bestimmten Raum (so wie
man bei der Zelle von der Membran als Grenze sprechen kann), sie ergibt sich aufgrund
von Unterscheidung294.
294 „Die Grenze dieses Systems wird in jeder einzelnen Kommunikation produziert und reproduziert, indem die Kommunikation sich
als Kommunikation im Netzwerk systemeigener Operationen bestimmt und dabei keinerlei physische, chemische oder neurophysio-
logische Komponenten aufnimmt. Jede Operation trägt, anders gesagt, zur laufenden Ausdifferenzierung des Systems bei und kann
anders ihre eigene Einheit nicht gewinnen. Die Grenze des Systems ist nichts anderes als die Art und Konkretion seiner Operatio-
nen, die das System individualisieren“ (Luhmann 1997, S.76-77). Vgl. auch den Begriff „re-entry“ bei Luhmann ebd., S.45.
205
Dennoch findet Erziehung im Raum statt, sei es nun im Kindergarten, im Kinderzimmer
zu Hause oder im Klassenzimmer bzw. auf dem Schulhof. Der Raum kann dabei zur
Einengung der Freiheitsgrade von Systemen führen, da er operationale Möglichkeiten
begrenzen kann (vgl. Luhmann 1997 S.314), aber er kann genauso gut genutzt werden
zur Abgrenzung von anderen Systemen, wenn er um der Entwicklung des Kindes willen
gezielt aufgesucht und gestaltet wird. Durch Kommunikation werden die örtlich be-
dingten Räume überschritten. Da aus systemtheoretischer Sicht die Operationen als die
die Einheiten konstituierenden Elemente von Systemen im Vordergrund stehen und
diese Operationen im sozialen Bereich auf Kommunikation bezogen sind, verliert der
örtlich bedingte Raum die wesentliche Bedeutung in der Erziehung, so wie er in der
pädagogischen Theoriebildung im Sinne eines Schonraumes festgelegt wurde. Ob Er-
ziehungsprozesse im Klassenzimmer oder im Kinderzimmer ablaufen, so werden sie
erst durch die Differenz zu ihren Umweltsystemen und damit durch die spezifischen
Operationen von Kind und Erzieher zur Erziehung.
Für die Erziehung sind die Umweltsysteme des Kindes von Bedeutung, an denen es
außerhalb von Erziehungsprozessen partizipiert und sich auch durch seine Teilnahme
entwickelt. Prinzipiell gibt es keinen Unterschied zwischen dem Umweltbezug des Kin-
des und dem des Erziehers, wenn man davon ausgeht, daß es sich um die Partizipation
an verschiedenen Einheiten handelt. Eine Verschiedenheit besteht jedoch darin, welche
Kontexte in der erzieherischen Kommunikation von welcher Seite einfließen und bei
der Erziehung von Bedeutung werden295.
Die Entwicklung des Kindes, so zeigt sich hier, erfolgt nicht in einem spezifischen
System, sondern vielmehr im Kontext verschiedener Systeme oder sozialer Teilsysteme
und damit durch die strukturelle Koppelung von Umweltdifferenz und Systemdifferenz
im System Erziehung. Neben dem Unterricht denke man hier auch an die Freizeitges-
taltung des Kindes wie Sportverein, Musikschule, Peergroups etc. Alle diese verschie-
denen Kontexte, die für das Kind bedeutsam sind, lassen aus systemtheoretischer Sicht
295 „Ich biete Ihnen den Begriff des Kontextes an, die Vorstellung eines Musters in der Zeit (...) Und ‘Kontext’ ist mit einem anderen
ungeklärten Begriff, dem der ‘Bedeutung’ verknüpft. Ohne Kontext haben Worte und Handlungen überhaupt keine Bedeutung. Das
gilt nicht nur für die menschliche Kommunikation mit Worten, sondern auch für alle Kommunikation schlechthin, für alle geistigen
Prozesse, für jeglichen Geist, den eingeschlossen, der einer Seeanemone sagt, wie man wächst, und der Amöbe mitteilt, was sie als
nächstes tun soll. Ich stelle eine Analogie her zwischen dem Kontext in der oberflächlichen und teilweise unbewußten Sphäre per-
sönlicher Beziehungen und dem Kontext in den tieferen, archaischeren Prozessen der Embryologie und der Homologie. Ich be-
haupte, daß das Wort Kontext, was es auch immer bedeutet, ein angemessenes Wort ist, das notwendige Wort, um alle diese entfernt
verwandten Prozesse zu beschreiben“ (Bateson 19954, S.24 und 25).
206
nicht auf eine abgeschlossene Gruppenzugehörigkeit der Kinder schließen, sondern für
die Entwicklung des Kindes werden damit sich „wandelnde Partizipationsmuster“ von
Kontexten relevant (siehe Heyting 1996, S.212). Die entwicklungsbedingten Operatio-
nen des Kindes im Erziehungsprozeß sind auch gekennzeichnet von der Teilnahme an
außerhalb der Erziehung stattgefundenen Operationen bzw. Kommunikationen.
Die Aufgabe von Erziehung besteht dann darin, durch eine gesteuerte Partizipation im
System Erziehung, bei der der Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigt wird, die
für die Erziehung relevant erscheinenden (umweltgeprägten) Operationen des Kindes
mit denen des Erziehers, die ebenfalls durch Kontexte bedingt sind, die zudem aufgrund
des Sinnes von Erziehung in den Erziehungsprozeß einfließen müssen, in einen Zu-
sammenhang zu bringen.
Natürlich werden nicht alle Umwelteinflüsse des Kindes und des Erziehers in der Erzie-
hung relevant. Die für die Erziehung nicht notwendigen Beziehungen zu Umweltsyste-
men müssen aber auch nicht in der Erziehung ausgemerzt werden, denn Erziehung zielt
in diesem Sinne nicht auf Homogenität, sondern aus systemtheoretischer Sicht vielmehr
auf Individualität. Das Kind als personales System anerkennen meint, daß seine system-
relevanten Umwelten anerkannt werden. Dies gilt im übrigen auch für den Erzieher.
Auch in die Erziehungstätigkeit fließen Verhalten oder Handlungen des Erziehers ein,
die sich durch strukturelle Koppelung mit seiner Umwelt entwickelt haben. Erzieher
und Kind sind als Personen296 anzusehen und nicht als Rollenträger.
Aufgrund der Unterscheidung von Umweltdifferenz und Systemdifferenz lassen sich
verschiedene Systemebenen aufzeigen, die für das System Erziehung bedeutsam sind.
Es wurde bereits gesagt, daß in Hinblick auf die Gesellschaft als System, das System
Erziehung auch als Mikrosystem bezeichnet werden kann (vgl. Kapitel 5.2). Aus päda-
gogischer Sicht lassen sich drei Systemebenen unterscheiden: Erstens die Ebene, die das
System Erziehung insgesamt umfaßt, zweitens die Erziehungssituation als ein Teil des
Systems, das selbst eine Einheit darstellt und in rekursiver Weise zur Verwirklichung
des Systems Erziehung führt. Schließlich läßt sich als dritte Systemebene die an der
Erziehungssituation beteiligten personalen Systeme unterscheiden, die aufgrund von
296 „Dies unbemerkte, geräuschlose Funktionieren der strukturellen Koppelung von Kommunikation und Bewußtsein schließt es
keineswegs aus, daß die Teilnehmer an der Kommunikation in der Kommunikation identifiziert und sogar angesprochen werden.
Wir werden sie unter diesem Aspekt im Anschluß an eine alte Tradition ‘Person’ nennen, also sagen, daß der Kommunikationspro-
zeß in der Lage ist, externe Referenzen zu ‘personalisieren’“ (Luhmann 1997, S.106).
207
Asymmetrie und in rekursiver Weise in der erzieherischen Kommunikation die Erzie-
hungssituation entwickeln. Dabei handelt es sich auf allen drei Ebenen jeweils um ei-
genständige Systeme, auf die die hier beschriebenen Systemmerkmale zutreffen. Die
folgende Abbildung soll dies verdeutlichen:
Gesellschaft
gesellschaftliche Ebene
soziale Ebene
ausdifferenzierte Teisysteme
System Erziehung (andere soziale Systeme)
situative Ebene Erziehungssituation (weitere Erziehungssituation)
personale Ebene Kind Erzieher
Abb. 5: Die verschiedenen Systemebenen der Gesellschaft in ihrer Bedeutung für das System Er-ziehung
Da sich Erzieher und Kind innerhalb der Erziehungssituation als personale Systeme und
damit beeinflußt durch ihre jeweiligen systemrelevanten Umwelten verhalten, sind sie
gleichzeitig auch personale Systeme (und damit Teil) anderer ausdifferenzierter Teil-
systeme der Gesellschaft, also durch strukturelle Koppelung nicht nur miteinander, son-
dern auch mit der Gesellschaft als System verbunden. Deshalb gehen die in der Abbil-
dung gezeigten Pfeile in beide Richtungen.
5.3.3 Der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung bildet im Sys-tem Erziehung eine Einheit
Wie Kind und Erzieher aus systemtheoretischer Sicht im System Erziehung gegenseitig
zu Umwelten werden, so handelt es sich auch bei Erziehungs- und der Entwicklungs-
prozessen um Systeme, die in der Erziehung und damit systemintern gegenüber dem
anderen System jeweils zur Umwelt werden und gleichzeitig, durch die Differenz von-
einander als Einheit zu denken sind. Dies hat bereits Piaget in Bezug auf die Entwick-
lung des Organismus als Grundlage für die Entwicklung kognitiver Strukturen so gese-
hen. Danach zwingt sich nicht die Umwelt dem Organismus auf oder der Organismus
zwingt der Umwelt Strukturen auf, sondern „zwischen Organismus und Umwelt beste-
hen solche Interaktionen, daß beiden Faktoren die gleiche Bedeutung zukommt und
208
nicht voneinander zu trennen sind“ (Piaget 1983, S.100). Die von Piaget festgestellt
dritte Lösung für die mögliche Beziehung zwischen Organismus und Umwelt besteht
nun nicht in einer Synthese der ersten beiden, sondern sie geht darüber hinaus297. Das
bedeutet nun für das System Erziehung, daß systemintern nicht die Entwicklung des
Kindes allein Auslöser für die Erziehung ist und auch nicht, daß die Handlungen des
Erziehers allein Auslöser für die Entwicklung sind, sondern daß durch beide Prozesse
gemeinsam und zwar in der Erziehungssituation und damit in der erzieherischen Kom-
munikation eine Einheit von Erziehung und Entwicklung faßbar wird. Diese Einheit
ergibt sich eben durch die ständige Differenzierung zwischen Erziehungs- und Ent-
wicklungsprozessen.
Und was systemintern in Bezug auf die Einheit von System und Umwelt gilt, gilt auch
systemextern: Das System Erziehung kann sich nicht von seinen Umwelten (also von
anderen Teilsystemen der Gesellschaft wie das politische oder das wirtschaftliche Sys-
tem) steuern lassen und es kann, und das klingt eher selbstverständlich, nicht aus-
schließlich andere Teilsysteme der Gesellschaft steuern. Vielmehr erhalten und entwi-
ckeln sich soziale Systeme durch die ständige Differenzierung voneinander und die da-
mit verbundenen Relationen. Das geschieht, sowohl systemintern als auch systemextern
in Bereichen, die von Maturana als Phänomenbereiche bezeichnet werden und die auf
beobachteten Interaktionen beruhen (vgl. u.a. Maturana 19852, S.278). Wir werden dar-
auf zurückkommen, wenn die strukturelle Koppelung thematisiert wird.
Für die Einheit und damit den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung im
System Erziehung soll festgehalten werden, daß diese nicht am Kind oder am Erzieher
festzumachen ist, sondern in der Erziehungssituation jeweils aktuell durch die erzieheri-
sche Kommunikation zwischen Kind und Erzieher konstruiert wird. Die Umwelt wird
somit schon zu einem konstitutiven Faktor für die Entwicklung des Kindes. Gleichzeitig
ist aber auch zu sehen, daß sich das Kind als personales System aufgrund seiner inter-
nen Steuerungsstruktur geschlossen und in diesem Sinne unabhängig von der Umwelt
entwickelt298. Nur im Phänomenbereich der erzieherischen Kommunikation kann Ent-
297 „In Wirklichkeit sind die beiden ersten Arten einander enger benachbart als der dritten, da sie beide einfache und ungenügend
durchdachte Kausalreihen benutzen, während die dritte in dialektischem Sinn über sie hinausgeht (sie ‘aufhebt’), indem sie, statt
nach linearen, neue, nämlich kybernetische Erklärungsmodelle einführt“ (Piaget 1983, S.101).298 „Autopoietische Systeme erscheinen nun entgegen dem systemtheoretischen Grundpostulat der notwendigen Offenheit komple-
xer Systeme als Ganzheiten, die in ihrem Kernbereich, in ihrer inneren Steuerungsstruktur geschlossen sind. In der Tiefenstruktur
209
wicklung und Erziehung dann als Einheit festgestellt werden. Das bedeutet: „Kinder
werden (passiv!) nicht erzogen, werden nicht ge-fördert, werden nicht be-handelt, wer-
den nicht therapiert, sondern gehen aus dem Prozeß der Erziehung gemäß dem eigenen
Ansatz, der ontogenetischen Eigengesetzlichkeit mit einem bestimmten eigenen Resul-
tat hervor“ (Speck 1991, S.112). Damit wird noch einmal deutlich, was zu Beginn von
Abschnitt 5.3.2 gesagt wurde. Das Kind entwickelt sich selbständig (autopoietische
Organisation) und kann sich gleichzeitig nicht unabhängig von Erziehung entwickeln.
Erziehung und Entwicklung erzeugen sich wechselseitig im Erziehungsprozeß bzw. in
der Erziehungssituation.
5.3.4 Die Grenze vom System Erziehung
Durch die Differenzierung von der Umwelt erfolgt gleichzeitig die Grenzbildung des
Systems. In sozialen Systemen ist die Grenze natürlich nicht materieller, sondern sym-
bolischer Art und beruht auf Handlungen bzw. Kommunikation (zum Grenzbegriff vgl.
Abschnitt 4.4.1). Handlungen werden nach Luhmann durch das Problem der doppelten
Kontingenz konstruiert (Luhmann 1987, S.149). Doppelte Kontingenz, bezogen auf die
interne Struktur des Systems Erziehung, besagt, daß Kind und Erzieher von sich selbst
und auch über den anderen jeweils wissen, daß immer auch „anderes möglich sein
kann“. Das eigene und das Verhalten anderer personaler Systeme umfaßt immer auch
Unbestimmtheit. Luhmann widerspricht hier Parsons in dem Sinne, als ein vorher fest-
gelegter Wertkonsens nicht notwendig ist für doppelte Kontingenz (vgl. Luhmann 1987,
S.150-151). Doppelte Kontingenz umfaßt vielmehr „auf Dauer gestellte wechselseitige
Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Beziehungen zwischen Sinnsystemen“
(Krause 1996, S.90). Dies erklärt auch die Tatsache, daß Erziehung oder erzieherische
Kommunikation mißlingen kann. Hier ist aber zunächst von Interesse, daß durch Sinn
und die damit verbundenen Erwartungsstrukturen die doppelte Kontingenz „abgearbei-
tet“ werden kann, so daß sie als „Kommunikationserleichterung und Kommunikations-
barriere zugleich“ wirkt (Luhmann 1987, S.179). Dieses Abarbeiten von doppelter
Kontingenz führt schließlich zur Grenzbildung des Systems. Auf der Basis von Sinn
(vgl. dazu den entsprechenden Abschnitt in dieser Arbeit) werden Regeln für Handlung
und Verhalten systemintern geschaffen (schon in Abhängigkeit der Einheit der Sys-
ihrer Selbststeuerung sind sie geschlossene Systeme, und insofern – nur insofern!- gänzlich unabhängig und unbeeinflußbar von
ihrer Umwelt“ (Willke 19872, S.6).
210
tem/Umwelt-Differenz, also auch in Abhängigkeit von Werten oder Normen), und
durch die Erwartungen vom Kind an den Erzieher und umgekehrt werden die Grenzen
zu anderen Systemen gebildet. Schließlich erfolgt im Phänomenbereich der Kommuni-
kation die Grenzbildung.
Ob nun eine Situation als Erziehungssituation beschrieben werden kann (dabei ist zu
beachten, daß eine Beschreibung immer vom Beobachter erfolgt und nicht zwangsläufig
von den Teilnehmern), hängt von der Art der Beziehung zwischen Kind und Erzieher
ab, ihren gegenseitigen Erwartungen, ihren Vorstellungen über den Sinn von Erziehung
und ihren je spezifischen Bewußtseinsstrukturen. Zum Ausdruck kommen diese per-
soninternen Gegebenheiten erst in der Kommunikation, durch die dann die Grenze von
Erziehung oder die Grenze einer Erziehungssituation bezeichnet werden kann.
Letztlich obliegt es dem Beobachter, ob er eine Situation aufgrund der beobachteten
Kommunikation als Erziehungssituation bezeichnet oder nicht. Die Grenze von Erzie-
hung ist jedenfalls nicht sichtbar durch den Rahmen oder den Kontext, der geschaffen
wird, aber auch nicht allein durch die Kommunikation, da diese von den asymmetri-
schen Bewußtseinsstrukturen von Kind und Erzieher und weiteren Kontexten abhängig
ist. So tragen schließlich alle Systemmerkmale zusammen zur Grenzbildung bei, die
vom System aktuell selbst erzeugt wird. Die Grenze ist damit ein gedanklicher Rahmen
(der natürlich dann auch Konsequenzen in Bezug auf die Handlungen hat), der von den
Beteiligten gemeinsam bestimmt, in der Regel aber nur von dem Erzieher zum Aus-
druck gebracht wird.
Für die Erziehung (wie für andere soziale Systeme auch) bildet das Vertrauen die
Grundlage für den Umgang mit der doppelten Kontingenz. Gerade weil der Erzieher
weiß, daß das Kind auch anders handeln kann und gerade weil das Kind dies auch vom
Erzieher weiß, ist gegenseitiges Vertrauen eine gute Basis für das Sich-Einlassen auf
eine Erziehungssituation und für die Bildung der Grenze. Natürlich kann man mit
Mißtrauen Erziehung gestalten, aber „Vertrauen ist die Strategie mit der größeren
Reichweite. Wer Vertrauen schenkt, erweitert sein Handlungspotential beträchtlich. Er
kann sich auf unsichere Prämissen stützen und dadurch, daß er dies tut, deren Sicherheit
erhöhen; denn es fällt schwer, erwiesenes Vertrauen zu täuschen“ (Luhmann 1987,
S.180). Vertrauen ist gerade für die Erziehung grundlegend. Wird dem Kind Vertrauen
gegenüber seinem Verhalten geschenkt, kann es eher verschiedene Handlungsmöglich-
keiten zeigen und dann auch entwickeln. Grenzbildung führt somit auf der Basis von
211
Vertrauen nicht zur Einschränkung von Verhalten, sondern fördert die Entwicklung des
Kindes.
212
5.4 Erziehung erfolgt im Phänomenbereich der Kommunikati-on, die Entwicklung des Kindes im Phänomenbereich desBewußtseins
Bei der Beschreibung von Systemen sind nach Maturana zwei Phänomenbereiche zu
unterscheiden. Zum einen der „Bereich der Phänomene der Bestandteile der Einheit,
d.h. der Bereich, indem alle Interaktionen der Bestandteile stattfinden“ und zum ande-
ren der Bereich der „Phänomene der Einheit, d.h. der Bereich, der durch die Interaktion
der zusammengesetzten Einheit als einer einfachen Ganzheit bestimmt wird“ (Maturana
19852, S.246). Bei einem Phänomenbereich geht es somit um von einem Beobachter
festgestellte Interaktionen im System und zwischen System und Umwelt (siehe auch
Maturana ebd., S.278). Bei der Innenbetrachtung des Systems Erziehung bilden die
Bewußtseinssysteme der Kinder oder die psychischen Systeme die Bestandteile. Bei
einer soziologischen Betrachtung des Systems Erziehung (im Verhältnis zu anderen
sozialen Systemen) bildet die Kommunikation den Bereich, durch den sich das System
als eine zusammengesetzte Einheit überhaupt erst beschreiben läßt. Die Erziehung er-
folgt somit im Phänomenbereich der Kommunikation und es wird später zu fragen sein,
was die erzieherische Kommunikation im Gegensatz zur Kommunikation in anderen
sozialen Systemen unterscheidet. Die Entwicklung des Kindes erfolgt demgegenüber im
psychischen System bzw., indem in der vorliegenden Arbeit der Schwerpunkt auf die
kognitive Entwicklung gelegt wird, geht es vorrangig um die Entwicklung des Bewußt-
seins. Natürlich entwickelt sich auch Erziehung bzw. eine Erziehungssituation, was aber
nun wiederum im Bereich der Kommunikation erfolgt, die von der Ebene der Einheit
der Systeme aus betrachtet das „Bewußtsein“ des Systems Erziehung ausmacht.
Die Erziehung hat es also mit zwei voneinander getrennten und, unter Berücksichtigung
der jeweiligen autopoietische Organisation bzw. Selbstorganisation der Systeme, über-
schneidungsfreien Phänomenbereichen zu tun, die nun im Erziehungsprozeß irgendwie
zusammengeführt werden müssen. Und dieses Geschehen soll nun genauer betrachtet
werden.
5.4.1 Der Kommunikationsbegriff bei Luhmann
Zunächst ist das Verständnis von Kommunikation bei Luhmann erklärungsbedürftig.
Nicht nur, weil er immer wieder betont, daß nur Kommunikation kommunizieren kann,
213
sondern auch weil Kommunikation mit dem Handlungsbegriff zusammenhängt und
beide Begriffe bereits der Kritik unterzogen wurden (vgl. z.B. Krieger 1996). Auf das
Verhältnis von Kommunikation und Handlung soll hier noch nicht eingegangen werden.
Dies wird dann berücksichtigt, wenn es um die Steuerung von Erziehung und damit um
die erzieherische Handlung selbst geht (vgl. Kap. 5.9).
Kommunikation ergibt sich nach Luhmann - in ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber
herkömmlichen Übertragungsmodellen der Art, daß Information vom Sender zum
Empfänger ohne Veränderung übermittelt werden kann - durch die Einheit der drei Se-
lektionen von Information, Mitteilung und Verstehen299 (vgl. zusammenfassend Krieger
1996, S.100 und Luhmann 1995, S.113-124). In Hinblick auf das System Erziehung
bedeutet dies, daß der Erzieher, wenn er Information vermitteln will (z.B. sollen Anfang
November die Kinder in der zweiten Klasse die Geschichte von St. Martin kennenler-
nen), zunächst etwas Bestimmtes aus einem offenen Verweisungshorizont aktualisiert,
also bereits hier Selektion vorliegt. Die gewählte Mitteilung, die der Erzieher dem Kind
gegenüber macht (in diesem Fall wird die Geschichte vorgelesen), ist gekennzeichnet
durch doppelte Kontingenz, somit ebenfalls selektiv und für die an der Kommunikation
Beteiligten eine Anregung. Das heißt, Erzieher und Kind müßten beide wissen, daß die
Art der Mitteilung nur eine Möglichkeit unter mehreren ist (so könnte die Geschichte
von St. Martin auch in Form einer Bildergeschichte gemeinsam erarbeitet werden), und
jeder an der Kommunikation Beteiligte weiß auch, daß die anderen Beteiligten dies wis-
sen. Hier sei direkt angemerkt, daß jüngere Kinder aufgrund ihres in Entwicklung be-
findlichen Bewußtseins, die doppelte Kontingenz wohl kaum erfassen können. Schließ-
lich soll die Information des Lehrers auch vom Kind verstanden werden. Beim Verste-
hen geht es „nicht um eine Neuauslegung des geisteswissenschaftlichen Verstehensbeg-
riff (auch wenn Anschlüsse deutlich werden), sondern um die Modellierung einer im
systemtheoretischen Theoriedesign anschlußfähigen Operation“ (Backes-Haase 1996,
S.158). Das Verstehen ist damit nicht gleichzusetzen mit der Duplikation der Informati-
299 „Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zuviel Ontologie impliziert. Sie suggeriert, daß der Absender etwas über-
gibt, was der Empfänger erhält. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil der Absender nichts weggibt in dem Sinne, daß er selbst
etwas verliert. Die gesamte Metaphorik des Besitzens, Habens, Gebens und Erhaltens, die gesamte Dingmetaphorik ist ungeeignet
für ein Verständnis von Kommunikation. Die Übertragungsmetapher legt das Wesentliche der Kommunikation in den Akt der
Übertragung, in die Mitteilung. Sie lenkt die Aufmerksamkeit und die Geschicklichkeitsanforderungen auf den Mitteilenden. Die
Mitteilung ist aber nichts weiter als ein Selektionsvorschlag, eine Anregung. Erst dadurch, daß diese Anregung aufgegriffen, daß
diese Erregung prozessiert wird, kommt Kommunikation zustande“ (Luhmann 1987, S.193-194).
214
on, sondern ist lediglich Anschlußverhalten für weitere Kommunikation. Wenn, um bei
dem genannten Beispiel zu bleiben, das Kind im Anschluß an die Geschichte eine Frage
stellt, zeigt sich, daß es Teile der Geschichte verstanden, andere nicht verstanden hat
und Anschlußverhalten für die weitere Kommunikation erfolgt. Auf die Kommunikati-
on folgt erneute Kommunikation, das ist gemeint, wenn Luhmann davon spricht, daß
nur Kommunikation kommunizieren könne300. Und erst die Einheit von Information
(die z.B. der Erzieher gibt), Mitteilung (die ebenfalls durch den Erzieher erfolgt) und
Verstehen (auf seiten des Kindes) bildet Kommunikation. In der Mitteilung wird dabei
die eigentliche „Handlung“ im Sinn eines Ereignisses gesehen, worauf in Abschnitt 5.9
eingegangen wird.
Nach der Auffassung von Luhmann gilt dann auch für die Kommunikation, daß sie den
systemtheoretischen Merkmalen entspricht. Sie ist in sich geschlossen, erzeugt Redun-
danz, erzwingt Selektion und ist zweckfrei, denn entweder geschieht sie oder sie ge-
schieht eben nicht. Schließlich gilt für die Kommunikation genau dieselbe Einheit der
System/Umwelt-Differenz, wie sie für andere Systeme gilt. Und das bedeutet nun, daß
die Kommunikation strukturell gekoppelt ist mit dem jeweiligen Bewußtsein der an ihr
teilnehmenden personalen Systeme. Die Kommunikation läßt sich, systemtheoretisch
gesprochen, vom Bewußtsein stören, „aber immer nur in Formen, die in der weiteren
Kommunikation anschlußfähig sind, also kommunikativ behandelt werden können. Auf
diese Weise kommt es nie zu einer Vermischung der Autopoiesis der Systeme und doch
zu einem hohen Maß an Co-Evolution, und eingespielter Reagibilität“ (Luhmann 1995,
S.124). Kommunikation und Bewußtsein bzw. Kognition sind so miteinander verkop-
pelt, daß sie gegenseitige Strukturänderungen auslösen können, was im nächsten Ab-
schnitt noch angesprochen wird (vgl. auch die Ausführungen über Koontogenese in
Kap.5.2.6).
Aus diesem systemtheoretischen Kommunikationsbegriff, der neben der Sprache auch
die Schrift, die Medien etc. einschließt, also weit gefaßt wird, ergibt sich für die päda-
gogischen Fragestellung nach dem Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung
zunächst, daß in der Erziehung, wenn sie nun in der Kommunikation aktualisiert wird,
der Schwerpunkt in dem Verhältnis der an ihr beteiligten Prozesse zu sehen ist. Die
Prozesse selbst und nicht irgendwelche Dinge oder Objekte sind kennzeichnend für
300 Vgl. zum Beispiel Luhmann 1995, S.113: „Demgegenüber möchte ich behaupten, daß nur die Kommunikation kommunizieren
kann und daß erst in einem solchen Netzwerk der Kommunikation das erzeugt wird, was wir unter ‘Handeln’ verstehen“.
215
Erziehung. Da die Prozesse gegenwärtig sind und sich schnell verflüchtigen, sind sie für
die Erziehung schwer zu fassen. Allerdings erzeugen sie durch die strukturelle Koppe-
lung mit dem Bewußtsein auch Gedächtnis und können später erinnert werden (vgl.
Luhmann 1995, S.117). Trotzdem ist eine besondere Konzentration im Kommunikati-
onsprozeß erforderlich.
Bei dem oben genannten Beispiel wird die Information vom Erzieher (oder Lehrer) ge-
geben. Das Verstehen des Kindes, wenn es denn in der Kommunikation z.B. durch
Sprache artikuliert wird, bildet dann eine Information und wird zur Mitteilung. Wenn
also das Kind den Kommunikationsprozeß in Gang setzt, muß sich der Erzieher bewußt
sein, daß der Ausdruck des Kindes auf Selektion beruht. Der Erzieher kann nur aus der
Mitteilung auf die Information schließen und sein sich daran anschließender Verste-
hensprozeß wird ebenfalls selektiv verlaufen. Über die kognitive Entwicklung des Kin-
des erfährt der Erzieher nur dann etwas, wenn sich das Kind mitteilt (in welcher Form
auch immer). Näher kommt man an die Entwicklung des Kindes nicht heran, als durch
den differenztheoretischen und selektiven Zugang. Allerdings hilft das Bewußtsein
(wenn auch nicht unbedingt bewußt) schließlich selbst mit, wenn es um seine Einschät-
zung geht, denn das Bewußtsein hat sich „mit Kommunikation partiell identifiziert“
(Luhmann 1995, S.122).
5.4.2 Das Verhältnis von Bewußtsein und Kommunikation
Bezeichnet man das Bewußtsein als Teilsystem des psychischen Systems, wodurch in-
terne, gedankliche Operationen im engeren Sinne gemeint sind, so handelt es sich beim
Bewußtsein ebenfalls um ein operativ geschlossenes autopoietisches System, denn ein
Gedanke kann sich nur auf einen Gedanken beziehen, wie sich die neuronale Aktivität
nur auf neuronale Aktivität und die Kommunikation sich nur auf Kommunikation be-
ziehen kann301. Das bedeutet nun nicht, daß zwischen Bewußtsein und Umwelt keine
Beziehungen möglich sind, nur liegen diese „auf anderen Realitätsebenen als die Auto-
poiesis selbst“ (Luhmann 1995, S.56). So wird die Beziehung zwischen Bewußtsein und
Kommunikation zum Beispiel in und durch Sprache konkret.
301 „Desgleichen operiert das, was wir als je eigenes Bewußtsein erleben, als operativ geschlossenes autopoietisches System (...) Die
(systemübergreifende) Ausgangsannahme ist: daß Kognition begriffen werden muß als das rekursive Prozessieren von (wie immer
materialisierten ) Symbolen in Systemen, die durch die Bedingung der Anschlußfähigkeit ihrer Operationen geschlossen sind“
(Luhmann 1995, S.38).
216
Das Bewußtsein entwickelt sich schließlich durch Koppelung mit dem neurophysiologi-
schen System des Organismus und dem Kommunikationssystem der Gesellschaft302.
Die Entwicklung erfolgt systemtheoretisch wie jede Entwicklung auf den verschiedenen
Systemebenen durch Differenz zur Umwelt. Die Einheit von Kognition wird gerade
durch Differenz zur Einheit. Diese Erkenntnis ist wesentlich für die Frage nach der I-
dentität und Individualität personaler Systeme. Auch „Identität ist nur in einer Differenz
zu haben“ und diese Differenz muß, wenn sich das System mit seiner Identität identifi-
zieren will, die Einheit des Systems vertreten (Luhmann 1995, S.107). Die Differenz ist
notwendig, weil das Bewußtseinssystem mit Kontingenzen konfrontiert wird, die es
bewältigen muß. Diese Kontingenzen erfährt es in der Kommunikation. Und hier wird
dann schon deutlich, daß der Erziehung eine differenzschaffende Aufgabe zukommt.
Erziehung muß einerseits für Vielfalt sorgen, damit das Kind Differenzen herstellen
kann, was für die Individualität notwendig ist, gleichzeitig müssen Kontingenzen in
Hinblick auf den Entwicklungsstand des Kindes reduziert werden, damit es überhaupt
Differenzen aktiv herstellen kann. Dies muß in der erzieherischen Kommunikation er-
folgen.
Kommunikation und Bewußtsein sind als Systeme voneinander zu unterscheiden. Das
Verhältnis zwischen beiden Systemen ist ein asymmetrisches, denn Bewußtsein kann
ohne Kommunikation auskommen, Kommunikation hingegen nicht ohne Bewußtsein.
Auch wenn man ganz salopp formulieren könnte, daß dies einem Erzieher/Lehrer schon
einmal so vorkommt. Gemeint ist aber dann, daß der Erzieher der Ansicht ist, das Kind
habe vor seiner Äußerung nicht „genügend“ nachgedacht, aber das Bewußtsein ist auf
jeden Fall vorher aktiv gewesen, wenn auch nicht in gewünschter Weise. Die umge-
kehrte Situation ist aber für die Erziehung ebenfalls bedeutsam: Das Bewußtsein des
Kindes ist auch ohne Kommunikation aktiv und dann dem Erzieher nicht zugänglich.
Die Kommunikation (immer im weitesten Sinne verstanden, wobei in der vorliegenden
Arbeit der Schwerpunkt auf die Sprache gesetzt wird, weil hier nicht alle kommunikati-
ven Bereiche berücksichtigt werden können) bildet damit die Basis, um überhaupt eine
302 „Die Genetik der Bewußtseinsstrukturen ist mithin relativ einfach, sie setzt nur Minimalstrukturen für das Prozessieren von
Selbstreferenz und anregende ‘Zufälle’ voraus. Die Zufälle machen sich irritierend bemerkbar und werden dann im Bewußtsein
entrandomisiert. Sie werden induktiv in Strukturen umgesetzt und so der Selektion ausgesetzt, die auf diese Weise erzeugten Syste-
me können trotzdem hohe strukturelle Komplexität erreichen - einfach deshalb, weil der Strukturaufbau im Nacheinander geschieht,
also sich selbst epigenetisch verwenden kann“ (Luhmann 1995, S.77). Die genaue Betrachtung von Entwicklung wird im Abschnitt
über strukturelle Koppelung noch deutlich werden.
217
Beziehung zum Bewußtsein des Kindes herzustellen, bzw. genau genommen könnte
man hier von einer intendierten erzieherischen Koppelung sprechen, die genutzt wird,
um den Entwicklungsstand des Kind feststellen und auf ihn entsprechend Bezug neh-
men zu können. Wir werden darauf zurückkommen, wenn es um die strukturelle Kop-
pelung und das Lernen geht.
Luhmanns Argument geht dahin, daß die überschneidungsfreie Separierung von Kom-
munikation und Bewußtsein (wie von Systemen überhaupt) erst zur Komplementarität
von Systemen führt, die Überschneidungsfreiheit ist damit Voraussetzung für die Aus-
lösung gegenseitiger Strukturänderung (vgl. Luhmann 1995, S.45-46). So zeigt sich
auch zwischen Kommunikation und Bewußtsein die Einheit der System/Umwelt-
Differenz. Die Koppelung zwischen Kommunikation und Kognition führt zu Struktur-
änderungen der jeweiligen Systeme, aber sie können das jeweils andere System nicht
determinieren. Die Kommunikation kann das Bewußtsein nicht kopieren und das be-
deutet, daß sich auch dem Erzieher in der Kommunikation mit dem Kind das Bewußt-
sein des Kindes nicht vollständig offenbaren wird. (Man denke nur an die Methoden der
Psychoanalyse, wo dies auch nicht vollständig möglich ist, aber durch Erzählung, Ge-
spräch oder Befragung des Patienten versucht wird, so viel wie möglich von seinem
Bewußtsein oder Unterbewußtsein erfassen zu können). Das Besondere ist nun, daß
gerade weil in der Kommunikation das Bewußtsein nicht kopiert werden kann, die
Kommunikation dadurch die Möglichkeit hat, eine eigene Komplexität aufzubauen und
das gilt auch umgekehrt. Das wird eigentlich, wenn man zum Beispiel an die Kommu-
nikation zwischen Lehrer und Schüler denkt, in der Praxis immer deutlich: Bleiben wir
bei dem Beispiel der Geschichte, die vorgelesen und über die danach in der Klasse ge-
sprochen wird. Die kommunikativen Beiträge der Kinder und die Fragen oder Antwor-
ten und vielleicht auch die „Moderation“ des Lehrers erzeugen die Komplexität der
Kommunikation, ohne daß die an ihr beteiligten Bewußtseinssysteme kopiert werden
müssen (manche Schüler tragen gar nichts zum Gespräch bei). Und umgekehrt sieht es
dann so aus, daß die Gedanken der Schüler (und auch die, die sich selbst nicht aktiv
beteiligen, sondern nur zugehört haben) an Komplexität im inhaltlichen Bereich zuge-
nommen haben, aber jeweils nur in Abhängigkeit der je spezifischen Selbstorganisation,
denn die jeweiligen Bewußtseinssysteme kopieren ebenfalls nicht die Kommunikation.
218
Interpenetration303 besagt in diesem Zusammenhang, daß „im jeweiligen Bezugssystem
die Einheit und Komplexität (im Unterschied zu: spezifischen Zuständen und Operatio-
nen) des jeweils anderen eine Funktion erhält“. Das bedeutet nichts anderes, als daß
sich Bewußtseinssysteme durch die Interpenetration mit Kommunikationssystemen
entwickeln. Die Kommunikation im sozialen System Erziehung trägt zur Entwicklung
der Bewußtseinssysteme der Kinder bei und diese kognitiven Systeme wiederum sind
auf die Kommunikation angewiesen, wenn sie Komplexität aufbauen wollen. Die viel-
fältigen Kommunikationsmöglichkeiten wie Sprache, Buch, Computer, Film etc. för-
dern danach die Komplexität von Kommunikation und damit die Genese des Bewußt-
seins und dürfen nicht vorschnell als Negativum für die Erziehung betrachtet werden.
Dabei bleibt natürlich noch die Frage in Hinblick auf die Art, Anzahl und je aktuelle
Möglichkeit der in der Erziehung einsetzbaren Kommunikationsmöglichkeiten unter
Berücksichtigung der Entwicklung des Kindes. Daß sich aber wie bei Montessori der
Erzieher weitgehend zurückziehen sollte und fast ausschließlich das Material die
Kommunikation mit dem Bewußtseinssystem des Kindes übernimmt, verkürzt system-
theoretisch die erzieherischen Möglichkeiten.
Folgendes Schema, in dem das System Erziehung und die personalen Systeme von Kind
und Erzieher bewußt getrennt, weil überschneidungsfrei, festgehalten werden, kann das
eben Gesagte noch einmal prägnant zusammenfassen:
303 Es wird hier die Anmerkung von Luhmann zum Begriff „Interpenetration“ an gleicher Stelle übernommen: „Begriffsgeschicht-
lich leitet sich dieser Begriff her aus der Theorie des allgemeinen Handlungssystems von Talcott Parsons. Er bezeichnet dort das
gleiche Problem, wenn auch im Kontext einer völlig anderen Theoriearchitektur“. Vorher heißt es im Text: „...ein sprachlich nicht
sehr glücklicher und sicher klärungsbedürftiger Begriff“ (Luhmann 1995, S.51).
219
personales System
Kind
Bewußtsein
Erzieher
Bewußtsein
soziales Systempersonales System
Erziehung
Kommunikation
Selektion von:- Information- Mitteilung- Verstehen
(konsensueller Bereich*)(gedanklicher Bereich)
Operationsmöglichkeiten:- Beobachtung- Teilnahme an Kommunikation
*Ein konsensueller Bereich ergibt sich durch ineinandergreifende Verhaltensweisen, die sich aus der ontogenetischen Kop-pelung von Strukturen ergeben. Dieser Bereich soll hier der Vollständigkeit halber genannt werden, auf ihn wird aber erstin Kap. 5.7 ausführlich Bezug genommen. Der Begriff wurde von Maturana eingeführt, vgl. Maturana 19852, S. 255-256
Abb. 6: Darstellung der Eigenständigkeit der personalen Systeme und des sozialen TeilsystemsErziehung
Es ist zu beachten, daß in einem Schema, das systemtheoretische Aspekte erfaßt, die
Pfeile, die die einzelnen Aspekte miteinander verbinden, in der Regel in beide Richtun-
gen gehen, weil sich aufgrund der Koppellungen die Systemteile wechselseitig bedin-
gen. So besteht die Kommunikation nicht aus Information, Mitteilung und Verstehen,
sondern diese drei Selektion führen erst zu einer Einheit, die man als Kommunikation
bezeichnen kann und diese wiederum als Teil der Einheit Erziehung konstruiert Erzie-
hung mit.
5.4.3 Die Sprache in der Erziehung und Entwicklung
Die Sprache304 soll hier im Gegensatz zu anderen Kommunikationsmöglichkeiten oder -
medien besonders hervorgehoben werden, weil sie in der Erziehung das am häufigsten
eingesetzte Kommunikationsmedium zwischen Erzieher und Kind ist. Zur sprachlosen
Kommunikation gehört dann zum Beispiel das Verhalten oder der Umgang mit Dingen
und je nach Entwicklungsstand des Kindes oder in Hinblick auf die Sache, die vom Er-
zieher vermittelt werden soll, kann Kommunikation auch ohne Sprache auskommen.
Man denke hier an das Vormachen einer Tätigkeit, die nachgeahmt werden soll, aber
304 „Das Wort ‘Sprache’ bezeichnet primär die Fähigkeit zu sprechen, das gesprochene Wort bzw. die gesprochene Rede, und in
verallgemeinerter Weise jedes konventionelle Symbolsystem, das zu Zwecken der Kommunikation verwendet wird“ (Maturana
19852, S.258). Vgl. hierzu auch Luhmann 1997, S.213: „Die Sprache hat mithin eine ganz eigentümliche Form. Als Form mit zwei
220
nicht sprachlich begleitet werden muß, zum Beispiel wenn die Mutter dem Kind beim
Anziehen hilft. Auch hierbei kann von Kommunikation gesprochen werden, weil die
Mutter durch eine Handlung dem Kind mitteilt, wie man sich anzieht. Das Kind erhält
durch das Verhalten der Mutter Informationen (wie in diesem Falle über das Anziehen),
und die Mitteilung wird auch vom Kind verstanden. Die Kommunikation zwischen Er-
zieher und Kleinkind besteht vielfach aus einem sprachlichen und einem nicht-
sprachlichen Teil. Bei einem weiten Kommunikationsbegriff, der auch nicht-sprachliche
Operationen einschließt, handelt es sich stets um einen Vorgang zwischen Menschen,
bei dem eine Person etwas mitteilt, das eine andere Person verstehen soll bzw. versteht
(vgl. Krause 1996, S.117). Ab dem Schulalter, also gerade im Schulunterricht überwiegt
jedoch die sprachliche Kommunikation.
Um zum Ausdruck zu bringen, daß Sprache nicht etwas Dinghaftes ist, spricht Matura-
na vom sprachlichen Bereich und dementsprechend vom sprachlichen Verhalten perso-
naler Systeme (vgl. Maturana/Varela19872, S.223ff.). Das sprachliche Verhalten von
Erzieher und Kind wird für die erzieherische Kommunikation von Bedeutung. Es kann
hier auf eine Darstellung der Evolution von Sprache verzichtet werden. Das System
Erziehung als soziales System setzt voraus, daß es mit personalen Systemen zu tun hat,
die in einem sprachlichen Bereich leben und über die Fähigkeit des Sprechens verfügen,
eben weil personale Systeme wie auch Erziehung Teile der Gesellschaft sind. Maturana
hat, auch anschaulich, deutlich gemacht, daß sich das sprachliche Verhalten einer Per-
son durch die Koppelung von seinem ontogenetischen und dem kommunikativen Ver-
halten ergibt. Sprachliches Verhalten wird somit als „ontogenetisch kommunikatives
Verhalten“ beschrieben, das in der „ontogenetischen Strukturenkoppelung von Orga-
nismen entsteht“ (Maturana/Varela 19872, S.224, vgl. da auch die entsprechende Abbil-
dung). Diese Kennzeichnung ist möglich, weil, wie gesagt, Bewußtsein (als ontogeneti-
sches Verhalten) und Kommunikation zwei voneinander getrennte Bereiche sind, die
durch Koppelung miteinander verbunden werden können. Wenn beispielsweise das per-
sonale System Kind an der Kommunikation in der Klasse teilnimmt, dann entsteht
durch die Überschneidung seiner eigenen Äußerungen mit denen der Klassenkameraden
und denen des Lehrers, sein spezifisches sprachliches Verhalten, das sich eben nur
durch die Teilnahme Anderer an der Kommunikation entwickeln kann. Das Kind ist
Seiten besteht sie in der Unterscheidung von Laut und Sinn (...) Sprachliche Kommunikation ist also zunächst: Prozessieren von
Sinn im Medium der Lautlichkeit“.
221
also in Hinblick auf seine kognitive Entwicklung auf das sprachliche Verhalten anderer
Personen angewiesen und muß selbst die Möglichkeit zum sprachlichen Ausdruck ha-
ben.
Im sprachlichen Verhalten konkretisiert sich das Bewußtsein für die an der Kommuni-
kation teilnehmenden Personen. Dies erfolgt aufgrund von Selektion und ist gleichzeitig
Reduktion der Komplexität des Bewußtseins305. Da das Kind mit Sprache aufgewachsen
ist und die Sprache das vorrangige Medium unserer Gesellschaft ist, durch die sich das
Bewußtsein darstellt, kann man sagen, daß sich das Bewußtsein mit Sprache bzw.
Kommunikation partiell identifiziert hat (vgl. Luhmann 1995, S.122). Die Koppelung
zwischen Gedanken und Worten ist in vielen Bereichen schon ganz selbstverständlich
geworden und Personen haben schließlich auch Vorlieben für bestimmte Formulierun-
gen, Worte oder Geschichten. Dieser enge Bezug zwischen Sprache und Bewußtsein
kann in der Erziehung zum einen genutzt werden, indem gerade versucht wird, über die
Sprache an das Bewußtsein des Kindes näher heranzukommen, indem durch Sprache
z.B. für den Unterricht relevante Inhalte vermittelt werden. Zum anderen muß in der
Erziehung die Sprachentwicklung auf jeder kognitiven Entwicklungsstufe Berücksichti-
gung finden, denn die Sprache steuert, wenn auch nicht ausschließlich, das Bewußtsein
und die Kommunikation, an der das Bewußtsein sich beteiligen kann. Die Sprache trägt
damit zur Identitätsentwicklung des Menschen bei, worauf Bollnow in Anlehnung an
Herder bereits hingewiesen hat: „Es kommt entscheidend darauf an, wie dem Menschen
durch die Erziehung die Sprache vermittelt wird, und später auch, wie er in seiner
Selbsterziehung seine Sprache in die Hand nimmt. Der Erwerb der Sprache ist nicht nur
der Erwerb eines Ausdrucks- oder Verständigungsmittels, sondern ist Formung des
Menschen selbst durch Sprache“ (Bollnow 1966, S.183), eben weil die Sprache mit dem
Bewußtsein des Menschen strukturell verkoppelt ist. Und schließlich wird in der Kom-
munikation mit dem Erzieher das Kind durch die Sprache allmählich mit der Denkweise
der Gesellschaft vertraut gemacht (vgl. hierzu die Ausführungen von Lewis 1970, ins-
besondere S. 61 ff.). Die Sprache erfüllt damit wenigstens eine doppelte Funktion in der
Erziehung, indem sie zum einen mit dem Bewußtsein des Kindes strukturell gekoppelt
305 „Sprache verhindert, daß bei zunehmender Komplexität (die man als evolutionär seligiert erklären kann) bewußtseinsintern ein
Chaos entsteht. Und Sprache kanalisiert die Gedanken so, daß sie, gewissermaßen entlang von Sätzen, im Schnellzugriff verfügbar
sind. Das Bewußtsein hilft sich bei zunehmender Komplexität mit Sprache und wird dann das Mittel nicht wieder los“ (Luhmann
1995, S.81).
222
ist und deshalb zur Bewußtseinsentwicklung beiträgt und zum anderen, indem durch die
Koppelung zwischen Kommunikation und Bewußtsein das Kind das Denken und die
Gedanken unserer Gesellschaft kennenlernt.
Um nicht nur den Sinn von Kommunikation, der durch Sprache zum Ausdruck kommt,
sondern auch die Form von Sprache verstehen zu können, ist die Teilnahme an Kom-
munikation in unserer Gesellschaft unerläßlich. Erzieherische Kommunikation wird
somit notwendig für die Vermittlung von Sinn, den entwicklungsgerechten Erwerb von
Sprache und das Verständnis der „binären Codierung“ von Sprache (Luhmann 1997,
S.222). Denn die Sprache bietet für alles, was gesagt wird eine positive und eine negati-
ve Fassung. Die Verneinung einer Aussage ist nun nicht als negativer Wert zu verste-
hen, da es in der Welt an sich nichts Negatives gibt, sondern die Aussagemöglichkeiten
werden dadurch verdoppelt306. Indem eine Aussage verneint wird, eröffnet sich Kontin-
genz. Und beide Möglichkeiten, nämlich durch Sprache eine Aussage oder Mitteilung
zu bejahen und damit Anschlußmöglichkeiten für den Gesprächspartner zu schaffen
oder eine Aussage zu verneinen und damit einen „Kontingenzraum“ zu eröffnen (Luh-
mann ebd.) müssen dem Kind deutlich werden, zum einen weil dadurch Kontingenzen
für das Bewußtsein geschaffen werden, zum anderen weil soziale Systeme „überhaupt
erst durch diesen in der Sprache angelegten Symmetriebruch entstehen, an den dann
Konditionierungen anschließen können“ (Luhmann 1997, S.224). Denn wenn zum Bei-
spiel in der Erziehung Vorschriften oder Regelungen von den Kindern verneint oder
abgelehnt werden, dann können sich Alternativen und damit weitere Ausdifferenzierun-
gen im System Erziehung ergeben. Es kommt eben eher zu Veränderungen, wenn wi-
dersprochen wird und nicht, wenn Akzeptanz vorliegt. Zum Verständnis der Struktur
der Gesellschaft bleibt die Sprache und ihre Struktur somit grundlegend und aus sys-
temtheoretischer Sicht vorrangige Kommunikationsform in der Erziehung.
Dem widerspricht auch nicht Piaget, nach dem die Sprache letztlich die „Voraussetzung
der Vollendung logischer Strukturen“ ist (Piaget 1984a, S.93). Allerdings zeigen seine
entwicklungspsychologischen Befunde auch, daß der Ursprung von logischen Operatio-
nen vor dem Spracherwerb liegt (das Kind verfügt über Schemata vor der Sprachent-
wicklung), daß die Bildung des Denkens nicht allein an die Sprache gebunden ist (man
denke an die Ausbildung der Symbolfunktion durch das Symbolspiel, vgl. aber auch
306 „Wir sehen in dieser Struktur eine Kompensation für Probleme, die sich aus der Ausdifferenzierung des Kommunikationssystems
der Gesellschaft ergeben, eine Bedingung und Folgerichtung also der autopoietischen Autonomie“ (Luhmann 1997, S.223).
223
Arnheim 1996 über die Intelligenz des Sehens in seinem Buch über das anschauliche
Denken), daß die sprachliche Vermittlung allein also nicht ausreicht für die Entwick-
lung kognitiver Strukturen (auf der anschaulichen oder konkreten Stufe der kognitiven
Entwicklung muß das Kind gerade auch mit Dingen umgehen können, vgl. das Beispiel
in Kap.5.1.8). Schließlich handelt es sich bei den kognitiven Operationen um Systeme,
die in oder durch die Umgangssprache, wie sie in der Erziehung verwendet wird, gar
nicht zum Ausdruck gebracht werden können. Hierzu ist die Fachsprache oder die wis-
senschaftliche Sprache notwendig (man denke an die aussagenlogischen Operationen,
die in ihrer Komplexität vielleicht sprachlich gebraucht, aber nicht in der Sprache selbst
zum Ausdruck kommen). Piaget zeigt damit, daß sprachliche Strukturen konstruiert
werden, die „allgemeine Koordination des Tuns“ (Piaget 1980, S.73) aber grundlegen-
der ist als die Sprachentwicklung307. Das Verhalten impliziert also die Strukturen, die
dann in logischen oder sprachlichen Strukturen zum Ausdruck kommen. „Würde man
uns fragen, wo wir diese Strukturen hinstellen, würden wir, die Aussage Lévi-Strauss
transponierend, sagen: halbwegs zwischen dem Nervensystem und dem bewußten Ver-
halten selbst, denn die Psychologie ist zunächst eine Biologie“ (Piaget 1984a, S.133).
Hierdurch wird aber systemtheoretisch nichts anderes beschrieben als die strukturelle
Koppelung, die die verschiedenen Teilsysteme des personalen Systems zusammenführt
und zwar als Koppelung zwischen Nervensystem und Bewußtsein oder Gedanken, als
Koppelung zwischen Gedanken und Sprache und als Koppelung zwischen Bewußtsein
und Kommunikation.
Für den Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung ergibt sich aus der grundle-
genden Bedeutung der Sprache für die Systemtheorie in Abhängigkeit der entwick-
lungspsychologischen Befunde, daß der Sprache mit zunehmenden Alter eine besondere
Bedeutung zukommen muß, da durch die Sprache und die Kommunikation das Kind die
ausdifferenzierten Systeme der Gesellschaft kennenlernt, die sich nicht zuletzt aufgrund
von Kommunikation entwickelt haben. Zugleich ist zu beachten, daß für jüngere Kinder
die Sprache eine die Entwicklung begleitende Rolle spielt und nonverbale Kommunika-
tion verstärkt eingesetzt werden muß, wenn sie dem Entwicklungsstand des Kindes eher
307 Vgl. hierzu auch Bateson 19945, S.245: „Eher hat die Sprache zu den bezeichneten Gegenständen eine Beziehung, die sich mit
der zwischen einer Karte und einem Territorium vergleichen läßt. Bezeichnende Kommunikation, wie sie auf der menschlichen
Ebene auftritt, ist nur möglich nach der Entwicklung einer komplexen Menge von metasprachlichen (aber nicht verbalisierten)
Regeln, die bestimmen, wie sich Worte und Sätze auf Gegenstände und Geschehnisse beziehen“.
224
entspricht. Von hier aus ergeben sich erneut Fragen in Bezug auf die heute zur Verfü-
gung stehenden Medien. Aber auch die Frage nach entwicklungsgerechtem Spielzeug
bzw. Gegenständen, die nicht nur die geistige, sondern auch die körperliche, die motori-
sche und soziale Entwicklung fördern können. Das Gesellschaftsspiel, das innerhalb der
Familie mit Eltern und Kind gemeinsam gespielt wird, die Stelzen, an denen das Kind
seinen Gleichgewichtssinn erproben kann, das Fußballspielen in der Peer-group gegen-
über z.B. dem Tennisspielen als Einzelsportart, das gemeinsame Basteln mit der Mutter
oder Handarbeiten, das Computerspiel oder das Schauen einer Kindersendung etc., all
diese Kommunikationen zwischen Gegenstand, Bild, Sprache und Bewußtsein des Kin-
des dienen schließlich der Entwicklung und sollten in der Erziehung genutzt werden.
Das Problem heute scheint eher in der „Dosierung“ zu liegen und in dem Ausbalancie-
ren zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, die nicht zugunsten der einen oder der
anderen ausfallen sollte, denn Komplexität wird sich wohl kaum durch Einseitigkeit
aufbauen. Auch hier muß für den Erzieher, sei es nun der Lehrer oder die Eltern, die oft
die Freizeitgestaltung ihrer Kinder mitorganisieren, die Entwicklung des Kindes zur
Richtschnur werden. Es geht um die Verhältnismäßigkeit zwischen verbaler Kommuni-
kation (die vorwiegend in der Schule eingesetzt wird), nonverbaler Kommunikation
(Aktivitäten durch Spiel, Sport, Musik etc.) und der Bewußtseinsstruktur des Kindes,
die für die Verarbeitung all dieser Eindrücke und Anforderungen Zeit und Ruhe benö-
tigt. Ein Beispiel mag dies noch verdeutlichen: Wenn die Mutter dem dreijährigen Kind
zum Einschlafen am Abend eine englische Hörspielcasette vorspielt, damit seine
sprachlichen Fähigkeiten schon früh entwickelt werden, dann mag das ein oder andere
englische Wort sicherlich verstanden und wiedergegeben werden. Vielleicht wäre aber
eine von der Mutter vorgelesene Geschichte, durch die der Körper zur Ruhe kommt und
das Kind sich entspannen kann, angebrachter als Abschluß eines erlebnisreichen Tages.
Kommunikation im weiten Sinne verstanden ist ganz wichtig für die Entwicklung des
Kindes. Aber - und das ergibt sich aus der Verneinung der Aussage - es muß auch die
Zeit dasein, nicht zu kommunizieren, denn dann wird das Kind auf sein Bewußtsein
verwiesen, wo Entwicklung eigentlich erst stattfindet.
5.4.4 Die erzieherische Kommunikation
Zusammenfassend soll nur das Gesagte für die erzieherische Kommunikation, im Ge-
gensatz zu anderen Kommunikationseinheiten deutlich gemacht werden. Dies geschieht
225
mit Hilfe einer Abbildung, die in Anlehnung an Maturana und Varela (19872, S.224)
erweitert wurde:Erzieherische Kommunikation als Ko-Ontogenese
ontogenetisches Verhaltendes Kindes
sprachliches Verhaltendes Kindes
ontogenetisches Verhaltendes Erziehers
sprachliches Verhaltendes Erziehers
kommunikatives Verhalten
Abb. 7: Erzieherische Kommunikation als Ko-Ontogenese
Diese Abbildung muß man sich genau genommen als dreidimensionale vorstellen, in
der je nach Verlauf der Kommunikation das unterschiedliche Verhalten der personalen
Systeme hintereinander zu denken ist und erst durch die Koppelung der Einheiten durch
die Interaktion die erzieherische Kommunikation als neue Einheit entsteht. Nur so wird
deutlich, daß es sich hierbei um jeweils überschneidungsfreie Einheiten handelt. Die
erzieherische Kommunikation bildet ein Teilsystem im System Erziehung, sie ist nicht
Teil von personalen Systemen. Der Vorteil der systemtheoretischen Sichtweise besteht
darin, daß die erzieherische Kommunikation als eigenständige Einheit in der Pädagogik
thematisiert werden kann (vgl. hierzu den Abschnitt über die Konsequenzen der Sys-
temtheorie für die pädagogische Forschung).
Das sprachliche Verhalten von Kind und Erzieher sind als Teile ihres jeweiligen onto-
genetischen Verhaltens zu sehen, das von der spezifischen autopoietische Organisation
und Struktur des personalen Systems bestimmt ist. In der erzieherischen Kommunikati-
on liegt ein asymmetrisches Verhältnis der an ihr beteiligten personalen Systeme vor,
weil der Entwicklungsstand des Kindes noch nicht dem eines Erwachsenen entspricht,
so wie dies beim Erzieher der Fall ist. Kind und Erzieher nehmen nicht als „leere Hül-
sen“ an der Kommunikation teil, sondern sie bringen ihre Eigenkomplexität immer
schon mit. Dieses je eigene sprachliche Verhalten bildet das gemeinsame kommunikati-
ve Verhalten. Das kommunikative Verhalten ist dann „solches Verhalten, das im Rah-
men sozialer Koppelung auftritt“ (Maturana/Verela 19872, S.210). In der erzieherischen
Kommunikation wirken das sprachliche Verhalten des Erziehers und des Kindes zu-
226
sammen, wobei das sprachliche Verhalten des Erziehers sich dem Entwicklungsstand
des Kindes so annähert, daß für das Kind entsprechende Anschlußmöglichkeiten für
sprachliches Verhalten gegeben sind. Das Kind muß nicht nur die Aussagen des Erzie-
hers verstehen können, sondern diese sollten auch noch sein Bewußtsein anregen, sozu-
sagen selbständig weiterzudenken. Ein sprachliches Mittel hierfür, nämlich eine Frage
an das Kind zu richten, ist bereits seit Sokrates bekannt. Und wenn das Kind keine
Anschlußmöglichkeit in dem Gespräch mit dem Erzieher findet, dann bedeutet dies aus
systemtheoretischer Sicht zunächst für den Erzieher, daß er weitere Kontingenzen aus-
schöpfen muß, indem er eine Frage anders stellt oder den Zugang zu einem Problem neu
gestaltet etc.
Das ontogenetische Verhalten umfaßt nach Maturana non-verbale Kommunikation, das
sprachliche Verhalten von Erzieher und Kind umfaßt auch Kommunikation, die nicht
als erzieherisch zu bezeichnen ist und schließlich umfaßt das kommunikative Verhalten
neben der Sprache auch andere kommunikative Möglichkeiten und vor allem auch
Themen, die für die erzieherische Kommunikation zu dem gegebenen Zeitpunkt nicht
relevant sind. Die erzieherische Kommunikation ergibt sich somit durch Ko-Ontogenese
von Kind und Erzieher und kann nur gemeinsam von beiden gestaltet werden. Wenn
man sich nun eine Kommunikationseinheit im Unterricht vorstellt, an der viele perso-
nale Systeme beteiligt sind, dann wird eine Eigenkomplexität von erzieherischer Kom-
munikation deutlich, die in einer Abbildung nur schwer zu fassen wäre.
So gilt auch für die erzieherische Kommunikationseinheit das Gleiche wie für andere
Systemeinheiten: als Teil von Erziehung ist erzieherische Kommunikation komplex, sie
ist gleichzeitig Reduktion von Komplexität, wenn man in Anlehnung an die Abbildung
beachtet, was in der erzieherischen Kommunikation nicht berücksichtigt werden kann.
Sie ist also mit Selektion verbunden. Und wenn schließlich die Einheit der Sys-
tem/Umwelt-Differenz bedacht wird und man systemtheoretisch davon auszugehen hat,
daß das Verhalten des Erziehers zur Umwelt des Kindes gehört und umgekehrt, dann ist
auch erzieherische Kommunikation als Differenz einer Einheit von asymmetrischen
sprachlichen Verhaltensweisen erklärbar.
Für die erzieherische Kommunikation ergibt sich daraus zusammenfassend:
- Als Ko-Ontogenese entsteht sie durch die Koordination von sprachlichem Verhalten
zwischen dem Erzieher und dem in Entwicklung befindlichen Kind. Sie steht im Zent-
rum des Systems Erziehung (vgl. hierzu auch die Abbildung in Büeler 1994, S.110).
227
- Über das sprachliche Verhalten kommen in der erzieherischen Kommunikation auch
die unterschiedlichen Bewußtseinssysteme von Erzieher und Kind zum Ausdruck. Sie
treffen hier zusammen und können sich aufgrund von Koppelung gegenseitig beeinflus-
sen. Die erzieherische Beeinflussung erfolgt somit über die erzieherische Kommunika-
tion (vgl. auch Grzesik 1994, S.216).
- Die erzieherische Kommunikation kann nur dann stattfinden, wenn eine operationale
Übereinstimmung zwischen Kind und Erzieher besteht, also die möglichen Zustände
des Bewußtseins von Erzieher und Kind müssen möglichst gleich sein (vgl. Maturana
19852, S.289). Das heißt, der Erzieher muß die Bewußtseinsfähigkeiten des Kindes ab-
schätzen können (Was kann das Kind verstehen? Welche Fragen kann es nun beant-
worten, welche Aufgaben lösen? etc.) und auf diese reagieren, obwohl seine eigenen
Bewußtseinsstrukturen weit über denen des Kindes liegen. Der Erzieher sorgt so für
Anschlußmöglichkeiten gemäß dem Entwicklungsstand des Kindes im Gespräch, seine
Aufgabe besteht in der Herstellung operationaler Übereinstimmung. Dies geschieht
konkret im konsensuellen Bereich (vgl. Kap.5.7).
- Die erzieherische Kommunikation bildet einen geschlossenen Bereich von Interaktio-
nen zwischen Kind und Erzieher, der schließlich zu einem konsensuellen Bereich wird
(vgl. Maturana ebd., S.290 sowie den Abschnitt über den konsensuellen Bereich).
- Die erzieherische Kommunikation ist abhängig von der individuellen Ontogenese der
jeweils an ihr beteiligten personalen Systeme. Außerdem findet sie in der Gegenwart
statt. Hier wird das Bewußtsein des Kindes deutlich und hier kann es bestimmbar wer-
den.
- Durch das Verhalten im gemeinsamen Bereich der erzieherischen Kommunikation, in
der der Erzieher Rücksicht auf die Entwicklung des Kindes nimmt, entsteht der Sinn als
eine Beziehung von sprachlichen Unterscheidungen (vgl. Maturana/Varela 19872, S.228
und siehe den nächsten Abschnitt). In der erzieherischen Kommunikation erzeugt das
Kind eigene Sinnvorstellungen: Zunächst wird in der Kommunikation von Erzieher und
Kind gemeinsam Sinn geschaffen, der der gewünschten Sinnvermittlung des Erziehers
nach Möglichkeit entsprechen sollte. Vom Bewußtsein der Kindes wird der Sinn der
erzieherischen Kommunikation nach Maßgabe der eigenen autopoietischen Organisati-
228
on des Organismus bzw. der Selbstreferentialität308 gedanklich aufgenommen und
schließlich erneut, nun für das systeminterne gedankliche Geschehen, gebildet. Dies
kann zur Strukturveränderung im Bewußtsein und damit zur Erziehung im eigentlichen
Sinne führen. Die Kommunikation dient damit der Sinnkonstruktion und der Sinnver-
mittlung. Daran ist das Bewußtsein beteiligt, das auch durch Sinnkonstruktion und
durch selbstreferentielle Sinnaufnahme gekennzeichnet ist.
- Wenn das Kind in Anlehnung an den gemeinsam hergestellten Sinn in der erzieheri-
schen Kommunikation eigene Sinnvorstellungen erzeugt, führt dies letztlich zur Identi-
tätsentwicklung und zur Entwicklung seines Verständnisses von Welt. Deshalb spre-
chen Maturana und Varela auch davon, daß die Welt durch das „In-der-Sprache-sein“
hervorgebracht wird (Maturana/Varela 19872, S.253). Auf die erzieherische Kommuni-
kation kann in unserer Gesellschaft nicht verzichtet werden.
- Schließlich zeigt sich für das System Erziehung, daß nicht Produkte im Mittelpunkt
stehen, wie der Mensch oder die Bildung, die man besitzen kann, sondern es geht um
Prozesse wie die Kommunikation. In den Prozessen, die die Systeme ausmachen wer-
den die Weichen für Veränderung und Entwicklung geschaffen. Dies geschieht entlang
von Themen, durch die Veränderungen „inszeniert werden können“ (Büeler 1994,
S.114). Das Augenmerk der Erziehung muß vor allem auf die Gestaltung der Themen
im Prozeß der erzieherischen Kommunikation erfolgen309.
308 „Ein System kann man als selbstreferentiell bezeichnen, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten
selbst konstruiert und in allen Beziehungen zwischen diesen Elementen eine Verweisung auf diese Selbstkonstitution mitlaufen läßt,
auf diese Weise die Selbstkonstitution also laufend reproduziert“ (Luhmann 1987, S.59). Vgl. hierzu auch den Abschnitt 5.1.309 Hieran schließt sich die Frage nach einer Didaktik aus systemtheoretischer Sicht an, der im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter
nachgegangen werden kann. Vgl. aber z.B. Terhart, E.: Konstruktivismus und Unterricht. Gibt es einen neuen Ansatz in der Allge-
meinen Didaktik? In: Zsf. f. Pädagogik 1999, Heft 5, S.629ff.
229
5.5 Der Sinn von Erziehung und Entwicklung
Bei psychischen und sozialen Systemen handelt es sich um Systeme, die sich durch
Sinn konstituieren, am Sinn ausdifferenzieren, bzw. deren Operationen an Sinn gebun-
den sind. Sinn bildet damit die Basis für die Entwicklung oder Veränderung dieser
Systeme, denn für psychische und soziale Systeme gibt es nur die Möglichkeit, das
Verhältnis von System und Umwelt durch Sinn zu verarbeiten (vgl. Luhmann 1987,
S.95). Sinn bezeichnet die „Ordnungsform menschlichen Erlebens“ (Haber-
mas/Luhmann 1971, S.31). In der Systemtheorie wird Sinn zum grundlegenden Merk-
mal psychischer und sozialer Systeme (vgl. Abschnitt 4.4.2). Weil dieses Merkmal im
Vordergrund steht, wird es im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Verhältnis zu den
anderen Systemmerkmalen sozusagen die Mitte bilden. Dennoch ist hier bereits anzu-
merken, daß sich der Sinnbegriff aus systemtheoretischer Sicht erst vollständig erklären
läßt, wenn alle Systemmerkmale beschrieben sind, denn der Sinn (von Systemen) ergibt
sich erst durch deren Zusammenhang. Der Sinn von Erziehung ist nicht nur abhängig
von dem in diesem Abschnitt dargestellten Sinn aufgrund von Sinn als Form, sondern er
ergibt sich zum Beispiel auch durch die Komplexität von Erziehung (der Sinn von Er-
ziehung besteht in der Reduktion der Komplexität von Sinn, der in der Erziehung ver-
mittelt werden soll) oder durch die Organisation und Struktur von Erziehung (der Sinn
von Erziehung besteht darin, auch die Organisation von Entwicklung als Richtung für
Erziehung zu betrachten) etc. In dem Kapitel zur Erziehungssituation wird noch deut-
lich werden, wie erzieherischer Sinn konkret entsteht.
Besonders hervorgehoben wird der Sinnbegriff bei Luhmanns Darstellung sozialer
Systeme, während bei Maturana die Funktionsweise vorwiegend biologischer Systeme
zentral ist. Dennoch kann auch nach Maturana eine „gemeinsame Welt“ nur dann her-
vorgebracht werden, wenn die Menschen gemeinsam nach umfassenden Perspektiven
suchen, wodurch schließlich Sinn geschaffen wird (vgl. Maturana/Varela 19872, S.264).
Das Problem aus pädagogischer Sicht, was sich durch den systemtheoretischen Sinn-
begriff ergibt, bezieht sich auf dessen Inhalt. Denn Sinn wird bei Luhmann als „allge-
meine Form der selbstreferentiellen Einstellung auf Komplexität“ aufgefaßt, „die nicht
durch bestimmte Inhalte (unter Ausschließung anderer) charakterisiert werden kann“
230
(Luhmann 1987, S.107). Sinn als Form310 wird gleich näher erklärt werden. Für die Pä-
dagogik sind aber neben der Form auch die Inhalte von Interesse und deshalb muß in
einem zweiten Schritt gefragt werden, wie man über die Form zu inhaltlichen Aussagen
über den Sinn von Erziehung gelangt. Damit liegt eine Aufgabe der Pädagogik als Wis-
senschaft und der Erziehung in der Befähigung zur Herstellung und zum Gebrauch von
Formen. Formen ergeben sich durch herausgearbeitete Unterscheidungen, zum Beispiel
zwischen einem System und dessen Umwelt. Geht es beispielsweise um Fragen der
Schulentwicklung oder um die Planung eines Kinderhortes etc., geschieht dies durch
Unterscheidungen bzw. Differenzierungen zwischen dem geplanten System und der
Umwelt, in der das System entstehen soll. Durch die Differenzierung zwischen System
und Umwelt können neue Formen, seien es nun Systeme oder auch Sinneinheiten, ent-
wickelt werden. Darauf wird in Kap.7.2 noch genauer hingewiesen.
5.5.1 Die Form von Sinn und Erziehung als Sinnsystem
Wenn jetzt von dem Sinn von Erziehung gesprochen wird, geht es nicht um das Ziel
von Erziehung, sondern auch um die Form des Systems Erziehung. Der Sinn von Sys-
temen entsteht durch die „Einheit der Differenz von Aktualität und Possibilität“ (Krause
1996, S.154). Sinn ergibt sich somit durch die Unterscheidung zwischen dem, was prin-
zipiell für das System möglich ist und dem, was aktuell vom System dann in Form von
Handlungen oder Verhalten ausgeführt wird. Phänomenologisch wird Sinn als Verwei-
310 Von einer Form wird bei Luhmann dann gesprochen, wenn sich etwas durch eine Unterscheidung ergibt, wobei gleichzeitig das,
was durch die Unterscheidung ausgeklammert wird, als Möglichkeit immer mitgeführt wird (siehe Luhmann 1987, S.114). Eine
Unterscheidung erzeugt somit eine Form, wobei es sich schließlich um Begriffe handelt und Begriffe Formbegriffe sind (siehe
ausführlich Krause 1996, S.98). Den Formbegriff hat Luhmann von Spencer Brown übernommen. „Formen sind danach nicht länger
als (mehr oder weniger schöne) Gestalten zu sehen, sondern als Grenzlinien, als Markierungen einer Differenz, die dazu zwingt,
klarzustellen, welche Seite man bezeichnet, das heißt: auf welcher Seite der Form man sich befindet und wo man dementsprechend
für weitere Operationen anzusetzen hat (...). Der Formbegriff unterscheidet sich damit nicht mehr nur vom Begriff des Inhalts; aber
auch nicht nur vom Begriff des Kontextes. Eine Form kann im Unterschied von etwas zu allem anderen liegen, ebenso auch im
Unterschied von etwas zu seinem Kontext (etwa eines Bauwerks zu seiner städtischen oder landschaftlichen Umgebung), aber auch
im Unterschied eines Wertes zu seinem Gegenwert unter Ausschluß dritter Möglichkeiten. Immer dann, wenn der Formbegriff die
eine Seite einer Unterscheidung markiert unter der Voraussetzung, daß es noch eine dadurch bestimmte andere Seite gibt, gibt es
auch eine Superform, nämlich die Form der Unterscheidung der Form von etwas anderem (...). Für die Systemtheorie selbst wird mit
Hilfe dieses Formbegriffs klargestellt, daß sie nicht besondere Objekte (oder sogar nur: technische Artefakte oder analytische Kon-
strukte) behandelt, sondern daß ihr Thema eine besondere Art von Form ist, eine besondere Form von Formen, könnte man sagen,
die die allgemeinen Eigenschaften jeder Zwei-Seiten-Form am Fall von ‘System und Umwelt’ expliziert“ (Luhmann 1997, S.60, 62
und 63). Der Formbegriff wird bei Luhmann zu einem Beschreibungsmodus von Unterscheidungen. Die Form von Systemen ergibt
sich durch die Unterscheidung von System und Umwelt, Sinn ergibt sich durch die Unterscheidung von Aktualität und Possibilität
und die Beobachtung ergibt sich durch die Unterscheidung einer Unterscheidung und einer Bezeichnung.
231
sungsüberschuß bezeichnet (vgl. Luhmann 1987, S.93), und in einem aktuellen Ereignis
werden durch den Sinn Verweisungen auf andere Möglichkeiten miterfaßt. Dabei kann
Sinn nur rekursiv erzeugt werden311. So wird sich zum Beispiel der Lehrer bei der Vor-
bereitung einer neuen Unterrichtseinheit überlegen, wie er didaktisch vorgehen will,
welche Mittel er einsetzt etc., kurzum, wie die Verbindung zwischen Schülern und
Thema gestaltet werden kann. Der Lehrer stützt sich dabei auf seine Erfahrungen, sein
Wissen und seine Einschätzung der aktuellen Situation, die er zu bewältigen hat. So
wird es schließlich verschiedene Möglichkeiten geben, die Unterrichtseinheit zu ges-
talten. Auch wenn sich der Lehrer für eine entschieden hat, gehen die anderen Möglich-
keiten nicht prinzipiell verloren, sie werden nur nicht aktuell.
Sinn entwickelte sich durch die Koevolution psychischer und sozialer Systeme und da-
mit auf der Basis der strukturellen Koppelung von Bewußtsein und Kommunikation.
Sinn ist vor allem abhängig von der Sprache bzw. symbolischen Generalisierungen und
damit Sinneinheiten, die sich im Verlauf der Zeit entwickelten und die direkt mit ent-
sprechenden Erwartungsstrukturen verbunden sind (siehe Luhmann 1997, S.112). Die
Gesellschaft hat nun im Verlauf ihrer Geschichte bzw. der kulturellen Entwicklung
Sinn-einheiten hervorgebracht. Gleichzeitig wurde und wird Sinn auch in Hinblick auf
die Zukunft der Gesellschaft gebildet. Parallel zu gesellschaftlichen Sinneinheiten und
durch die Koevolution von sozialen und personalen Systemen hat sich das soziale Sys-
tem Erziehung ausdifferenziert (vgl. Büeler 1994, S.92ff.) und für sein System notwen-
dige Sinneinheiten und auch Kriterien entwickelt, die hier in Abgrenzung zu denen an-
dere Systeme als pädagogisch bezeichnet werden sollen. Es soll hier aber kein Zeit-
punkt in der Geschichte von Erziehung festgelegt werden, ab dem von pädagogischen
Sinnkriterien und Sinneinheiten gesprochen werden kann. Diese umfassen auf jeden
Fall die Geschichte der pädagogischen Theoriebildung wie auch die Geschichte politi-
scher Regelungen für das System Erziehung, wodurch der Sinn des Systems bestimmt
und verändert wurde.
311 „Soweit Rekursionen auf Vergangenes verweisen (auf bewährten, bekannten Sinn), verweisen sie nur auf kontingente Operatio-
nen, deren Resultate gegenwärtig verfügbar sind, aber nicht auf fundierende Ursprünge. Soweit Rekursionen auf Künftiges verwei-
sen, verweisen sie auf endlos viele Beobachtungsmöglichkeiten, also auf die Welt als virtuelle Realität, von der man noch gar nicht
wissen kann, ob sie jemals über Beobachtungsoperationen in Systeme (und in welche?) eingespeist werden kann. Sinn ist demnach
eine durch und durch historische Operationsform, und nur ihr Gebrauch bündelt kontingente Entstehung und Unbestimmtheit
künftiger Verwendungen“ (Luhmann 1997, S.47).
232
Ob nun Erziehung als soziales System verstanden wird (wie das Erziehungssystem)
oder als Prozeß innerhalb eines sozialen Systems (zum Beispiel Erziehung innerhalb der
Familie als soziales System), Erziehung ist ein Sinnsystem, das durch pädagogische
Sinneinheiten gekennzeichnet ist und sich gerade durch diese von anderen Systemen
abgrenzt, worauf im nächsten Abschnitt genauer eingegangen wird.
In Bezug auf Sinn als Form ist hier festzuhalten, daß im System Erziehung und damit in
jeder Erziehungssituation der konkrete erzieherische Sinn durch Kommunikation bzw.
Bewußtsein entsteht312. So wird zum Beispiel der Sinn von Erziehung innerhalb einer
aktuellen Erziehungssituation zwischen Mutter und Kind konstruiert, indem von beiden
Handlungen und kommunikative Operationen, die auf unterschiedlichen Bewußt-
seinsstrukturen beruhen, in der gemeinsamen Kommunikation so zum Ausdruck ge-
bracht werden, daß ein Beobachter von einer erzieherischen Kommunikation, also von
Erziehung sprechen würde. Wir werden darauf im Folgenden noch genauer eingehen.
Insbesondere die Kommunikation im sozialen System erlangt damit einen besonderen
Stellenwert. Das System Erziehung verlangt danach vom Erzieher entsprechende kog-
nitive und kommunikative Fähigkeiten. Das bedeutet aber auch, daß kommunikative
und kognitive Prozesse in der Erziehung selbst im Mittelpunkt stehen müssen, wenn das
Kind später als Erwachsener bei der Gestaltung oder Veränderung sozialer Systeme
„sinnvoll“ mitarbeiten soll.
So zeigt sich bereits hier, daß Sinn als Form für das System Erziehung inhaltlich diffe-
renziert werden kann, wenn sich zum Beispiel daraus ergibt, daß das Gespräch zwi-
schen Erzieher und Kind, genauso wie das Gespräch zwischen Erziehern und Erziehern
und Personen, die außerhalb des Systems Erziehung stehen, eine Voraussetzung für das
Sinnsystem Erziehung ist: Die Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern, bei-
spielsweise über die Gestaltung der Schule oder Projekttage, trägt zum Sinn von Erzie-
hungssituationen und damit letztlich zum Sinn von Erziehung genauso bei wie die Be-
ziehungen der Lehrer zu den Eltern durch Elternabende oder die Gespräche zwischen
Schulleitung und zum Beispiel außerschulischen Beratungsstellen etc. In der Kommu-
312 Da nach Luhmann Operationen im System stattfinden und der Sinn ein Produkt sinnhafter Operationen ist, ergibt sich Sinn im
psychischen System auf der Basis von Bewußtsein, im sozialen System durch Kommunikation. Durch die Einheit der Sys-
tem/Umwelt -Differenz ist es selbstverständlich, daß Bewußtsein und Kommunikation miteinander strukturell gekoppelt sind. Der
Vorwurf von Krieger (1996, S.62ff.), Luhmann würde zwei völlig getrennt voneinander existierende Sinnsysteme postulieren, löst
sich damit m.E. auf. Hier kann auf die Kritik von Krieger an Luhmanns Sinntheorie aber nicht ausführlich Bezug genommen wer-
den.
233
nikation kann Sinn konstruiert und vermittelt werden. Das System Erziehung muß des-
halb offen für Gespräche sein. Daran schließt sich inhaltlich Vieles an, was in der Er-
ziehung eine Rolle spielt, wie Zuhören können, den Gesprächspartner ausreden lassen
bzw. ihm die Möglichkeit zum Gespräch geben. Denn schließlich wird die Sinnkon-
struktion des psychischen Systems (des Kindes) beeinflußt, wenn Sinn vermittelt wird
(vgl. hierzu die Abschnitte über Kommunikation bzw. strukturelle Koppelung).
Aus der Form von Sinn und der Erklärung von Erziehung als Sinnsystem lassen sich
somit grundsätzliche Erziehungsziele wie die Entwicklung von Kognition bzw. Be-
wußtseinsstrukturen und Kommunikationsfähigkeit ableiten, durch die der Sinn von
Erziehung konkretisiert werden kann.
5.5.2 Der Gegenstand von Erziehung
Nun lassen sich nach Luhmann im Verlauf der soziokulturellen Evolution drei Sinndi-
mensionen unterscheiden. Das heißt, Sinn ergibt sich zum einen daraus, was überhaupt
beobachtet wird (Sachdimension), welche Zeiteinheiten für das System relevant sind
(Zeitdimension) und Sinn wird schließlich durch das Verhältnis zur Umwelt bzw. ande-
ren Systemen konstruiert (Sozialdimension). Durch die Erklärung dieser Sinndimensio-
nen läßt sich auch der Sinn von Erziehung weiter präzisieren. (vgl. Luhmann 1987,
S.112-122). Dabei wirken die Sinndimensionen in jedem aktuell hergestellten Sinn zu-
sammen.
Die Sachdimension313 ergibt sich durch die „Unterscheidung dessen, was Gegenstand
einer Beobachtung ist“ (Krause 1996, S.151), wobei es sich beim psychischen System
um Gedanken, beim sozialen System um Themen der Kommunikation handelt. Wenn
dem so ist, dann wäre das Kind nicht Gegenstand des Systems Erziehung, sondern die
erzieherische Kommunikation. Hier gilt es nun, den Gegenstand von Erziehung genau
zu bestimmen, denn auch der Sinn von Erziehung läßt sich nur anhand der Frage entwi-
ckeln, was der Gegenstand von Erziehung ist im Unterschied zu Gegenständen anderer
Systeme. Dabei macht die Systemtheorie deutlich, daß der primäre Gegenstand sich
313 „In der Sachdimension (traditional repräsentiert in der Kategorienlehre) gibt es das ‘innen’ im Unterschied zum ‘außen’ der
Form. Die systemtheoretische Fassung spricht von System und Umwelt. In der Zeitdimension (traditional repräsentiert durch den
Begriff der Bewegung) geht es um die Unterscheidung von vorher und nachher; heute um die Unterscheidung von Vergangenheit
und Zukunft. In der Sozialdimension schließlich (traditional repräsentiert durch die Lehre von animal sociale) geht es um die Unter-
scheidung von Ego und Alter, wobei wir als Ego den bezeichnen, der eine Kommunikation versteht, und als Alter den, dem die
Mitteilung zugerechnet wird“ (Luhmann 1997, S.1136-1137).
234
nicht als ein in sich geschlossenes Objekt darstellt, sondern durch die Differenz zwi-
schen System und Umwelt entsteht (vgl. Luhmann 1987, S.116).
Es wurde bereits gesagt (vgl. Kapitel 5.3), daß der Mensch als personales System als
Einheit einer Differenz von System und Umwelt zu verstehen ist. Dieses personale
System ist nicht nur durch den sichtbaren Organismus gekennzeichnet, der ein Teilsys-
tem des personalen Systems ausmacht, nämlich das biologische. Darüber hinaus zeich-
net sich das personale System gerade durch ein psychischen (kognitives und emotiona-
les) und ein soziales System aus, die sich durch die strukturelle Koppelung mit anderen
personalen und/oder sozialen Systemen und durch das Element der Kommunikation
konstituieren. So gelangt aus systemtheoretischer Sicht nicht das Kind im Sinne einer
abgeschlossenen Einheit in den Vordergrund, sondern der Sinn von Erziehung beruht
auf dem Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung personaler Systeme, wobei
sich diese personalen Systeme durch eine aktive, weil durch strukturelle Koppelung
gekennzeichneten, Differenzierung zu den je eigenen Umwelten auszeichnen. Der Ge-
genstand von Erziehung läßt sich nicht durch Personen oder gar Objekte beschreiben,
sondern er ergibt sich durch die Koppelung kognitiver und kommunikativer Prozesse.
Als Gegenstand kann ein personales System gelten, zu dessen Beobachtung alle rele-
vanten Systemmerkmale gehören, also auch die Systemumwelt. Das bedeutet konkret,
daß Erziehung neben der Berücksichtigung des Entwicklungsstandes des Kindes auch
dessen Beziehungen zu seiner sozialen und dinglichen Umwelt mit einschließen muß.
Oder anders formuliert: Der Gegenstand von Erziehung umfaßt das personale System
Kind mit all seinen Beziehungen (strukturellen Koppelungen) zu seiner Umwelt, also
auch seine Beziehungen zum Erzieher, zur Institution Schule, zur Familie, peer-group
etc. Wie sich das personale System (Kind) als Gegenstand von Erziehung letztlich dar-
stellt, kann erst in der Kommunikation bzw. in seinem Verhalten oder durch sein Han-
deln sichtbar werden, in dem seine Eigenkomplexität zum Ausdruck kommt. Der Ge-
genstand von Erziehung umfaßt damit eine personale Systemebene, eine kommunikati-
ve Ebene und eine Ebene, die sich aus der System/Umwelt-Differenz ergibt.
Diese Beschreibung wird auch dem Erscheinungsbild von Erziehungsprozessen im
Alltag gerecht, denn in einer Erziehungssituation geht es primär nicht um das „ganze
Kind“, sondern um seine in einer spezifischen Kommunikation entfaltete Bewußt-
seinsstruktur, auf die, wiederum kommunikativ, durch den Erzieher eingegangen wird.
Oder es geht in einer Erziehungssituation um die Beziehung zwischen Kind und einem
235
Gegenstand, mit dem es zum Beispiel spielt (sei es die Sandschaufel oder der Game-
Boy) und der Anlaß für einen Erziehungsprozeß wird (weil das Kind zum Beispiel die
Schaufel dazu benutzt, andere Kinder mit Sand zu bewerfen oder bereits eine halbe
Stunde Game-Boy spielt etc.). Der Erzieher erfaßt innerhalb einer Erziehungssituation
nicht das Kind als abgeschlossene Einheit, sondern er reagiert auf „Teile“ des persona-
len Systems, die im Moment, sei es nun in Form von Handlungen, Kommunikation oder
kognitiver Strukturen für den Erziehungsprozeß von Bedeutung sind. Erzieherisch rele-
vant werden Koppelungsprozesse zwischen System und Umwelt, wozu der Erzieher
natürlich auch gehört. In den Koppelungsprozessen findet Erziehung statt und wird
Entwicklung ausgelöst oder gesteuert (siehe den Abschnitt über strukturelle Koppe-
lung). Der Gegenstand von Erziehung ist nicht mehr fest begrenzt denkbar, es ergeben
sich die Grenzen des Systems Erziehung dann von selbst, wenn durch die Differenz zur
Umwelt, im Moment des Erziehungsprozesses, der spezifisch erzieherische Sinn herge-
stellt wird.
Der Sinn von Erziehung und der Gegenstand von Erziehung werden in der jeweils aktu-
ellen Situation konstruiert und zwar gleichermaßen durch Erzieher und Kind. Das ge-
schieht auf seiten des Erziehers gemäß pädagogischer bzw. erzieherischer Sinnkriterien,
die dem System Erziehung eigen sind. Das Kind trägt durch sein Verhalten, durch Er-
wartungen an den Erzieher und die Situation zur Sinnbildung bei, dies aber eher unbe-
wußt und nicht unbedingt mit einer Intention verbunden, es sei denn, das Kind will vom
Erzieher eine genaue Erklärung oder eine bestimmte Hilfestellung o.ä.
Systemtheoretisch ist hier nochmals auf die verschiedenen Systemebenen hinzuweisen
(vgl. Abschnitt 5.5.2), auf denen der Sinn und damit auch der Gegenstand von Erzie-
hung letztlich unterschiedlich konstruiert wird. Auf der Ebene des Systems Erziehung
wäre es zu wünschen, wenn der Sinn von Erziehung aufgrund interdisziplinärer For-
schung, an der andere soziale Teilsysteme beteiligt sind, erfaßt und beispielsweise nicht
einseitig vom politischen oder wirtschaftlichen System dem System Erziehung vorge-
schrieben würde. Auf der personalen Ebene zwischen Kind und Erzieher wird der Sinn
von Erziehung schließlich in der aktuellen Erziehungssituation hergestellt, wobei natür-
lich auf seiten des Erziehers der Sinn des Systems Erziehung, der für die übergeordnete
Systemebene gilt, mit einfließt.
Dieses systemtheoretische Verständnis vom Sinn der Erziehung ist bereits von Mollen-
hauer (1972, S.27ff.) mit dem Hinweis auf Habermas und Luhmann erfaßt worden. Da-
236
nach ist jedes „pädagogische Feld“ nicht nur in seiner Aktualität sinn-konstituierend314,
sondern auch sinn-tradierend, weil der Rahmen für Erziehung und die Erziehungsauf-
gabe durch die Gesellschaft (bzw. Teile der Gesellschaft, wie das politische oder das
wirtschaftliche und auch das wissenschaftliche System) vorgegeben ist. Schließlich ist
nach Mollenhauer das pädagogische Feld auch sinn-erschließend, weil Tradition argu-
mentativ vermittelt werden muß. Hier wird mit anderen Worten bereits die Notwendig-
keit von Anschlußfähigkeit deutlich, worauf gleich genauer eingegangen wird.
Es wurde gesagt, daß der Sinn eines sozialen Systems durch die Themen der Kommuni-
kation festgelegt wird, die im psychischen System durch Gedanken erfolgen, wobei sich
beide Prozesse durch strukturelle Koppelung miteinander verbinden. Im Erziehungs-
system liegt nun der spezifische Fall vor, daß der Erzieher den Sinn des Systems Erzie-
hung sozusagen internalisiert hat, denn er muß den Zusammenhang zwischen Erziehung
(pädagogische Sinneinheiten des Systems Erziehung) und Entwicklung (bezogen auf
den konkreten Entwicklungsstand des personalen Systems Kind) aktiv herstellen. Hin-
gegen ist dies auf Seiten des Kindes nicht der Fall. Im System Erziehung liegt der spe-
zielle Fall vor, daß der Sinn von Erziehung bei einem Teil der personalen Systeme,
nämlich auf seiten der Kinder, die zahlenmäßig den Hauptanteil von Teilsystemen im
System Erziehung ausmachen, überhaupt erst entwickelt werden muß. Demgegenüber
kann man in anderen sozialen Systemen davon ausgehen, daß der Sinn des Systems den
psychischen Systemen, bei denen es sich um Erwachsene handelt, mehr oder weniger
bekannt ist. In der Kommunikation innerhalb sozialer Systeme, wie beispielsweise dem
Wissenschaftssystem, stehen Informationsprobleme oder Verständnisschwierigkeiten
im Vordergrund, nicht aber der Sinn des Systems (der sich in diesem Fall auf die
„Wahrheit“ bezieht). Der wesentliche Unterschied zu anderen sozialen Systemen liegt
im System Erziehung somit darin, daß der Sinn des Systems in der Entwicklung von
Sinn besteht, und zwar in allen für die Gesellschaft insgesamt als notwendig erachteten
(Erkenntnis-) Bereichen. Das heißt, Sinn muß z.B. im mathematischen, muttersprachli-
chen, fremdsprachlichen, sachkundlichen Bereich genauso entwickelt werden, wie im
sportlichen und sozialen Bereich. Er muß sich auf Gegenstände, ihre Zeitverhältnisse
314 „Da einerseits die Bedürfnisdispositionen des Heranwachsenden ihrer Unterentwickeltheit wegen den gesellschaftlichen Erwar-
tungen nicht voll entsprechen können, und da andererseits das Repertoire pädagogischer Reaktionsmöglichkeiten auf die Erwartun-
gen des Heranwachsenden gar nicht lückenlos passend sein kann, ist ein Spielraum für sinnkonstituierende Interaktionen, für nicht
institutionell vorgegebene Intersubjektivität ein wesentliches Merkmal“ jedes pädagogischen Feldes (Mollenhauer 1972, S.30).
237
und ihre Verhältnisse untereinander beziehen und umfaßt somit die drei Sinndimensio-
nen, durch die sich der Sinn eines Systems konstituiert. In diesem Sinne entspricht die
Entwicklung von Sinn der zunehmenden Kenntnis über systemische Zusammenhänge!
Auch über den systemtheoretischen Entwicklungsbegriff, der auf Selbstreferentialität
und die autopoietische Organisation des Organismus hinweist, ergeben sich inhaltliche
Aussagen über den Sinn von Erziehung. Denn der Entwicklungsbegriff verweist auf die
prinzipielle Autonomie des personalen Systems, die gleichzeitig mit einer Abhängigkeit
einhergeht, die durch die enge Beziehung zur Umwelt (im Sinne der Einheit der Sys-
tem/Umwelt-Differenz) ständig mitwirkt. So liegt die Bedeutung von Erziehung gerade
in der Beachtung von psychisch-kognitiven Entwicklungsprozessen des Kindes, die in
der Kommunikation deutlich werden und die durch Kommunikation beeinflußt oder
gesteuert werden, sowie dem ständigen Bemühen um ein Gleichgewicht zwischen Au-
tonomie und Abhängigkeit (siehe hierzu ausführlich den Abschnitt 5.8).
Auf das aktuelle Verhalten eines in Entwicklung begriffenen Kindes bzw. auf eine ge-
genwärtige Äußerung des Kindes im Kontext seiner Entwicklung einzugehen, genau
das macht Erziehung aus, während in anderen sozialen Systemen keine wirklich in
Entwicklung befindlichen Bewußtseinsstrukturen zum Ausgangspunkt für Kommuni-
kation werden. Vielmehr geht es hier um bereichsspezifische Wissens- oder Erkennt-
nislücken, aber nicht um die Entwicklung grundlegender Bewußtseinsstrukturen, wie
sie zum Beispiel bei Piaget durch die anschauliche, die konkrete oder die formale Stufe
beschrieben wurden. In anderen Systemen sind Bewußtseinsstrukturen Mittel zum
Zweck. Das ist im System Erziehung gerade nicht der Fall, denn es geht um die Ent-
wicklung von Bewußtseinsstrukturen als Gegenstand von Erziehung. Der Sinn des
Systems Erziehung ergibt sich gerade durch den Zusammenhang von Erziehung und
Entwicklung.
Dabei ist es die Aufgabe des Erziehers, auf das in einer Situation gezeigte gegenwärtige
Verhalten des Kindes einzugehen. Er muß befähigt sein, innerhalb der erzieherischen
Kommunikation für Anschlußfähigkeit und Anschlußverhalten unter Berücksichtigung
der mutmaßlichen Bewußtseinsstruktur des Kindes zu sorgen. Anschlußfähigkeit wird
so zum Lernprinzip erhoben, worauf noch genauer hinzuweisen ist, wenn der Lernbeg-
riff thematisiert wird (vgl. Kap.5, siehe auch Luhmann 1987, S.62).
Anschlußfähigkeit bezieht sich auf Ereignisse im System (Ereignisse umfassen zum
Beispiel Kommunikationen, Handlungen, Gedanken), die aufeinander beziehbar sein
238
und sich aneinander schließen müssen, wenn ein Ereignis autopoietisch dauerhaft er-
möglicht werden soll315. Damit ein System selbstorganisierend sein kann, müssen die
Ereignisse, auf die es sich bezieht und die es miteinander zu neuen Ereignissen ver-
knüpft, ähnlich sein bzw. zueinander passen, denn das System arbeitet schließlich ope-
rativ geschlossen. Es kann neue Ereignisse nur durch bereits bestehende verarbeiten
oder an diese anknüpfen. Sind Ereignisse nicht assimilierbar, sind sie für das System
irrelevant.
Für das System Erziehung bedeutet dies, daß Anschlußfähigkeit ermöglicht werden
muß. Als Beispiel sei an die Aufgabenstellungen für eine Hausaufgabe gedacht, die dem
Entwicklungsstand der Kinder „angemessen“ sein muß, das heißt, sie darf nicht Über-
oder Unterfordern, sie muß bewältigt werden können und gleichzeitig entwicklungsför-
dernd oder -konsolidierend sein. Wir kommen darauf zurück, wenn es um das Lernen
geht. Dabei ist im einzelnen der Erzieher nicht auf sich allein gestellt, denn er handelt
oder kommuniziert aufgrund des Programms von Erziehung, das zum Beispiel für den
Lehrer als Erzieher in Lehr- und Lernplänen zum Ausdruck kommt (vgl. Krause 1996,
S.37), in denen der Sinn von Erziehung schließlich konkretisiert wird. Im Gegensatz zu
einer Kommunikation zwischen Erwachsenen geht es nun in der erzieherischen Kom-
munikation nicht nur darum, daß das Kind versteht, was der Erzieher meint, sondern die
Anschlußfähigkeit geht insofern über das Verständnis einer Informationsvermittlung
hinaus, als sie gleichzeitig zu der Entwicklung von Bewußtseinsstrukturen beitragen
muß (vgl. hierzu den Abschnitt über strukturelle Koppelung). Dieser Sinn von Erzie-
hung, nämlich für entwicklungsbedingte und gleichzeitig entwicklungsfördernde
Anschlußfähigkeit im Erziehungsprozeß zu sorgen und damit Anschlußverhalten zu
sichern316, wird aufgrund der Komplexität des Systems nie einfach sein (man denke an
315 „Dazu muß jedes Ereignis als ein anderes beobachtbar sein. Ist etwa eine bestimmte Handlung gegeben (Klingeln an der Haus-
tür), kann daran eine bestimmte andere Handlung anschließen (Öffnen der Haustür) (...) Das prinzipielle Erfordernis von Anschluß-
fähigkeit besagt weder, daß immer Ereignisse aneinander angeschlossen werden, noch, daß jeder jederzeit an Systemen teilzuneh-
men vermag: Im Falle mangelnder Rechtskenntnis mag Recht nicht eingeklagt oder im Falle nicht ausreichender Zahlungsfähigkeit
der Kauf eines erstrebten Gutes nicht möglich sein“ (Krause 1996, S.77-78).316 „Ein System muß nicht einfach ‘sich selbst’, es muß seine ‘essential variables’ (Ashby) erhalten, und dazu gehört: die Interde-
pendenz von Auflösung und Reproduktion, die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung (Diskriminierfähigkeit), ferner all das, was ein
ausreichendes Tempo pausenloser Selbstreproduktion bei ständig verschwindenden Elementen ermöglicht und in dieser Funktion
dann: ausreichende Strukturen, die die Anschlußfähigkeit sicherstellen“ (Luhmann 1987, S.503-504). Dies gilt nicht nur für das
soziale System Erziehung, sondern auch das personale bzw. psychische System. Das Spezifische beim System Erziehung ist hier
wiederum, daß es beim Aufbau der Strukturen zur Sicherung des Anschlußverhaltens beiträgt.
239
die bereits erklärten Begriffe der Kontingenz, Selektion und des damit verbundenen
Risikos).
Die Zeitdimension317 von Sinn wird durch die Differenz von Vorher und Nachher kon-
stituiert und damit wird der Sinn von Systemen abhängig von der Vergangenheit, der
Gegenwart und dem Blick auf die Zukunft der Systeme. Da in der Erziehung die Ent-
wicklungsprozesse des Kindes im Vordergrund stehen, muß der bisherige Entwick-
lungsverlauf (Vergangenheit), der jetzige Entwicklungsstand (Gegenwart) und das Ziel
von Entwicklung (Zukunft) Berücksichtigung finden. Erziehung kann aber nur gegen-
wärtig ablaufen und dabei müssen alle drei Zeiteinheiten dem Erzieher bewußt sein.
Aus einer selektiven Verknüpfung dieser Zeiteinheiten schöpft er die Bedingungen für
die aktuelle erzieherische Kommunikation, indem die Entwicklungsgeschichte des Kin-
des berücksichtigt wird (Was hat sich das Kind bisher erarbeitet oder wie hat es sich
bisher verhalten?), der aktuelle Entwicklungsstand (Was erbringt es zur Zeit für Leis-
tungen oder wie handelt es?) und beides in Hinblick auf einen zukünftigen Entwick-
lungsstand (Was soll das Kind können?) berücksichtigt wird. Daß hierbei nur selektiv
vorgegangen werden kann, liegt zum einen daran, daß dem Erzieher nicht alle Ergebnis-
se, Ereignisse und Erkenntnisse präsent sein können und zum anderen ist er selbst an
Zeit gebunden. Wesentlich für die Erziehung ist, daß die Zukunft kognitiv und selektiv
vorweggenommen wird, ohne daß es die Sicherheit gibt, daß die für die Gegenwart
gestaltete Zukunft auch wirklich eintritt318. Gerade aufgrund von Selektion müssen
Kontingenzen innerhalb der Erziehung deutlich gemacht werden, das heißt, in der Er-
ziehung muß es auch darum gehen, ein Bewußtsein für kontingente Handlungen oder
Operationen zu schaffen, weil diese die verschiedenen sozialen Teilsysteme der Gesell-
schaft kennzeichnen und das Kind damit ständig konfrontiert wird. Konkret bedeutet
dies, daß auf Vielfalt hingewiesen wird, die sich nicht nur in einer Vielgestaltigkeit des
Erziehungssystems widerspiegeln muß, sondern auch auf der Ebene der Erziehungssitu-
317 „Zeit ist demnach für Sinnsysteme die Interpretation der Realität in Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft“
(Luhmann 1987, S.116). Siehe zur Zeitdimension auch die Ausführungen über zeitliche Komplexität.318 „Das heißt vor allem: daß die Gesellschaft mit einer ihr unbekannt bleibenden Welt zurechtkommen muß. Es heißt, daß sie darauf
spezialisierte Symbolsysteme ausbilden muß, besonders Religion, aber auch ‘Kontingenzformeln’ in den einzelnen Funktionssyste-
men. Und es heißt schließlich, daß im Zeitlauf gesehen die Gesellschaft ihre eigene Zukunft nicht antizipieren und nicht planen
kann. Sie ist in Morphogenese und in durchgreifenden Strukturänderungen auf Evolution angewiesen. Man muß sogar damit rech-
nen, daß der Ausbau von immer nur selbstreferentiell einsetzbaren kognitiven Fähigkeiten die Umweltanpassung des Systems nicht
verbessert, sondern allenfalls die Irritierbarkeit des Systems steigert, so daß Belastungen hinzukommen, die aus eben dieser laufen-
den Selbstirritation resultieren“ (Luhmann 1997, S.126-127).
240
ation. Auch hier müssen Alternativen von Handlungen oder Operationen aufgezeigt
werden, die sich aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungsverläufe, dem derzeitigen
Entwicklungsstand und dem möglichen Entwicklungsziel ergeben und die als zum Le-
ben dazugehörig ausgewiesen werden, sozusagen als Bereicherung und für die Gestal-
tung individueller Entwicklungen und nicht als Unsicherheitsfaktor319. Erziehung darf
nicht einschränken, sie muß immer offen sein für Alternativen. Da sie aber selbst an
Zeit gebunden ist, muß sie gleichzeitig Komplexität reduzieren, selektiv vorgehen.
Denn eine erzieherische Kommunikation kann gerade nicht vollständig offen gestaltet
werden, wenn sie in Hinblick auf einen Entwicklungsfortschritt auf Seiten des Kindes
effektiv sein will. Dieses „Dilemma“ von Erziehung kann gelöst werden, indem es
selbst in der Erziehung thematisiert wird, d.h. in dem am Beispiel konkreter Inhalte
auch andere Verweisungszusammenhänge aufgezeigt und damit Selektion und Kontin-
genzen deutlich werden.
Der Sinn von Erziehung ist gebunden an die zur Verfügung stehenden Zeit. Diese ergibt
sich nicht nur durch das festgeschriebene Alter von 18 Jahren, ab dem man rechtlich das
Erwachsenenalter erreicht hat, sondern auch schon beispielsweise durch den Lehrplan
in der ersten Schulklasse. Wie auch immer eine Sinneinheit von Erziehung bezeichnet
wird, sei es durch den Begriff der Mündigkeit, der für die gesamte Erziehung gelten
kann oder durch ein bestimmtes Lernziel, das in einem Schuljahr erreicht werden soll,
so ist dieser Sinn nicht ohne eine damit verbundene Zeiteinheit denkbar. Der Sinn von
Erziehung ergibt sich durch die Symmetrie von Gegenwart, Vergangenheit und Zu-
kunft.
Die Sozialdimension schließlich betrifft das „alter-Ego“ und damit geht es in ihr darum,
den Sinn danach zu hinterfragen, inwieweit er auch von anderen so aufgefaßt wird, wie
von einem selbst. Dabei muß es sich nicht nur konkret um andere Menschen handeln,
sondern es geht generell um andere Auffassungsmöglichkeiten (siehe Luhmann 1987,
S.119). Das bedeutet für den Erzieher eine doppelte Aufgabe: Er muß zunächst seinen
durch Bewußtsein und Kommunikation geschaffenen Sinn (den Sinn von Erziehung im
Allgemeinen oder den Sinn einer spezifischen Kommunikationseinheit) daraufhin ab-
319 „Es geht darum zu lernen, daß es niemals nur ein Entweder-Oder gibt, vielmehr die Sowohl-als-auch-Perspektive nützlich für das
Begreifen unserer Welt ist. Das heißt: Aufgabe der Erziehung ist es, an die zu Erziehenden Widersprüchlichkeiten und Vielfältig-
keiten bewußt heranzutragen, um das Erleben zu ermöglichen, daß die Vielfalt der Alternativen zu einer Bereicherung des Lebens
führt“ (Rotthaus 1998, S.152).
241
fragen, inwieweit er mit anderen Auffassungen übereinstimmt (zum Beispiel bezogen
auf Quellen wie Wissenschaft oder Lehrpläne). Schwieriger wird es aber sein, den vom
Erzieher für den zu Erziehenden hergestellten Sinnzusammenhang so zu vermitteln, daß
er genauso aufgefaßt wird, wie intendiert. Damit geht es um die bereits genannte
Anschlußfähigkeit, aber auch um das Lernen, worauf noch genauer eingegangen wird.
Erziehung unter Berücksichtigung der Entwicklung des Kindes umfaßt in diesem Zu-
sammenhang das Herstellen von Anschlußfähigkeit zwischen dem vom Erzieher zu
vermittelnden Sinn und dem auf seiten des Kindes bestehenden Sinn, der innerhalb der
erzieherischen Kommunikation zum Ausdruck kommt.
Die Bewußtseinsstrukturen von Erzieher und Kind und der damit verbundene Sinn über
den sie verfügen, muß in der erzieherischen Kommunikation in einen Zusammenhang
gebracht werden, worin die vornehmliche Aufgabe des Erziehers besteht. Der Adressat
von Erziehung ist das Kind bzw. personale Systeme mit in Entwicklung begriffenen
Bewußtseinsstrukturen. Die Vermittlung von Sinn auf seiten des Erziehers erfolgt in
Abhängigkeit des Sinnes und damit der Bewußtseinsstrukturen des Kindes. Als beson-
dere Fähigkeit wird hier vom Erzieher erwartet, daß er dem Kind die Möglichkeit gibt,
seine Bewußtseinsstrukturen darzustellen, seinen bereits konstruierten Sinn in einem
Gespräch kundzutun, indem zum Beispiel gefragt wird, was das Kind zu einem be-
stimmten Thema bereits weiß oder wie es eine Aufgabenstellung auffaßt etc. Nur dann
kann der Erzieher den Sinn, den er vermitteln will, sozusagen auf das Kind zuschnei-
den, durch Selektion bzw. Reduktion der Komplexität. Die Sinn-Konstruktion auf seiten
des Kindes erfolgt dann durch die Koppelung von bereits systemintern vorhandenem
Sinn mit den vom Erzieher aufgezeigten Sinneinheiten, die eine Beziehung zu den sys-
teminternen Sinneinheiten des Kindes möglich machen, eben anschlußfähig sind. Der
Anteil des Erziehers bei der Sinnherstellung des Kindes ist eine aktive Vermittlung von
Sinn, die durch die Berücksichtigung von systemischen Gegebenheiten der Situation
und des Kindes gekennzeichnet ist. Der Anteil des Kindes bei der persönlichen Sinn-
Konstruktion besteht in einer aktiven Sinnaufnahme, die durch das Bemühen gekenn-
zeichnet ist, die bereits vorhandenen Bewußtseinsstrukturen gezielt einzusetzen, um den
Erzieher zu verstehen. Hierzu gehört die Bereitschaft des Kindes, zuzuhören, sich zu
konzentrieren, gegebenenfalls nachzufragen u.ä.. Wir werden darauf zurückkommen,
wenn es um die strukturelle Koppelung geht. Den Sinn, den das Kind in der erzieheri-
schen Kommunikation vermittelt, ist somit Auslöser für Anschlußverhalten des Erzie-
242
hers und gleichzeitig selbst Anschlußverhalten. In Hinblick auf die erzieherische Kom-
munikation wird es schließlich hilfreich sein, die Bedeutung und Schwierigkeiten der
Sinnvermittlung selbst zu thematisieren, wenn hier Probleme auftreten. Dies kann in
jeder Erziehungssituation möglich sein, wenn über inhaltliche oder formale Probleme,
die im Gespräch auftreten, gesprochen wird (vgl. den Abschnitt über Kommunikation).
Das besondere am System Erziehung im Gegensatz zu anderen sozialen Systemen liegt
in diesem Fall darin, daß die Sachdimension der Sozialdimension entspricht, weshalb
Überschneidungen deutlich wurden. Das heißt, die Entwicklung des Kindes bildet nicht
nur den Gegenstand von Erziehung, sondern das Kind ist gleichzeitig der Adressat von
Erziehung. Während es zum Beispiel im Wirtschaftssystem in der Sache vorwiegend
um das Geld geht und die Sozialdimension die Adressaten, wie einzelne Betriebe etc.,
ausmachen, hat der Erzieher in der Erziehung den Gegenstand von Erziehung vor sich,
nämlich die Entwicklung des Kindes und gleichzeitig denjenigen, auf den sich die Er-
ziehung bezieht.
Sach-, Zeit- und Sozialdimension treten in allen Sinnsystemen nicht isoliert auf, son-
dern kombiniert. Der Sinn von Erziehung basiert auf der Differenz von Aktualität und
Möglichkeit des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung, er hat außerdem
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu berücksichtigen und schließlich kann dies
nur in Hinblick auf die Adressaten, also die Kinder, erfolgen. Das personale System des
Kindes bleibt das Zentrum jeglicher Erziehung. Der Sinn des Systems Erziehung hat
sich immer nach dem Kind zu richten, das Teil des Systems ist.
Erziehung ist im Übrigen auch nach Luhmann das einzige System, in dem es um den
Menschen geht (auch wenn er ihn als Medium bezeichnet). Das Wirtschaftssystem ent-
wickelt Sinneinheiten in Bezug auf Geld, die Politik in Hinblick auf Macht und die
Wissenschaft in Bezug auf Wahrheit. In der Kunst geht es um Kunstwerke, in der Reli-
gion um den Glauben und in der Familie um Zuneigung und Liebe der Mitglieder. Aber
in der Erziehung stehen die psychischen Systeme im Vordergrund, die im Erwachse-
nenalter einmal in diese anderen sozialen Teilsysteme integriert werden, diese mit tra-
gen, verändern und schließlich repräsentieren. Der übergeordnete Sinn von Erziehung,
von dem aus spezifische pädagogische Sinneinheiten ableitbar sind, liegt in der Ent-
wicklung zur Befähigung der Teilhabe an den sozialen Systemen mit ihren spezifischen
Sinndimensionen, die die Gesellschaft ausdifferenziert hat.
243
5.5.3 Sinn und Entwicklung und die Entwicklung von Sinn durch Erzie-hung
Wie bereits gesagt, hat sich der Sinn durch Koevolution entwickelt und Entwicklung
erfolgt durch Strukturänderung, so daß im Falle von Sinn die Entwicklung durch
Strukturänderung von Bewußtsein und Kommunikation abläuft. Im einzelnen beruht
Strukturänderung auf der Differenz von System und Umwelt und einer damit verbunde-
nen Integration, der Grenzziehung, der Anschlußfähigkeit und dem Sinn selbst, da Sinn
auf Sinn basiert.
Der Sinn von Erziehung entwickelt sich danach zum einen durch die Kommunikation
zwischen dem System Erziehung und anderen Systemen, also durch die Anforderungen,
die andere Systeme bzw. die Gesellschaft insgesamt an das System Erziehung stellen,
die in der Funktion des Systems als „Selektion für Karrieren“ (Krause 1996, S.37) be-
schrieben werden. Zum anderen ergibt sich der Sinn von Erziehung durch die system-
interne Struktur, die auf die Entwicklung der Bewußtseinsstruktur des Kindes hinweist.
Der Sinn von Erziehung kann in diesem Sinne als Symmetrie zwischen systeminternen
Differenzierungen und Differenzierungen zwischen System und Umwelt beschrieben
werden.
Das Sinnsystem Erziehung ist nun vorhanden und pädagogische Sinneinheiten können
bis hin zu einzelnen Lehrplänen und konkreten Lernzielen erstellt werden. Von Bedeu-
tung für das System Erziehung ist dann, daß die pädagogischen Sinneinheiten zur Ent-
wicklung von Sinn, nämlich auf Seiten des Kindes, führen sollen. Der Sinn des Systems
dient der Sinnentwicklung beim Kind. Oder umgekehrt formuliert: Der Sinn des psychi-
schen System des Kindes entwickelt sich durch Erziehung entlang des Sinnes von Er-
ziehung. Erziehungsziel ist damit die Entwicklung von Sinn durch Sinn. Genauer be-
trachtet sieht dies folgendermaßen aus: Der Sinn von Erziehung ist dem Erzieher be-
kannt (sei es durch allgemeine Zielformulierungen oder anhand von Lehrplänen). Er
wird aufgrund seiner Bewußtseinsstruktur daraus Sinneinheiten entwickeln, die er in der
erzieherischen Kommunikation dem Kind vermittelt (zum Beispiel durch spezifische
Fragestellungen, Aufgaben, Vorlegen von Texten etc.). Er versucht damit, Anschlußfä-
higkeit unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes des Kindes zu ermöglichen.
Anschlußverhalten von Seiten des Kindes ist dann möglich, wenn es die Anforderungen
des Erziehers gedanklich aufnimmt und versteht. Wird der im Bewußtsein des Kindes
bereits bestehende Sinn dadurch weiter differenziert, dann hat Sinnentwicklung statt-
244
gefunden. Die systeminterne kognitive Entwicklung oder Sinnentwicklung wird dem
Kind nur dann bewußt, wenn es über seine eigenen Operationsmöglichkeiten reflektiert,
was bereits im Kindergartenalter möglich ist, wenn das Kind der Mutter stolz ein Lied
vorsingt, das es gelernt hat etc. Der Beobachter geht davon aus, daß Sinnentwicklung
beim Kind stattgefunden hat, wenn es z.B. eine Frage beantwortet oder etwas verstan-
den hat, was bisher nicht der Fall war.
Das Anschlußverhalten des Kindes bietet dem Erzieher wiederum Anschlußmöglich-
keiten zur Sinnvermittlung. In der Interaktion zwischen Kind und Erzieher wird Sinn
letztlich konstituiert. Sinnentwicklung erfolgt somit durch die Ko-Ontogenese zwischen
Kind und Erzieher in der Erziehungssituation. Erziehung ist Erziehung durch Sinn und
Erziehung zur Sinnentwicklung, die schließlich zum Verständnis bestehender Sinnein-
heiten der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme führt. Für psychische und soziale Systeme
ist der Sinn Existenzgrundlage. Es wurde bereits gesagt, daß sich soziale Systeme durch
Sinn entwickeln, am Sinn ausdifferenzieren, und schließlich gilt das auch für psychi-
sche Systeme. Das Bewußtsein entwickelt sich durch und entlang von Sinn. Die Basis
für unser Denken bildet der Sinn und nicht irgendwelche neurophysiologischen Verän-
derungen, vorausgesetzt es handelt sich um einen gesunden Menschen. Der Mensch
richtet seine Handlungen am Sinn aus, der in Form von Normen, Werten, Regeln, Wis-
sen etc. zum Ausdruck kommt. So wird beispielsweise in Hinblick auf die Berufswahl
gefragt, welches Wissen muß ich dafür erwerben, welche kognitiven Fähigkeiten mit-
bringen, welches Verständnis habe ich von dem Beruf etc. Von den biologischen
Grundlagen abgesehen, wird das Leben des Menschen durch sein Bewußtsein gesteuert.
Der Sinn wird zum Maßstab für das Leben320. Die steigende Zahl psychischer Erkran-
kungen bestätigt diese Ansicht. Insofern wird Sinn tatsächlich zur Existenzgrundlage.
Deshalb hat sich Erziehung am Sinn auszurichten. Der Sinn verknüpft den psychischen
und den sozialen Aspekt von Erziehung. Es geht in der Erziehung um die Sinnentwick-
lung des einzelnen gemäß den Sinngegebenheiten in unserer Gesellschaft, also in den
verschiedenen sozialen Teilsystemen. Gleichzeitig nimmt das Kind durch die Sinnent-
wicklung zunehmend am Sinn der Gesellschaft teil, den es dann als Erwachsener aktiv
mitgestalten kann.
320 „Auf dieser Grundlage kann dann jedes (wie immer kurze) Ereignis Sinn gewinnen und Systemelement werden. Damit ist nicht
so etwas wie ‘rein geistige Existenz’ behauptet, wohl aber Geschlossenheit des Verweisungszusammenhanges der Selbstproduktion“
(Luhmann 1987, S.101).
245
Die Sinnentwicklung des Kindes wird notwendig aufgrund der Asymmetrie zwischen
den in Entwicklung befindlichen Bewußtseinsstrukturen und den damit einhergehenden
Sinneinheiten und den bestehenden Themen und Sinneinheiten sozialer Systeme. Die
Symmetrie dieses Verhältnisses ist dann erreicht, wenn die Bewußtseinsstruktur des zu
Erziehenden mit den Sinneinheiten sozialer Systeme „selbstreflexiv umgehen“ kann.
Das heißt, es geht in der Erziehung nicht um bloße Übernahme von Sinn, denn Sinn
kann immer nur vom Individuum gedanklich selbst geschaffen werden. Dies ergibt sich
bereits aufgrund der autopoietischen Organisation psychischer Systeme.
5.5.4 Erziehung als Sinnerziehung?
Sinn ist also zum einen das Produkt systeminterner Operationen und wird deshalb indi-
viduell hergestellt (vgl. Luhmann 1997, S.44). Zum anderen haben sich in der Gesell-
schaft Sinneinheiten (zum Beispiel in der Kultur, der Religion, der Sprache etc.) entwi-
ckelt, die nun auch für das System Erziehung zur Grundlage werden, wie zum Beispiel
kulturelle Kenntnisse. Das System Erziehung hat nun die Aufgabe übernommen, perso-
nale Systeme dahingehend zu ändern, daß diese später in der Gesellschaft zurechtkom-
men. Die dafür notwendig spezialisierte Kommunikation kann nur über Sinn und auf
der Basis von Sinn erfolgen. Insofern ist Erziehung Sinnerziehung (natürlich immer
unter Berücksichtigung des Entwicklungsaspektes).
Sinnerziehung umfaßt die Vermittlung dessen, was an Kulturgütern und Werten oder
Normen für die zu Erziehenden als notwendig erachtet wird, wie z.B. sprachliche, na-
turwissenschaftliche, geographische oder technische Kenntnisse. Die Zeitdimension von
Sinn verweist zudem auf die Notwendigkeit von Geschichte. Damit ist nicht nur Ge-
schichte als Schulfach gemeint, sondern es geht um die Kenntnis der eigenen Ge-
schichte bzw. Entwicklung. Zur Sinnerziehung gehört damit auch Erziehung zur Selbst-
erkenntnis und damit zur Sinnreflexion. Und aufgrund des systemtheoretischen Ver-
ständnisses einer stets selbstorganisierenden Entwicklung von Sinn durch systeminterne
Operationen umfaßt Erziehung immer auch Erziehung zur Selbstverantwortlichkeit.
Sinnerziehung schafft nicht nur Geschichte, sondern zunächst Gedächtnis und damit
Reserven, auf die man zurückgreifen kann, auch wenn es um die Antizipation von Zu-
kunft geht. Durch Erziehung gelangt der zu Erziehende nicht nur zu einer eigenen Ent-
wicklungsgeschichte, sondern er lernt die Sinnentwicklung der Gesellschaft kennen
bzw. auch den gegenwärtigen Sinn sozialer Systeme. Durch die ständige strukturelle
246
Koppelung zwischen Person-internem und Person-externem Sinn erfolgt die Entwick-
lung von Sinn beim Kind.
Der Sinn des Systems Erziehung gibt die Richtung der Erziehung und damit auch die
Entwicklungsrichtung an. Die Richtung wird von außen, durch systemexterne Vorga-
ben, gesteuert. Darauf ist der Mensch angewiesen, denn er kann Sinn nur ko-
ontogenetisch (im Sinne der Ko-Ontogenese von Bewußtsein und Kommunikation bzw.
personaler Systeme) entwickeln. Erziehung hilft dann bei der Sinnentwicklung unter
Berücksichtigung der Entwicklung des Kindes. Inwieweit dies gelingt, hängt vom
selbstorganisierenden personalen System Kind ab. Ist die Richtung und die Steuerung
des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung auch vorgegeben, so macht sie
aus systemtheoretischer Sicht zunächst nur die Hälfte einer tatsächlich stattfindenden
Entwicklung des Kindes aus. Die andere Hälfte liegt dann in der autopoietischen Orga-
nisation und der selbstorganisierenden operativen Tätigkeit des Kindes. Nur so lassen
sich auch individuelle Entwicklungsverläufe erklären, durch die später dann die Sinn-
bildungsgeschichte sozialer Systeme bereichert werden kann.
Für die Diskussion von Zielen und Normen der Erziehung oder für Lehrplanziele be-
deutet dies zum einen, daß ein Bewußtsein für die Tatsache geschaffen wird, daß Ziele
und Normen, die außerhalb des Systems für das System formuliert werden, niemals
vollständig im System selbst umgesetzt werden können, da Systeme (das System Erzie-
hung, die Erziehungssituation als System und Erzieher und Kind als personale Systeme)
in sich geschlossen operieren. Von seiner Organisation her ist das System also gar nicht
zur ausschließlichen Assimilation in der Lage. Zum anderen wird damit gleichzeitig
eine stärkere Berücksichtigung von systeminterner Entwicklung auf allen Systemebenen
bei der Bearbeitung von Zielen und Normen, die außerhalb des Systems erfolgen, ge-
fordert. Diese beiden Punkte sollten andere soziale Systeme beachten, die, wie das poli-
tische, das religiöse oder das wirtschaftliche System, Ziele und Normen für das System
Erziehung empfehlen oder vorschreiben. Das heißt zum einen, daß nur solche Ziele
sinnvoll sind, die vom System auch umgesetzt werden können. Zum anderen bedeutet
das aber auch, daß die Ziele, selbst wenn sie zum Beispiel gemäß der Entwicklung des
Kindes formuliert wurden, dennoch nicht so umgesetzt werden müssen, wie dies inten-
diert war. Die Selbstorganisation von Systemen widerspricht einer vereinfachten Input-
Output-Regelung. Wenn beispielsweise das Erziehungsziel „Autonomie“ heißt und in
der Erziehung bzw. in Erziehungssituationen zwischen Lehrer und Kind versucht wird,
247
dieses Ziel zu erreichen, kann es dennoch sein, daß die systemeigene Umwelt des Kin-
des diesem Ziel so entgegenwirkt (z.B. durch die häuslichen Verhältnisse), daß es zu-
mindest nicht in allen operativen Tätigkeiten des Kindes umgesetzt werden kann. Die
Komplexität von Erziehung und Entwicklung widerspricht damit auch der Vorgabe von
zu eng gefaßten Erziehungszielen. Es sind nur Erziehungsziele mit einem größeren
Spielraum denkbar, die die unterschiedlichen Entwicklungsfähigkeiten des Kindes be-
rücksichtigt und die Selbstorganisation personaler Systeme ernst nimmt.
In Hinblick auf die Überprüfung von Lernzielen bei Schülern eröffnet sich hier eine
erneute Diskussion um die Beurteilung bzw. Notengebung. Darauf kann nicht näher
eingegangen werden, aber es muß stets deutlich bleiben, daß der vom personalen Sys-
tem des Kindes erbrachte Eigenanteil an der Leistung aufgrund der Organisation des
personalen Systems und der damit verbundenen Eigenkomplexität nicht leicht zu beur-
teilen ist, was zumindest auf die Relativierung von Beurteilungen hinausläuft. Man muß
sich aus systemtheoretischer Sicht bewußt sein, daß eine Überprüfung von Lernzielen
oder eine spezielle Beurteilung im Systemzusammenhang zu erfolgen hat, weil sie auch
in diesem entsteht. Eine Konsequenz daraus ist, daß eine Beurteilung nicht allgemein-
gültig sein muß. So beurteilt zum Beispiel eine Mutter das Verhalten ihres Kindes in der
häuslichen Umgebung oft anders als die Erzieherin, die das Kind in der Kindergarten-
gruppe sieht. Und schulische Leistungsbeurteilungen müssen nicht zwangsläufig mit der
Leistungen des Jugendlichen am Ausbildungsplatz übereinstimmen etc.
5.5.5 Pädagogische Sinneinheiten, Qualität von Erziehung und das Ver-hältnis zur pädagogischen Theoriebildung
Sinneinheiten sind symbolische Generalisierungen, die zum Beispiel durch Werte,
Normen oder auch Erziehungsziele zum Ausdruck kommen. So umfaßt der Begriff
„Mündigkeit“ als Erziehungsziel einen komplexen Sinn, der in einer kurzen Definition
nur schwer erfaßt werden kann. Das heißt genauer, daß Sinn bei Bedarf symmetriert
werden kann, indem ähnlicher und sich anschließender Sinn in einen Zusammenhang
gebracht wird, so daß ein Konzept, Programm oder schließlich nur ein Wort wie „Mün-
digkeit“ die Symmetrie vieler Sinneinheiten und damit die Symmetrie von Aktualität
und Possibilität kennzeichnet. So ist beispielsweise auch Moral symmetrierter Sinn
(Luhmann 1997, S.242), der sich auf der Basis der Unterscheidung von Achtung und
Mißachtung ergibt (vgl. ebd., S.245). Werden einzelne Bedingungen für Achtung bzw.
248
Mißachtung formuliert, dann ergeben sich spezielle Sinneinheiten, die im Sinne einer
Einheit von System/Umwelt-Differenz immer schon Reduktion von Komplexität (hier
der Moral) enthalten.
Pädagogischen Sinneinheiten ergeben sich ebenfalls durch Reduktion der Komplexität
von Erziehung. Aus systemtheoretischer Sicht ergeben sich pädagogische Sinneinheiten
und damit der Sinn von Erziehung aus der Organisation und Struktur des Systems Er-
ziehung, seiner Abgrenzung gegenüber anderen Systemen und den genannten Sinndi-
mensionen. Anders können Sinneinheiten (basierend auf Sinn) nicht entstehen. Als Bei-
spiel kann hier Autonomie als Erziehungsziel angeführt werden. Erziehung zur Auto-
nomie ergibt sich zum einen aufgrund der autopoietischen Organisation bzw. Selbstor-
ganisation personaler und auch sozialer Systeme und der damit einhergehenden operati-
ven Geschlossenheit von Systemen. Durch dieses Ziel grenzt sich das System Erziehung
insofern von anderen sozialen Systemen ab, als in diesen die Autonomie personaler
Systeme vielleicht Mittel ist, aber nicht Zweck. Dabei basiert diese Sinneinheit der
Autonomie als symbolische Generalisierung bereits auf Sinn, indem bestimmte Bedeu-
tungen damit verbunden sind, die auch durch Begriffe wie Mündigkeit, Selbständigkeit,
Selbstverantwortlichkeit u.ä. und durch die Sinnbildungsgeschichte der Gesellschaft
weiter spezifiziert werden können.
Pädagogischer Sinn und damit der Sinn von Erziehung kann beispielhaft durch folgende
pädagogische Sinneinheiten gekennzeichnet werden:
- Der Sinn von Erziehung ergibt sich durch die Herstellung des Zusammenhangs von
Erziehung und Entwicklung. Aus systemtheoretischer Sicht ist hierbei die Komplexität
von Erziehung und Entwicklung gemeint, die Erziehung und Entwicklung ganzheitlich,
also als systemische Einheit von biologischen (und damit auch chemischen und physi-
kalischen), psychischen und sozialen Teilsystemen erfaßt. Montessori beispielsweise
verstand unter Erziehung, „der psychischen Entwicklung des Kindes von Geburt an zu
helfen“ (Montessori, vgl. Kap. 2.1). Damit geht es in ihrem Ansatz um einen Teilaspekt
von Erziehung, der der Komplexität aus systemtheoretischer Sicht nicht gerecht wird.
Gleichzeitig zeigt sich aber auch, daß Teile dieser Theorie in der systemtheoretischen
Sichtweise aufgehoben sind bzw. wieder auftreten, da auch hier die psychische Ent-
wicklung des Kindes im Zusammenhang mit der Erziehung steht. Was hier nicht ge-
leistet werden kann ist eine Untersuchung des Verhältnisses der psychologischen
249
Schwerpunktsetzung im Ansatz von Montessori zur Bedeutung des Sozialen in der sys-
temtheoretischen Sichtweise von Erziehung.
- Da es die Erziehung mit Sinnsystemen zu tun hat (psychische und soziale Systeme
sind Sinnsysteme), geht es in der Erziehung um Sinnvermittlung und Sinnentwicklung
auf der Basis von Sinn. Dabei bezieht sich die Sinnentwicklung auf das zu erziehende
Kind. Auch in einer speziellen Erziehungssituation wird Sinn konstruiert, und zwar der
vom Erzieher und Kind gemeinsam entwickelte Sinn der Situation. Es wurde bereits
gesagt, daß Sinn komplex ist als eine Einheit der Differenz von Aktualität und Possibi-
lität. Sinn umfaßt Inhalte und Strukturen, denn Strukturen sind an Inhalte gebunden und
durch Inhalte erfolgt Strukturentwicklung (vgl. den Abschnitt über Piaget). Die in Bru-
ners Theorie deutlich gewordene Form von Erziehung als Lernen von Strukturen umfaßt
somit aus systemtheoretischer Sicht nur einen Teilaspekt von Erziehung.
- Die erzieherische Kommunikation zwischen dem in Entwicklung befindlichen Kind
und dem Erzieher wird zum Ausgangspunkt für den Sinn von Erziehung und die Ent-
wicklung von Sinn. Der Erzieher wird aus systemtheoretischer Sicht für die Erziehung
unentbehrlich, er initiiert die erzieherische Kommunikation und steuert sie. Gleichzeitig
ist er der Beobachter von Erziehung und Entwicklung. Damit führt die systemtheoreti-
sche Sichtweise über Montessoris Theorie hinaus. Der Erzieher darf sich keinesfalls
zurückziehen, denn in der Kommunikation mit dem Erzieher (den Eltern, dem Lehrer)
erfolgt die für die Entwicklung notwendige Sinnvermittlung und gleichzeitig erfährt das
Kind in dem Gespräch mit verschiedenen Erziehern, daß Sinn komplex, kontingent und
grundlegend für die Ausdifferenzierung sozialer Teilsysteme unserer Gesellschaft ist.
Die Entwicklung der Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge erfährt das Kind
eben nicht nur anhand von Materialien!
- Daran schließt sich die Notwendigkeit der Entwicklung kognitiver und kommunikati-
ver Fähigkeiten an, als Forderung komplexer Sinneinheiten und Sinnverhältnisse. Er-
ziehung umfaßt den Aufbau komplexer Bewußtseinsstrukturen, die den bestehenden
Sinn der Gesellschaft erfassen und mit ihm umgehen können. Das umschließt auch die
damit verbundene Fähigkeit zur Selektion. Die Entwicklung komplexer Bewußt-
seinsstrukturen erfolgt systemtheoretisch durch die strukturelle Koppelung biologischer,
psychischer und sozialer Systeme. Hier greift zum Beispiel die Auffassung Bruners zu
kurz. Strukturen entstehen nicht allein deshalb, weil die Umwelt Lernprozesse initiiert,
in denen die Strukturen vorgegeben und sozusagen nur noch internalisiert werden müs-
250
sen, sondern durch die Koppelung von komplexen personexternen und personinternen
Systemprozessen. Dabei ist die jeweilige operative Geschlossenheit der personalen
Systeme zu beachten, die bei Bruner nicht berücksichtigt wird.
- Anschlußfähigkeit an den Entwicklungsstand des Kindes herstellen hat in der Erzie-
hung Priorität, weil nur so Sinnvermittlung und -entwicklung überhaupt ausgelöst wer-
den kann. Hier geht die Systemtheorie eindeutig über die Forderung des Interaktionis-
mus bei Krappmann hinaus, nach dem sich das Kind durch Erwartungsdiskrepanzen
entwickelt, mit denen es schon möglichst früh konfrontiert werden soll. Wenn das Kind
auf einer Entwicklungsstufe Diskrepanzen nicht versteht, dann werden sie wohl kaum
eine Wirkung haben. Außerdem werden diskrepante Erwartungen nicht zwangsläufig so
aufgenommen, wie vom Erzieher intendiert, was der Selbstorganisation der Person wi-
derspricht. Gleiches gilt in Bezug auf die Empathie, durch die das Kind in der erzieheri-
schen Kommunikation auch die Erwartungen des Erziehers aufnehmen sollte. Es geht
hier vielmehr um das Verständnis einer Mitteilung, was für die Erziehungssituation
grundlegend ist, wozu sich das Kind aber nicht zeitweise in die „Rolle“ des Erziehers
hineinversetzen muß. Anschlußfähigkeit und damit Erziehung gelingt, wenn das Kind in
seiner Komplexität als biologische, psychische und soziale Einheit vom Erzieher ange-
sprochen wird, ohne daß es sich dafür in andere Personen hineinversetzen oder gezielt
Diskrepanzen ausgesetzt werden muß (auf den Begriff der Diskrepanz wird erneut hin-
gewiesen, wenn es um die Steuerung von Erziehung geht, vgl. Abschnitt 5.9). Die von
Krappmann geforderte Ambiguitätstoleranz entwickelt das Kind durch die mit der zu-
nehmenden Sinnvermittlung einhergehenden Kontingenzerfahrungen.
- Da Sinn „sich selbst und anderes“ meint321, muß in der Erziehung das Bewußtsein für
Kontingenzen geschaffen werden, Kontingenzbewußtsein in Bezug auf die Sinnbildung
beim Kind und auch in Hinblick auf das System Erziehung. Es ist zu erkennen, daß es
viele Möglichkeiten der Sinnentwicklung beim Kind gibt, was für ein vielfältig struktu-
riertes und reichhaltiges inhaltliches Angebot von Erziehung spricht, das in unter-
schiedlichen institutionellen Einrichtungen, Lernangeboten oder auch Didaktiken zum
Ausdruck gebracht werden kann. Auch in einer Erziehungssituation in der Familie kann
über verschiedene Möglichkeiten der Sinnvermittlung nachgedacht werden, ohne daß
stets einem gleichen Schema gefolgt wird. (Zum Beispiel wenn das Kind stört, dann
321 „Sinn besagt, daß an allem, was aktuell bezeichnet wird, Verweisungen auf andere Möglichkeiten mitgemeint und miterfaßt sind“
(Luhmann 1997, S.48).
251
darf es immer fernsehen. Der Sinn von Erziehung, daß sich ein Kind selbst beschäftigt
oder sich ruhig verhält, kann auch anders, durch Malen, Handarbeiten, Basteln etc. er-
reicht werden). Kontingenzbewußtsein wie auch Sinnentwicklung erfolgt letztlich sys-
temintern, also im Bewußtsein der jeweiligen Person. Während in der pädagogischen
Theoriebildung durch Montessori die sozialen Beziehungen zu wenig beachtet wurden,
so stehen diese im Interaktionismus zu sehr im Vordergrund. Durch soziale Beziehun-
gen und Kommunikation allein wird Sinn vom Kind nicht konstruiert oder Identität
entwickelt, zumal, systemtheoretisch betrachtet, das Kind aufgrund seiner Selbstorgani-
sation und der damit einhergehenden operativen Geschlossenheit in jedem Moment sei-
ner Entwicklung seine Identität zeigt. So kann beispielsweise das Kind Kontingenzen
gerade dann erkennen, wenn es nicht kommuniziert, sondern einem Gespräch zuhört, an
dem es gar nicht beteiligt ist oder Handlungen anderer Personen beobachtet etc. Die
Komplexität des personinternen systemischen Geschehens wird vom Interaktionismus
nicht genügend beachtet.
- Die Selbstorganisation von Entwicklung im Allgemeinen, aber auch der Sinnent-
wicklung im Besonderen macht eine Erziehung zur Verantwortlichkeit erforderlich, die
im Erwachsenenalter nicht nur die Verantwortlichkeit gegenüber der eigenen Person
meint, sondern auch in einer Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft bzw. der
Welt mündet, an deren Sinnkonstruktion alle Menschen gemeinsam beteiligt sind. Der
Begriff der Verantwortlichkeit wird bereits von Dienelt als ein Erziehungsziel angege-
ben, das der Mensch von Natur aus schon in sich trägt und durch Erziehung entwickelt
werden soll. Hier wird die Genauigkeit der systemtheoretischen Sichtweise gegenüber
Dienelt deutlich. Spricht er allgemein von Verantwortung als Urphänomen, so kann die
Systemtheorie durch die Erklärung der Organisation von Sinnsystemen die Verantwort-
lichkeit erklären. Auch der philosophische Ansatz Ballaufs, in dem es um die Bildung
zur kosmischen Verantwortung geht, findet durch die Systemtheorie eine Erklärung und
in diesem Fall auch eine Bestätigung dieses Teils der Theorie. Denn wenn sich die Ge-
sellschaft in Systeme aufteilt und sich die Systeme durch Sinn weiter ausdifferenzieren,
dann sind sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Teilsysteme mit verant-
wortlich, weil Systeme durch die Einheit der System/Umwelt-Differenz letztlich struk-
turell gekoppelt sind.
- Die prinzipielle Eigenständigkeit des Kindes und das gleichzeitige Abhängigsein von
seiner Umwelt, was sich systemtheoretisch durch die Einheit der System/Umwelt-
252
Differenz ergibt, die in jedem Prozeß vorliegt, erfordert in der Erziehung immer erneut
den Versuch der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Autonomie und Abhängig-
keit. Die Autonomie ist immer vorhanden und doch nimmt sie im Verlauf der Entwick-
lung in Hinblick auf Erleben und Handeln des Kindes zu, gerade durch Sinnvermittlung
und -entwicklung. Die Autonomie der biologischen Systemebene führt im Verlauf der
Entwicklung zu einer Autonomie auf der psychischen und dann auch sozialen System-
ebene. Dadurch wird gleichzeitig die Abhängigkeit vom Erzieher verringert, aber die
Abhängigkeit von sozialen Systemen bzw. der Gesellschaft bleibt erhalten (vgl. hierzu
ausführlich den Abschnitt über Anpassung).
Durch die strukturelle Koppelung, die zur Verbindung bzw. Interaktion jeder System-
ebene führt, ergibt sich ein Gleichgewicht zwischen Autonomie und Abhängigkeit auf
jeder Systemebene. Dies gilt zum einen für personinterne Systemprozesse, denn die
operationale Geschlossenheit psychischer Prozesse ist gleichzeitig autonom und abhän-
gig von biologischen Prozessen etc. Gleiches gilt für den Zusammenhang von Erzie-
hung und Entwicklung: Entwicklungsprozesse erfolgen autonom (bzw. autopoietisch)
und auch abhängig von Erziehungsprozessen und umgekehrt. Erziehung und Entwick-
lung werden so zu einer komplexen Einheit, die in der erzieherischen Kommunikation
zum Ausdruck kommt. Diese Gleichwertigkeit, Gleichrangigkeit und wechselseitige
Abhängigkeit von Erziehung und Entwicklung wird in der anthropologischen Theorie
bei Roth noch nicht deutlich genug herausgestellt. Er spricht zwar davon, daß sich Er-
ziehung und Entwicklung gegenseitig bedingen, aber er beachtet nicht die Selbstorgani-
sation der Person und die damit einhergehende operationale Geschlossenheit der Sys-
temprozesse, die die personinterne Entwicklung ausmachen. Nach Roth steuert die Er-
ziehung durch Lernprozesse gezielt die Entwicklung. Systemtheoretisch gesehen kön-
nen im Erziehungsprozeß und durch Strukturenkoppelung Veränderungen personinter-
ner Strukturenkoppelung ausgelöst werden, die dann ein Beobachter als Entwicklung
bezeichnet. Der Systemtheorie ist gerade durch ihre Begrifflichkeit eine präzise Be-
schreibung des Verhältnisses von Erziehung und Entwicklung möglich. Die anthropolo-
gische Sichtweise wirkt hier oberflächlich, obwohl sie in Hinblick auf die Erziehungs-
bedürftigkeit des Menschen, die Abhängigkeit und Einflußnahme der Gesellschaft auf
die Entwicklung, die Notwendigkeit von Lernprozessen und damit die Beachtung des
Zusammenhangs von psychischen und sozialen Prozessen über die Ansätze von Mon-
tessori, Bruner und Krappmann hinausführt.
253
- Das Kind wird durch den Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung befähigt,
als Erwachsener in und mit den sozialen Teilsystemen der Gesellschaft selbstreflexiv
zurechtzukommen. Insofern ist Erziehung immer auch soziale Integration. Sie umfaßt
Sozialisation unter Berücksichtigung von Entwicklung. Sie ist aber nicht mit Sozialisa-
tion gleichzusetzen, wie dies von Krappmann gedacht wurde. Durch die systemtheoreti-
sche Sichtweise des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung wird über die
soziologische Perspektive hinausgegangen und durch die Betonung des Entwicklungs-
aspekts die Individualität und Kreativität personaler Systeme herausgestellt. So wird
soziale Integration nicht zur sozialen Anpassung, sondern sie besteht in dem selbständi-
gen, selbstreflexiven Zurechtkommen in unserer Gesellschaft, was auch Kritik an der
Gesellschaft oder konstruktive Vorstellungen über Veränderungen und entsprechende
Handlungen mit einschließt.
- Erziehung ist zeitgebunden. Sie muß übergeordnete und kleinste Zeitverhältnisse be-
achten und innerhalb von teilweise vorgegebenen Zeiten den Zusammenhang von Er-
ziehung und Entwicklung herstellen. Erziehung läuft gegenwärtig ab, dabei sind ver-
gangene, gegenwärtige und zukünftige Systemprozesse zu berücksichtigen, die sich
zum einen durch die bereits stattgefundene und die zukünftige Erziehung ergeben und
zum anderen aus der bisherigen und der zukünftigen Entwicklung des Kindes. Auf die
damit verbundene gesteigerte Komplexität von Erziehung wird in der pädagogischen
Theoriebildung nicht hingewiesen. So wird beispielsweise von Roth hervorgehoben,
daß Erziehung in Hinblick auf Zukunft zu erfolgen habe (vgl. Roth 1971, z.B. S.45),
und Ballauff erwähnt, daß durch die „Herrschaft der Uhr“ ein „Mißverhältnis zur Zeit“
besteht (Ballauff 19892, S.75). Die Bedeutung verschiedener Zeitebenen für Erziehung
und Entwicklung bleibt aber insgesamt unberücksichtigt. Dabei ist die Erziehung des
Kindes Teil seines Lebenslaufes und damit untrennbar mit Zeiteinheiten verbunden
(siehe auch Loch 1979).
Weitere Pädagogische Sinneinheiten lassen sich noch formulieren, je nach dem, auf
welchen Aspekt im System Erziehung bzw. auf welche Systemebene man den Schwer-
punkt für eine erzieherische Arbeit oder die pädagogische Forschung setzt. Die Schwer-
punktsetzung für Erziehung hängt vom Beobachter ab, wobei es sich um Lehrer genau-
so wie um Wissenschaftler oder Politiker handelt, die bei der Zielsetzung (Grob,- Teil-
oder Feinziele) von Erziehung beteiligt sind. Aus systemtheoretischer Sicht ist auf die
Einheit von biologischen, psychischen und sozialen Systemzusammenhängen in der
254
Entwicklung des Kindes zu achten, die die Richtschnur für pädagogischen Sinn, für
Erziehungsziele, ja schließlich für jede Erziehungssituation bilden.
Erziehung kann als gleichzeitiger Aufbau und Abbau von Asymmetrien bezeichnet
werden. Es werden Asymmetrien zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und
den Entwicklungsstufen des Kindes, zwischen den Bewußtseinsstrukturen des Kindes
und denen des Erwachsenen, zwischen der Sinnvermittlung und der Sinnentwicklung
durch Erziehung abgebaut (vgl. Büeler 1994, S.113). Wird gleichzeitig in der Erziehung
die Selbstorganisation des personalen System des Kindes ernstgenommen, wird die Re-
flexivität gefördert, die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Kindes be-
achtet und damit eine Entwicklung zur Individualität möglich, dann sind sich Erzieher
und Kind „am Ende (...) nicht zum Verwechseln ähnlich“ geworden (Büeler ebd.).
Die Sinneinheiten machen die Qualität von Erziehung aus. Diese zeigt sich aber erst in
der Lebensgestaltung des Kindes in der Zukunft, wenn Erziehungsprozesse gar nicht
mehr stattfinden. Schon im Verlauf der Erziehung sind die Interaktionen zwischen Kind
und Erzieher immer nur vorübergehender Art. Aber insbesondere dann, wenn Erziehung
als abgeschlossen gilt, wie auch immer das Ende von Erziehung definiert sein mag, wird
sich zeigen, inwieweit der durch Erziehung gestaltete vergangene Lebenslauf der Per-
son gegenwärtig und zukünftig in die Autobiographie der Person mit einfließt (vgl.
Loch 1997, S.99ff.). So bezieht sich die Qualität von Erziehung nicht auf den Zustand
eines Systems, sondern auf die Ausführung und das Ergebnis von strukturellen Koppe-
lungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Systemtheoretisch gesehen ergibt
sich die Qualität durch die dynamische Einheitsbildung der System/Umwelt-Differenz,
die sich in der Problemlösefähigkeit personaler Systeme bzw. der individuellen Lebens-
bewältigung zeigt, schließlich aber vom Beobachter als solche beschrieben wird, denn
die Qualität ist eine Beobachterkategorie und nicht dem System eigen. Deshalb wird
über Qualität in der Systemtheorie auch nicht gesprochen. Da der Beobachter selbst Teil
seiner systemeigenen Umwelten ist bzw. wenn es sich um den Erzieher handelt ist er
auch Teil des Systems Erziehung, stammen die Kriterien für die Qualität von Erziehung
vom Beobachter als personales System, das von seiner systemeigenen Umwelt geprägt
ist. Qualitätskriterien können z.B. dem Beobachter auch durch seine Umwelt vorgege-
ben sein.
Die Qualität von Erziehung läßt sich nicht vollständig bestimmen, denn sie wird letzt-
lich in der einzelnen Erziehungssituation konkret, deren Sinn nicht unbedingt mit dem
255
vorgegebenen oder übergeordneten Sinn von Erziehung übereinstimmen muß. So gibt
es Erziehungssituationen, zum Beispiel im Kindergarten oder in der Familie, die nicht
an äußere Zeitvorgaben gebunden sind, sondern durch das Verhalten des Kindes einge-
leitet und beendet werden. Es ist auch nicht notwendig, daß in jeder erzieherischen
Kommunikation ein Bewußtsein für Kontingenzen geschaffen wird. Gerade kleine Kin-
der verlangen auf ihre Fragen eindeutige Antworten, die ihnen Sicherheit bieten. Und es
gibt im Kleinkindalter schließlich genügend Situationen, in denen die Abhängigkeit
gegenüber der Autonomie überwiegt, denn das Kind ist noch oft auf Hilfe angewiesen
(sei es beim Anziehen, Basteln oder im Straßenverkehr). Auch wenn das 18. Lebensjahr
erreicht ist und Erziehung rechtlich gesehen beendet ist, kann man über die Qualität
keine eindeutigen Aussagen machen. Die Selbstorganisation des Menschen widerspricht
von vornherein einer völligen Übereinstimmung von Entwicklungsablauf und Erzie-
hungszielen. Zumal der Entwicklungsverlauf nicht ausschließlich vom System Erzie-
hung bestimmt wird. Man denke an die vielfältigen strukturellen Koppelungen zwi-
schen psychischen und sozialen Systemen bzw. Kind und Umwelt, die nicht die Merk-
male von Erziehung aufweisen, aber zum Leben des Kindes dazugehören, wie zum Bei-
spiel der Umgang mit Freunden, die Teilnahme im Sportverein, das Spiel mit Ge-
schwistern oder der Einfluß von Medien.
Die Qualität von Erziehung bleibt eine Beobachterkategorie und sie kann nicht zur voll-
ständigen Erklärung des Operierens herangezogen werden (vgl. Maturana 19852,
S.191). Ob man das Verhalten einer Person zum Beispiel in Hinblick auf die Lösung
eines Problems als angemessen bezeichnet und damit etwas über die Qualität der Erzie-
hung aussagt, das kann ein Beobachter jeweils nur aus der „strukturellen Koppelung an
eine redundante Umwelt“ erkennen (Maturana ebd., S.292), also durch die Bewertung
der Interaktionen des Kindes mit seiner komplexen Umwelt, wozu auch die Anforde-
rungen des Erziehers an das Kind zählen, sein Verhalten in der peer-group etc., was im
nächsten Abschnitt zum Thema wird.
Die zu Beginn der vorliegenden Arbeit vorgestellten pädagogischen Theorien wider-
sprechen nicht grundsätzlich den Sinnkriterien von Erziehung aus systemtheoretischer
Sicht. Diese werden vielmehr neu erklärt und vor allem werden dadurch auch notwen-
dige Zusammenhänge zwischen den Theorien deutlich, auf die hier im einzelnen nicht
ausführlich eingegangen werden kann, die aber der Komplexität von Erziehung gerecht
werden. Das heißt, diese angesprochenen Theorien entfalten jeweils nur einzelne Sinn-
256
einheiten des komplexen Zusammenhangs von Erziehung. Man denke an den Begriff
der kosmischen Verantwortung von Ballauff, die Bedeutung des „inneren Bauplans“ bei
Montessori, die Erziehung zur Interaktionsfähigkeit bei Krappmann oder das Lernen,
dessen Notwendigkeit hier auch noch genauer betrachtet wird. Es handelt sich dabei um
pädagogische Sinneinheiten, durch die sich nur gemeinsam erzieherischer Sinn entwi-
ckeln läßt. Der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung stellt sich systemtheo-
retisch als komplexes Geschehen dar, das sich nicht nur durch einen spezifischen Sinn
beschreiben läßt.
257
5.6 Strukturelle Koppelung und Lernen
Der Begriff der strukturellen Koppelung wurde von Maturana als Beschreibung für die
Verbindung zwischen System und Umwelt eingeführt (vgl. Abschnitt 4.2.1). Die „Ge-
schichte wechselseitiger Strukturveränderung“ wird als strukturelle Koppelung be-
zeichnet (Maturana/Varela 19872, S.85). Sie ist für den Zusammenhang von Erziehung
und Entwicklung so bedeutsam, weil in der Koppelung als Prozeß Erziehung und Ent-
wicklung stattfinden, die sich nicht an einem bestimmten Ort im System, sei es nun im
sozialen oder personalen, festmachen lassen. In diesem Abschnitt geht es deshalb dar-
um, Erziehung und Entwicklung als Strukturenkoppelung unterschiedlicher Systeme zu
beschreiben und damit auch auf die operative Schließung des Systems Erziehung hin-
zuweisen. Dadurch ergeben sich dann erste Konsequenzen für den Lernbegriff.
Der Begriff der Koppelung soll im Folgenden beibehalten werden. Es soll deutlich wer-
den, daß Systeme so intensive Verbindungen herstellen, die über den Begriff „Bezie-
hung“ hinausführen. Oder anders formuliert: Durch den Begriff der strukturellen Kop-
pelung wird die Beziehung zwischen Systemen (die Beziehung zwischen Erzieher und
Kind, genauso wie die Beziehung zwischen biologischen und psychischem System)
erklärt. Die strukurelle Koppelung bezieht sich auf die vielschichtigen Systemebenen,
die sich wechselseitig und selektiv miteinander verbinden, also gegenseitig Auslöse-
und Einwirkungsfunktionen ausüben können und somit zur gegenseitigen Konstituie-
rung beitragen im Sinne einer Erhaltung der Einheit der System/Umwelt-Differenz.
5.6.1 Die strukturelle und operative Koppelung nach Maturana und Luh-mann
Nach Maturana (vgl. Maturana 19852, S.243ff.) lassen sich lebende Systeme durch ihre
autopoietische Organisation kennzeichnen, die mit einer von dieser Organisation ab-
hängigen Struktur verbunden ist. Dabei gilt, daß sich Strukturen verändern können, aber
nicht die Organisation des Systems (zu Maturanas Theorie vgl. Kapitel 4.2). Das Sys-
tem existiert nun in einem Medium, das ebenfalls über Strukturen verfügt, denn das
Medium, das in Anlehnung an Luhmann hier als Umwelt bezeichnet werden soll, kann
selbst aus Systemen bestehen (in Abhängigkeit davon, wie weit der Systembegriff ge-
faßt wird). Die Strukturen des Systems treten nun durch Interaktion mit Strukturen der
Umwelt(systeme) in Verbindung (zum Begriff der Interaktion siehe Abschnitt 5.6.4),
258
sodaß „ein ineinandergreifender, wechselseitig selektiver und wechselseitig Interaktio-
nen auslösender Bereich von Zustandsfolgen entsteht“, der als strukturelle Koppelung
bezeichnet wird (Maturana 19852, S.244). Wesentlich ist, daß die Interaktionen zwi-
schen Strukturen des Systems und der Umwelt notwendig sind und Folge der autopoie-
tischen Organisation, weil diese nur im Medium (in einer Umwelt) stattfinden kann; die
Organisation selbst aber bleibt unverändert322. Wenn sich die Umwelt ändert, muß das
System zur Erhaltung seiner Organisation darauf reagieren. Die Umwelt wird so zum
„Auslöseereignis“ für Zustandsveränderungen im System (Maturana ebd., S.287). Auf
dieser abstrakten Ebene birgt die Beschreibung der Strukturenkoppelung die Gefahr,
man könne durch entsprechende Umweltveränderungen gezielt gewünschte Zustands-
veränderungen im System hervorrufen, was für die Erziehung ja nicht unerheblich wäre.
Aber es wird gleich gezeigt werden, daß die Ergebnisse Maturanas für alle Systemebe-
nen Gültigkeit haben und sich dann ein viel komplexeres Geflecht zwischen Auslöseer-
eignissen, Zustandsänderungen und Beeinflußbarkeiten im und zwischen Systemen er-
gibt.
Das Ergebnis der strukturellen Koppelung wird von Maturana als die „tatsächliche
raumzeitliche Übereinstimmung der Zustandsveränderungen des Organismus mit den
wiederkehrenden Zuständen des Mediums“ bezeichnet (Maturana ebd., S.288). Die
Strukturenkoppelung bezeichnet somit eine sehr enge Verbindung zwischen System und
Umwelt, sie wird, wie in Abschnitt 5.8 genauer dargestellt wird, zur Anpassung (im
Sinne von Piagets Begriff der „Äquilibration“) des Systems an die Umwelt führen323.
Luhmann unterscheidet noch genauer, wenn er die Koppelung als Einheit der Differenz
von struktureller und operativer Koppelung bezeichnet (vgl. Krause 1996, S.124). Die
strukturelle Koppelung betrifft die eben dargestellte Interaktion zwischen System und
Umwelt, die operative Koppelung ist strukturelle Koppelung im Vollzug, zum Beispiel,
wenn das personale System die Sprache benutzt, um sich einem anderen System mittei-
len zu können. „Es koppelt auf diese Weise über ein temporäres Ereignis seine Struktur
322 „D.h., die Erhaltung der Organisation eines dynamischen Systems in einem Medium von Interaktionen erfordert strukturelle
Korrespondenz zwischen dem System und seinem Medium. Wenn diese strukturelle Korrespondenz verlorengeht, zerfällt das Sys-
tem“ (Maturana 1983, S.63). Die strukturelle Korrespondenz entspricht bei Maturana dem Begriff der strukturellen Koppelung (vgl.
Maturana ebd.).323 Vgl. dazu vorab Maturana 1983, S.63: „Die Angepaßtheit eines Lebewesens an ein Medium ist nicht die Konsequenz seiner
Existenz in diesem Medium, sondern im Gegenteil die notwendige Voraussetzung dafür, daß eine solche Existenz überhaupt mög-
lich ist“. Auf die Konsequenz daraus für Erziehung wird in Abschnitt 5.8 eingegangen.
259
fest an seine Umwelt“ (Krause ebd.). Die Strukturenkoppelung führt zur operativen
Geschlossenheit, aber nicht im Sinne „thermodynamischer Abgeschlossenheit“, sondern
als „rekursive Ermöglichung eigener Operationen durch die Resultate eigener Operatio-
nen“ (Luhmann 1997, S.94). Das gilt auch für das System Erziehung, worauf im nächs-
ten Abschnitt noch genauer eingegangen wird: So muß sich in der Erziehungssituation
eine erzieherische Operation, Handlung oder Kommunikation an eine andere erzieheri-
sche Operation etc. anschließen, so wie sich neuronale Aktivität auch nur wiederum auf
neuronale Aktivität bezieht. Geschieht dies nicht, dann lösen sich die Systeme, seien sie
nun biologischer oder sozialer Natur, auf. Die systeminterne strukturelle Koppelung
bestimmt also nicht, was im System geschieht, aber sie ist für die Existenz des Systems,
für dessen Organisation bzw. Selbstorganisation genauso Voraussetzung, wie die ande-
ren Systemmerkmale (Organisation, Struktur, Einheit der System/Umwelt-Differenz,
Sinn etc.).
Strukturenkoppelung wird damit grundlegend für Entwicklung und Erziehung: Die
Entwicklung des Kindes ist nicht ohne systeminterne Koppelungen denkbar. Koppelun-
gen innerhalb des Organismus zwischen biologischen, physikalischen, chemischen und
psychischen Systemebenen zeigen sich zum Beispiel in der neuronalen Tätigkeit des
Organismus, beim Sprechen und Denken des Kindes, in der Motorik etc. Auch Erzie-
hung als soziales System ist nicht ohne den an ihr beteiligten personalen Systemen
möglich, die miteinander strukturell verkoppelt sind. Der Zusammenhang von Erzie-
hung und Entwicklung ergibt sich durch die Verbindung der Strukturenkoppelung auf
den verschiedenen Systemebenen.
Durch den Begriff der strukturellen Koppelung erfährt man nichts über die Qualität von
Interaktionen zwischen personalen Systemen, wie dem Kind und dem Erzieher. Hier
steht das Funktionieren von Interaktionen (und Lernen) im Mittelpunkt. Um über die
Qualität von Erziehung und Entwicklung Aussagen zu treffen, bedarf es zusätzlich der
Sinnkategorie, so wie es im vorigen Kapitel gezeigt wurde.
5.6.2 Die Ebenen der Strukturenkoppelung im personalen System und imSystem Erziehung
Es ist für die vorliegende Fragestellung nicht notwendig auf die möglichen und vielfäl-
tigen Strukturenkoppelungen zwischen biologischen, physikalischen und chemischen
Systemen im Einzelnen einzugehen, die sich im Organismus abspielen. Es handelt sich
260
hierbei um Voraussetzungen für die Entwicklung des personalen System des Kindes
bzw. des Erziehers (über strukturelle Koppelung des Nervensystems vgl. einführend
Maturana 1983, S.65f.). Wenn es in diesen Systemen zu Störungen kommt, dann kön-
nen sie sich auch auf die Entwicklung und Erziehung auswirken und zwar nicht nur
„negativ“, sondern auch durchaus „positiv“. So kann beispielsweise eine Erziehungssi-
tuation wegen eines grippalen Infektes des Erziehers anders ablaufen als intendiert (der
Lehrer entscheidet sich für Gruppenarbeit, obwohl er eigentlich Frontalunterricht ma-
chen wollte o.ä.). Ist ein Kind krank, können Erziehungssituationen auch nicht zustande
kommen, wenn das Kind zum Beispiel dem Unterricht ganz fern bleibt. Kümmert sich
die Mutter während der Krankheit besonders intensiv um das Kind, spielt mit ihm oder
liest viele Geschichten vor, kann sich daraus erst recht erzieherische Kommunikation
entwickeln. In der Erziehung geht man aber zunächst davon aus, daß die strukturelle
Koppelung zwischen biologischen, physikalischen und chemischen Systemen im perso-
nalen System (des Kindes und des Erziehers) so verläuft, daß ein Beobachter sie als
unauffällig und das personale System als „gesund“ bezeichnen kann.
Folgende Abbildung soll die Komplexität von Strukturenkoppelung des personalen
Systems verdeutlichen (es wird hier nicht von einer Strukturenkoppelung innerhalb des
Systems oder zwischen Systemen gesprochen, da durch die Einheit der System/Umwelt-
Differenz die Strukturenkoppelung so eng ist, zum Beispiel zwischen Nervensystem
und Bewußtsein, daß die Grenze zwischen ‘innen’ und ‘außen’ gerade durch die Kop-
pelung nicht immer deutlich wird):
261
Personales System
Nervensystem
Bewußtsein/Gedanken
Person-intern
Person-extern
Sprache/Verhalten
Kommunikation/Verhalten
Umwelt
Abb. 8: Strukturelle Koppelungen des personalen Systems
Die für den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung in Frage stehenden Struk-
turenkoppelungen sind zum einen die Koppelung zwischen dem Nervensystem und dem
Bewußtsein bzw. den Gedanken, wobei es sich um personinterne Koppelungen handelt,
weil diese nicht sichtbar und direkt beobachtbar sind. Hinzu kommen die personexter-
nen Koppelungen zwischen Bewußtsein und Sprache sowie Sprache und Kommunikati-
on bzw. Verhalten, wobei die Kommunikation durch eine Beteiligung mehrerer perso-
naler Systeme entsteht. Die Sprache und die Teilnahme an der Kommunikation können
beobachtet werden und von da aus werden Rückschlüsse auf personinterne Strukturen-
koppelung gezogen. Dabei sind die personinternen und die personexternen Koppelun-
gen jeweils mit ihren je eigenen Umwelten gekoppelt. Das Nervensystem ist an die
biologischen, physikalischen und chemischen Umwelten im Körper gekoppelt, die aktu-
ellen Gedanken bzw. das Bewußtsein ist an die „Geschichte des Strukturwandels“ in-
nerhalb der jeweiligen Ontogenese gekoppelt (Maturana/Varela 19872, S.86) und aktu-
ell z.B. von einer Lektüre beeinflußt. Die Sprache ergibt sich ebenfalls durch die bereits
stattgefundene Ontogenese, kann aber zum Beispiel aktuell abhängig von einem Mit-
teilungsbedürfnis oder von einer Frage sein. Schließlich ist die Kommunikation, an der
verschiedene personale Systeme teilhaben, abhängig vom Thema und den unterschiedli-
chen Abfolgen von Strukturwandel und Zuständen innerhalb der Ontogenese der jewei-
ligen personalen Systeme, die an der Kommunikation teilnehmen. Die personinternen
262
und die personexternen Strukturenkoppelungen sind also jeweils mit Umwelt(systemen)
verkoppelt und die Koppelungsprozesse wirken rekursiv auf den verschiedenen Ebenen.
Die Strukturenkoppelung erfolgt nicht nur in eine Richtung. So kann die Kommunikati-
on das Bewußtsein beeinflussen, was aber nicht immer der Fall sein muß bzw. eintreten
kann, weil das komplexe kognitive System wie jedes andere System auf Selektion an-
gewiesen ist (so wird nicht alles, was in einem Gespräch zum Ausdruck kommt, auch
behalten und Ausgangspunkt für gedankliche Operationen).
In der Erziehung ist ein „sehr stabiler Charakter von Strukturenkoppelung“ wünschens-
wert (Maturana/Varela 19872, S.85), denn nur wenn durch die erzieherische Kommuni-
kation, die sich auch als soziale Koppelung beschreiben läßt, eine Rückkoppelung an
das Bewußtsein stattfindet, kann auch Entwicklung eintreten. Deswegen erscheint der
Begriff der Koppelung gerade für die Erziehung wichtig, weil es in der Erziehung um
eine intensive Form von Beziehungen geht, wenn die Erziehung den Anspruch erhebt,
auf die Entwicklung des Kindes nicht nur irgendwie einzuwirken, sondern in Hinblick
auf bestimmte Ziele, seien sie nun kognitiver, sozialer oder emotionaler Art. Dieser
Aspekt einer intensiven Koppelung zwischen Erzieher und Kind tritt in der pädagogi-
schen Theoriebildung in den Hintergrund, wenn sich der Erzieher zurückziehen soll
(Montessori) oder Erziehung mit Bildung gleichgesetzt wird (Ballauff). Dem wider-
spricht aber auch eine einseitige Koppelung zwischen Erzieher und Kind, bei der der
Erzieher den aktiven Teil übernimmt (vgl. Roth), in der Annahme, er könne auf jeden
Persönlichkeitsbereich des Kindes Einfluß ausüben. Eine stabile Strukturenkoppelung
kommt in stabilen sozialen Strukturen zum Ausdruck, die nicht nur in der Familie, son-
dern auch in Schule, Kindergarten u.a. institutionalisierten Einrichtungen zu wünschen
sind.
Systemtheoretisch kann der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung als
Strukturenkoppelung bezeichnet werden. Erziehung (zum Beispiel die erzieherische
Kommunikation) muß strukturell mit der (selbstreferentiellen) Entwicklung (zum Bei-
spiel den kognitiven Operationen des Kindes) gekoppelt sein. Oder anders formuliert: In
der Erziehung geht es um die aktuelle operative Koppelung zwischen Erzieher und
Kind, die übergeht in die strukturelle Koppelung zwischen person-externen und person-
internen Einheiten, die dann zur Entwicklung im Sinne einer Zustandsveränderung im
personalen System führt.
263
Die hier dargestellte Komplexität von Strukturenkoppelung des personalen Systems ist
sowohl für das Kind als auch für den Erzieher gültig. In der Erziehung liegt nun der
spezielle Fall vor, daß der Erzieher als personales System zum einen zur Umwelt des
Kindes gehört, die sowohl systemintern als auch extern mit dem personalen System
Kind verkoppelt sein kann. Gleichzeitig bildet aber das Kind in seiner Komplexität die
Umwelt für den Erzieher und wird zur Voraussetzung für sein erzieherisches Handeln.
M.E. wird in keinem anderen sozialen System die Komplexität eines personalen Sys-
tems (nämlich die des Kindes bzw. die mehrere Kinder) in dem Maße zum Umweltsys-
tem und damit zur Voraussetzung für Operationen eines anderen personalen Systems
(nämlich dem des Erziehers). Das liegt aber auch daran, daß der Mensch in anderen
sozialen Systemen aus systemtheoretischer Sicht nicht im Mittelpunkt steht. So ist bei-
spielsweise das Geld im Wirtschaftssystem die Basis, nach der sich die Operationen im
System richten. Im Wissenschaftssystem ist die Basis für Operationen die Wahrheit.
Geld und Wahrheit existieren in Bezug auf das jeweilige System. Sie sind „symbolisch
generalisierende Kommunikationsmedien, die über ihre Codierung eine bestimmte
Vielfalt von Kommunikationen ermöglichen“ (Krause 1996, S.132), aber nicht selbst
komplexe Systeme sind und mit dem personalen System vergleichbar.
Etwas vereinfacht läßt sich die Bedeutung der Koppelung in der Erziehung durch fol-
gende Abbildung ausdrücken, wobei die vorherige Abbildung mitbedacht werden muß:
Erzieher
person-interneKoppelungen
erzieherischeKoppelung
person-externeKoppelungen
Kommunikation
Kind
person-externeKoppelungen
Kommunikation
person-interneKoppelungen
Umwelt
Umwelt
Abb. 9: Koppelungen in der Erziehung
Die Komplexität von Erziehung, aber auch von Entwicklung wird hierdurch noch ein-
mal zum Ausdruck gebracht: Das Kind als personale Einheit, das diese Einheit durch
vielfältige Strukturenkoppelung selbstreferentiell bildet, stellt für den Erzieher, für den
264
als personale Einheit das gleiche gilt, das für das System Erziehung konstitutive Um-
weltsystem dar (weitere Umweltsysteme werden zum Beispiel durch den Lehrplan, Er-
ziehungsziele etc. bestimmt). Es sollte in der Erziehung die Voraussetzung für die per-
son-internen und die person-externen strukturellen Koppelungen des Erziehers sein.
Diese vom Erzieher selbstreferentiell verarbeiteten Beziehungen zu dem Umweltsystem
„Kind“, bilden die wesentliche Basis für die erzieherische Kommunikation, durch die
die strukturelle Koppelung als operative Koppelung aktuell zwischen Kind und Erzieher
vollzogen wird. Auf diesem Wege erfolgt Erziehung und je nach entsprechenden Rück-
koppelungsprozessen dann auch die Entwicklung des Kindes. Dieser enge Bezug zwi-
schen Erzieher und Kind ist eingebettet in eine mehr oder weniger gemeinsame Um-
welt, nämlich die der Gesellschaft bzw. des kulturellen Umfeldes. Dieser gemeinsame
Kontext stellt auch die Grundlage dafür dar, daß eine strukturelle Koppelung zwischen
Kind und Erzieher prinzipiell möglich ist. Auch in kleineren Gruppen innerhalb der
Gesellschaft, wie zum Beispiel in der Familie, der Schulklasse, dem Kindergarten etc.,
gibt es diesen gemeinsamen Rahmen, weil es sich hierbei ebenfalls um soziale
(Teil)systeme handelt. Eine kleinere soziale Gruppe, wie z.B. die Familie, könnte so
auch als ‚Einheit struktureller Koppelungen‘ bezeichnet werden. Ob man aber generell
von einer Einheit sprechen kann, ist sicherlich abhängig von der Qualität der Koppe-
lungen, die ein Beobachter nicht so einfach erkennen kann.
Koppelungen können auch scheitern, worauf Speck durch den Begriff der „Entkoppe-
lung“ hinweist (Speck 1991). Mißlingt die Verbindung zwischen Erzieher und Kind
bzw. die Koppelung zwischen Kind und Umwelt, z.B. durch fehlende Anschlußfähig-
keit in der Kommunikation, dann stehen die personalen Einheiten isoliert nebeneinander
bzw. sind isoliert von der Umwelt. Solche Entkoppelungsprozesse werden subjektiv
erfahren und können eine „interaktional und innerpsychisch isolierende und/oder de-
struktive Wirkung“ haben, die z.B. in Form von Gewalt zum Ausdruck kommt (Speck
1991, S.47). Wir kommen darauf in dem Kapitel über die Erziehungssituation zurück.
Es zeigt sich hier in Bezug auf die pädagogische Theoriebildung, daß die Auffassung
vom „pädagogischen Bezug“, wie ihn Nohl formuliert hat, die Vielfalt struktureller
Koppelungen und vor allem die Berücksichtigung von Entkoppelungsprozessen ver-
nachlässigt und das die über den „pädagogischen Bezug“ hinausführende Kennzeich-
nung des „erzieherischen Verhältnisses“ die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in
265
denen sich die Beziehung zwischen Erzieher und Kind realisiert, ausblendet. Deshalb
wird hier auf diese pädagogischen Begriffe auch nicht weiter Bezug genommen324.
Aus systemtheoretischer Sicht bildet das Kind als personales System und damit als
komplexe Einheit das für die Erziehung grundlegende Teilsystem und in der aktuellen
Erziehungssituation das für den Erzieher wesentliche Umweltsystem. In anderen sozia-
len Systemen wird fast ausschließlich das sichtbare Verhalten oder die in der Kommu-
nikation zum Ausdruck gebrachte Sprache des einen personalen Systems zur Um-
welt(einheit) für das andere personale System. Nicht nur die Komplexität der person-
internen Koppelungen sind in der Regel nicht relevant, sondern auch oft die Frage da-
nach, wie das personale System zum Beispiel zu seinen Äußerungen kommt und damit
ist auch die Umwelt des Systems nicht von Belang. Wenn man beispielsweise bei der
Bank Geld von seinem Konto abhebt, hat der Bankangestellte kein Interesse an der
Verwendung des Geldes. Oft hat auch der Arzt nur Interesse an dem akuten Schmerz
und interessiert sich nicht für Vergangenes oder Zukünftiges. Dies sollte in der Erzie-
hung nicht so sein, wenn sich zum Beispiel eine Mutter mit seinem Kind unterhält und
das Kind Worte verwendet, die in der familiären Kommunikation nicht benutzt werden,
dann wird sich die Mutter auch für die strukturellen Koppelungen zwischen dem Kind
und dessen systemeigener Umwelt interessieren.
Durch die spezifische Koppelung zwischen Kind und Erzieher wird eine neue, überge-
ordnete Einheit geschaffen, die man Erziehung nennt. Erziehung ergibt sich durch die
Emergenz der spezifischen strukturellen Koppelung zwischen Kind und Erzieher in
Form der erzieherischen Kommunikation. Das heißt, Erziehung ist eine Einheit, die
entsteht325, wenn die erzieherische Kommunikation gelingt in dem Sinne, daß
Anschlußverhalten möglich ist und der Erzieher Entwicklung auf seiten des Kindes be-
obachtet. Die Qualität dieser engen Verbindung (vgl. hierzu auch Abschnitt 5.5.5) kann
von einem Beobachter beschrieben werden in Abhängigkeit von verschiedenen Katego-
rien, wie zum Beispiel Vertrauen, Zuneigung oder Liebe des Kindes gegenüber dem
324 Zum einführenden Verständnis der Begriffe „pädagogischer Bezug“ und „erzieherisches Verhältnis“ vgl. Kron 19965, S.221ff.325 Man spricht dann auch „von ‘emergenten’ Ordnungen und will damit sagen, daß Phänomene entstehen, die nicht auf die Eigen-
schaft ihrer Komponenten, zum Beispiel auf die Intentionen von Handelnden zurückgeführt werden können. Aber ‘Emergenz’ ist
eher die Komponente einer Erzählung als ein Begriff, der zur Erklärung der Emergenz verwendet werden könnte. Wir werden uns
deshalb mit der Vorstellung begnügen, daß die Ausdifferenzierung eines Systems und das Kappen von Umweltbezügen Vorausset-
zung dafür ist, daß im Schutze von Grenzen systemeigene Komplexität aufgebaut werden kann“ (Luhmann 1997, S.134-135). Der
Begriff der Emergenz soll im Folgenden nicht weiter zur Erklärung von Erziehung verwendet werden, weil eine wesentliche Kom-
ponente von Erziehung gerade in der Intention des Erziehers besteht und der Bedeutung von Emergenz insofern widerspricht.
266
Erzieher oder sie kann auch innerhalb der Schule durch Leistungstests und Noten fest-
gelegt werden. Die Beschreibung der Qualität der strukturellen Koppelung liegt aber
immer auf einer anderen Ebene als die operative Koppelung in einer aktuellen Erzie-
hungssituation und den damit verbundenen person-internen Koppelungen.
5.6.3 Selektion der Strukturenkoppelung als Aufgabe des Erziehers
Erziehung ergibt sich durch Strukturenkoppelung zwischen Erzieher und Kind in der
erzieherischen Kommunikation, aber der Zusammenhang zur Entwicklung wird erst
dann gewährleistet, wenn die Strukturenkoppelung auf personinterne Koppelungspro-
zesse zurückwirken kann und dies geschieht nur dann, wenn der Erzieher sich der
Komplexität der Strukturenkoppelung beim Kind bewußt ist. Für den Zusammenhang
von Erziehung und Entwicklung ist die Position des Erziehers als Beobachter, Initiator
und/oder Gestalter von Erziehungssituationen sehr wichtig. Er muß in der erzieheri-
schen Kommunikation dafür sorgen, daß das Kind in einem aktuellen Erziehungs- und
Entwicklungsprozeß zwischen Koppelungen, insbesondere im Bereich des Bewußt-
seins, selektieren lernt (so erzählen beispielsweise Kinder in der Grundschule sehr viel
Privates und in Bezug auf ein in zu behandelndes Thema oft Nebensächliches). Er hat
die Aufgabe in der erzieherischen Kommunikation die Kognition des Kindes so eng an
das Thema der Kommunikation zu koppeln, daß das Kind selbständig, also selbstrefe-
rentiell für das Thema nicht-relevante Strukturenkoppelungen selektiert. Der Erzieher
schafft so Konzentration auf ein Thema. Um dies zu leisten, muß der Erzieher selbst die
für seine Aufgabe kontingenten Strukturkoppelungen selektieren, d.h. er muß sich auf
das Kind und ein Thema konzentrieren. Da es sich bei den unterschiedlichen Systemen,
die auf verschiedenen Ebenen liegen, jeweils um operativ geschlossene handelt, bleibt
jegliche Arbeit des Erziehers ein Auslöseereignis für die Entwicklung des Kindes, sie
ist nicht Instruktion in dem Sinne, daß Information genauso aufgenommen wird, wie
intendiert (vgl. den Abschnitt über Kommunikation). Der Erzieher kann nicht direkt das
Nervensystem oder die Gedanken des Kindes beeinflussen oder die strukturellen Kop-
pelungen zwischen Kind und anderen Systemen (z.B. peer-group), es sei denn er zer-
stört sie (z.B. wenn die Mutter dem Kind den Umgang mit anderen Kinder verbietet
oder die Mitgliedschaft in einem Sportverein kündigt etc.). Er kann nur den gemeinsa-
men strukturell gekoppelten Bereich der erzieherischen Kommunikation so gestalten,
daß Anschlußfähigkeit und damit strukturelle Koppelung zwischen den einzelnen Sys-
267
temebenen, also zwischen Kommunikation und Bewußtsein möglich wird. Durch die
Selektion der eigenen Strukturenkoppelung des Erziehers, die auf Reflexivität beruhen
und durch die Gestaltung der erzieherischen Kommunikation in dem Maße, daß sich das
Kind auf das in Frage stehende Thema konzentriert, vollzieht der Erzieher eine struktu-
relle Koppelung zwischen Lehren und Lernen und damit zwischen Erziehung und Ent-
wicklung (siehe auch Mader in Siebert 1999, S.109). Ziel von Erziehung ist danach,
durch strukturelle und operative Koppelungen Zustandsveränderungen im personalen
System Kind der Art auszulösen, daß sie von einem Beobachter als Entwicklung be-
zeichnet werden können. Und indem Entwicklung an strukturelle Koppelung gebunden
ist, ist sie in der Erziehungssituation auch nur durch ein Miteinander von Erzieher und
Kind möglich (vgl. auch den Abschnitt 5.2.6 über Ko-Ontogenese).
In Abschnitt 5.4.2 wurde bereits der Begriff der erzieherischen Koppelung eingeführt,
um das spezielle Verhältnis zwischen der erzieherischen Kommunikation und der Ent-
wicklung des Bewußtseins des Kindes deutlich zu machen. Durch das nun Gesagte kann
von erzieherischer Koppelung dann gesprochen werden, wenn eine strukturelle bzw.
eine operative Koppelung zwischen Erzieher und Kind mit erzieherischer Intention auf
seiten des Erziehers vorliegt, wobei sich die erzieherische Intention durch die Koppe-
lungen zwischen dem Erzieher als personales System und den für die Erziehung in Fra-
ge stehenden Umweltsystemen ergibt.
5.6.4 Koppelungsformen in der Erziehung
Um die erzieherische Koppelung noch näher zu beschreiben, soll kurz auf die von Büe-
ler herausgestellten Koppelungsformen eingegangen werden (vgl. Büeler 1994,
S.105ff.). Er unterscheidet zwischen der Interaktion, bei der es um eine Austauschbe-
ziehung zwischen Systemen geht, die nicht auf derselben Ebene liegen, wie zum Bei-
spiel die Koppelung zwischen Bewußtsein und Nervensystem. In der Interaktion treten
somit Systeme in Kontakt, die keine gemeinsamen Strukturen oder einen gemeinsamen
Code (wie die Sprache) aufweisen. Die Kommunikation als „anspruchsvollste Form der
Interaktion“ (Büeler 1994, S.106) führt zu einer engeren Koppelung zwischen Syste-
men, weil sich die Systeme teilweise überlappen, z.B. im kognitiven Bereich, in der
Verwendung von Sprache oder durch einen ähnlichen Erfahrungshorizont. In der Sym-
biose muß ein System, sei es nun in der Interaktion oder in der Kommunikation, einen
Teil seiner Autonomie zugunsten eines „übergeordneten Systems“ opfern (Büeler ebd.,
268
S.108), was aber auch zum gegenseitigen Nutzen führen kann. Schließlich wird in der
Fusion (die im wirtschaftlichen System zunehmend an Bedeutung gewinnt) ein System
von einem anderen aufgenommen, es wird Teil eines Metasystems326.
Je nach Betrachtung der unterschiedlichen Systemebenen im System Erziehung treten
alle Koppelungsformen auf: In der Erziehung oder in der aktuellen Erziehungssituation
und damit auf der sozialen Ebene kommt es zu einer Fusion zwischen Kind und Erzie-
her, indem sie überhaupt nur gemeinsam das System Erziehung als Einheit bestimmen.
Erziehung erfolgt eben als Bildung einer Einheit durch die spezifische strukturelle Kop-
pelung zwischen Erzieher und Kind. Das heißt auch, daß in der Erziehung weder auf
den Erzieher noch auf das Kind verzichtet werden kann. Wohlgemerkt gilt dies für das
in Frage stehende Thema nach dem Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung.
Hier geht es nicht um „Selbsterziehung“ oder Erziehung durch die Medien etc. die auch
Teil des Systems Erziehung sind. Aus systemtheoretischer Sicht wird durch eine Fusion
eine erweiterte Einheit geschaffen. In Bezug auf Erziehung ist damit nicht Verlust von
Autonomie, vor allem der des Kindes, verbunden. Im Gegenteil soll durch Erziehung
die Autonomie des Kindes erweitert werden, indem das Kind zunehmend mit der sys-
temischen Komplexität von Gesellschaft und personalen Systemen und damit auch mit
sich selbst vertraut wird und im Zuge seiner Entwicklung zunehmend selbstreferentiell
denken und handeln und das heißt, strukturelle Koppelungen eingehen kann. Dies ge-
schieht mit Hilfe des Erziehers, weshalb eine Fusion auf der Ebene des sozialen Sys-
tems (im Verhältnis zu anderen sozialen Systemen) einen positiven Charakter erhält
(Erziehung findet wohl angemessener im System Erziehung statt als zum Beispiel im
Wirtschaftssystem, aber man denke auch an die religiöse Unterweisung bzw. an Zeiten,
in denen die Erziehung eher innerhalb des Religionssystems erfolgte).
Die Interaktion als Austauschbeziehung zwischen unterschiedlichen Systemebenen be-
zieht sich nicht nur auf person-interne Koppelungsprozesse, sondern zum Beispiel auch
auf das Verhältnis von personalem und sozialem System, wodurch „ein hohes Maß an
Intransparenz toleriert werden muß“ (Büeler ebd., S105). Das personale System kann
eben nicht die Vorgänge in seinem Nervensystem oder in seinem Bewußtsein vollstän-
326 Hier kann nicht ausführlich auf die Aussagen Büelers eingegangen werden, sie stehen auch im gewissen Kontrast zu Matura-
na/Varela 19872, S.99. So spricht Büeler beispielsweise von der Aufgabe der Autonomie im Verhältnis der Fusion. Dies wider-
spricht aber der Autopoiese. Büeler ist bei der Beschreibung der Koppelungsformen systemtheoretisch oder konstruktivistisch nicht
genau vorgegangen. Dennoch bieten die Begriffe der Interaktion, Kommunikation, Symbiose und Fusion eine gute Grundlage zur
näheren Beschreibung der strukturellen Koppelung zwischen personalen Systemen im System Erziehung.
269
dig beschreiben und so kann auch das System Erziehung (auf der Basis von Kommuni-
kation operierend) nicht die interne Dynamik der personalen Systeme (der Kinder und
der Erzieher, auf der Basis von Bewußtsein operierend) als Teilsysteme von Erziehung
im einzelnen erfassen. Erziehung bzw. erzieherische Aussagen und Erkenntnisse sind
als Annäherungswerte, als Kontingenzen zu verstehen und nicht als Widerspiegelung
des Phänomens von Erziehung, so wie es in einer konkreten Erziehungssituation zum
Ausdruck kommt. Die Bewußtheit von Intransparenz im System Erziehung kann durch
erhöhte Freiheitsgrade auf seiten des Erziehers, Vielgestaltigkeit in der Erziehung und
ihrer Organisation, erhöhte Eigenverantwortlichkeit des Erziehers und des Kindes (und
auch der Eltern!) etc. etwas aufgefangen werden. Dies hat dann auch Auswirkungen auf
die Entwicklung des Kindes.
Auf die Koppelungsform der erzieherischen Kommunikation wurde im vorherigen Ka-
pitel bereits eingegangen. Hier genügt erneut zu betonen, daß die erzieherische Kom-
munikation das Kernstück von Erziehung ausmacht, indem durch sie erzieherische
Koppelung und damit Entwicklung aktuell vollzogen werden kann.
Interessant ist im Zusammenhang der Koppelung zwischen Kind und Erzieher, daß das
„Erzieher-Zögling-Verhältnis durchaus symbiotische Züge trägt“, wobei das Kriterium
der zeitweiligen Abhängigkeit des Kindes vom Erzieher in Anlehnung an Nohl und
Flitner betont wird (Büeler ebd., S.108). Durch den Begriff der Symbiose wird tatsäch-
lich die erzieherische Koppelung zwischen Kind und Erzieher treffend erfaßt, indem das
personale System Kind die Koppelungsprozesse für seine Entwicklung und damit für
die Erhaltung seiner Organisation nutzt (was dem Kind selbst nicht bewußt sein muß).
Auf der anderen Seite nutzt aber auch der Erzieher die Entwicklungsbedürftigkeit des
Kindes (entwicklungsbedürftig nach Maßgabe unserer Gesellschaft bzw. gesellschaftli-
chen Vorstellungen) für die Erhaltung der Organisation der Gesellschaft und je nach
Ideologie auch für die Strukturänderung innerhalb der Gesellschaft. Erst diese gegen-
seitige „Nutzung“ macht die Symbiose aus. Es kann aus systemtheoretischer Sicht nicht
einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kind und Erzieher das Wort gere-
det werden, es handelt sich hier vielmehr um das Merkmal der Anpassung (worauf in
Kapitel 5.8 genauer eingegangen wird), das konstitutiv für strukturelle Koppelung zwi-
schen Systemen und Systemebenen ist, weil für die Erhaltung der Organisation selbst
notwendig.
270
Die Intensität von struktureller bzw. operativer Koppelung läßt sich mit Hilfe verschie-
dener Begriffe beschreiben, an der Funktion ändert das jedoch nichts. Es handelt sich
hierbei um Beobachterkategorien, durch die Aspekte des Systems Erziehung herausge-
stellt bzw. verschiedene Systemebenen näher beleuchtet werden.
Person-interne und person-externe Strukturen bzw. Strukturen in und zwischen Syste-
men und ihren jeweiligen Umwelten verändern sich ausschließlich durch Koppelungs-
prozesse, die dann zu Zustandsveränderungen im System führen (wobei es sich um Be-
wußtseinssysteme, personale Systeme oder auch um das Kommunikationssystem han-
deln kann) und damit zu einer veränderten Fortsetzung der Organisation des Systems.
Will der Erzieher diese veränderte Fortsetzung der selbstreferentiellen Organisation des
Kindes im Sinn von Entwicklung (so, wie sie zum Beispiel durch den Lehrplan vorge-
geben ist) erzielen, muß er für eine enge erzieherische Koppelung sorgen, die die
strukturelle Koppelung zwischen Kommunikation und Bewußtsein bzw. dem kognitiven
Entwicklungsstand des Kindes stets im Blick hat. Während der Erzieher in der einzel-
nen Erziehungssituation die Koppelungsform der Interaktion und der Kommunikation
beachtet, wird z.B. die Institution Schule oder die wissenschaftliche Betrachtung des
Systems Erziehung auch die Koppelungsform der Fusion oder Symbiose berücksichti-
gen. Welche Koppelungsform zur Beschreibung der engen Verbindung zwischen Sys-
tem und Umwelt angemessen ist, hängt vor allem von der Systemebene ab, die beo-
bachtet wird. Da in der vorliegenden Arbeit die situative und die personale Ebene des
Systems Erziehung im Vordergrund stehen, sind hier die Koppelungsformen der Inter-
aktion und der Kommunikation vorwiegend von Interesse.
Auf den Erzieher als Beobachter von Erziehung und Entwicklung des Kindes kann in
der Erziehung nicht verzichtet werden. Je genauer er das Kind und dessen Umwelt-
bzw. Systembeziehungen kennt und bei seinem erzieherischen Vorhaben berücksichtigt,
desto eher kann die strukturelle Koppelung in Form der erzieherischen Kommunikation
zwischen Erzieher und Kind zur Entwicklung des Kindes beitragen. Dabei kann ein
systemtheoretisches Bewußtsein des Erziehers eine positive Voraussetzung für die Er-
ziehung sein. Zu einem entsprechenden Einfühlungsvermögen des Erziehers in der Er-
ziehungssituation tragen Kenntnisse über biologische, psychische und soziale Zusam-
menhänge bei. Und genauso hilfreich ist auch, wenn dem Kind frühzeitig Zusammen-
hänge zwischen verschiedenen Systemebenen deutlich werden (wozu zum Beispiel Ge-
sundheitsbewußtsein gehört), weil die damit verbundene Erkenntnis der Eigenverant-
271
wortlichkeit zumindest die kognitive Entwicklung unterstützt. Erkenntnisgewinnung,
Erziehung und Entwicklung sind deshalb mit Lernprozessen verbunden.
5.6.5 Lernen durch Strukturenkoppelung und das Verhältnis zur Ent-wicklung
Der Begriff „Lernen“ wird aus zwei Gründen an dieser Stelle eingeführt: Zum wird er
innerhalb der Systemtheorie grundlegend, indem er dort dem Entwicklungsbegriff ent-
spricht. Deshalb wird er für die vorliegende Fragestellung von Bedeutung, zumal es sich
gleichzeitig um einen erziehungswissenschaftlichen Grundbegriff handelt. Zum anderen
wird das Phänomen der strukturellen Koppelung als der Prozeß festgelegt, durch den
Lernen erfolgt, bzw. Lernprozesse stattfinden. Es geht hier um die Darstellung von Ler-
nen als Strukturenkoppelung und Entwicklung, wobei auf das Verhältnis einzelner
Lernmodelle zur Systemtheorie nicht eingegangen werden kann (vgl. als Überblick die
Grundmodelle des Lernens in Kron 19965, S.88ff.).
Lernen ergibt sich nicht durch die Komplexität eines personalen oder sozialen Systems,
nicht durch die autopoietische Organisation oder durch die Einheit der System/Umwelt-
Differenz. Auch Sinn führt nicht zum Lernen. Aber durch person-interne und person-
externe Strukturenkoppelung tritt ein Phänomen auf, das als Lernen bezeichnet werden
kann. Schließlich muß an dieser Stelle die Bedeutung von Lernen für den Zusammen-
hang von Erziehung und Entwicklung aufgezeigt werden. Zunächst wird aber der Lern-
begriff aus systemtheoretischer Sicht erklärt.
So beschreibt Maturana Lernen als „fortgesetzte ontogenetische Verkoppelung der
Struktur eines Organismus mit seinem Medium, und zwar in einem Prozeß, dessen
Richtung durch den selektiven Strukturwandel des Organismus determiniert wird“
(Maturana 19852, S.254).
Lernen wird hier durch die Verbindung person-interner und person-externer Strukturen-
koppelung beschrieben. Person-intern erfolgt Lernen als Zustandsänderung des Nerven-
systems, indem Lernen ganz allgemein als ontogenetische Anpassung eines Systems an
sein Medium beschrieben wird327, wobei es sich um die strukturelle Koppelung zwi-
schen Nervensystem und psychischen System (als Medium für das Nervensystem ver-
327 „Lernen als ein Phänomen der Transformation des Nervensystems in Verbindung mit einer Verhaltensänderung unter Aufrecht-
erhaltung der Autopoiese entsteht aufgrund der beständigen dynamischen Koppelung der zustandsdeterminierten Erscheinungsviel-
falt des Nervensystems und der zustandsdeterminierten Erscheinungsvielfalt des Milieus“ (Maturana 19852, S.233).
272
standen) handelt. Lernen entspricht dem Entwicklungsbegriff, denn auch Entwicklung
erfolgt durch Strukturwandel bei gleichzeitiger Erhaltung der Organisation des Systems
(vgl. Maturana/Varela 19872, S.104f.).
Lernen ist Konsequenz der Ontogenese (vgl. Maturana ebd., S.145) bzw. „notwendige
Konsequenz der individuellen Geschichte des Lebewesens“ (Maturana 1983, S.61), weil
eben das personale System in ständiger Strukturenkoppelung mit sich selbst und mit der
Umwelt steht. Das besagt nichts anderes, als daß in der Erziehung Lernprozesse auftre-
ten. In Anlehnung an Maturana kann man sagen, daß die Erziehung auch durch Lernen
funktioniert, eben weil zu der Funktionsweise von Erziehung Strukturenkoppelung ge-
hört. Das sichtbare Phänomen des Lernens, in dem Sinne, daß der Erzieher einen
Lernprozeß feststellt oder ein Lernergebnis bezeichnet, hängt von der Beobachtung ab.
Lernen ist eine Beobachterkategorie, eine beobachtete „Verhaltensänderung des Orga-
nismus (...), die den Veränderungen des Mediums entspricht und kontingent mit den
Interaktionen des Organismus mit dem Medium auftritt“ (Maturana 1983, S.61). Wird
eine Verhaltensänderung des Kindes nicht erkannt oder entspricht sie nicht den Ab-
sichten der Erziehung, dann handelt es sich nicht um Lernen. Es läßt sich deshalb for-
mulieren, daß sich Lernen insofern von Entwicklung unterscheidet, als es an ge-
wünschten Lernzielen gemessen wird. Aber im Grunde gilt das auch für Entwicklung,
denn man spricht davon, daß sich ein Kind gut oder positiv entwickelt habe, wenn es
bestimmte Anforderungen und damit Lernziele erreicht hat. Die Begriffe „Lernen“ und
„Entwicklung“ liegen sehr dicht beieinander.
Dabei ist zu beachten, daß ein Lernziel aus systemtheoretischer Sicht eine Tendenz dar-
stellt und nicht eine Struktur, die einfach zu internalisieren wäre, denn letztlich be-
stimmt das personale System aufgrund seiner Organisation selbst, inwieweit das Lern-
ziel erreicht wird oder nicht. Deshalb macht es auch aus systemtheoretischer Sicht we-
nig Sinn, konkrete Lernziele oder wie Bruner es vornimmt, konkrete zu erwerbende
Strukturen festzulegen, weil es keine Gewähr dafür gibt, daß diese Strukturen vom Kind
genauso aufgenommen werden. Es hängt vom Beobachter ab, ob er bei Erreichung ei-
nes Lernziels von Entwicklung oder Lernen spricht. Will man einen Unterschied her-
ausstellen, kann der Zeitfaktor vielleicht helfen, indem dann ein Lernprozeß eine Ent-
wicklung in einer kürzeren Zeitspanne darstellt, während von Entwicklung eher unter
Berücksichtigung einer größeren Zeitspanne geredet wird, die dann auch eine Vielzahl
von Lernprozessen umfaßt.
273
Letztlich stellt sich hier aufgrund der synonymen Verwendung der Begriffe die Frage,
ob z.B. auf den Lernbegriff zu verzichten ist. Da sich die Systemtheorie außer an der
Funktionsweise von Systemen an den sichtbaren Phänomenen der Wirklichkeit orien-
tiert und sie deshalb auch stückweit eine pragmatische Wissenschaft ist, wird nicht auf
Begriffe verzichtet, die in unserem Sprachgebrauch fest verankert sind und den Sinn
unserer Gesellschaft und damit auch die ausdifferenzierten Sinnsysteme mitgestalten.
Maturana zieht zudem den Lernbegriff dem Entwicklungsbegriff vor. In seiner Theorie
werden die Begriffe Lernen, Ontogenese bzw. Ko-Ontogenese und schließlich Evoluti-
on thematisiert. Das reicht m.E. für die Pädagogik nicht aus, um zum einen die Zeit-
spanne in der Ontogenese des Menschen festzulegen, die den Lebensabschnitt des Men-
schen vom Kind zum Erwachsenen mit der Hilfe von Erziehern bezeichnet und zum
anderen, um auch minimale Zustandsveränderungen im personalen System oder zwi-
schen personalem System und Umwelt zu erfassen, die nicht oder noch nicht sichtbar
oder nur schwer zu beschreiben sind, weil sie biologischer, neurophysiologischer und
schließlich auch genetischer Natur sind. Dafür wird in der vorliegenden Arbeit der Ent-
wicklungsbegriff beibehalten, der den Lernbegriff als Teilbereich mit umfaßt. Das wi-
derspricht nicht der Tatsache, daß alle eben genannten Prozesse, wie Lernen, Entwick-
lung, Evolution etc. durch Strukturänderungen aufgrund von Strukturenkoppelung zu-
stande kommen.
Die Auffassung von Lernen als Zustandsänderung durch Strukturenkoppelung findet
sich auch bei Luhmann, nach dem es kein psychisches oder organisches Substrat von
etwas gibt, daß man als Lernen bezeichnen kann328. Lernen wird zum einem im Bereich
der strukturellen Koppelung konkret (und damit in der aktuellen Interaktion zwischen
Erzieher und Kind), weshalb auch an dieser Stelle darauf eingegangen wird. Zum ande-
ren wird Lernen im konsensuellen Bereich konkret (also in der von Erzieher und Kind
gemeinsamen Sinnkonstruktion in der erzieherischen Kommunikation), worauf im
nächsten Abschnitt Bezug genommen wird. Das heißt, Lernen wird als Phänomen in der
Strukturenkoppelung und im konsensuellen Bereich sichtbar und faßbar. Will man die-
ses Phänomen näher beschreiben, muß es transparent gemacht werden, gerade „trotz
intransparenter Komplexität, und dies kann nur durch Emergenz neuer Ebenen der Sys-
328 „‘Lernen’ ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie Informationen dadurch weitreichende Konsequenzen
auslösen, daß sie in einem System partielle Strukturänderungen bewirken, ohne dadurch die Selbstidentifikation des Systems zu
unterbrechen“ (Luhmann 1987, S.158).
274
tembildung erreicht werden“ (Luhmann 1987, S.159). Das bedeutet, daß Lernen trans-
parent gemacht wird, indem es als ausdifferenzierter Teilbereich von Erziehung und
damit als eine Systemebene bezeichnet und dann genau beschrieben wird. Gleiches gilt
auch für Lehre oder Unterricht. Es hängt von den Vorstellungen bzw. dem Sinn des
Systems Erziehung, dem Sinn unserer Gesellschaft und den verwendeten Beobachter-
kategorien ab, welche Ebenen sich im System Erziehung herausbilden lassen oder sol-
len, damit Erziehung transparent wird.
Durch Piaget wird die in der vorliegenden Arbeit vertretene Ansicht bekräftigt, daß
Lernen nicht nur Teilsystem von Erziehung, sondern auch von Entwicklung ist. Denn
Piaget betont z.B. immer auch die Reifung als weiteren Aspekt von Entwicklung (vgl.
z.B. Piaget 1983, S.22). Und auch hier ist aus systemtheoretischer Sicht zu beachten,
daß die Funktionsweise von Reifung die gleiche ist, wie von Lernen oder Entwicklung
im Allgemeinen, denn auch Reifung umfaßt Strukturenkoppelung, Zustandsveränderung
und Selektion. Die Aktivität des Subjekts, die auch die sichtbare Handlung einschließt,
bildet nach Piaget die Grundlage für alle Lernprozesse und damit auch die Grundlage
für Reifung und Entwicklung (vgl. Piaget 1983a, S.46 und S.91). Diese Aktivität wird
systemtheoretisch durch die Kennzeichnung der autopoietischen Organisation des per-
sonalen Systems erfaßt. In der Systemtheorie steht jedoch nicht die Handlung oder die
Aktivität des Subjekts allein im Mittelpunkt, sondern diese ergibt sich immer durch
Strukturenkoppelung, sei sie nun person-interner Art oder eine Koppelung zwischen
personalem System und Umwelt. Lernen, Entwicklung und schließlich Erziehung ist
ohne die Aktivität des Subjekts und die gleichzeitige Verbindung zur Umwelt in Form
der strukturellen Koppelung nicht zu erklären.
Die Bedeutung der Umwelt für das Lernen besteht aus synergetischer Sicht durch die
Änderung von Kontrollparametern, wobei aber der Einfluß ursprünglicher Strukturen
erhalten bleibt. Beim Lernen übernehmen aus dieser Sicht Strukturen die Funktion von
Ordnern, die gegenüber anderen Strukturen die Oberhand gewinnen und diese bereits
bestehenden Strukturen dann vereinnahmen (vgl. Haken/Haken-Krell 1997, S.121).
Während aus synergetischer Sicht von ‘Überlagerung von Strukturen’ gesprochen wird,
handelt es sich bei Piaget um ‘Integration’ bei gleichzeitiger ‘Differenzierung’. Aus
synergetischer Sicht findet durch eine Überlagerung von Strukturen etwas statt, was
man sowohl als Lernen als auch als Entwicklung bezeichnen kann. Wichtig ist für die
vorliegenden Fragestellung, daß durch Umweltänderungen Entwicklungs- und Lernpro-
275
zesse ausgelöst und auch gesteuert werden können. Darauf kommen wir in Abschnitt
5.9 zurück.
Büeler betrachtet schließlich Lernen in Hinblick auf das soziale System Erziehung. Ler-
nen und die damit verbundene Bewältigung von Problemen wird dem Kind zugespro-
chen, während Lehren und Einflußnahme dem Erzieher zukommt (vgl. Büeler 1994,
S.116, Abb.13). Bei systemtheoretischer Betrachtung zeigt sich, daß hier die struktu-
relle Koppelung noch einmal transparent gemacht wird, indem Teilbereiche oder Inter-
aktionen dem Kind und andere dem Erzieher zugesprochen werden. So hängt es wohl
vom Beobachter ab, ob eine Kommunikationseinheit zwischen Erzieher und Kind als
Lehren oder Lernen bezeichnet wird. Systemtheoretisch fließen beide Prozesse durch
die Koppelung von Erzieher und Kind zusammen.
Die Aufgabe von Erziehung aufgrund der sich „permanent wandelnden Gesellschaft“
(ebd., S.95) besteht aus systemtheoretischer Sicht nach Büeler darin, selbstreferentielle
Operationen anzuregen und damit Lernprozesse auszulösen mit dem Ziel, daß die Ope-
ration der Selbstreferenz zur Reflexion führt, die dann als Lernen des Lernens bezeich-
net werden kann329. Dieser Ausdruck „Lernen des Lernens“ ist in der heutigen Diskus-
sion um das Lernen ein zentraler Begriff330, der im Alltag eher schlagwortartig verwen-
det und nicht genau definiert wird. Aus systemtheoretischer Sicht bedeutet das Lernen
des Lernens, daß gelernt werden muß, wie Lernen funktioniert. Damit geht es letztlich
um das Lernen systemischer Zusammenhänge. Wenn man weiß, wie Komplexität ent-
steht, wie Systeme organisiert sind, daß sie strukturabhängig sind, durch Differenz zur
Umwelt entstehen, an Selektion gebunden sind etc., dann kann dieses Wissen auch ge-
zielt und bewußt in Lernprozessen eingesetzt werden. So können beispielsweise im Pro-
zeß einer Problemlösung diese Aspekte Anwendung finden, indem das Problem in Dif-
ferenz zu andern gesehen, sein Komplexität und Kontingenz festgelegt wird, Selektio-
nen, der Umweltbezug oder Reduktion von Komplexität beachtet werden etc. Vor allem
gehört dazu auch, daß der Beobachter als derjenige, der ein Problem löst, seine eigene
Operationsfähigkeit mit berücksichtigt. Wie Büeler dies bereits gesagt hat, ist es Aufga-
329 Die Bezeichnung „Lernen des Lernens“ stammt aus dem Königsberger Schulplan von Humboldt, in dem es auch um die Vorbe-
reitung für das Studium geht. Leider ist hier nicht der Platz für eine Untersuchung, inwieweit bei Humboldt bereits systemtheoreti-
sche Gedanken zum Ausdruck kommen. Büeler übernimmt den Aspekt „Lernen des Lernens“ von Luhmann/Schorr 1997, S.85.
Vgl. aber auch Bateson 19945, S.327.330 Vgl. z.B. Glaserfeld in Voß 1998. Allerdings wird in erziehungswissenschafltlichen Arbeiten dieser Ausdruck nicht selbstver-
ständlich verwendet. Vgl. hierzu u.a. Arbeiten von Grzesik 1994 und Huschke-Rhein 1998.
276
be der Erziehung, durch Lernprozesse die Person zur Selbstreflexivität und zur Reflexi-
vität zu befähigen, sodaß sie auch ohne Hilfe zunehmend komplexere Probleme oder
Aufgaben zu lösen vermag. Lernen des Lernens impliziert, daß man selbständig lernt,
selbständig Aufgaben oder Probleme mit kontingenten Operationen auf kognitiver Ebe-
ne verkoppeln kann. Lernen ist deshalb nicht Anhäufung von Wissen, sondern soll zur
Komplexitätssteigerung bewußtseinsmäßiger Strukturen führen, mit denen eben zuneh-
mend komplexere Probleme gelöst werden können.
Und wenn das Kind nicht so lernt, wie es sich der Erzieher vorstellt oder es den
Lernprozeß verweigert? Dann kann sich auch eine Erziehungssituation auflösen, weil
die Organisation nicht mehr gewährleistet ist. Hierzu gehört nämlich auch die bereits
erwähnte Interpenetration (vgl. Abschnitt 5.1.1), nach der sich das System Erziehung
oder auch eine Erziehungssituation in Abhängigkeit davon entwickelt, inwieweit die
jeweils an ihm beteiligten personalen Systeme ihre Eigenkomplexität zur Verfügung
stellen. Wenn das Kind nicht lernen will, wird das Lehren des Erziehers zum Problem
und wenn beim Kind keine Lernprozesse ausgelöst werden, kann auch kein Lernen
stattfinden. Lehren und Lernen bleiben systemtheoretisch komplementäre Prozesse.
Lernen, wie auch Erziehung und Entwicklung überhaupt, sind immer auf die Zusam-
menarbeit von Erzieher und Kind angewiesen, so wie dies bereits von Piaget formuliert
wurde (vgl. u.a. Piaget 1986, S.474-477). Die Zusammenarbeit zwischen Erzieher und
Kind erfolgt durch und in der strukturellen Koppelung.
Es können hier nicht alle Aspekte des Lernens thematisiert werden. Wenn aus erzie-
hungswissenschaftlicher Sicht Lernen heute dargestellt wird als Problemlösen, als neu-
ronaler und psychischer Prozeß, als Funktion aller Organismen oder als Veränderung
organismischer Reaktionsmöglichkeiten auf die Umwelt u.a. (vgl. Grzesik 1994), dann
bleibt Lernen ein Prozeß von Entwicklung. Und als Teilbereich von Entwicklung soll er
auch in der vorliegenden Arbeit aufgefaßt werden.
Für den Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung bedeutet Lernen eine Beob-
achterkategorie, die einen Teilbereich des Zusammenhangs bezeichnet. Gleichzeitig ist
Lernen eine Beschreibungskategorie, die von dem Erzieher als Beobachter angewendet
wird, um ein spezifisches Geschehen des Zusammenhangs von Erziehungs- und Ent-
wicklungsprozeß zu bezeichnen, ein Geschehen, das in der strukturellen Koppelung
zwischen Erzieher und Kind erfolgt und im konsensuellen Bereich sichtbar wird (vgl.
den nächsten Abschnitt). Im System Erziehung wird diese Kategorie gebraucht, um spe-
277
zifische Entwicklungsfortschritte des Kindes in Abhängigkeit von vorgegebenen Lern-
zielen, Erziehungsaufgaben oder auch Sinnorientierungen bezeichnen zu können. Aber
die Komplexität von systemischen Zusammenhängen läßt darauf schließen, daß es nie
einfach ist, durch den Lernbegriff oder im Lernprozeß die damit verbundene System-
komplexität erfassen zu können.
Da nicht an jedem Entwicklungsprozeß Lernprozesse beteiligt sind oder auch nicht
gleich sichtbar werden, bezeichnet die Kategorie des Lernens die Entwicklungsprozes-
se, die „äußerlich“ sichtbar werden, also in der strukturellen Koppelung zwischen Kind
und Erzieher, genauer in der erzieherischen Kommunikation zum Ausdruck gebracht
werden. Lernen kann nicht alle person-internen Strukturveränderungen bzw. Entwick-
lungen erfassen, bzw. in Lernprozessen kann nicht jede person-interne Zustandsände-
rung deutlich gemacht werden, was aber auch nicht nötig ist, da der Lernbegriff sich in
Abhängigkeit von der Kategorie der Lernziele ergibt und nur diejenigen Operationen
betrachtet werden, die einen Bezug zum Lernziel aufweisen.
Aus systemtheoretischer Sicht und durch die Darstellung der Bedeutung der strukturel-
len Koppelung zwischen System und Umwelt ist es m.E. nicht möglich, Entwicklung
aufzuschlüsseln in Lernen, Reifung, genetische Determination u.a., da in der struktu-
rellen Koppelung diese Phänomene zusammenhängen. Denn die Zustandsveränderung
des Nervensystems zum Beispiel ist nicht nur Voraussetzung für Reifung, sondern auch
für Entwicklung im Allgemeinen, für Entwicklung von kognitiven Operationen oder für
Lernen im engeren Sinne. Lernen ist somit auch nicht nur Teil von Entwicklung, son-
dern auch von Erziehung oder Sozialisation.
Lernen kann im Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung als ein Phänomenbe-
reich bezeichnet werden (vgl. Maturana 19852, S.141). Durch den Lernbegriff wird
dann ein Interaktionsbereich zwischen Erzieher und Kind beschrieben (oder allgemeiner
formuliert, ein Interaktionsbereich zwischen personalem System und Umwelt, denn das
Kind kann z.B. auch durch die Arbeit am Computer etc. lernen), der sich aus dem Ver-
hältnis zwischen den Lernzielen, Anforderungen des Erziehers und der Operationsfä-
higkeit des Kindes aufgrund seines Entwicklungsstandes und damit durch strukturelle
Koppelung ergibt.
Diese Auffassung von Lernen als ein transparent gemachtes Phänomen von Entwick-
lung liegt sozusagen quer zu den allgemeinen Grundmodellen des Lernens: Wenn aus
behavioristischer Sicht Lernen als äußeres Verhalten bezeichnet, aus psychoanalytischer
278
Sicht Lernen dem inneren, psychischen Apparat zugeschrieben, Lernen als Imitation
bezeichnet wird, Lernen aus strukturgenetischer Sicht auf der kognitiven Ebene stattfin-
det, gestaltpsychologisch mit internen Gefühlen zusammenhängt oder schließlich aus
der Sicht des symbolischen Interaktionismus durch inneres und äußeres Handeln ent-
steht, dann werden diese zentralen Annahmen über das Lernen (die hier in Anlehnung
an Kron 19965, S.92ff. zusammengefaßt wurden) auch systemtheoretisch relevant. Denn
genau diese Aspekte von äußerem Verhalten, inneren, psychischen Gegebenheiten,
Nachahmung, Kognition, Gefühl und Handeln erfolgen in der strukturellen Koppelung
zwischen Erzieher und Kind bzw. in der person-internen Strukturenkoppelung. Der
Begriff der Strukturenkoppelung nimmt diese Annahmen in sich auf und erklärt glei-
chermaßen deren Funktionsweisen. Lerntheorien haben damit nach wie vor eine spezifi-
sche pädagogische Bedeutung und sind relevant für Erziehung und Entwicklung. Die
systemtheoretische Sichtweise von Lernen ist jedoch nicht als Konglomerat aus diesen
Grundmodellen zu verstehen. Sie umfaßt vielmehr die Aspekte, die sich durch die Viel-
schichtigkeit und Komplexität systemischer Zusammenhänge überhaupt ergeben und
die jeder Einseitigkeit und Einfachheit von Annahmen widersprechen. Es würde hier zu
weit führen, einzelne Lernmodelle aus systemtheoretischer Sicht zu analysieren. Es sei
abschließend lediglich darauf hingewiesen, daß die jeweiligen Annahmen der einzelnen
Lerntheorien die Komplexität der Funktionsweise von Lernprozessen nicht erfassen.
279
5.7 Entwicklung und Erziehung im konsensuellen Bereich undweitere Konsequenzen für den Lernbegriff
Der Begriff „konsensueller Bereich“ wird in der Systemtheorie zur genauen Erklärung
eines Interaktionsbereichs nur von Maturana verwendet (vgl. Maturana 19852, z.B.
S.255ff.). Ein konsensueller Bereich ergibt sich letztlich durch die Verbindung von
struktureller Koppelung und Sinn. Nichts anderes erfolgt aber auch in der Erziehung,
weshalb der konsensuelle Bereich für den Zusammenhang von Erziehung und Ent-
wicklung genauer betrachtet werden soll. Erziehung wird hier schließlich als konsen-
sueller Bereich verstanden, der sich durch spezifische strukturelle Koppelungen und
spezifischen, nämlich erzieherischen Sinn, entwickelt. Dies soll im Folgenden näher
erklärt werden. Daß hierbei andere systemische Merkmale wie Kommunikation und
Sprache, Interpenetration und wiederum die Einheit der System/Umwelt-Differenz eine
Rolle spielen, ist selbstverständlich.
5.7.1 Der konsensuelle Bereich bei Maturana
Maturana hat den „Bereich ineinandergreifender Verhaltensweisen“, der sich durch
strukturelle Koppelung ergibt und zu neuen, eigenständigen Bereichen führt, als kon-
sensuellen Bereich bezeichnet (vgl. bereits die Ausführungen in Kap.4.2.1). Dabei be-
zieht er sich auf die Sprache als konsensuellen Bereich, der durch das Verhalten der
Menschen evolutionär entstanden ist und nun als selbständiger und in sich geschlosse-
ner Bereich besteht, der auch als System bezeichnet werden kann.
Ein konsensueller Bereich ist ein geschlossener Interaktionsbereich mit isomorphen
Strukturen, d.h. er entsteht durch Interaktionen, die „in strenger, eindeutiger Überein-
stimmung zwischen dem auslösenden Verhalten des einen und dem ausgelösten Ver-
halten des anderen“ personalen Systems erfolgen (Maturana 19852, S.290). Ein konsen-
sueller Bereich bezieht sich demnach auf die operationale Übereinstimmung von perso-
nalen Systemen in der Kommunikation. Hat sich ein konsensueller Bereich entwickelt,
dann ist er geschlossen in Hinblick auf die operativen Möglichkeiten, er ist aber offen in
Hinblick auf die Systeme, die diesen Bereich verwirklichen (man denke als Beispiel an
unsere Sprache mit ihren Regeln, die unabhängig von dem jeweiligen Sprecher besteht).
In der Erziehung als System geht es schließlich genau darum, nämlich einen in sich
280
geschlossenen Bereich, den der Erziehung, zu schaffen, bei wechselnden personalen
Systemen.
Ein konsensueller Bereich (wie z.B. der sprachliche Bereich) ist also erstens gekenn-
zeichnet dadurch, daß er sich interaktiv zwischen personalen Systemen entwickelt und
deshalb nicht einem Organismus zugerechnet werden kann. Sprache ist kein neurophy-
siologisches Phänomen, was auch für Erziehung gilt. Es handelt sich hierbei eben um
Phänomene, die in einem konsensuellen Bereich auftreten331. Zweitens zeigt der kon-
sensuelle Bereich eine operationale Übereinstimmung der an ihm beteiligten personalen
Systeme (wenn gesprochen wird, versucht man sich an die Regeln der Sprache zu hal-
ten). Drittens ist der konsensuelle Bereich an die Gegenwart gebunden, er kann letztlich
nur in ihr vollzogen werden, d.h. auch, daß er abhängig ist von der Determination der
Interaktionen in einem bestimmten Augenblick, wobei wieder die gesamten Systemzu-
sammenhänge von Bedeutung werden.
Mit Hilfe des konsensuellen Bereichs läßt sich auch das Verhalten oder Kommunizieren
verstehen, was von einem Beobachter z.B. als unzulänglich bezeichnet wird, denn die-
ses erklärt sich nicht durch entsprechendes unzulängliches Verhalten des Organismus,
sondern ergibt sich gerade auch durch die Eigenständigkeit bzw. die Zustände des kon-
sensuellen Bereiches, in dem es auftritt. Unzulängliches Verhalten ist nach Maturana
nicht neurophysiologisch vorherbestimmt, sondern an den konsensuellen Bereich ge-
bunden.
Zusammenfassend zeigt sich, daß es in einem konsensuellen Bereich um die „Synchro-
nisierung des Verhaltens einer Sequenz von Zuständen innerhalb einer Matrix von Zu-
ständen des konsensuellen Bereiches“ geht (Maturana 19852, S.291). Diese abstrakte
Aussage kann vorab an folgendem Erziehungsbeispiel erläutert werden: Wenn die
Mutter mit ihrem Kind über das Aufräumen des Kinderzimmers spricht, dann ist der
konsensuelle Bereich zwischen Mutter und Kind durch das Thema „Zimmer aufräu-
men“ festgelegt. Natürlich treffen hier unterschiedliche Meinungen über das Aufräumen
aufeinander, da es sonst nicht Thema einer erzieherischen Kommunikation würde. Der
konsensuelle Bereich ist eben durch Kontingenz gekennzeichnet. In der Kommunikati-
331 „Es ist außerdem offensichtlich, daß Kommunikation als ein Phänomen der Interaktion zwischen Organismen nicht im Bereich
neurophysiologischer Phänomene stattfindet und daß die Neurophysiologie kommunikativen Verhaltens identisch ist mit der Neuro-
physiologie des Verhaltens überhaupt. Was für kommunikatives Verhalten eigentümlich ist, ist sein Auftreten in einem konsensuel-
len Bereich“ (Maturana 19852, S.291).
281
on geht es nun um die Synchronisation der unterschiedlichen Auffassungen durch das
Darlegen verschiedener Argumente, Verständnis der Auffassung des Anderen, Kom-
promißbereitschaft oder Einsichtsverhalten etc.. Es geht, kurz gesagt, um eine Einigung
über das Aufräumen, die aber ganz unterschiedlich ausfallen kann, aufgrund der kontin-
genten Zustände des konsensuellen Bereiches, der kontingenten Zustände von Personen
und der damit verbundenen Kontingenz der strukturellen Koppelung zwischen Mutter
und Kind. So kann in einem Fall ein Kompromiß gefunden werden, wenn die Mutter
mit dem Kind gemeinsam aufräumt und ihm das Aufräumen erklärt und erleichtert. Das
Problem kann ungelöst bleiben, wenn die Mutter z.B. aus Zeitgründen die Kommunika-
tion beendet, weil aufgrund einer zeitraubenden Diskussion keine Zeit zum Aufräumen
mehr bleibt. Von einer Synchronisation kann dann aber nicht gesprochen werden, wenn
die Mutter autoritär reagiert, indem sie zum Beispiel das Kind einschließt und ein Frist
setzt, in der das Zimmer aufgeräumt sein muß o.ä.
Eine gerade auch für die Pädagogik wesentliche Konsequenz aus der Darstellung des
konsensuellen Bereiches ist der mit der Gebundenheit von Verhalten an einen konsen-
suellen Bereich einhergehende Verlust einer uneingeschränkten Freiheit personaler
Systeme. Die „völlige Autonomie“ des Organismus geht verloren. „Was aber nicht
verloren geht, ist die Einzigartigkeit des Individuums“ (Maturana ebd., S.293).
Aus theoretischer Sicht ist anzumerken, daß Luhmann den Begriff des konsensuellen
Bereiches nicht aufnimmt und er vielleicht deshalb auch in systemtheoretisch orientier-
ten pädagogischen Arbeiten keine Bedeutung hat. Nach Luhmann würde ein konsen-
sueller Bereich durch die Verbindung von Interpenetration, Kommunikation, Sinn und
vor allem auch Kontingenz entstehen (vgl. hierzu Luhmann 1997, S.38). Ein konsen-
sueller Bereich ergibt sich danach durch die Verbindung von einem Gespräch (Kommu-
nikation), dem Sinn, der dem Gespräch von den jeweiligen Kommunikationsteilneh-
mern zugeordnet wird oder als Grundlage des Gesprächs vorliegt, den operativen Ein-
heiten, die von den Personen jeweils eigenselektiv übernommen werden (Interpenetrati-
on) und dem Bewußtsein von Kontingenzen im Gespräch. Der konsensuelle Bereich
umfaßt Inhalt und Struktur von Interaktionen. Luhmann spricht ungerne von Kontext332,
332 „Zwar wird wie zur Entschuldigung von ‚Kontext‘ gesprochen, der zu berücksichtigen sei; aber das bleibt eine paradoxe Forde-
rung, deren Erfüllung ja dazu führen müßte, daß der ‚Kontext‘ in einen ‚Text‘ verwandelt wird. Vor allem aber wäre es, wenn man
den Begriff der Kommunikation eine theoretisch zentrale Bedeutung gibt, notwendig, das immer mitzuerheben, was nicht gesagt
wird, wenn etwas gesagt wird; denn im sozialen Verkehr werden die Reaktionen sehr häufig durch eine Mitreflexion des Nichtge-
sagten bestimmt sein“ (Luhmann 1997, S.38).
282
weil in der Kommunikation immer auch Unausgesprochenes, was im Grunde kaum zu
fassen ist, von den Personen (mehr oder weniger) mitreflektiert wird. Bei ihm wird der
konsensuelle Bereich durch den Sinnbegriff miterfaßt. Sobald sich ein eigenständiger
Bereich von Interaktionen innerhalb eines sozialen Systems gebildet hat (z.B. spezifi-
sche Umgangsweisen oder Gesprächsformen zwischen Personen oder auch Gespräche,
die inhaltlich festgelegt sind), hat sich nach Luhmann direkt wieder ein Teilsystem aus-
differenziert.
Der Begriff des konsensuellen Bereiches macht m.E. gerade für die Pädagogik darauf
aufmerksam, daß Erziehung und Entwicklung durch inter- und intrapersonalen Konsens
in der Gegenwart zustande kommt, also durch einen Bereich, der im Augenblick der
Interaktion die inhaltliche, psychische und soziale Basis bildet und nicht einfach, von
welcher Instanz auch immer, genau festgelegt werden kann. Der Konsens ist inhaltlich
und formal schwer zu fassen, was für eine Erziehungssituation oder für ein spezielles
erzieherisches Gespräch gilt. Man kann auch sagen, die Einheit von Ausgesprochenem
und dem, was unausgesprochen für die Personen, die interagieren, Gültigkeit hat, um-
faßt den konsensuellen Bereich, den Bereich, über den in einer Interaktion ein gewisser
Konsens besteht. Dies gilt insbesondere aus der Sicht des Erziehers, der oft gerade auf
das angewiesen ist, was das Kind nicht sagt, bzw. was es (noch) nicht auszudrücken
vermag, was der Erzieher aber als selbstverständlich mitreflektiert und worüber er mit
dem Kind einig ist. Der konsensuelle Bereich läßt den Zusammenhang von Erziehung
und Entwicklung als Prozeß deutlich werden.
5.7.2 Erziehung entsteht im konsensuellen Bereich
In Anlehnung an die neurophysiologische Darstellung der Aktivität von Nervenzellen
über den synaptischen Spalt hinweg läßt sich die Verbindung von struktureller Koppe-
lung und Sinn in einem konsensuellen Bereich gut beschreiben (vgl. Maturana 19852,
S.142ff.). Hier soll dies nun direkt für Erziehung geschehen. Die nachfolgende Abbil-
dung gibt einen schematischen Überblick über den konsensuellen Bereich von Erzie-
hung:
283
Interaktionsbereich
Sinn
Erzieher
konsensueller Bereichvon Erziehung
Kind
beliebigeInteraktion
kontextbedingteInteraktion
ontogenetischeStrukturenkoppelung
Lehren Lernen
Abb. 10: Der konsensuelle Bereich von Erziehung
Wenn ein Erzieher mit einem Kind interagiert, dann geschieht dies vor einem Hinter-
grund oder in einem Kontext, der je nach Situation ganz unterschiedlich aussehen kann
und sich auf die kontingenten Operationen bezieht, zwischen denen die Teilnehmer ei-
ner Kommunikation wählen können333. In der Erziehung ist dieser Bereich in einem
gewissen Sinne festgelegt. Der konsensuelle Bereich ergibt sich zum einen durch den
Sinn von Erziehung, der sich in Abhängigkeit der Kultur der Gesellschaft entwickelt
hat. Dazu gehört zum Beispiel die grundlegende Voraussetzung, daß der Erzieher weiß,
daß er das Kind erziehen muß (so wie der Lehrer sich seiner Erziehungsaufgabe bewußt
ist) und auch das Kind bringt in die Interaktion eine bestimmte Erwartungshaltung mit
(der Schüler weiß, daß er in der Schule lernen soll; das Kind geht davon aus, daß die
Mutter ihm helfen kann, weil sie mehr Erfahrung hat etc.). In dem Moment, wo Erzie-
her und Kind in Interaktion treten, sind bereits Erwartungshaltungen und bestimmte
Bewußtseinsstrukturen auf beiden Seiten vorhanden, die sinngebunden sind. Der Sinn
wird konkreter, wenn der Erzieher mit einer speziellen erzieherischen Absicht an das
Kind herantritt (z.B. wenn der Lehrer mit dem Schüler über dessen Verhalten in der
Pause reden möchte, in der er Fußball gespielt hat, obwohl dies nicht erlaubt ist o.ä.).
Die Interaktion beginnt (durch den Beginn einer Kommunikation oder eine Handlung),
indem der Erzieher das Kind anspricht. Für einen Beobachter handelt es sich dabei um
333 „.. wir handeln in aufeinander bezogener Weise zusammen mit anderen Beobachtern in einem konsensuellen Bereich, der durch
unsere direkte (Mutter-Kind-Beziehung) oder indirekte (Mitgliedschaft in derselben Gesellschaft) Strukturenkoppelung ontogene-
tisch erzeugt wird“ (Maturana 19852, S. 257). Der Kontext kann dann als Terminus für die Ereignisse angesehen werden, „die dem
Organismus mitteilen, unter welcher Menge von Alternativen er seine nächste Wahl treffen muß“ (Bateson 19945, S.374).
284
eine „beliebige Interaktion“ (Maturana 19852, S.256), die erst aufgrund des erzieheri-
schen Sinns und durch die Reaktion des Kindes zu einer „kontextbedingten Interaktion“
(Maturana ebd.) wird. Wenn das Kind entsprechend reagiert (indem das Kind, um bei
dem Beispiel auch im Folgenden zu bleiben, sein Verhalten zu erklären versucht), dann
kommt es zur Koppelung zwischen Erzieher und Kind und damit zur erzieherischen
Kommunikation, die in diesem Bereich abläuft (vgl. Kap. 5.4.4). Die Koppelung von
Sinn mit der Strukturenkoppelung zwischen Erzieher und Kind machen den konsen-
suellen Bereich von Erziehung aus.
Es hat sich dann ein geschlossener konsensueller Bereich gebildet, in dem es in diesem
Fall um ein bestimmtes Verhalten des Schülers geht, vielleicht vor dem Hintergrund
dessen, was an Verhaltensweisen in der Schule erlaubt ist (Fußballspielen ist nur auf
dem Sportplatz erlaubt), welchen Erziehungsauftrag der Lehrer vor Augen hat (Rück-
sicht auf andere Kinder nehmen, sich an Regeln halten), auf welcher Entwicklungsstufe
sich das Kind befindet (ein Viertkläßler müßte diese Regel kennen) etc. Indem sich der
Erzieher gerade der Entwicklung des Kindes anpaßt und das Kind die initiierte Kom-
munikation mitmacht in dem Sinne, daß miteinander auf „gleicher“ kognitiver Ebene
über das gleiche Thema gesprochen wird, kommt es zur operationalen Übereinstim-
mung zwischen Erzieher und Kind, d.h. es wird auf der gleichen strukturellen und in-
haltlichen Ebene operiert, trotz unterschiedlicher Bewußtseinsstrukturen von Erzieher
und Kind. Es kommt dann gegenwärtig zu einer Synchronisierung des Verhaltens auf
der Basis unterschiedlicher Bewußtseinsstrukturen, die im Verlauf der Erziehung insge-
samt zu einer Synchronisierung von Verhalten bei zunehmender Synchronisierung der
Bewußtseinsstrukturen von Erzieher und Kind führen. Wenn aber das Kind der Auffor-
derung des Erziehers, sich zu einem Thema zu äußern, nicht folgt oder vom Thema ab-
lenkt etc., dann kann dieses vom Erzieher als ‘unzulänglich’ beobachtetes Verhalten
nicht ausschließlich dem Kind zugerechnet werden, sondern es kann auch an Zuständen
im konsensuellen Bereich liegen, z.B. weil der Schüler über Verhaltensregeln in der
Schule nicht ausreichend informiert ist, sie vergessen hat, das Verhältnis zwischen Er-
zieher und Kind nicht deutlich gemacht wurde etc.
Der Sinn des konsensuellen Bereiches und die notwendige operationale Übereinstim-
mung zwischen Erzieher und Kind schränkt Freiheiten ein. Zum einen die Freiheit,
nicht themengebunden zu operieren, zum anderen geht es um die bewußtseinsmäßige
Aufnahme und Anpassung an Sinneinheiten. Darauf wird im nächsten Kapitel genauer
285
eingegangen. Hier soll in Hinblick auf den konsensuellen Bereich deutlich werden, daß
Konsens mit der „völligen Autonomie“ personaler Systeme nicht vereinbar ist, der kon-
sensuelle Bereich von Erziehung zugunsten der Entwicklung des Kindes auf völlige
Autonomie verzichten muß.
Als Spezifikum des konsensuellen Bereiches von Erziehung (im Gegensatz zu anderen
konsensuellen Bereichen, wie dem der Sprache) kann schließlich die initiierte Struktu-
renkoppelung in Bezug auf den Erzieher als Lehren bezeichnet werden und in bezug auf
das Kind als Lernen. Die Operationen des Erziehers, die als Lehren bezeichnet werden,
werden dies eben nur durch den konsensuellen Bereich der Erziehung, in dem sie in
Form von kontextbedingten Interaktionen auftreten, wie auch die Operationen des Kin-
des dann als Lernen bewertet werden, wenn sie in demselben Bereich ebenfalls als
kontextbedingte Interaktionen auftreten.
Der Sinn im konsensuellen Bereich von Erziehung setzt sich zusammen aus dem Sinn
von Erziehung, wie er in unserer Gesellschaft vorgegeben ist, woraus sich das Verhält-
nis von Lehren und Lernen ableiten läßt (man denke an Roths anthropologischen An-
satz, der von der Erziehungsbedürftigkeit und Lernfähigkeit des Kindes ausgeht), aber
auch von dem spezifischen erzieherischen Sinn, der für den jeweiligen Erzieher für die
Erziehung im Ganzen oder in einer einzelnen Erziehungssituation maßgebend ist. So
läßt sich beispielsweise folgende Situation denken: Das Kind will nicht für eine Probe
üben. Die Eltern gehen gemeinsam davon aus, daß Üben zu einem größeren Erfolg, zu
einer besseren Note in der Probe führen kann (Lernfähigkeit des Kindes). Während der
Vater mit dem Kind unbedingt üben will und z.B. eine Zeit dafür festsetzt, an die das
Kind sich zu halten hat, will die Mutter nachgeben und nicht mit dem Kind üben, in der
Hoffnung, daß, wenn es eine schlechte Probe geschrieben hat, es daraus lernen wird.
Der Sinn des konsensuellen Bereiches in einem Gespräch zwischen Vater und Kind und
zwischen Mutter und Kind würde verschieden sein.
In Hinblick auf die ‘beliebigen’ Interaktionen ist anzufügen, daß es sich nur für den
Beobachter zunächst um eine solche handelt. Die Äußerungen oder Handlungen von
Erzieher und Kind sind an die jeweilige Komplexität ihrer personalen Einheit (Einheit
der System/Umwelt-Differenz) gebunden und können aufgrund der Selbstorganisation
keineswegs als beliebig bezeichnet werden.
Durch die Abbildung soll schließlich zum Ausdruck kommen, daß der konsensuelle
Bereich von Erziehung, wenn er sich einmal entwickelt hat, sei es nun auf theoretischer
286
Ebene durch die Darstellung des Sinnes von Erziehung oder auf der praktischen Ebene
im Verlauf einer erzieherischen Kommunikation in einer Erziehungssituation, ein ge-
schlossener Bereich ist. Ist der Bereich theoretisch erfaßt, dann ist er offen in Bezug auf
die personalen Systeme, die ihn verwirklichen. Wenn z.B. das Erziehungsziel Mündig-
keit definiert und bis hin zu Lehreinheiten ausdifferenziert ist, dann scheinen Erzieher
und Kinder austauschbar zu sein, solange das Ziel erreicht wird. In einer gegenwärtigen
Erziehungssituation und damit auf der personalen Ebene ist der konsensuelle Bereich
durch die wechselseitige Strukturenkoppelung zwischen Erzieher und Kind auf der
Grundlage von Sinn und im Bereich der Kommunikation bedingt. Wendet sich der Er-
zieher einem anderen Kind zu, dann können sich auch die Zustände des konsensuellen
Bereiches verändern. So gilt aus systemtheoretischer Sicht, daß sich die Zustände des
konsensuellen Bereiches in Abhängigkeit der ontogenetischen Strukturenkoppelung von
Erzieher und Kind ändern.
Insgesamt ist hier wohl noch einmal mehr deutlich geworden, daß sich Erziehung in
einem anderen Bereich abspielt, als im Zustandsbereich des menschlichen Organismus
(vgl. Maturana 19852, S.292). Erziehung entwickelt sich letztlich immer durch die ge-
genwärtige Koppelung von Erzieher und Kind und bleibt deshalb auch so schwer faß-
bar, weil sie situativ gebunden ist. Aber, wie das obige Beispiel gezeigt hat, muß es
gerade in der Erziehung „stabile Konsensbereiche“ (Huschke-Rhein 1998, S.121) ge-
ben, die in Form von pädagogischen Sinneinheiten festgeschrieben werden können (vgl.
Kap.5.5.5) und als Selektion eine Reduktion der Komplexität ‘objektiver’ Bestände
unserer Gesellschaft darstellen. Denn fehlt in der erzieherischen Kommunikation ein
stabiler Sinnhorizont, dann kann es zu Entkoppelungsprozessen zwischen Erzieher und
Kind kommen, weil gar keine Basis von Sinn für eine Synchronisation unterschiedli-
chen Verhaltens vorhanden ist (zum Begriff der Entkoppelung vgl. den vorigen Ab-
schnitt und Speck 1991, S.47ff.). Eine zunehmende Ausdifferenzierung von Sinnein-
heiten im System Erziehung darf nicht dahin führen, daß Willkür in der Erziehung
möglich wird. Denn Entkoppelungen werden soziologisch als Folge der Ausdifferenzie-
rung von Funktionssystemen der Gesellschaft gesehen (vgl. Speck ebd., S.48). Das
System Erziehung, ebenfalls als Teilsystem der Gesellschaft ausdifferenziert, sollte in-
tern Sinneinheiten unter Berücksichtigung der Komplexität von Entwicklungen der
Kinder ausdifferenzieren, aber eben nicht soweit, daß es zu Entkoppelungen zwischen
Erzieher und Kind kommt. Die Grenze dafür, daß es zu Entkoppelungen kommen kann,
287
begründet sich durch die Entwicklung des Kindes. Ausdifferenzierungen ja, aber nicht
so, daß das Kind diese nicht bewältigen kann. Die Regel ist hier, daß immer Kontingen-
zen möglich sein müssen, weil die Selbstorganisation der Entwicklung des Kindes nie
vollständig erfaßt werden kann und Erziehung deshalb nicht „durchstrukturiert“ und
„durchorganisiert“ werden sollte, weil dies auch nicht für die Entwicklung gilt.
5.7.3 Entwicklung und Lernen im konsensuellen Bereich
Der Prozeß der kognitiven Entwicklung des Kindes in der Erziehung wird im konsen-
suellen Bereich durch die strukturelle und gleichzeitig sinngebundene Koppelung zwi-
schen Erzieher und Kind ausgelöst bzw. gesteuert (zur Steuerung vgl. Kap. 5.9) und
erfolgt durch Zustandsänderungen der Bewußtseinsstrukturen systemintern. Entwick-
lung und Lernen sind von äußeren und internen Systemmerkmalen abhängig. Es erge-
ben sich hieraus für den Entwicklungsbegriff und damit auch für das Lernen folgende
Konsequenzen:
- Entwicklung und Lernen durch Erziehung erfolgt durch die strukturelle Koppelung
zwischen den personalen Systemen Erzieher und Kind im konsensuellen Bereich. Man
kann auch sagen, daß Lernen im Kontext334 erfolgt. Wenn dies so ist, dann kann es sich
in der Praxis anbieten, von konkreten Fällen im Lernprozeß auszugehen, weil die Ent-
wicklung schließlich situativ gebunden ist. So wird auch in neueren Ansätzen der Kog-
nitionspsychologie direkt von der „Situiertheit des Lernens“ gesprochen (vgl. Siebert
1999, S.20 und S. 97ff.). Wir werden darauf zurückkommen, wenn es um die Erzie-
hungssituation geht. Dann wird sich zeigen, daß Entwicklungen auch an Situationen
gebunden sind.
- Die kontextbedingten Interaktionen des Kindes setzen sich zusammen aus den sys-
teminternen Zuständen der persönlichen Bewußtsseinszustände, die sich durch ontoge-
netische Strukturenkoppelung bereits entwickelt haben und dem Sinn wie er im konsen-
suellen Bereich auch aufgrund den Anforderungen oder Fragestellungen des Erziehers
vorliegt. Neben dem Sinn des konsensuellen Bereiches ist deshalb die Biographie des
Kindes von Bedeutung, wenn es um die Einschätzung oder Bewertung der kontextbe-
334 Vgl. hierzu auch Bateson 19954, S. 167: „Ich behaupte, daß es ein Lernen vom Kontext gibt, ein Lernen, das sich von dem unter-
scheidet, was die Experimentatoren sehen. Und daß dieses Lernen vom Kontext aus einer Art der doppelten Beschreibung hervor-
geht, die mit Beziehung und Interaktion einhergeht“. Nichts anderes wird auch durch das Verhältnis von struktureller Koppelung
und konsensuellem Bereich deutlich. Zudem betont Bateson Lernen als Kommunikationsphänomen und als „Veränderung irgendei-
ner Art“ (Bateson 19945, S.366), wobei diese Veränderungen systeminternen Zustandsveränderungen entsprechen.
288
dingten Interaktion geht. Man kann auch formulieren, daß Entwicklung durch die Kop-
pelung biographisch bedingter Zustände (in Abhängigkeit der Selbstorganisation des
personalen Systems) mit den jeweiligen Zuständen und Interaktionen im konsensuellen
Bereich erfolgt.
- Entwicklung und Lernen werden nicht im Organismus sichtbar (wenn man einmal von
der Reifung als ein Entwicklungsfaktor absieht, vgl. hierzu Piaget/Inhelder 19872,
S.152f.). Sie werden wiederum im konsensuellen Bereich und durch kontextbedingte
Interaktionen deutlich, die von einem Beobachter bzw. dem Erzieher als Entwicklung
oder Lernen bewertet werden. Es können bei einer Bewertung der Entwicklung des
Kindes nur kontextbedingte Interaktionen benutzt werden und nicht die systeminternen
Zustände selbst. Wenn Maturana deshalb formuliert, daß der Unterschied zwischen ver-
schiedenen Verhaltensweisen im Kontext liegt, „in dem die Verhaltensweisen auftreten,
d.h. in dem historischen Ausblick ihres Auftretens“ (Maturana 19852, S.293), dann be-
deutet das, wie gesagt, daß sich Verhaltensweisen je nach Kontext ändern können und
daß es auch an stabilen Kontexten liegt, wenn stabile Verhaltensweisen festgestellt
werden. Diese Aussage kann für heutige Erziehungsprobleme Konsequenzen haben:
Wenn es in der Erziehung Probleme gibt, dann sollte der Kontext, in dem diese Proble-
me auftreten, untersucht werden, z.B. in dem festgestellt wird, in welchen Situationen
oder nach welchen Anforderungen sich ein Kind aggressiv verhält. Es können Unter-
schiede und auch Gemeinsamkeiten des Sinnhorizontes von Erzieher und Kind heraus-
gestellt werden. Denn die Erziehungsprobleme, auch wenn sie physische Auswirkungen
zeigen, wie Bettnässen u.a. entstehen im Bereich von strukturellen Koppelungen zwi-
schen Kind und Umwelt, im konsensuellen Bereich, in unterschiedlichen Sinneinheiten.
Sie dürfen nicht vorschnell der Ganzheit der Person des Kindes zugeschrieben werden.
Es muß, kurz gesagt, festgestellt werden, wann ein Wechsel von Kontexten für die Ent-
wicklung bzw. in der Entwicklung des Kindes notwendig wird oder inwieweit man-
gelnde Stabilität des Kontextes zu Unsicherheiten im Verhalten des Kindes führt.
- Im konsensuellen Bereich gibt es keine instruktiven Interaktionen (vgl. auch
Kap.5.6.5), sondern synchronisiertes Verhalten zwischen Erzieher und Kind wird durch
den Zustand des konsensuellen Bereiches ausgelöst (vgl. Maturana 19852, S.290-291).
Wie der Zustand des konsensuellen Bereiches in der Erziehung aussieht, ist dabei
hauptsächlich Aufgabe des Erziehers, indem er den Sinn von Erziehung mit dem je ak-
tuellen Sinn einer Erziehungssituation koppelt und ihn zur Grundlage für sein Handeln
289
und Kommunizieren macht, wobei natürlich auch das Kind durch das Einbringen seiner
eigenen Person den aktuellen Sinn einer Erziehungssituation immer mit beeinflußt.
- Die Begriffe ‘konsensueller Bereich’ und ‘Kontext’ müssen in der Pädagogik weit
gefaßt werden, denn sie umfassen auch die dingliche Umwelt des Kindes. Strukturen-
koppelung findet nicht nur zwischen personalen Systemen, sondern auch zwischen Kind
und Spielzeug, Computer etc. statt. Die Rollenspiele mit der Barbie-Puppe, bei denen
das Kind einmal einen Erwachsenen spielen kann, das Spiel mit der Carrera-Bahn, bei
dem das Kind selbständig mit Geschwindigkeiten experimentiert oder das Spiel des
Kleinkindes, das erstmals versucht, Duplo-Steine zu verbinden, alle diese Spiele bilden
Bereiche oder Kontexte die eine Veränderung systeminterner Zustände des Kindes und
damit Entwicklung auslösen können. Ob das Kind durch das Spiel ‘etwas gelernt’ hat,
das hängt wiederum von einem Beobachter ab, der an dem sichtbaren Verhalten des
Kindes eine Veränderung feststellt und dieses Verhalten als Lernen bezeichnet. Wenn
man beispielsweise dem 11/2-jährigen Kind statt der Duplo-Steine die Barbies zum
Spielen gibt, wird es wohl kaum zu einem Rollenspiel kommen. Der Kontext sollte dem
Entwicklungsstand des Kindes angemessen sein, wenn man Entwicklung oder Lernen
impliziert. Die Person des Erziehers ist auch bei der Gestaltung der dinglichen Umwelt
des Kindes unerläßlich, wenn der Zusammenhang zur Entwicklung eine Bedeutung ha-
ben soll. So hat sich bereits Montessori für eine vom Erzieher vorbereitete Umgebung
für das Kind ausgesprochen, die durch entsprechendes Entwicklungsmaterial gekenn-
zeichnet ist. Allerdings wird nach Montessori der Erzieher nur zum „Bindestrich“ zwi-
schen Kind und Umwelt (vgl. Böhm 19965, S.117), obwohl er, wie sich aus den syste-
mischen Zusammenhängen zeigt, selbst zur Umwelt des Kindes gehört.
- Es zeigt sich an diesem Beispiel auch erneut die Notwendigkeit der Anschlußfähigkeit
von Verhalten (vgl. Kap. 5.5.2). Im konsensuellen Bereich von Erziehung muß die
kontextbedingte Interaktion des Erziehers eine anschlußfähige kontextbedingte Interak-
tion des Kindes auslösen. Die Anschlußfähigkeit in Abhängigkeit der Entwicklung des
Kindes, seiner Biographie, des Sinnes von Erziehung, des situativ gebundenen Kontex-
tes und der personalen Komplexität des Erziehers herzustellen, ist für den Erzieher kei-
ne einfache Aufgabe und erfordert sicherlich neben viel Engagement eine entsprechen-
de Ausbildung, wenn es sich um den Lehrer als Erzieher handelt. Für die Eltern wird
das Bemühen um Anschlußfähigkeit sicherlich dann leichter, wenn man sich viel und
290
aktiv mit dem Kind beschäftigt, damit man nicht dessen Persönlichkeit „aus den Augen
verliert“, sondern vielmehr an der Entwicklung teilhat.
- Der konsensuelle Bereich von Erziehung schafft neben Auslöseereignissen für die
Entwicklung des Kindes vor allem auch Sicherheit in der Entwicklung und Erziehung,
denn er ergibt sich letztlich, wie jedes System durch Differenzierungen, durch die sich
im Laufe der Zeit Schemata herausgebildet haben. Diese Differenzierungsschemata, die
zur Grundlage des konsensuellen Bereiches werden, wie z.B. erzieherische Sinneinhei-
ten, sind allgemein bekannt, können vorausgesetzt werden, so daß die personalen Sys-
teme auch wissen, worauf sich ihre Interaktionen beziehen. Sie werden zur Grundlage
für Verständigung und deshalb muß der Erzieher auch nicht ‘bei Null’ beginnen, son-
dern Erziehung findet in einem Rahmen statt, in dem die Entwicklung des Kindes be-
rücksichtigt wird in dem Sinn, daß dem Kind Herausforderungen für und gleichzeitig
Sicherheiten bei seiner Entwicklung geboten werden. Das fängt z.B. damit an, das dem
Kind die Sicherheit gegeben wird, nicht unter Zeitdruck zu arbeiten. Wenn die Mutter
dem Kind erlaubt, mit Wasserfarben zu malen, sollte sie nicht nach zehn Minuten ein-
kaufen gehen wollen. Oder wenn das Kind Probleme mit dem Einschlafen hat, helfen
oft Rituale, auf die sich das Kind einstellen kann und die ihm das Einschlafen erleich-
tern. Unsicherheiten in häuslichen Verhältnissen ( wie z.B. ob die Mutter zu Hause ist,
wenn das Kind aus der Schule kommt, ob sich die Eltern wieder gestritten haben), die
das psychische Gleichgewicht des Kindes stören, tragen nicht zu einem stabilen Rah-
men in der Erziehung bei. Sicherheiten, die in der Erziehung vorliegen, können psychi-
scher, emotionaler, kommunikativer aber auch organisatorischer, institutioneller Art
sein. Dabei wird der konsensuelle Bereich jedoch nicht zu einem Schonraum, in dem
Erziehung stattfindet, das widerspricht bereits der Systemkomplexität (vgl. Kap.5.1). So
kann man z.B. dem Kind durch ein Gespräch klar machen, daß die Mutter einmal nicht
zu Hause sein wird, wenn das Kind aus der Schule kommt etc.
- Wenn systemtheoretisches Denken akzeptiert wird, dann ergeben sich noch weitere
Konsequenzen für die Erziehungspraxis, die hier nur exemplarisch aufgegriffen werden
können:
So ist zum einen zu unterscheiden zwischen der systemtheoretischen Beschreibung des
Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung und der Sichtweise eines Beobach-
ters, der in einer Erziehungssituation in seiner Funktion als Erzieher das Kind beobach-
tet. Darauf wird in dem Kapitel über die Erziehungssituation als Schnittpunkt des Zu-
291
sammenhangs von Erziehung und Entwicklung genauer eingegangen. In Hinblick auf
Entwicklungs- und Lernprozesse kann zum anderen unterschieden werden zwischen
dem Erzieher als Beobachter und der Beobachtung als Thema von Erziehungssituatio-
nen. Gerade weil auch die Kinder Beobachter sind, kann Beobachtung oder die Person
als Beobachter selbst thematisiert werden, indem zum Beispiel eine Gruppe von Kin-
dern einmal als Beobachter von Unterricht fungieren dürfen. Dadurch lernen Kinder
nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu beobachten und sie erfahren so unter-
schiedliche Sichtweisen, also Kontingenz. Dies kann durch das Vorlesen von Ge-
schichten etc. vertieft werden (vgl. Reich 1996, S.245ff.).
Neben dem Kennenlernen anderer Beobachterperspektiven müssen auch andere Kon-
texte in der Erziehung erfahrbar sein, durch die das Kind lernt, zu differenzieren, selbst
aktiv zu sein, weil man selbständig Kontexte schaffen kann und Sinn entwickelt. Das
Denken in Zusammenhängen führt über das reine Wissenslernen hinaus (vgl. Decker in
Voß 1998, S.114ff.). Hierbei ist von Bedeutung, daß der konsensuelle Bereich von Er-
ziehung situativ gebunden ist und dies dem Kind auch bewußt gemacht wird, in dem
Sinne, daß nur gemeinsam (nämlich durch Strukturenkoppelung) Erziehung und Ent-
wicklung möglich sind, da dies der Organisation und Struktur von Erziehung und Ent-
wicklung in Abhängigkeit der Organisation und Struktur des Organismus entspricht.
Denn man kann, gemessen an dem Entwicklungsstand des Kindes, mit dem Kind über
eine spezifische Situation reden, ihm verständlich machen, warum man z.B. in einer
Situation ein bestimmtes Verhalten erwartet (z.B. im Wartezimmer des Arztes nicht
toben). Durch das erzieherische Gespräch aber auch durch das Verhalten des Erziehers
kann der konsensuelle Bereich einer Situation vermittelt werden. Der Erzieher hat nach
wie vor Vorbildfunktion.
Erziehung aus systemtheoretischer Sicht nimmt die Entwicklung des Kindes und damit
die Funktionsweise seines Organismus ernst. Erziehung kann die grundlegenden Funk-
tionsweisen bzw. die Systemzusammenhänge in der Entwicklung des Kindes nutzen
und dadurch den Zusammenhang zwischen Entwicklung und Erziehung sinnvoll ges-
talten. Die strukturelle Koppelung zwischen Erziehung und Entwicklung ist eben nur
möglich durch „operationale Übereinstimmung“.
Das Verhältnis von Lernen und Entwicklung in der Erziehung läßt sich abschließend
und zusammenfassend so kennzeichnen: Personale Systeme interagieren durch struktu-
relle Koppelung und in konsensuellen Bereichen. Deshalb kann nicht nur Lernen als das
292
Ergebnis struktureller Koppelung im konsensuellen Bereich bezeichnet werden, sondern
das gilt auch für Entwicklung und schließlich für Erziehung. Deutlicher können Unter-
schiede zwischen Entwicklung und Lernen herausgestellt werden, wenn man die ver-
schiedenen Systemebenen betrachtet, auf denen die Strukturenkoppelung stattfindet.
Dann kann gesagt werden, daß Lernen eher im Verhaltensbereich auftritt, während
Entwicklung mehr auf den Bereich des Organismus bezogen ist, Lernen also personex-
terne Koppelungen impliziert, Entwicklung hingegen personinterne (vgl. Maturana
1983, S.63). Systemtheoretisch ist eine solche Trennung aber nicht zulässig, weil die
Organisation und Struktur von Systemen dem widerspricht, denn sowohl systeminterne
als auch systemexterne Strukturenkoppelungen zwischen Systemen und ihren je spezifi-
schen Umwelten führen zusammen zu Lern- und Entwicklungsprozessen. Ob von Ler-
nen gesprochen wird oder davon, daß ein Entwicklungsprozeß stattgefunden hat, es
handelt sich jeweils um eine Beobachterkategorie, die die tatsächlichen internen Zu-
stände des personalen Systems nur mit Hilfe äußerer Kategorien oder Sinneinheiten zu
erfassen vermag. In Anlehnung an die bisher beschriebenen Systemmerkmale kann
formuliert werden, daß Lernprozesse in einem konsensuellen Bereich erzeugt und auch
in diesem wiederum sichtbar werden, daß Entwicklungsprozesse ebenso erzeugt und
sichtbar werden. Wenn aber von Entwicklung gesprochen wird, dann ist wohl in der
Regel die strukturelle Koppelung zwischen dem Verhaltensbereich und dem Bereich
des Organismus impliziert, die auch Reifung und Vererbung umfaßt und in der der
Lernprozeß zum ausdifferenzierten Teilsystem wird. Durch den Zusammenhang von
Erziehung und Entwicklung soll gerade auf diese umfassende Systemkomplexität hin-
gewiesen werden. Erziehung kann sich eben nicht nur auf den Verhaltensbereich be-
schränken, wie dies für Sozialisation gelten kann, sondern es geht in der Erziehung um
die Synchronisation personaler Systeme (Kinder in ihrer Komplexität und als Einheiten
einer System/Umwelt-Differenz verstanden), die in Entwicklung begriffen sind, mit den
Anforderungen der Gesellschaft an diese Systeme, die durch den Erzieher in der erzie-
herischen Kommunikation im konsensuellen Bereich von Erziehung und als Umwelt
dem Kind vermittelt werden.
293
5.8 Anpassung als Voraussetzung und Äquilibration als Zielvon Erziehung und Entwicklung?
Im Prozeß der Erziehung wird vom Kind auch Anpassung erwartet, sei es Anpassung an
die Anforderungen des Erziehers oder der Gesellschaft, sei es die Anpassung an Regeln
in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule etc. Die Anpassung wird insofern für
den Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung relevant, als sie Teil des Erzie-
hungsprozesses und deshalb für die Entwicklung des Kindes von Bedeutung ist.
Die kognitive Entwicklung des Kindes scheint spätestens seit Piaget über Gleichge-
wichtszustände als notwendige Folge von Ungleichgewichten zu verlaufen und insge-
samt zur Äquilibration zu führen. Die Begriffe „Anpassung“ und „Äquilibration“ spie-
len in der Theoriebildung für die Erziehung und Entwicklung eine Rolle, durch ihre
systemtheoretische Bedeutung erhalten sie jedoch nur einen nachgeordneten Stellenwert
und werden teilweise durch die strukturelle Koppelung aufgehoben bzw. begrifflich in
diese integriert, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
5.8.1 Anpassung als Voraussetzung für Erziehung und Entwicklung
Wenn von Anpassung gesprochen wird, dann ist in der Regel damit gemeint, daß sich
ein System der Umwelt anpaßt, so als gäbe es eine „bewußte Entsprechung zwischen
System und Umwelt“ (Krieger 1996, S.39). Systemtheoretisch gesehen besteht nun die
Umwelt selbst aus Systemen, die sich ihrerseits an ihre je eigenen Systemumwelten
anpassen. Daraus ergibt sich zumindest die Wechselseitigkeit von Anpassung zwischen
System und Umwelt. Anpassung impliziert zudem, daß sie durch Strukturänderung im
System erfolgt. Das heißt, die Eigenleistung des Systems, seine Entwicklung ist gefragt.
Dabei geht aber „zu viel ‘Eigenes’ in die ‘Anpassung’ ein, als daß man daraus auf eine
Kompatibilität von System und Umwelt schließen könnte. Paradoxerweise ist es also
gerade der Eigenanteil am Prozeß struktureller Anpassung, der verhindern kann, daß ein
System sich langfristig-erfolgreich in seiner Umwelt stabilisiert“ (Luhmann 1987,
S.479).
Der umweltbezogene Begriff der Anpassung muß durch den Begriff der „Selbstanpas-
sung“ (Luhmann ebd.) ergänzt werden, was sich aus der Komplexität des Systems er-
gibt, für dessen Teilsysteme das gleiche gilt wie für den System/Umwelt-Bezug. Inso-
fern ist das System immer schon angepaßt, nämlich in Bezug auf seine Organisation.
294
Anpassung muß deshalb als Voraussetzung und nicht als Resultat von etwas, sei es nun
Evolution, Erziehung oder Entwicklung, verstanden werden (vgl. Luhmann 1997,
S.446). Das zu erziehende Kind kommt insofern schon angepaßt auf die Welt, als es
zum Beispiel aufgrund seines Saugreflexes in der Lage ist, zu trinken und deshalb nicht
verhungern und verdursten wird. Voraussetzung ist hier vielmehr, daß die Umwelt den
Saugreflex auch befriedigt. Der „Austausch mit der Umwelt, deren Stabilität den Grad
seiner Angepaßtheit bestimmt“, bildet die Voraussetzung für das Funktionieren der Or-
ganisation des Systems (Piaget 1983, S.174). Dieser Austausch mit der Umwelt, der im
Prozeß der strukturellen Koppelung zwischen System und Umwelt evident wird, kenn-
zeichnet den Grad der Anpassung eines Systems an seine Systemumwelt. Anpassung
wird nicht im System sichtbar, sondern gerade in dessen Umweltbezug.
Aus systemtheoretischer Sicht beschreiben die Assimilation, als die aktive Aufnahme
von Umweltgegebenheiten in das System und die Akkomodation, als die aktive sys-
teminterne Strukturänderung aufgrund der Assimilation, nach wie vor treffend „die bei-
den einander entgegengesetzten funktionellen Pole jeder Adaptation“; die nicht vonein-
ander zu trennen sind (Piaget ebd., S.176, siehe auch Kap.4.3.1). Es geht also bei der
Anpassung um Aktionen, die auf die Umwelt ausgeübt werden und die auch zu Variati-
onen im System führen (vgl. Piaget 1975c, S.43). Die Aktivität des Systems in Abhän-
gigkeit von seiner autopoietischen Organisation bildet die Grundlage für Anpassung
und bestimmt gleichzeitig dessen Entwicklung. Entwicklung ist somit untrennbar mit
Anpassung im Sinne von Piagets Begriff der Adaptation, die sowohl die Akkomodation
als auch die Assimilation umfaßt, verbunden. Bevor es konkrete systemtheoretische
Ansätze gab, hat Piaget dies aus biologischer Sicht u.a. am Beispiel der Schlammschne-
cken deutlich gemacht335 und dabei herausgestellt, daß die Faktoren, die Verhalten ver-
ändern, Selektionen sind, „die entweder äußerlich oder vor allem organisch sind, aber
im erblichen Rahmen und inneren Milieu des Akkomodats“ (Piaget 1975c, S.58). Die
Grenze für Veränderungen ist damit die erbliche Programmierung.
Die kognitive Entwicklung des Kindes löst nun nicht die organische Entwicklung ab,
sondern sie geht vielmehr aus dieser hervor, aber dann „unendlich“ (Piaget 1975c,
335 Es gibt Schlammschnecken, die in Teichen leben und eine längliche Form haben und es gibt welche, die in großen Seen leben
und von gedrungener Form sind. Das veränderte Verhalten der Schlammschnecke bezeichnet Piaget nicht als Kompensation auf
Störungen in der Umwelt, sondern neues Verhalten zielt „auf eine Ausdehnung des bisher üblichen Lebensraumes ab“ (Piaget
1975c, S.34).
295
S.95), im Sinne der reflektierenden Abstraktion (siehe Kap. 4.3.2), über sie hinaus. Sie
ist damit abhängig von der organischen Entwicklung (wie der Entwicklung des Nerven-
systems), von der autopoietischen Organisation des Organismus (und der damit verbun-
denen operativen Geschlossenheit) sowie der strukturellen Koppelung zwischen perso-
nalem System und Umwelt bzw. zwischen Organismus und Umwelt, durch die die An-
passung des Systems an Umweltgegebenheiten deutlich wird336. Und in dieser struktu-
rellen Koppelung ist Erziehung wirksam, indem sie aufgrund der Kenntnis über die
Entwicklung dem Kind hilft, die organische Entwicklung durch die kognitive zu über-
schreiten. Auf kognitiver Ebene sind andere Operationen in Bezug auf Zeit, Raum oder
Gegenstände etc. möglich als auf der Ebene des Organismus. Man kann gedanklich Ge-
genstände beachten, die das Auge nicht sieht, man kann über die Zukunft nachdenken,
obwohl der Organismus nur gegenwärtig funktioniert oder es werden gedanklich ver-
schiedene Räume miteinander verbunden, obwohl man sich in diesen gerade nicht be-
findet und insbesondere kann man auch Negationen einbeziehen.
Die Strukturen der kognitiven Entwicklung gehen zwar aus den organischen hervor,
werden am Ende (nach Piaget ab der operationalen Ebene der kognitiven Entwicklung)
aber nicht mehr von den Gegenständen abgeleitet, sondern von der Aktivität des perso-
nalen Systems. Die Reflexionsfähigkeit des Kindes ist eine Eigenleistung des Kindes
und die Anpassung an den Erzieher in der erzieherischen Kommunikation bildet die
Voraussetzung dafür. Erziehung wird damit zur Voraussetzung für die kognitive Ent-
wicklung des Kindes im Sinne der Weiterführung und Überhöhung organischer Regu-
lierungen337, sie hilft, die Eigenleistung des Kindes über seine organischen Fähigkeiten
hin zur Abstraktion zu führen. Das Kind ist in dieser Hinsicht in seiner Entwicklung auf
Erziehung angewiesen, weil es sich durch einen speziellen Austausch mit der Umwelt,
durch den seine Entwicklungfähigkeit, -bedürftigkeit und seine Entwicklungsstufe be-
336 Vgl. hierzu Luhmann 1995, S.40: „Nur wenn ein System in seiner autopoietischen Reproduktion dem Bereich, in dem es operiert,
angepaßt ist, kann es sich durch seine eigenen Strukturen determinieren. Und nur wenn es durch seine eigenen Strukturen in einem
laufenden structural coupling mit seiner Umwelt in Kontakt steht, kann es die eigenen Operationen fortsetzen. Die Reproduktion
findet statt oder nicht statt. Die Kommunikation wird fortgesetzt oder hört auf. Aber immer wenn sie fortgesetzt wird, ist sie auch
angepaßt, wie immer eigendynamisch sie verfährt“.337 Man darf „die logisch-mathematischen Strukturen endogen betrachten, weil sie durch das Subjekt konstruiert werden, das sie aus
den allgemeinen Koordinationsformen seiner Aktionen ableitet, wobei sich diese Koordinationen ihrerseits auf die Nervenkoordina-
tionen stützen, die schließlich von organischen Koordinationen herrühren. Mit anderen Worten, diese Strukturen werden nicht im
eigentlichen Sinne vererbt, aber sie sind dennoch eine Weiterführung der organischen Regulierungen. Da sie zudem eine Epigenese
veranlassen, setzen sie folglich Interaktionen mit dem äußeren Gegebenen voraus“ (Piaget 1975c, S.79-80).
296
rücksichtigt wird, kognitiv entwickeln kann. Im Erziehungsprozeß selbst wird dann der
Grad der Anpassung des personalen System des Kindes an dessen Umwelt (Erzieher)
deutlich. Erziehung erzwingt nicht Anpassung, sondern führt die der Organisation des
Organismus inhärente Tendenz zur Anpassung fort, sie führt im kognitiven Bereich
über diese hinaus. Deshalb geht es auch aus evolutionärer Sicht nicht um eine „bessere
Anpassung“. Dies widerspricht der operationalen Geschlossenheit autopoietischer Sys-
teme, die Spielräume für die Entwicklung von Strukturen zuläßt (vgl. Luhmann 1997,
S.446)338.
In der Erziehung muß über den vom Organismus vorgegeben Rahmen bzw. dessen
Funktionsweise hinausgegangen werden. Zum Beispiel können räumliche und zeitliche
Verhältnisse auf vielfältige Weise erweitert werden, indem durch einen Film oder durch
eine Geschichte das Kind mit anderen Kulturen vertraut gemacht wird, aber auch durch
den Ausflug mit der Klasse oder den Eltern, der in ein Museum führt oder auf einen
Berg bzw. in unterschiedliche Landschaften. Dabei muß nicht nur die gedankliche Ak-
tivität des Kindes Berücksichtigung finden. Vielmehr ergibt sich aus dieser Sichtweise
eine Erziehung, in der vor allem im Kleinkindalter und Grundschulalter alle Sinne des
Kindes angesprochen werden und gerade körperliche Aktivitäten nicht zu vernachlässi-
gen sind. Mit zunehmendem Alter jedoch, wenn die Reflexionsfähigkeit des Kindes
zunimmt und nicht mehr an konkrete Gegenstände gebunden ist, erlangt die erzieheri-
sche, rein verbale Kommunikation einen größeren Stellenwert. Diese Ansicht kann
weiter konkretisiert werden, indem gerade im Grundschulalter mehr Sportunterricht,
vermehrte Ausflüge, bis hin zum Besuch im Kindertheater etc. angeboten werden. In
Bezug auf den Umgang mit Materialien bietet Montessoris Ansatz viele Hinweise. Die
Erziehung muß sich als Systemumwelt der Entwicklung des Kindes als personales Sys-
tem anpassen, so wie sich auch das Kind in seiner konkreten Entwicklungsphase dann
der Erziehung anpaßt.
In der strukturellen Koppelung von Erzieher und Kind liegt hier die „wechselseitige
Anpassung“ vor, die zum konsensuellen Bereich von Erziehung und schließlich zur Ko-
338 Siehe auch Luhmann ebd., S.568: „Von der Evolution wird jetzt nicht mehr laufend bessere Anpassung erwartet. Die Fakten
sprechen für das Gegenteil. Die Frage kann daher nur sein, wie Gesellschaft den Zustand des vorausgesetzten Angepaßtseins halten
kann, den sie benötigt, um ihre eigene Autopoiesis unter Bedingungen hoher Komplexität und Unwahrscheinlichkeit fortzusetzen.
Die Teilsystemevolutionen können auf diese Frage keine Antwort geben. Sie machen es eher wahrscheinlich, daß die Wissenschaft
immer mehr Wissen erzeugt, das zu noch mehr Unsicherheit führt (...), so daß Synchronisationen immer schwieriger werden. Für
eine junge Generation mit langen Lebenserwartungen verschwimmen die Perspektiven“.
297
Ontogenese führt (Maturana 19852, S.290). Wenn sich der Erzieher der Entwicklung
des Kindes anpaßt und das Kind sich den Anforderungen des Erziehers, dann kommt es
in der strukturellen Koppelung zu einem Verhalten des Kindes, das seitens des Erzie-
hers als Anpassung bzw. als „adäquates Verhalten“ bezeichnet werden kann. Adäquates
Verhalten ist dann der Ausdruck „der strukturellen Übereinstimmung zwischen Orga-
nismus und Medium in der Gegenwart“ (vgl. Maturana ebd., S.248). Anpassung ist also
adäquates Verhalten des Kindes in der strukturellen Koppelung zwischen Erzieher und
Kind, wobei sich das Verhalten nach Maßgabe der autopoietischen Organisation des
personalen Systems ergibt.
Die Entwicklung des Kindes kann mit den Worten von Maturana als „Driften von
Strukturänderung unter Konstanthaltung der Organisation und daher unter Erhaltung der
Anpassung“ beschrieben werden (Maturana/Varela 19872, S.113)339. Die Strukturverän-
derungen in der Entwicklung des Kindes verlaufen somit entlang den Strukturverände-
rungen in der Erziehung. Oder anders formuliert: Die Erziehung muß sich gemäß den
Strukturen der Entwicklung des Kindes entwickeln und die Entwicklung des Kindes
erfolgt durch die Entwicklung von Erziehung. Beides erfolgt unter Erhaltung der auto-
poietischen Organisation und der Anpassung des sozialen Systems Erziehung und des
personalen Systems des Kindes.
Die Entwicklung des Kindes wird ausgelöst durch Strukturveränderungen im sozialen
System Erziehung. Diese Strukturveränderungen müssen so gewählt werden, daß
Anschlußfähigkeit möglich ist, sich die bestehenden systeminternen kognitiven Struktu-
ren des Kindes durch Anschlußverhalten aber verändern oder je nach Aufgabenstellung
auch stabilisieren. Das Problem in der Erziehung besteht dabei darin, daß der Erzieher
abschätzen muß, welche Strukturveränderungen die Strukturdeterminiertheit des perso-
nalen System des Kindes nicht über- oder unterfordern, damit die Erhaltung der Organi-
sation und die Erhaltung der Anpassung gewährleistet bleibt. Prinzipiell gilt dabei für
das System Erziehung das gleiche, was Maturana/Varela dem sozialen System zuspre-
chen. „Das menschliche soziale System erweitert die individuelle Kreativität seiner
Mitglieder, da das System für die Mitglieder existiert“ (Maturana/Varela 19872, S. 217).
339 Der Begriff des „natürlichen Driftens“ hat bei Maturana/Varela „andere Implikationen für das Verständnis der Evolution als das
Konzept der natürlichen Auslese“ (Maturana/Varela 19872, S.86, Anmerkung des Übersetzers). Die „ontogenetische Strukturverän-
derung eines Lebewesens in seinem Milieu wird immer ein strukturelles Driften sein, das mit dem Driften des Milieus in Überein-
stimmung ist. Dieses Driften wird einem Beobachter im Verlauf der Geschichte von Interaktionen des Lebewesens als durch das
Milieu ‘selektiert’ erscheinen“ (ebd., S.113-114).
298
Und Gleiches gilt auch für den Lernbegriff. Lernen ist nicht ein Phänomen der „Anpas-
sung eines Organismus an ein Medium, sondern Konsequenz der Epigenese eines Orga-
nismus, der seine Angepaßtheit in einem speziellen Medium aufrechterhält, indem die
Aufrechterhaltung von Organisation und Angepaßtheit die operationalen Bezugswerte
für die Auswahl derjenigen Wege darstellen, die die strukturellen Veränderungen eines
Organismus nehmen“ (Maturana 1983, S.68-69).
5.8.2 Anpassung ist Äquilibration
Durch die Anpassung des Kindes an Strukturveränderungen in der Erziehung erweitern
sich die Austauschmöglichkeiten des Kindes mit der Umwelt und die erweiterten ope-
rationalen Fähigkeiten entsprechen dann einer erweiterten Umwelt. Diese Erweiterung
ist für das Individuum „adaptiv, und Adaptation ist Äquilibration“ (Piaget 1983, S.207).
Mit Äquilibration ist nach Piaget ein Gleichgewicht gemeint, in dem die „Akkomodati-
on an die Situation und die das Funktionieren erhaltende Assimilation permanent auf-
einander abgestimmt werden“ (Piaget ebd., S.208). Gleichgewicht in diesem Sinne
meint eine Stabilität in der strukturellen Koppelung zwischen Assimilation und Akko-
modation, zwischen Umwelt und System. Stabilität darf jedoch nicht mit Statik ver-
wechselt werden. Es gibt verschiedene Arten von Gleichgewicht. Haken faßt sie für den
Bereich der Mechanik kurz zusammen, wobei er die „Idee eines statischen biologischen
Gleichgewichts“ für zu „naiv“ hält (Haken 1995, S.100). Man kann unterscheiden zwi-
schen einem stabilen Gleichgewicht (ein Gegenstand kehrt immer in die gleiche Lage
zurück), einem indifferenten Gleichgewicht (ein Gegenstand sucht sich in einer anderen
Lage ein neues Gleichgewicht) und ein instabiles Gleichgewicht (der Zustand eines
Gegenstandes kann sehr leicht verändert werden, das Gleichgewicht ist leicht zerstör-
bar) (vgl. mit Abbildungen Haken 1995, S.49ff.). Für die Darstellung des Zusammen-
hangs von Erziehung und Entwicklung, in dem es um die strukturelle Koppelung von
jeweils komplexen psychischen, biologischen und sozialen Systemen geht, reichen die-
se mechanischen Erklärungen nicht aus. Die Systemtheorie hat in ihren Anfängen be-
reits den Begriff des „Fließgleichgewichts“ geprägt340, durch den zum Ausdruck ge-
340 Vgl. hierzu die Ausführungen von v.Bertalanffy, 1990, S.120: „Die Formen des Lebens sind nicht, sie geschehen; sie sind Aus-
druck eines immerwährenden Stromes von Materien und Energien, die den Organismus gleichzeitig durchzieht und ihn bildet (...)
Vom physikalischen Standpunkt können wir dies Verhältnis dahin definieren, daß der lebende Organismus nicht ein nach außen
abgeschlossenes System ist, sondern ein offenes System, das fortwährend Bestandteile nach außen abgibt und solche von außen
aufnimmt, die sich aber in diesem ständigen Wechsel in einem stationären Zustand oder Fließgleichgewicht erhält bzw. in ein sol-
299
bracht werden soll, daß durch interne Anpassungsleistungen des Systems ein „stationä-
rer Zustand gegenüber schwankenden Umweltbedingungen aufrechterhalten“ wird, der
als stationärer Zustand aber gerade auch dynamisch ist. (vgl. Müller 1996, S.207).
Es ist der Komplexität der vorliegenden Fragestellung nicht angemessen, einfach von
einem Gleichgewicht zu sprechen, denn erstens gibt es, wie gezeigt, verschiedene
Gleichgewichtsarten und zweitens können Gleichgewichte auf verschiedenen System-
ebenen unterschiedlich sein. Das Gleichgewicht (a) zwischen personalem System und
seiner Systemumwelt, hier zwischen Erzieher und Kind in der strukturellen Koppelung
von Erziehung kann unterschieden werden von einem Gleichgewicht (b) zwischen
gleichrangigen personalen Systemen, wie es zum Beispiel in der strukturellen Koppe-
lung zwischen Kindern vorliegt und schließlich muß das Gleichgewicht (c) zwischen
Untersystem und Gesamtsystem, hier zwischen Kind und dem sozialen System Erzie-
hung, betrachtet werden. Die Anzahl verschiedener Gleichgewichte erhöht sich noch
dadurch, daß sie auch im personalen oder psychischen System auftreten und für die
Entwicklung und Erziehung maßgebend sind. So beschreibt Piaget (vgl. Piaget 1975c,
S.99 ff.) für den kognitiven Bereich ein Gleichgewicht (a) zwischen internen System-
elementen und äußeren Elementen durch die Assimilation an Gegenstände und die Ak-
komodation eines Schemas an diese Gegenstände, ein Gleichgewicht (b) zwischen
gleichrangigen oder benachbarten Systemen oder Untersystemen durch die gegenseitige
Anpassung von Schemata wie zum Beispiel Sehen und Greifen oder räumliches und
numerisches Denken und schließlich ein Gleichgewicht (c) zwischen Untersystemen
und dem Gesamtsystem durch die Integration von Untersystemen in Ganzheiten, wie
dies beispielsweise bei der Bildung von Kategorien der Fall ist. Die Tendenz zu einem
Gleichgewicht ist somit auf jeder Stufe der Entwicklung und auf jeder Systemebene und
somit durch die strukturelle Koppelung, die Erhaltung der Organisation, die Struktur-
determiniertheit des Systems und die Erhaltung der Anpassung eines Systems an seine
Umwelt gegeben. Ein Gleichgewichtsstreben im Sinne eines stetigen dynamischen
Austauschprozesses zwischen System und Umwelt, Teilsystemen und zwischen ver-
schiedenen Systemebenen ergibt sich somit durch die Funktionsweise selbstorganisie-
render Systeme und ist deshalb mit allen anderen Systemmerkmalen verbunden.
ches übergeht“. Von Fließgleichgewicht soll nach v.Bertalanffy fortan bei offenen Systemen gesprochen werden, von echten
Gleichgewichten in geschlossenen Systemen (vgl. v.Bertalannffy ebd., S.121).
300
Es schließt sich hier die Frage an, ob in der Pädagogik von einem Gleichgewicht, einem
Fließgleichgewicht oder von Äquilibration gesprochen werden soll. Systemtheoretisch
geht es hierbei um eine „gewisse Stabilität“ im Prozeß der strukturellen Koppelung zwi-
schen System und Umwelt, durch die letztlich wieder die Einheit der System/Umwelt-
Differenz zum Ausdruck kommt. So verzichtet Luhmann schließlich auch aus soziolo-
gischer Sicht auf den Begriff des Gleichgewichts, wenn er in dem Sinne verwendet
wird, daß der Gleichgewichtszustand eines Systems feststeht, von dem aus das System
(oder der Organismus) Störungen ausgleichen kann. Vielmehr betont er für die Gesell-
schaft eine dynamische Stabilität (vgl. Luhmann 1997, S.792), in der der Selektionspro-
zeß zu Strukturveränderungen und zur Strukturbildung führt, die niemals als abge-
schlossen angesehen werden können (vgl. Luhmann ebd., S.487). Heute ist vielmehr zu
bedenken, daß gerade dynamische Systeme evolutionsfähig sind, „die sich fernab vom
Gleichgewicht halten und reproduzieren können“ (Luhmann ebd., S.486). Das scheint
zunächst der Aquilibration kognitiver Strukturen zu widersprechen.
In der kognitiven Entwicklung des Kindes nämlich nimmt nach Piaget die Tendenz zum
Gleichgewicht und damit die Erhaltung der Anpassung zu in dem Sinne, daß die kogni-
tive Entwicklung zu einer Stabilität des Denkens führt, die sich tatsächlich der Komple-
xität der Umweltanforderungen zunehmend anpaßt, indem das Kind im Verlauf seiner
Entwicklung allmählich fähig wird, sich prinzipiell den in unserer Gesellschaft beste-
henden kognitiven Anforderungen und Problemen zu stellen. Das Denken erreicht nach
Piaget auf einer bestimmten Stufe ein “bewegliches und dauerhaftes Gleichgewicht“
(Piaget 19848, S.55). Es geht nicht darum zu zeigen, daß das Individuum fähig ist, alle
anstehenden Probleme auch zu lösen. Das widerspricht der systemtheoretischen Er-
kenntnis, daß Anpassung nur in Abhängigkeit der jeweiligen Ontogenese bzw. Ko-
Ontogenese und der Selbstorganisation möglich ist und damit schließlich auch von der
Vererbung abhängt. Aber das Denken eines Erwachsenen hat nach Piaget eine Beweg-
lichkeit, Strukturdeterminiertheit, Komplexität und Ganzheit erreicht, die als Stabilität
von Strukturen erhalten bleibt und bei Piaget in der Reversibilität als der eigentlichen
Kennzeichnung des Gleichgewichts zum Ausdruck kommt341. Die Entwicklung erfolgt
341 Vgl. hierzu Piaget 1975b, S.70 und S.41: „Tatsächlich sind die Reversibilität und die Koordination nichts anderes als der Aus-
druck des endlich erlangten Gleichgewichtszustandes zwischen der Assimilation und der Akkomodation: Handlungen in reversibler
Art koordinieren heißt, gleichzeitig die Schemata an alle Transformationen akkomodieren und jede Transformation durch das Sche-
ma der damit verbundenen Handlungen an jede andere Transformation assimilieren. Die ersten Operationen bleiben allerdings
301
durch die Erhaltung der Anpassung notwendig in Richtung dieses Gleichgewichts, das
dann als ein dynamischer Zustand bezeichnet werden kann.
Der Gleichgewichtsprozeß wird damit nicht nur zur Grundlage von Entwicklung (vgl.
hierzu auch Ginsburg/Opper 19782, S.213f.), sondern er beschreibt zugleich auch das
Entwicklungsziel, das jedoch ohne Erziehung im kognitiven Bereich nicht erreicht wer-
den kann, weil der Organismus allein dazu nicht in der Lage wäre. Das Ziel von Erzie-
hung besteht somit darin, durch erzieherische strukturelle Koppelung die kognitive
Entwicklung des Kindes über die organische Entwicklung hinaus zu einer dynamischen
und dadurch gerade stabilen Strukturdeterminiertheit zu führen, die wie es im Abschnitt
über den Sinn von Erziehung bereits gesagt wurde, den Aufbau komplexer Bewußt-
seinsstrukturen, Fähigkeit zur Selektion, Anschlußfähigkeit etc. umfaßt.
Sowohl im sozialen als auch im personalen (kognitiven) System geht es um die Ent-
wicklung einer dynamischen Stabilität, die sich im sozialen System durch die Möglich-
keit von Strukturänderungen auszeichnet, im kognitiven System jedoch mit einer
strukturellen Stabilität einhergeht (die von Piaget als formale Operationen bezeichnet
werden), die gerade dadurch auf die Komplexität von Umwelt reagieren können. Ent-
wicklung des personalen Systems durch Erziehung umfaßt also Aufbau struktureller
Stabilität, die zur dynamischen Stabilität in der strukturellen Koppelung von persona-
lem System und Umwelt fähig ist.
Was aber für die Gesellschaft gelten mag, muß sich nicht auf ihre Teilsysteme beziehen.
Denn auch das Teilsystem Erziehung muß über strukturelle Stabilität verfügen. Das
heißt, es müssen Strukturen vorhanden sein, an denen sich Personen längerfristig orien-
tieren und anpassen können. Diese Strukturen müssen natürlich prinzipiell veränderbar
sein, wie zum Beispiel Gesetze, Schulreform oder man denke auch an die Rechtschreib-
reform.
Die systemtheoretische Perspektive zeigt, daß ein Gleichgewicht nicht als Zustand be-
schrieben werden kann, weil es im System/Umwelt-Verhältnis gar nicht um Zustände
geht, sondern um Prozesse, sei es in der strukturellen Koppelung oder auch bei der I-
dentitätsdarstellung von Systemen. Auch beim Aufbau kognitiver Strukturen werden
keine Zustände im eigentlichen Sinne erreicht. Neuronale Aktivität führt wieder zu neu-
ronaler Aktivität und formale Operationen lassen sich nicht in der Aktivität des Gehirns
konkret, da sie noch an effektive oder gedachte Manipulationen gebunden sind (...) Das Gleichgewicht wird also durch die Reversi-
bilität definiert, deren psychologische Bedeutung in der Möglichkeit liegt, die ausgeführten Operationen umzukehren“.
302
festmachen. Deshalb stellt sich hier auch die Frage, ob Entwicklung überhaupt gerichtet
ist.
Statt von Gleichgewicht, Fließgleichgewicht oder Äquilibration, ist es aus systemtheo-
retischer Sicht und auch in Bezug auf Erziehung und Entwicklung möglich, von struktu-
rell-dynamischer Stabilität zu sprechen. Soziale und personale Systeme verfügen über
eine strukturell-dynamische Stabilität, durch die die Aktivitäten des Systems und damit
die Einheit der System/Umwelt-Differenz immer als Prozesse und nicht als starre Zu-
stände gekennzeichnet werden. Hier noch weiter zu differenzieren, zum Beispiel wie
Büeler dies macht durch die Unterscheidung von Ultra- und Multistabilität, erscheint
überflüssig (vgl. Büeler 1994, S.128ff.).
5.8.3 Ist der Entwicklungsprozeß überhaupt gerichtet?
Diese Frage kann nicht einfach mit einem Ja oder mit einem Nein beantwortet werden.
Vielmehr gilt in Bezug auf die Entwicklung des Kindes, die hier im Mittelpunkt steht,
ein „Sowohl-als-auch“. Zunächst zeigt die biologische Perspektive, daß Systeme opera-
tional geschlossen funktionieren, also, wie bereits mehrfach gesagt, kann beispielsweise
neuronale Aktivität nur neuronale Aktivität erzeugen. Elektrischen und chemischen
Veränderungen im Nervensystem folgen wieder elektrische und chemische Verände-
rungen und so fort. Von Entwicklung kann hier nicht gesprochen werden, wohl aber
davon, daß das System seine Organisation aufrechterhält. Würde es dies nicht tun, dann
würde es sich auflösen, sterben. Nun existiert ein Teilsystem wie das Nervensystem
nicht alleine, sondern es ist im Organismus eingebunden, interagiert durch strukturelle
Koppelung ständig mit anderen Systemen. Damit es in dieser Komplexität seine Orga-
nisation aufrechterhalten kann, wird die Erhaltung der Anpassung ebenso grundlegend
für das Funktionieren eines Systems342. Systeminterne Strukturveränderungen erfolgen
also in Abhängigkeit der Erhaltung der Anpassung. Diese ist im Gegensatz zur Erhal-
tung der Organisation relativ, weil sie von der systemeigenen Umwelt abhängt und da-
mit von dem Kontext in dem sie geschieht (vgl. Maturana 1983, S.63). Wenn man also
Veränderungen im Organismus als System als Entwicklung bezeichnet, dann muß dies
in Hinblick auf die Umwelt und die strukturelle Koppelung zwischen System und Um-
342 Maturana faßt dies so zusammen: „ ... auf der einen Seite führen alle Veränderungen zu demselben Resultat, d.h. zu Veränderun-
gen des Bereichs möglicher Zustände des Nervensystems; auf der anderen ist das Nervensystem mit dem Organismus sowohl in
seinem Interaktionsbereich als auch in seinem Bereich interner Transformation verbunden“ (Maturana 19852, S.230).
303
welt geschehen. Entwicklung ist dann gerichtet auf die Erhaltung der Organisation und
die der Anpassung. In Folge der strukturellen Koppelung zwischen System und Umwelt
erzeugt das System intern eine strukturell-dynamische Stabilität, die sich je nach Inter-
aktion mit der Umwelt wieder verändern und aus der Sicht der Umwelt als Entwicklung
bezeichnet werden kann343. Mit Hilfe des Begriffs „Entwicklung“ bestimmt der Beob-
achter den Grad der Angepaßtheit eines Systems an dessen Umwelt.
Ein Blick zurück in die pädagogische Theoriebildung zeigt, daß Entwicklung als Beob-
achterkategorie und als Verknüpfung von biologischen, psychischen und sozialen Kop-
pelungen und damit auch als eine Form der Anpassung in dieser Deutlichkeit bisher
nicht gesehen wurde. So wird zum Beispiel bei Montessori die Entwicklung des Kindes
durch den inneren Bauplan gesteuert. Sie ist etwas, das im Kind festgelegt ist, weshalb
Erziehung letztlich zur Selbsterziehung wird. Aus systemtheoretischer Sicht werden
hier die person-internen strukturellen Koppelungen betont, die systeminterne operatio-
nale Geschlossenheit und die Selbstanpassung als Voraussetzung für Entwicklung. Die
damit einhergehenden gleichzeitigen strukturellen Koppelungen zwischen System und
Umwelt, also zwischen der Person und seiner spezifischen Umwelt und damit die Kop-
pelungen zwischen psychischen und sozialen Strukturen als weiteren Faktor für die
Entwicklung wird von Montessori nicht in dem notwendigen Maß beachtet. Ihrer Auf-
fassung nach ist das soziale Element dazu da, interne Strukturen und Entwicklungen nur
sichtbar zu machen. Der Entwicklungsprozeß ist nach Montessori gerichtet durch die
personinterne Organisation. Die Systemtheorie macht demgegenüber deutlich, daß die
Organisation eines personalen Systems auf Erhaltung gerichtet ist, von Entwicklung
hingegen erst gesprochen werden kann, wenn die vielfältigen Koppelungen zwischen
System und Umwelt sichtbar und bewertbar sind.
Bei Bruner wird bereits das Verhältnis von inneren Kräften und äußeren Gegebenheiten
gesehen und damit, wenn auch nicht systemtheoretisch erklärt, psychische und soziale
Koppelungen als Entwicklungsfaktoren verstanden. Bruner sieht aber noch nicht die
operationale Geschlossenheit von Systemen und nimmt deshalb an, daß der Ent-
wicklungsprozeß durch Lernprozesse von außen vollständig steuerbar ist. Entwicklung
343 Vgl. Maturana 19852, S.231: „Es ist eine Eigentümlichkeit dieser Zustände, daß sie Zustände bilden, in die andere Zustände im
Prozeß der Erzeugung der Autopoiese des Organismus eingebettet werden können. Ihre Differenzierung liegt daher im Bereich der
Beobachtung, denn sie sind Teil der Dynamik des von Zustand zu Zustand operierenden Nervensystems, während sie im Bereich der
Beobachtung unabhängige phänomenale Dimensionen darstellen“.
304
ist nach Bruner durch die Lernprozesse und in bezug auf diese gerichtet. Die System-
theorie zeigt demgegenüber, daß die biologischen Koppelungen mehr sind als nur eine
Voraussetzung von Entwicklung, daß sie mit dem psychischen und dem sozialen Sys-
tem ständig verkoppelt sind und gleichzeitig operativ geschlossen arbeiten. Entwick-
lung ist nicht der Person inhärent oder etwas, was von außen auf die Person übertragen
werden kann. Entwicklung ist gerichtet durch die Koppelungen zwischen person-
internen und -externen Strukturen. Und sie wird auch nur in Koppelungen, zum Beispiel
in der Kommunikation, deutlich.
Auch Roth geht davon aus, daß die Entwicklung zunehmend von äußeren Faktoren ab-
hängig ist, die durch Erziehung für die Entwicklung dominant werden. Er trennt damit,
wie auch Bruner und Montessori, systeminterne Strukturen von systemexternen. Die
biologischen Faktoren bilden stets eine Voraussetzungen für die Entwicklung. So
kommt Roth zu folgender Aussage: „Das Hauptproblem ist immer noch das älteste: das
Verhältnis nämlich der biophysischen und biopsychischen Bedingungsfaktoren der
Entwicklung einerseits zu den kulturell-geistigen Entwicklungsmöglichkeiten des Men-
schen andererseits“ (Roth 1971, S.81). Roth erkennt nicht deutlich, daß es sich hierbei
um eine Einheit handelt, weil die verschiedenen Systemebenen untereinander verkop-
pelt sind und der Begriff der Anpassung im Sinne Piagets wird durch die Dominanz von
Assimilation nicht weiter beachtet. Aus systemtheoretischer Sicht ist das Problem der
Unterscheidung zwischen Bedingungsfaktoren und Entwicklungsmöglichkeiten ein
Problem eines Beobachters und kein Problem der Funktionsweise des Organismus. Das
personale System entwickelt sich, weil es seine Organisation aufrechterhalten will und
sich dafür der Umwelt im Sinne der Einheit der System/Umwelt-Differenz anpaßt. Oder
ganz einfach formuliert: Das Kind entwickelt sich nicht, weil es einem „inneren Bau-
plan“ folgt oder weil es Lernprozesse durchläuft, sondern weil es lebt!
Auch aus evolutionärer Sicht gibt es keinen „Fortschritt im Sinne einer Optimierung der
Nutzung der Umwelt, sondern nur die Erhaltung der Anpassung und der Autopoiese in
einem Prozeß, in dem Organismus und Umwelt in dauernder Strukturkoppelung blei-
ben“ (Maturana/Varela 19872, S.127). Alles Geschehen ergibt sich aus systemtheoreti-
scher Sicht durch die Verkettung von Prozessen in Form der strukturellen Koppelung
(vgl. Maturana 19852, S.215). Das gilt für die Entwicklung des Kindes und für die Er-
ziehung als soziales System.
305
Der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung geht aber über biologische und
physikalische Systeme hinaus und umfaßt gerade psychische und soziale Systeme, ist
also durch hohe Komplexität gekennzeichnet. Diese Systeme sind jeweils selbst kom-
plex und systemtheoretisch geht es nun nicht mehr um die Anpassung zwischen einer
Einheit und ihrer Umwelt, sondern die komplexe Einheit muß sich auch an sich selbst
anpassen344, was durch den Begriff der Selbstanpassung eingangs schon erwähnt wurde.
Für die Erziehung bedeutet das konkret, daß das Kind sich selbst kennenlernen muß, in
dem Sinne, daß es sich selbst einschätzen lernt, mit seiner eigenen Person zufrieden ist
und zu sich selbst steht, also selbstbewußt ist. Der Entwicklungsprozeß des Kindes im
Verlauf seiner Ontogenese umfaßt Anpassung an sein Selbst (in Abhängigkeit der inter-
nen Strukturdeterminiertheit vom psychischen und biologischen System) und gleichzei-
tig Anpassung an die Erziehung bzw. den Erzieher. Die Entwicklung des Kindes erfolgt
in der strukturellen Koppelung zwischen systeminternen und systemexternen Prozessen
im konsensuellen Bereich. Der konsensuelle Bereich ist nun als System ebenfalls ge-
schlossen und erlangt damit Eigenständigkeit. Durch die Art und Weise der Koppelung
des Kindes als personales System an diesen konsensuellen Bereich kann der Beobachter
und Erzieher den Stand der Entwicklung feststellen. Der konsensuelle Bereich und da-
mit die Sprache und die Kommunikation bestimmen letztlich den Grad der Entwicklung
des Kindes. Kurz gesagt: Entwicklung wird durch Erziehung gerichtet. In der erzieheri-
schen strukturellen Koppelung zwischen Kind und Erziehung und damit im konsen-
suellen erzieherischen Bereich wird die Selbstanpassung des Kindes, seine Anpassung
an den Erzieher und dessen Anforderungen sowie die strukturell-dynamische Stabilität
der Entwicklung des Kindes deutlich.
Das gilt für alle erzieherischen Bereiche. Zum Beispiel wird in dem Moment, wo das
Kind mit der Mutter turnt oder es der Mutter zeigt, wie gut es schon mit seinen Inline-
Skates fahren kann, der Grad seiner körperlichen Entwicklung deutlich. Nur im Prozeß
der Bewegung kann die Mutter Fortschritte oder Defizite feststellen, die sich durch den
konsensuellen Bereich über Bewegung ergeben. Und auch nur, wenn das Kind z.B. sei-
344 „Komplexe Systeme müssen sich nicht nur an ihre Umwelt, sie müssen sich auch an ihre eigene Komplexität anpassen. Sie
müssen mit internen Unwahrscheinlichkeiten und Unzulänglichkeiten zurechtkommen (...) Komplexe Systeme sind mithin zur
Selbstanpassung gezwungen, und zwar in dem Doppelsinne einer eigenen Anpassung an die eigene Komplexität“ (Luhmann 1987,
S.56).
306
ne Lösung einer Aufgabe dem Lehrer erklärt, kann dieser in der Kommunikation erken-
nen, wo das Kind noch Probleme hat.
Wenn die Erziehung die Entwicklung des Kindes bestimmt, dann ergeben sich daraus
zwei Fragen, nämlich einmal in Hinblick auf das Ziel, also auf welches Erziehungsziel
hin Entwicklung aus systemtheoretischer Sicht gerichtet ist bzw. wird und dann auch in
Bezug auf die Durchführung, also wie die Erziehung Einfluß auf die Entwicklung aus-
üben kann. Danach soll im folgenden Abschnitt gefragt werden. Auf Erziehungsziele
wurde bereits mehrfach hingewiesen. Zum einen ergeben sich Erziehungsziele aus der
Organisation und Struktur von Systemen, wodurch Selbstreferenz, Reflexivität etc. be-
tont wird. Zum anderen ergeben sich die Ziele durch den Sinn von Erziehung und damit
durch die Komplexität des konsensuellen Bereiches von Erziehung, wodurch sich Ziele
wie Selbständigkeit, Eigenverantwortung etc. ergeben. Zum Abschluß dieses Abschnitts
wird noch einmal präzisiert, daß Erziehung auf die personinterne, strukturell-
dynamische Stabilität von Strukturen zu richten ist, was auf Individualität in der Erzie-
hung hinweist und damit wiederum auf Vielschichtigkeit des sozialen Systems Erzie-
hung. In der Erziehung geht es um den Einfluß auf personinterne und damit zunächst
unsichtbare Strukturen, die personextern, also im konsensuellen Bereich sichtbar ge-
macht, erfaßt, bewertet und in diesem Bereich auch nur verändert werden können.
307
5.9 Steuerung von Entwicklung durch Erziehung
Eine wesentliche Frage, die sich aus der bisherigen Analyse von Erziehung als System
ergibt, ist, nicht zuletzt auch in Hinblick auf die vielfältigen Erziehungsprobleme, die
nach der Steuerung von Entwicklung. Zunächst müssen hierfür die unterschiedlichen
Systemebenen erneut betrachtet werden, denn Steuerung von Erziehung meint nicht nur
die Einflußnahme des Erziehers auf das Kind, sondern sie umfaßt ebenso die Steuerung
einer Erziehungssituation und die Steuerung des Systems Erziehung, zum Beispiel
durch das politische System. Wenn also die Steuerung oder Steuerbarkeit eines Systems
im allgemeinen beschrieben werden kann, dann gilt dies auch für die ausdifferenzierten
Teilsysteme, bis hin zu Teilsystemen des Organismus, wie das biologische oder das
psychische System. Dabei wird im Folgenden von der Steuerung biologischer Systeme
ausgegangen, dann die soziale Ebene betrachtet und schließlich sind neuere allgemeine
steuerungstheoretische Überlegungen aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich in Hin-
blick auf ihre Bedeutung für die Erziehung hin zu überprüfen.
5.9.1 Erziehung löst Entwicklungsprozesse aus
Da strukturdeterminierte Systeme operativ geschlossen sind, können Zustandsverände-
rungen im System durch die Umwelt des Systems „nur“ ausgelöst, nicht aber vorherbe-
stimmt oder genau festgelegt werden (vgl. Maturana 19852, S.242), weshalb die Arbeit
des Erziehers auch als Auslöseereignis bezeichnet wurde (siehe Kap. 5.6.3). Die Struk-
tur des Systems bestimmt also selber, was aus der Umwelt in sie aufgenommen wird,
d.h. sie legt den Bereich der Beeinflußbarkeit fest (vgl. Maturana ebd., S.243). Gibt es
genügend Kenntnis über den Bereich der Beeinflußbarkeit des Systems, dann kann man
entsprechend und mit Erfolg auf dieses einwirken (man denke zum Beispiel an die Ein-
nahme von Medikamenten bei Krankheit). Steuerung von Systemen ist also prinzipiell
möglich. Maturana drückt das so aus: „Wenn die Struktur des Mediums, die dem Be-
reich der Beeinflußbarkeit des strukturdeterminierten Systems entspricht, redundant
oder rekurrent ist, dann unterliegt das strukturdeterminierte System rekurrenten Einwir-
kungen“ (Maturana ebd., S.244)345. Wie die zusätzliche Anmerkung zeigt, ist der
345 Für den neurophysiologischen Bereich bedeutet dies: „Da Neuronen (...) außer ihrer Mitwirkung an dem geschlossenen neurona-
len Netzwerk des Nervensystems auch Eigenschaften besitzen, die allen Zellen gemeinsam sind, können sie chemisch oder physika-
lisch durch die Produkte anderer Zellen des Organismus beeinflußt werden, ob diese zum Nervensystem oder zum Medium gehören
308
menschliche Organismus beeinflußbar genau dann, wenn die Strukturen der Umwelt die
Strukturen des Organismus „ansprechen“, und dies geschieht nur, weil der Organismus
über Strukturen verfügt, die auch in seiner Umwelt vorkommen. Personale Systeme
können gegenseitig aufeinander einwirken, weil sie über ähnliche Strukturen verfügen.
In Hinblick auf die unterschiedlichen Ebenen von Erziehung (siehe Kap. 5.3.2) zeigt
sich für die personale Ebene, daß der Erzieher die Entwicklung des Kindes beeinflussen
und damit steuern kann, erstens weil Erzieher und Kind ähnlich strukturdeterminierte
Systeme sind (sie verfügen beide über eine Nervensystem mit gleichen Funktionen,
benutzen die gleiche Sprache etc.), zweitens gelingt dies mit Erfolg, wenn der Erzieher
den Bereich festlegen kann, in dem er auf das Kind einwirkt. Das wiederum bedeutet,
daß er das Kind gut kennen muß, dessen Fähigkeiten genauso einschätzen muß, wie
zum Beispiel dessen Tageskonstitution u.ä. und dann gelingt eine Steuerung umso eher,
wenn verschiedene Interaktions- oder Lernangebote vorliegen, die sich in jeweils unter-
schiedlicher Weise z.B. auf die kognitiven Strukturen des Kindes beziehen, aus denen
das Kind dann selbständig auswählen kann.
Das hört sich zunächst sehr kompliziert und aufwendig an. Die Komplexität von Steue-
rung in der Erziehung wird aber durch die strukturelle Koppelung zwischen Erzieher
und Kind reduziert. Denn in der Interaktion zwischen Erzieher und Kind bekommt der
Erzieher auch eine Rückmeldung vom Kind über seine Steuerung, an der er seine
Handlungen ausrichten kann. Steuerung ist deshalb nicht einseitig zu verstehen: durch
die strukturelle Koppelung kommt es zur gegenseitigen Steuerung (Steuerbarkeit) zwi-
schen Erzieher und Kind. Diese gegenseitige Steuerung wird in der Erziehung aller-
dings oft im negativen Sinn gesehen, wenn der Erzieher meint, das Kind „mache mit
ihm, was es wolle“. Auch das von Eltern festgestellte tyrannische Verhalten von Kin-
dern ihnen gegenüber, läßt sich so deuten, daß das Kind den Bereich der Beeinflußbar-
keit der Eltern, wenn auch intuitiv, viel eher trifft, als dies umgekehrt der Fall ist.
Steuerung findet im Phänomenbereich der Kommunikation statt, so wie sich auch die
erzieherische Koppelung zwischen Erzieher und Kind in der Kommunikation manifes-
tiert. Durch ein Netzwerk von Kommunikationen erfolgt also die Steuerung und damit
oder nicht. Diese Einwirkungen, die in operationaler Hinsicht orthogonal zum Bereich der Relationen neuronaler Aktivität, in dem
das Nervensystem operiert, verlaufen, können in den Neuronen Strukturveränderungen auslösen, die zu Strukturveränderungen
zweiter Ordnung im Nervensystem und so zu Veränderungen seines Zustandsbereichs führen, die wiederum (für den Beobachter)
Verhaltensänderungen bewirken“ (Maturana 19852, S. 253).
309
die erzieherische Handlung (vgl. Kap. 5.4). Da von einer erzieherischen Kommunikati-
on nur dann zu sprechen ist, wenn Erzieher und Kind gleichermaßen an ihr beteiligt
sind, ergibt sich die Steuerung von Erziehung durch gemeinsames Operieren von Kind
und Erzieher. Auch die (erfolgreiche) erzieherische Handlung kann nur durch Gemein-
samkeit entstehen346.
Auf der sozialen Ebene hat das System Erziehung die Aufgabe, die Entwicklung des
Kindes zu steuern. Da das System Erziehung nun nicht den je spezifischen Beeinfluß-
barkeitsbereich potentiell zu erziehender Kinder im einzelnen festlegen kann, müssen
auf dieser Ebene nicht individuelle, sondern allgemeine, weniger ausdifferenzierte Ent-
wicklungsfaktoren dazu dienen, Aussagen über eine mögliche Steuerung von Entwick-
lung zu machen. Das Problem, was sich hieraus ergibt, ist die Frage nach der Intensivi-
tät der strukturellen Koppelung zwischen personaler und sozialer Ebene, die die Frage
nach Steuerungsmöglichkeiten durch entsprechende Rückmeldungen erleichtert. Und
gleiches gilt auch für das Verhältnis des sozialen Systems Erziehung zu anderen Teil-
systemen der Gesellschaft, wie dem politischen oder dem wirtschaftlichen System. Eine
Steuerung ist dann am erfolgreichsten, wenn die strukturelle Koppelung zwischen den
Systemen (bzw. zwischen dem System, das steuert und dem, das gesteuert werden soll)
eng ist. Eine enge strukturelle Koppelung liegt wenigstens dann vor, wenn regelmäßiger
Informationsaustausch und hinreichende Interaktionen zwischen den Systemen beste-
hen. Darauf wir im letzten Abschnitt genauer Bezug genommen, wenn es auch um die
Art von Steuerungsaufgaben im einzelnen geht.
Es wurde zu Beginn gesagt, daß die Erziehung Entwicklungsprozesse lediglich auslösen
kann. Trifft die Erziehung jedoch genau den Bereich der Beeinflußbarkeit beim Kind,
dann können so Strukturveränderungen ausgelöst werden, die zu gewünschten Zu-
standsänderungen im personalen System und das heißt zu gewünschten Verhaltensände-
rungen oder kognitiven Fähigkeiten etc. führen. Ist dies gelungen, hat zum Beispiel das
Kind eine Aufgabe verstanden und kann diese selbständig durchführen, sei es nun im
Bereich der Mathematik oder wenn es um das Binden einer Schleife geht, dann hat die
346 „Auf der Basis des Grundgeschehens Kommunikation und mit ihren operativen Mitteln konstituiert sich ein soziales System
demnach als Handlungssystem. Es fertigt in sich selbst eine Beschreibung von sich selbst an, um den Fortgang der Prozesse, die
Reproduktion des Systems zu steuern. Für Zwecke der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung wird die Symmetrie der Kommu-
nikation asymmetrisiert, wird ihre offene Anregbarkeit durch Verantwortlichkeit für Folgen reduziert. Und in dieser verkürzten,
vereinfachten, dadurch leichter faßlichen Selbstbeschreibung dient Handlung, nicht Kommunikation, als Letztelement. Handlungen
werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert“ (Luhmann 1987, S.227-228).
310
Steuerung von Entwicklung eine neue Ausgangsebene erreicht, eine Ebene, die eine
weitere Steuerung insofern erleichtert, als das Kind mit seinen Fähigkeiten der ge-
wünschten oder intendierten Strukturdeterminiertheit zunehmend näher kommt. Dann
ist die Koppelung zwischen Erzieher und Kind leichter, enger und in Hinblick auf eine
Steuerung erfolgversprechender. Dadurch erhält der frühkindlichen Erziehung einen
besonderen Stellenwert in der Erziehung, denn hier liegen die Grundlagen für Struktu-
ren und Strukturveränderungen, die für die spätere, insbesondere die institutionalisierte
Erziehung wesentlich werden. Damit bleibt vor allem bei den Eltern als Erzieher ein
großer Teil der Verantwortung für die Erziehung.
5.9.2 Grenzen der Steuerbarkeit von Systemen
So kann man zu dem Schluß kommen: wenn Erziehungsprozesse nur ganz durchdacht
und sehr gut geplant werden, dann scheint es, so meint Roth, keine Grenzen von Steu-
erbarkeit in der Erziehung zu geben. Das Kind ist in allen Persönlichkeitsbereichen
steuerbar. Dabei wird aber Folgendes übersehen: „Steuerung ist möglich. Die Frage ist
nur, wo ihre Grenzen liegen. Die Begrenzung liegt in der beherrschbaren Komplexität“
(Krause 1996, S.158). Die Komplexität der Einheit der System/Umwelt-Differenz be-
grenzt die Steuerbarkeit von Systemen. Und das gilt auf jeder Systemebene.
Auf der sozialen Ebene wird das System Erziehung von internen Einflüssen (organi-
sierte und teilweise institutionalisierte Ausdifferenzierung von Erziehung) genauso
beeinflußt, wie von verschiedenen anderen Teilsysteme der Gesellschaft (Politik, Wirt-
schaft, Kirche, Medizin, Wissenschaft, Recht). Daß ein System nicht gezielt von einem
anderen System gesteuert werden kann, erscheint somit selbstverständlich. Die Steuer-
barkeit gelangt dann an ihre Grenze, wenn durch die Vielfalt von Steuerung die Zustän-
de des Systems so komplex sind, daß der Bereich der Beeinflußbarkeit nicht mehr si-
cher getroffen werden kann oder bereits von anderen Steuerungsgrößen (Systemen)
„besetzt“ ist.
Auf der personalen Ebene sieht das auf den ersten Blick nicht anders aus, denn die Ent-
wicklung des Kindes wird nicht nur durch einen Erzieher, sondern durch mehrere
beeinflußt (wie zum Beispiel durch beide Elternteile, durch verschiedene Lehrer), dann
natürlich aber auch durch die Koppelungen, die außerhalb von Erziehung stattfinden,
die personeller Natur (Familie, peer-group) oder dinglicher Natur (Computer, Zeit-
schriften, Musik) sein können. Steuerung durch einen einzelnen Erzieher bleibt somit
311
immer begrenzt. Die Grenze der Steuerung ergibt sich schließlich zwischen personalen
Systemen auch durch die operationale Ebene, auf der die Systeme miteinander umge-
hen. Eine Steuerung von Entwicklung wird vorwiegend im operativen Bereich der
Kommunikation erfolgen. Inwieweit dieser Bereich den Bereich systeminterner, neuro-
physiologischer Vorgänge beeinflußt, kann (noch) nicht ganz genau festgestellt werden.
Die autopoietische Organisation bzw. die Selbstorganisation des Menschen und die da-
mit verbundene Autonomie widerspricht der vollständigen Steuerung der Person.
Die Grenzen der Steuerbarkeit der Entwicklung des Kindes durch Erziehung ergeben
sich somit insgesamt a) durch die autopoietische Organisation des Organismus, b) durch
die damit verbundene operative Geschlossenheit von Systemen (wie dem psychischen,
dem biologischen oder auch dem kommunikativen), c) durch den Bereich der
Beeinflußbarkeit von Systemen und d) durch die vielfältigen strukturellen Koppelun-
gen, die ein Kind eingeht. Die Steuerung von Systemen ist schließlich deshalb so kom-
plex, weil Systeme selbst durch Komplexität gekennzeichnet sind.
5.9.3 Erfolgt Steuerung durch Irritation, Perturbation oder Störung desSystems?
Wenn nun ein System (ein soziales, ein personales oder auch das psychische System)
operativ geschlossen ist, dann stellt sich die Frage, in welcher Form Steuerung dann für
die Einheit eines Systems zum Ausdruck kommt. In der Systemtheorie wird die Ansicht
vertreten, daß es sich um eine Störung des Systems (Piaget), eine Perturbation (Matura-
na) bzw. eine Irritation (Luhmann) handelt, die Zustandsveränderungen im System
auslösen kann.
Der Begriff der Perturbation von Maturana/Varela (19872), wird heute oft mit Störung
übersetzt, nicht zuletzt in Anlehnung an Piagets Begriff der Störung (siehe nächsten
Abschnitt und vgl. u.a. Siebert 1999, S.124). Luhmann (1997) spricht von Irritation.
Perturbation meint, daß „Zustandsveränderungen in der Struktur des Systems (...) von
Zuständen in dessen Umfeld ausgelöst (d.h. nicht verursacht) werden“ (Matura-
na/Varela 19872, S.27 Anmerkung). Eine Störung des Systems, zumal im negativen
Sinne, ist hiermit nicht verbunden. Der Begriff der Irritation soll diese negative Sicht-
weise vielleicht etwas mildern. Zumindest wird von Luhmann präzisiert, daß sich zum
einen die Irritation „nicht auf das System/Umwelt-Verhältnis bezieht, sondern auf Sys-
tem-zu-System-Beziehungen“, was auch der Grund dafür ist, daß „sich die in der Ge-
312
sellschaft wahrnehmbaren Irritationen mit den Formen der Systemdifferenzierung än-
dern“ (Luhmann 1997, S.791). Das bedeutet, daß ein System nicht von seiner Umwelt
insgesamt irritiert werden kann, sondern daß dies, nämlich im Bereich der strukturellen
Koppelung zwischen Systemen, vielmehr punktuell geschieht. Zum anderen bezieht
sich eine Irritation immer auf den Zustand eines Systems. Die Irritation hat keine Ent-
sprechung in der Umwelt des Systems. Das heißt, ein System „empfindet“ eine Verän-
derung in seiner Umwelt, die dort durch ein anderes System ausgelöst wurde, als Irrita-
tion seiner Eigenkomplexität. Die Irritation liegt also nicht in der Umwelt des in Frage
stehenden Systems vor, sondern gilt nur für das System, weshalb Luhmann auch von
Selbstirritation spricht347. Deshalb werden Veränderungen in der Umwelt von jedem
System anders aufgenommen bzw. auch gar nicht als solche bemerkt. Es macht somit
auch wenig Sinn, das Kind, so wie es Krappmann vorgeschlagen hat, gezielt mit diskre-
panten Erwartungen zu konfrontieren, für die aus systemtheoretischer Sicht das gleiche
gilt wie für Irritationen (vgl. Kap. 5.5.5). Diskrepante Erwartung gibt es aus der Sicht
desjenigen, der Erwartungen als diskrepant auffaßt!
Für die Erziehung und die Erziehungswissenschaft sind die Begriffe m.E. problema-
tisch, weil der Begriff der Perturbation zu wenig bekannt ist und deshalb oft mit Stö-
rung gleichgesetzt wird und weil auch „Irritation“ einen negativen Beiklang hat. Was
soll hier in Hinblick auf Erziehung zum Ausdruck kommen? Es geht schließlich um die
Auslösung von Entwicklungsprozessen. Aber in Anlehnung an Luhmann ist dies nur
möglich, wenn zwei Systeme miteinander strukturell verkoppelt sind. Dies spricht wie-
der für die enge Verbindung zwischen Erzieher und Kind (vgl. auch die Koppelungs-
formen in der Erziehung in Kap.5.6.4). Nicht die Umwelt des Kindes löst insgesamt
Entwicklungsprozesse aus, nicht die Nachbarin, die sich mit der Mutter unterhält, wäh-
rend das Kind spielt oder das Gespräch zwischen Rektor und Klassenlehrerin auf dem
Schulhof, an denen das Kind gerade vorbeikommt etc. Es bedarf der Aufmerksamkeit
und der Konzentration des Kindes, wie dies Montessori schon gesehen hat. Erst wenn
das Kind den Gesprächen zuhört oder aktiv daran teilnimmt, indem es auch Verständ-
347 „Somit gibt es in der Umwelt des Systems keine Irritation, und es gibt auch keinen Transfer von Irritation aus der Umwelt in das
System. Es handelt sich immer um ein systemeigenes Produkt, immer um Selbstirritation - freilich aus Anlaß von Umwelteinwir-
kungen. Das System hat dann die Möglichkeit, die Ursache der Irritation in sich selbst zu finden und daraufhin zu lernen oder die
Irritation der Umwelt zuzurechnen und sie daraufhin als ‘Zufall’ zu behandeln oder ihre Quelle in der Umwelt zu suchen und auszu-
nutzen oder auszuschalten“ (Luhmann 1997, S.118-119).
313
nisfragen etc. stellen kann und beantwortet bekommt, nur wenn eben eine Koppelung
zwischen Personen entsteht, dann können Strukturveränderungen ausgelöst werden.
Erziehung will und sollte nicht stören, sie will und sollte Entwicklungsprozesse im po-
sitiven Sinne verstanden in Gang setzen. Im positiven Sinne meint hier, daß die Ent-
wicklungsstufe und die Entwicklungsfähigkeit berücksichtigt wird, wobei die Kenntnis
über die Entwicklungsstufe des Kindes den Bereich der Steuerbarkeit von Entwicklung
durch Erziehung markiert. Dazu gehört, daß Erziehung Anschlußfähigkeit zur Ent-
wicklung herstellt, neugierig macht und motiviert. Das hat mit Störung (im negativen
Sinne gemeint) wenig zu tun. Es reicht m.E. aus festzustellen, daß Steuerung durch eine
intensive strukturelle Koppelung erfolgt, die den Bereich der Beeinflußbarkeit auf Sei-
ten desjenigen trifft, der gesteuert werden soll bzw. der gesteuert werden möchte und
deshalb Koppelungen selbstständig sucht. Eine erzieherische Steuerung, also eine Steu-
erung, die den Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung herstellt, erfolgt durch
erzieherische Koppelungen, genauer in der erzieherischen Kommunikation.
Man denke als Beispiel an Kleinkinder oder Kinder im Grundschulalter, die gerne Fra-
gen Stellen, Antworten verlangen und sich selbst freiwillig Aufgaben stellen oder um
Lernangebote bitten, wenn ein Kind z.B. wissen möchte, wie sein Name geschrieben
wird oder wie etwas gerechnet wird, das Lesen der Uhr erklärt haben möchte oder auch
wie es sich gegenüber einem anderen Kindergartenkind oder Klassenkameraden ver-
halten soll etc. Wenn in solchen Fällen gelehrt, erklärt, geschrieben oder gebastelt wird,
dann wird das Kind in seiner Einheit nicht gestört, es werden vielmehr durch die struk-
turelle erzieherische Koppelung zwischen Erzieher und Kind Strukturveränderungen
ausgelöst, die eventuell zu Zustandsveränderungen und damit zu Verhaltensänderungen
beim Kind führen. In diesem Sinne kann dann auch von erzieherischer Steuerung ge-
sprochen werden. Diese vom Kind selbst initiierten Zustandsveränderungen können
deshalb so gut gesteuert werden, weil sie dem Bereich der Beeinflußbarkeit des Kindes
in der momentanen Situation genau entsprechen (vgl. auch das Beispiel bei Siebert
1999, S.124). In der Erziehung ist es deswegen so wichtig, das Interesse des Kindes an
einer Sache zu gewinnen, weil es dann eher die Bereitschaft hat, sich steuern zu lassen.
Erziehung ist Auslösung und Steuerung von Entwicklungsprozessen unter Berücksich-
tigung der systeminternen Bereiche, die entwicklungsfähig und -bedürftig sind. Die
Bereiche der Beeinflußbarkeit ergeben sich durch die Organisation und die Struktur
personaler Systeme und liegen im biologischen, psychischen und sozialen Bereich (so
314
wird durch gezielten Sport der Organismus und damit das biologische System
beeinflußt, durch kognitive Lernprozesse kann das psychische System gesteuert werden
und schließlich wird durch kognitive und soziale Operationen das soziale System ge-
steuert). Insofern stimmt Roths Annahme, daß Erziehung in allen Persönlichkeitsberei-
chen möglich ist.
5.9.4 Erziehung stört Gleichgewichte und reguliert Ungleichgewichte vonEntwicklungsprozessen
Für Piaget war der Begriff der Störung, als Störung des dynamischen Gleichgewichts
kognitiver Prozesse, nicht zwangsläufig negativ besetzt. Es lassen sich nach seinem
Ansatz zwei Arten von Störungen unterscheiden, zum einen diejenigen, die sich der
Akkomodation entgegenstellen, wie zum Beispiel Irrtümer, denen sich die Person be-
wußt ist, zum anderen Lücken, die Bedürfnisse unbefriedigt lassen, wie zum Beispiel
eine fehlende Kenntnis. „Definiert man eine Störung als das, was einer Assimilation
entgegensteht, zum Beispiel dem Erreichen eines Zieles, so sind alle Regulierungen,
vom Subjekt her gesehen, Reaktionen auf Störungen“ (Piaget 1976, S.26). Grundlegen-
de These ist hier, daß sich das Subjekt in einem dynamischen Gleichgewicht befindet,
das bei Störungen durch Regulierungen wieder hergestellt wird (vgl. den Abschnitt über
Piaget). Zum anderen tendiert das (kognitive) System in der Entwicklung stets zu einem
besseren Gleichgewicht, weil das System aktiv auf die Umwelt einwirkt, diese aktiv
transformiert, nicht einfach kopiert und weil die Assimilation die Tendenz hat, sich aus-
zuweiten (vgl. Piaget 1975c, S.108-110).
Für die personale Ebene im System Erziehung sollte dies implizieren, daß der Erzieher,
indem er das Gleichgewicht z.B. des kognitiven System des Kindes stört (durch Fragen,
Aufgaben oder eine Erzählung), gleichzeitig die Aufgabe übernimmt bei der Regulie-
rung des so entstandenen Ungleichgewichts zu helfen, zugunsten eines neuen, „besse-
ren“ Gleichgewichts, was einem Entwicklungsfortschritt gleichkommt. Steuerung von
Entwicklung sollte nicht nur Auslösung von Ungleichgewichten, sondern auch Hilfe bei
Regulierungen sein, sofern dies a) notwendig ist (nicht jedes Kind ist auf diese Hilfe
angewiesen) und b) überhaupt möglich ist, da die Grenze der Steuerung in der Selbstor-
ganisation des Kindes liegt348.
348 „Es ist somit kein Zirkelschluß (genauer: es ist zwar ein Zirkel, aber kein circulus vitiosus), wenn man annimmt, die Ganzheit
eines Systems spiele den Teilregulierungen gegenüber die Rolle des Regulartors, denn sie auferlegt diesen eine äußerst zwingende
315
Die auf der kognitiven Ebene vom Kind selbständig durchgeführten Regulierungen
können nach Piaget erstens in der Erhaltung des Gleichgewichts bestehen, indem dies
aufgrund einer Störung verstärkt oder nur leicht korrigiert wird, zweitens kann sich das
kognitive System durch Relationen zwischen Schemata oder Systemen von Schemata
den veränderten Umweltgegebenheiten anpassen (Schemata i.S. von „Untersystemen
der Gesamtmenge von Aktions- oder Denkwerkzeugen, über die das Subjekt auf einer
Stufe verfügt“) und drittens können durch aktive Regulierungen unter Verwendung von
verschiedenen Mitteln, die auch kognitiver Art sein können, Ungleichgewichte behoben
werden. Dabei entspricht die dritte Form von Regulierung nach Piaget im engeren Sinne
der Selbstregulation, weil sie am ehesten zu dauerhaften Zustandsveränderung im Sys-
tem und damit zur veränderten fortgesetzten Selbstorganisation führt (siehe Piaget
1976, S.28).
Genau diese Formen von Regulierungen kann aber auch der Erzieher einsetzen, um dem
Kind in seiner Entwicklung zu helfen: Er kann durch Bestätigung und Wiederholungen
u.ä. Gleichgewichte im kognitiven System des Kindes verstärken und auch, wenn es
notwendig ist, Störungen bzw. strukturelle Koppelungen verhindern, was z.B. durch die
Auswahl von Erziehungsmitteln erfolgt. Der Erzieher kann durch Erklärungen, manu-
elle Hilfen, Verbesserungsvorschläge etc. zum Verständnis einer neuen Aufgabe und
deren Lösung beitragen und so die Anpassung an veränderte Umweltgegebenheiten
erleichtern und schließlich durch das Anzeigen von Mitteln (die ganz unterschiedlicher
Art sein können und über den Einsatz von Formeln, der Benutzung eines Gegenstandes
oder dem Einsatz des Internets etc.) die Selbstregulation des Kindes anregen. Dies alles
geschieht in der Erziehung aber nicht, indem der Erzieher im negativen Sinne das Kind
in seiner Entwicklung stört, sondern durch eine intensive erzieherische Koppelung die
Entwicklung anregt. Und schließlich wird der Erziehungsprozeß erleichtert, wenn der
Bereich der Beeinflußbarkeit des Kindes einer Lücke im Sinne Piagets entspricht, die
das Kind selbst aufheben möchte.
Im Laufe der Entwicklung, die mit einer Zunahme von Komplexität und Differenziert-
heit des Systems verbunden ist und beim Kind durch zunehmende Kenntnis und Erfah-
rung zum Ausdruck kommt (Piaget spricht dann immer von höheren Verhaltensweisen),
Norm: sich der Erhaltung des Ganzen unterzuordnen, sich also in den geschlossenen Zyklus der Interaktion einordnen, oder von
einer mit dem Tod eines Organismus vergleichbaren allgemeinen Zersetzung fortgerissen werden“ (Piaget 1976, S.30-31). Der von
Piaget bezeichnete innere Regulator entspricht systemtheoretisch der autopoietischen Organisation des Systems.
316
können Störungen der Umwelt zunehmend als mögliche Variationen (geistig) antizipiert
werden, „so daß sie, weil voraussehbar und ableitbar, ihre Eigenart als Störungen verlie-
ren und sich in die virtuellen Transformationen des Systems einfügen“ (Piaget 1976,
S.71). Ist dieser Punkt in der Entwicklung des Kindes erreicht, dann kann auch Erzie-
hung überflüssig werden, weil keine Störungen bzw. Koppelungen oder Perturbationen
bewußt initiiert werden müssen zugunsten eines besseren Gleichgewichts. Es sind auch
keine Hilfen bei Regulierungen erforderlich, weil das personale System sich selber hel-
fen kann oder selbständig Mittel für Regulierungen findet.
Erziehung als Steuerung von Entwicklung ist dann beendet, wenn das personale System
die Steuerung selbst übernehmen kann, d.h. wenn die Selbstorganisation des personalen
Systems so entwickelt oder so komplex geworden ist, daß das personale System Regu-
lierungen, die in Koppelungen notwendig werden, selbständig durchführen kann. Be-
reichsspezifisch kann das natürlich zu ganz verschiedenen Zeiten der Fall sein. Der Zu-
sammenhang von Erziehung und Entwicklung löst sich durch die zunehmende Selbst-
steuerung des Kindes allmählich auf. Selbststeuerung umfaßt hier eine strukturell-
dynamische Stabilität der Selbstorganisation, die mit veränderten Umweltbedingungen
umgehen kann (vgl. Kap.5.8.2). Das „Umgehen“ mit Störungen kann dabei auch ein-
fach in der Beseitigung der Störung bestehen, ohne daß man sich bewußt mit ihr ausei-
nandersetzt (wenn die Bedienung des Videorecorders zu kompliziert erscheint, dann
wird er eben nicht gekauft).
Was für die personale Systemebene gilt, ist grundsätzlich auch für die soziale Ebene
gültig. So läßt sich beispielsweise sagen, daß das politische System dem System Erzie-
hung bei Steuerungsproblemen gegenüber einer veränderten Umwelt durch Gesetzesän-
derungen helfen kann. Aber auf einen Unterschied muß aufmerksam gemacht werden:
Man kann vom System Erziehung nicht sagen, daß es sich in Entwicklung befindet und
daß diese einmal abgeschlossen ist, wenn sich das System selbst steuern kann. Soziale
Systeme unterliegen der Evolution, nicht einer ontogenetischen Entwicklung. Deshalb
wird die Umwelt des Systems Erziehung, die aus unterschiedlichen Teilsystemen der
Gesellschaft besteht, das System Erziehung immer beeinflussen.
317
5.9.5 Steuerungstheoretische Überlegungen für den Zusammenhang vonErziehung und Entwicklung
Es gibt bereits sozialwissenschaftliche Arbeiten, die sich gezielt mit einer allgemeinen
Steuerungstheorie für soziale Systeme beschäftigen (vgl. z.B. die Literaturangaben bei
Willke 19982) und die durchaus auch Übertragungen auf die personale Ebene im Sys-
tem Erziehung zulassen. Dazu soll hier auf zwei Ansätze aufmerksam gemacht werden.
In diesen systemtheoretisch orientierten Arbeiten (wie bei Willke ebd. und Thiel 1997)
wird davon ausgegangen, daß Steuerung aufgrund der Komplexität, der Selbstorganisa-
tion und der operativen Geschlossenheit von Systemen immer nur begrenzt möglich und
demgemäß von vornherein als Selbststeuerung zu begreifen ist349. Inwieweit dies auch
für den Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung gilt, soll im Folgenden gezeigt
werden.
Nach Etzioni (in Willke 19982, S.48ff.) gibt es vier verschiedene Steuerungstypen für
soziale Systeme, die sich durch „zwei Arten von Ressourcen der Systemsteuerung“
(ebd.), nämlich Konsens und Kontrolle, ergeben. Sind Kontrolle und Konsens schwach
ausgeprägt, dann ist die Steuerung des Systems passiv. Ist die Kontrolle stärker als der
Konsens, dann wird das System übersteuert. Interessanterweise beschreibt Etzioni die
demokratische Gesellschaft als dahintreibend, weil die Kontrolle schwach und der Kon-
sens stark ist. Aktiv ist die Steuerung eines Systems dann, wenn Kontrolle und Konsens
stark ausgeprägt sind. „Die Kurskorrektur, die Etzioni vorschlägt, geht denn auch genau
in Richtung einer verbesserten Fähigkeit zu Selbststeuerung. Sie soll dadurch erreicht
werden, daß gegenüber den (weniger defizienten) Mechanismen der Konsensbildung
‘von unten nach oben’ verstärkt Instrumente und Netzwerke der Kontrolle und Steue-
rung ‘von oben nach unten’ etabliert werden (Willke ebd., S.49-50).
Für die Erziehung könnte man in Anlehnung an Etzioni vereinfachend sagen: Entwick-
lung kann dann erfolgreich gesteuert werden, wenn der Konsens zwischen Erzieher und
Kind und auch die Kontrolle gleichmäßig stark ausgeprägt sind und wenn es zusätzlich
möglich ist, daß sich eine Kontrolle vor allem durch den Konsens zwischen Erzieher
und Kind entwickeln läßt! Hier müßte allerdings in Bezug auf Erziehung genauer unter-
349 „Es kommt darauf an plausibel zu machen, daß sich eine Steuerungstheorie sozialer Systeme weder in der Begrifflichkeit der
Planungstheorien, noch in den Begriffen naturwüchsiger Evolution fassen läßt, weil Steuerung weder auf externe Eingriffe noch auf
interne Dynamiken alleine reduziert werden kann. Das theoretische Kernproblem jeder Steuerungstheorie ist deshalb die Frage nach
den möglichen Formen der geordneten Verschränkung von operativer Geschlossenheit und externer Anregung“ (Willke 19982, S.4).
318
sucht werden, was unter einem Konsens zwischen einem Erzieher und einem in Ent-
wicklung befindlichen Kind zu verstehen ist und inwieweit eine Kontrolle zwischen
Erzieher und Kind gegenseitig (?) möglich bzw. sinnvoll ist. Auf der sozialen Ebene ist
dies leichter zu beantworten, denn der Konsens bezieht sich auf das Verhältnis system-
interner Teilsysteme und die Kontrolle ergibt sich zwischen zwei Systemen. Auf der
personalen Ebene des Systems Erziehung ist das nicht so einfach, denn auch hier sollte
ein Konsens zwischen Erzieher und Kind bestehen, gleichzeitig aber kontrolliert der
Erzieher und kein außerhalb stehendes System die Operationen des Kindes. In der
strukturellen Koppelung zwischen Erzieher und Kind erfolgen Konsens und Kontrolle.
Der Erzieher hat danach die Aufgabe, für die Verschränkung von operativer Geschlos-
senheit, die sich aus der Operationsweise des Kindes ergibt, und externer Anregung, die
sich durch die Anforderungen oder Aufgaben des Erziehers ergeben, zu sorgen und dies
in der erzieherischen Koppelung, die selbst durch operative Geschlossenheit und exter-
ne Anregung (Erziehungsziele, Lehrplan etc.) gekennzeichnet ist. Er muß in der Lage
sein, in der erzieherischen Kommunikation einen Konsens zwischen dem Kind und sei-
ner eigenen Person herzustellen unter Berücksichtigung der Entwicklung des Kindes.
Wenn es aber um die Kontrolle der Leistungen oder Fähigkeiten des Kindes geht, dann
steht der Erzieher der systeminternen operativen Geschlossenheit des Kindes als exter-
nes System gegenüber. Vom Erzieher wird die Reflexion verlangt, bewußt Systemrela-
tionen zu verändern, indem er, wenn es um Kontrolle geht, eine System-zu-System-
Beziehung herstellt. Wenn es jedoch um den Konsens geht, dann sind Erzieher und
Kind personale Teile eines Systems, wie zum Beispiel in einer Erziehungssituation.
Steuerung in der Erziehung impliziert nicht nur systemexterne Steuerung durch Verän-
derung von Kontrollparametern durch den Erzieher, sondern umfaßt gleichzeitig Hilfe-
stellung und Beratung bei der Entwicklung des Kindes, die nur systemintern, also in
einer Erziehungssituation erfolgen kann. Oder mit anderen Worten: die Komplexität
von Steuerung in der Erziehung ergibt sich dadurch, daß mindestens zwei personale,
operativ geschlossen arbeitende Systeme strukturell verkoppelt sind in einem sozialen
System, das selbst über diese Kennzeichen der operativen Geschlossenheit und der
Koppelung verfügt.
319
Die Steuerung von Erziehung durch den Erzieher entspricht der operativen Selbststeue-
rung des Systems Erziehung auf der personalen bzw. situativen Ebene350. Nach Thiel
(1997) lassen sich aber weitere Steuerungsebenen unterscheiden, die durch Rückkop-
pelungsprozesse in Form des Informationsaustausches in beide Richtungen miteinander
verbunden bzw. gekoppelt sein sollten. Die Grundlage der Selbststeuerung eines sozia-
len Systems wie dem System Erziehung bilden zunächst Steuerungsnormen bzw. Steue-
rungsziele, die in Form von Erziehungs- und Entwicklungszielen vorgegeben sind und
die auf der normativen Steuerungsebene liegen. Diese Ziele sind nicht willkürlich ge-
setzt, sondern sollten Ergebnis eines Reflexionsprozesses sein351, wobei a) der System-
charakter des Steuerungsobjekts (vgl. Thiel ebd., S.40) sowie b) die gesellschaftliche
Notwendigkeit berücksichtigt wird und c) die Kontingenz möglicher zukünftiger Zu-
stände des Systems reduziert wird. Auf einer zweiten Ebene erfolgen dann strategische
Überlegungen, die sich aufgrund einer Analyse des Systems, dessen Umwelt und der
Prognostizierung der Entwicklungen des Systems und dessen Umwelt erarbeiten lassen
(vgl. Thiel ebd., S.74-75). Im System Erziehung kann es sich hierbei um konkrete Lehr-
pläne genauso handeln wie um didaktische Überlegungen bzw. Erziehungsmaßnahmen,
die sich eine Mutter überlegt hat und die sich z.B. auf die Fernsehzeit etc. beziehen
können. Und schließlich geht es auf der operativen Ebene der Steuerung dann um die
Umsetzung der Strategien.
Eine reflexive Selbststeuerung des Systems Erziehung erscheint in Anlehnung an Thiel
nur dann gegeben, wenn diese unterschiedlichen Ebenen miteinander vernetzt sind,
wenn erkannt wird, daß eine Steuerung nicht nur alleine von einer Ebene aus erfolgen
kann, also nicht zentral sein darf und wenn schließlich verschiedene Steuerungsakteure
diese Ebenen repräsentieren.
350 Vgl. hierzu Grzesik 1994, S.216: „ In diesem Zusammenhang muß auch die Antwort auf die Frage gesucht werden, wie erzieheri-
sche Beeinflussung überhaupt zustande kommt. Als Kommunikation zwischen psychischen Systemen hat sie nicht die Form einer
linearen naturkausalen Beeinflussung von Schülervariablen und Lehrervariablen, wie es von der analytischen empirischen Erzie-
hungstheorie angenommen wird. Stattdessen besteht sie aus konstruktiven Leistungen von Lehrer und Schüler, durch die sie sich
kommunikativ auf der reflexiven Ebene über die Selbststeuerung von Tätigkeiten des Schülers verständigen“.351 Reflexion meint in Anlehnung an Luhmann bei Willke, „daß funktional ausdifferenzierte Teilsysteme einerseits ihre Identität in
ihrer spezifischen Funktion finden, andererseits sich selbst zugleich als adäquate Umwelt anderer Systeme begreifen lernen und die
daraus folgenden Restriktionen und Abstimmungszwänge in das eigene Entscheidungskalkül einbauen (...) Reflexion ist nämlich
dann eine wirksame und überlegene Form der Handlungsrationalität, wenn nicht nur einige, sondern alle oder zumindest die meisten
Teile eines Handlungszusammenhanges sie verwirklichen, wenn Reflexion also zur Handlungsmaxime eines Gesamtsystems gewor-
den ist“ (Willke 19872, S.73-74).
320
In der institutionalisierten Erziehung wie der Schule sind diese Steuerungsebenen eher
unterscheidbar (Schüler, Lehrer, Elternbeirat, Rektor, Ministerium u.a.). Probleme er-
geben sich hier aus der notwendigen Informationsrückkoppelung bzw. es bedarf ver-
schiedener Personen, die diese Arbeit übernehmen und zwischen den Steuerungsebenen
vermitteln. In der familiären Erziehung als Teilsystem des Systems Erziehung, für die
das gleiche gelten sollte wie für das Gesamtsystem (vgl. Thiel ebd., S.51), gibt es in der
Regel nicht genügend „Steuerungsakteure“, um hier verschiedene Steuerungsebenen
aufteilen zu können. Die Erziehungsziele können die Eltern genauso festlegen wie er-
zieherische Maßnahmen und deren operative Umsetzung. Diese Selbststeuerung der
familiären Erziehung bleibt der Reflexivität der Eltern (bzw. Alleinerziehenden) über-
lassen in der Hoffnung, daß sie den Handlungszusammenhang, bei dem die Entwick-
lung des Kindes eine wesentliche Rolle spielt, erfassen können.
Auch durch die von Thiel unterschiedenen Steuerungsebenen ergibt sich eine Steuerung
von Systemen durch Konsens auf einer Steuerungsebene und Kontrolle durch eine hö-
here Ebene, wobei aufgrund der Rückkoppelungsprozesse auch Konsens und Kontrolle
strukturell gekoppelt werden können, so daß eine hierarchische Steuerung sich als ein
Netzwerk von Verhandlungen darstellt (vgl. hierzu Willke 1997, S.86). Aufgrund der
Koppelung von Konsens und Kontrolle ist Kontrolle nicht negativ zu bewerten, sondern
verbessert vielmehr, wenn sie stark ausgeprägt ist, die aktive Selbststeuerung des Sys-
tems.
Wenn auf der sozialen Ebene erkannt wird, wie die Selbststeuerung von Systemen aktiv
verlaufen sollte oder verbessert werden könnte, dann können diese Erkenntnisse auch
auf das personale System, als Teilsystem des sozialen Systems, übertragen und damit
für die Entwicklung des Kindes fruchtbar gemacht werden. Das Wissen über Selbst-
steuerung kann Entwicklungs- bzw. Erziehungsziel werden. Konkret heißt das, dem
sich entwickelnden Kind muß deutlich werden, daß es sich selbst steuern kann und auf-
grund seiner operativen Geschlossenheit auch selbst steuern muß. Das führt schließlich
dahin, daß das Denken und Handeln einer Person mit sich selbst in Einklang gebracht
werden sollte im Sinne des Konsens’ zwischen den person-internen strukturell verkop-
pelten Teilsystemen, wie dem biologischen, dem psychischen und dem sozialen System.
Gleichzeitig ist damit auch eine Selbstkontrolle verbunden in dem Sinne, daß Reflexion
über die eigenen Operationen hergestellt werden.
321
Wissen in Form von Kenntnissen und Fähigkeiten352 und speziell Steuerungswissen, das
sind die Voraussetzungen für die Selbststeuerung von personalen und sozialen Syste-
men. In der Erziehung als soziales System treffen nun personale Systeme aufeinander,
die durch Asymmetrie gekennzeichnet sind. Der Erzieher verfügt über ein breiteres
Wissen, er verfügt, aufgrund seines Alters, über mehr Erfahrung und er sollte schließ-
lich auch über Steuerungswissen verfügen (darauf kommen wir im nächsten Kapitel
noch genauer zu sprechen). Dieser Wissensvorsprung gegenüber dem Kind befähigt ihn
dazu, bei der Selbststeuerung des Kindes zu helfen, was durch die gezielte Steuerung
der Entwicklung des Kindes in der Erziehung möglich ist. Wissen wird somit zu einem
„Steuerungsmedium“ (vgl. Willke 19892, S.146) das deshalb so bedeutsam ist, weil es
sich aus der Kommunikation, die in der Erziehung eine große Rolle spielt, ergibt, in der
Kommunikation zum Ausdruck kommt und durch die erzieherische Kommunikation an
das Kind weitergegeben werden kann. Wissen als Steuerungsmedium repräsentiert die
soziale Ebene in der strukturellen Koppelung zwischen Erzieher und Kind. Auf der psy-
chischen Ebene ist die Liebe zum Kind Steuerungsmedium. Und erst die Koppelung
zwischen Wissen und Liebe, der Konsens und die Kontrolle dieser beiden Steuerungs-
medien bilden die Grundlage für die Steuerung von Entwicklung durch Erziehung.
Die Komplexität von Systemzusammenhängen zeigt schließlich, daß sich auch die
Steuerung von Systemen komplexer darstellt, als dies in der pädagogischen Theoriebil-
dung bisher gesehen wurde. Die Entwicklung des Kindes kann nicht gesteuert werden,
indem sich der Erzieher von dieser Aufgabe weitgehend befreit, wie dies bei Montessori
der Fall ist und dem Kind seine noch nicht ausgeprägte Selbststeuerung selbst überläßt.
Steuerung umfaßt nicht „instruktive Interaktionen“ (vgl. Maturana 19852, S.243), wie
dies Bruner und Roth annehmen, denn das widerspricht nun gerade der Selbststeuerung
bzw. der operativen Geschlossenheit personaler Systeme. Steuerung von Entwicklung
meint auch nicht ausschließlich Fremdsteuerung im Sinne von Sozialisation (Krapp-
mann) oder durch Bildung (Ballauff). Und doch werden in der pädagogischen Theorie-
bildung Teilaspekte von Steuerung aufgenommen, die dort aber isoliert und nicht mit-
einander verkoppelt gesehen werden. Denn Steuerung heißt auch, daß die prinzipielle
Selbstorganisation und die damit einhergehende Selbststeuerung des Kindes akzeptiert
352 Auf den Begriffsumfang von „Wissen“ kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Vgl. hierzu exemplarisch Steindorf, G.:
Lernen und Wissen. Theorie des Wissens und der Wissensvermittlung. Bad Heilbrunn 1985 oder Kluwe, R.: Wissen und Denken.
Stuttgart 1979
322
wird (Montessori), daß eine Steuerung der Entwicklung des Kindes genau dann möglich
ist, wenn man den Bereich der Beeinflußbarkeit bestimmen kann, der bei Montessori
den sensitiven Perioden in der Entwicklung des Kindes ähnelt und indem die Strukturen
von Entwicklung festgestellt werden (Bruner) und daß schließlich die Steuerung der
Entwicklung des Kindes als personales System durch Veränderung in seiner Umwelt
durch den Erzieher auch systemextern erfolgt (Krappmann, Roth, Ballauff). In der Kop-
pelung zwischen Erzieher und Kind sind diese Steuerungsformen aber miteinander ver-
bunden und können im einzelnen dann hervortreten, wenn es der Konsens zwischen
Erzieher und Kind möglich macht. So wechseln sich in der Erziehung Situationen ab, in
denen der Erzieher aktiv oder auch passiv sein kann, es gibt Situationen, in denen In-
struktionen genauso vom Kind aufgenommen werden, wie sie vom Erzieher intendiert
waren, es gibt Situationen in denen es um Wissensvermittlung geht, wobei der Lehrer
sehr aktiv ist und es gibt schließlich auch Situationen, in denen die Leistungskontrolle
im Vordergrund steht u.a.m.
Ist der Erzieher in der Lage, die Steuerungsnormen und die Steuerungsstrategien in der
operativen Umsetzung gemeinsam mit dem Kind in einem Konsens zu beachten und zu
kontrollieren, dann erfolgt eine aktive Selbststeuerung von Erziehung unter Berück-
sichtigung der Entwicklung des Kindes.
323
5.10 Zusammenfassung: Der Zusammenhang von Erziehungund Entwicklung
Der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung wird unter Berücksichtigung drei-
er Gesichtspunkte zusammengefaßt: Erstens geht es um die Darstellung von Erziehung
und Entwicklung aus systemtheoretischer Sicht. Zweitens wird das Verhältnis bzw. der
Kontrast der systemtheoretischen Ergebnisse zur pädagogischen Theoriebildung her-
ausgestellt und schließlich sollen drittens beispielhaft einige praktische Konsequenzen
für die Erziehung als System genannt werden. Dieser dritte Punkt bildet dann gleichzei-
tig die Überleitung zur Erklärung der Erziehungssituation als Schnittpunkt des Zusam-
menhangs von Erziehung und Entwicklung.
a) Die systemtheoretische Sicht von Erziehung und Entwicklung
Erziehung ist aus systemtheoretischer Sicht ein soziales System, dessen wesentlicher
Teil die Entwicklung des Kindes ist. Der Zusammenhang von Erziehung und Entwick-
lung ist somit der Zusammenhang eines sozialen Systems (Erziehung) und dessen Teil-
systems (Entwicklung). Es geht hier also auch um das Verhältnis Teil Ganzes, das in
einem sozialen System und einem psychischen System (kognitive Entwicklung) durch
Sinneinheiten zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig sind das soziale System und das psy-
chische System Umweltsysteme füreinander. Der Zusammenhang von Erziehung und
Entwicklung des Kindes gestaltet sich deshalb kompliziert, weil hier verschiedene Ein-
heiten (Systeme, die gleichzeitig auch Teilsysteme sind) und Systemebenen (insbeson-
dere die soziale und die psychische Ebene) miteinander so verkoppelt sind, daß die
Koppelungen die Einheiten und Ebenen erst konstituieren. So erfolgt Erziehung erst
dann, wenn eine Koppelung zwischen einem psychischen System (Kind) mit sozialen
(z.B. Schule oder Familie) oder anderen psychischen Systemen (z.B. Eltern oder Leh-
rer) vorliegt.
Die Faßbarkeit des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung gestaltet sich aus
systemtheoretischer Sicht deshalb schwierig, weil er durch Sinn (re)konstruiert werden
muß. In der Praxis wird der Zusammenhang gelebt, durch Verhalten, durch Handlungen
und durch Sinn in der Kommunikation. Die Erklärung des Zusammenhangs erfolgt
dann durch systemtheoretische Sinneinheiten, die die eigentliche Operationsweise im-
mer nur rekonstruieren können, aber nicht mit dem phänomenologischen Geschehen
identisch sind. So kann die autopoietische Organisation des psychischen Systems be-
324
schrieben werden, die Struktur wird dabei im konkreten Fall immer individuell ver-
schieden sein. Das bedeutet, daß allgemeine Aussagen über Erziehung und Entwicklung
für den spezifischen Fall zu individualisieren sind. Die vielen Möglichkeiten der Ges-
taltung des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung (Kontingenz) verlangen
deshalb von allen daran Beteiligten ein hohes Maß an Flexibilität.
Die systemtheoretischen Ergebnisse, die sich aus der phänomenologischen Beschrei-
bung ergeben, bilden gleichzeitig auch Ziele von Erziehung und Entwicklung, Ziele, die
im Grunde latent vorliegen, weil sie durch die Selbstorganisation von Systemen bedingt
sind, durch ihre Erklärung aber noch deutlicher werden und dann wiederum die Praxis
bereichern können.
Diese Zirkularität und Rekursivität zeigt erneut, daß der Zusammenhang von Erziehung
und Entwicklung an Sinneinheiten gebunden ist, die nun im einzelnen zusammengefaßt
werden:
- Erziehung als soziales Geschehen, wie es in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt
steht, ist durch ein Personenverhältnis gekennzeichnet, das aufgrund unterschiedlicher
Bewußtsseinsstrukturen asymmetrisch, hinsichtlich der Organisation (Selbstorganisati-
on bzw. autopoietischen Organisation) aber symmetrisch ist. Es gelten für den Zusam-
menhang von Erziehung (als System) und Entwicklung (Entwicklung der psychischen
Systeme der Kinder als Teilsysteme) somit die gleichen Systemmerkmale wie für psy-
chische und soziale Systeme, nämlich die Merkmale, die in diesem Kapitel dargestellt
wurden, aber jeweils mit unterschiedlicher Struktur bei den unterschiedlichen Systemen
und Systemebenen. Die Komplexität des Zusammenhangs von Erziehung und Entwick-
lung wird durch die Anzahl und Eigenkomplexität der Systemmerkmale erhöht, aber
gleichzeitig reduziert sich auch die Komplexität, weil es sich in der Erziehung und in
der Entwicklung um die gleichen Systemgegebenheiten handelt. So ist das System Er-
ziehung genauso auf Koppelungen angewiesen (z.B. mit anderen sozialen Systemen)
wie die Entwicklung (Koppelung von Bewußtseinssystemen).
- Erziehung ist ein komplexes System, in dem die Entwicklung des Kindes einen Teil-
bereich ausmacht. Die jeweilige Eigenkomplexität von Teilbereichen des Systems (wo-
zu die Erziehungssituation, die personalen Systeme oder das jeweilige psychische Sys-
tem gehören wie auch die Umweltbezüge) erhöht die Komplexität des Gesamtsystems
Erziehung. Diese Komplexität muß in der Erziehungstätigkeit reduziert werden. Erzie-
hung umfaßt somit das Schaffen von Verhältnismäßigkeit zwischen Komplexität, Reduk-
325
tion von Komplexität, Selektion und Kontingenz und zwar entlang der Entwicklung des
Kindes. Das führt auf der einen Seite dazu, daß Handlungsspielräume geschaffen wer-
den, in denen sich das Kind entwicklungsgemäß entfalten kann. Das bedeutet aber auch
auf der anderen Seite, daß Erziehung nicht immer und überall und auch nicht in jedem
Moment der Entwicklung personaler Systeme erfolgt oder sich auf jede kognitive Ope-
ration beziehen kann. Erziehung bleibt aus systemtheoretischer Sicht ein Geschehen, in
dem die Entwicklung des Kindes nicht vollständig abgedeckt und „durchorganisiert“
werden kann. Erziehung ist auch mit Risiken verbunden.
- Gerade indem die Erziehung die Weltkomplexität bzw. die Umweltkomplexität perso-
naler Systeme anhand pädagogischer Selektionskriterien reduziert, die sich auf die
Entwicklungsfähigkeit des Kindes beziehen, erhöht die Erziehung ihren Einfluß auf die
Entwicklung und hat die Möglichkeit gezielt zu wirken. Die Erziehung muß bewußt den
Zusammenhang zur Entwicklung des Kindes herstellen, sonst macht sie sich überflüs-
sig, weil sie dann keine Wirkung hat. Je enger der Zusammenhang, die Koppelung zwi-
schen Erziehung und Entwicklung ist, desto geringer wird das Risiko von Erziehung.
Das beinhaltet für das System Erziehung auch die ständige Überprüfung ihrer eigenen
Umweltbezüge. Das heißt, die Vorgaben anderer sozialer Systeme, wie dem politischen
System, sind in Hinblick auf den Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung hin
zu überprüfen. Der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung bildet im System
Erziehung eine Einheit, die gegenüber andern Systemen zu behaupten ist. Dies ist die
Aufgabe der Erzieher, die im System Erziehung Steuerungsfunktionen zwischen dem
System Erziehung und dessen Umweltsystemen ausüben.
- Erziehung umfaßt die Reduktion von Komplexität zugunsten des Aufbaus komplexer
kognitiver Strukturen beim Kind. Sie verringert diese Reduktion, wenn sich die Eigen-
komplexität der kognitiven Strukturen erhöht. Mit der Zunahme der Komplexität kog-
nitiver Strukturen erhöht sich die Selektionsfähigkeit und die Kontingenzerfassung des
Kindes und damit das Verständnis von Umwelt- und Weltkomplexität, bis schließlich
das asymmetrische Verhältnis zwischen Erzieher und Kind in ein symmetrischen über-
geht, das den Sinnkriterien von Erziehung entspricht, nicht aber mit der Gleichheit kog-
nitiver Strukturen personaler Systeme zu verwechseln ist. Erziehung endet, wenn päda-
gogische Sinneinheiten erfüllt sind (wobei sich der Sinn von Erziehung auch durch das
Verhältnis zu anderen sozialen Systemen ergibt, wie dem politischen System). So ist
das Ende der schulischen Erziehung mit dem Schulabschluß beendet, was aber nicht
326
dem Ende familiärer Erziehung gleichkommen muß. Der Zusammenhang von Erzie-
hung und Entwicklung ist immer institutions- und personengebunden bzw. gekoppelt.
- Erziehung ist Erziehung für die Zukunft. Es wird in Hinblick auf Entwicklungsziele
erzogen, die in weiter Zukunft liegen und mit dem Risiko, daß diese Ziele zum einen
entwicklungsmäßig nicht erreicht werden und zum anderen sich im Lauf der Zeit ändern
können. So wird aus dem Kind noch lange nicht ein guter Arzt, Tennisspieler o.a., nur
weil dies den Erziehungszielen der Eltern entspricht. Und so zeigt die zunehmende Be-
deutung der Medien, daß sich Sinneinheiten von Erziehung oft schneller verändern
können, als es deren Umsetzung in die Praxis zuläßt. Die Komplexität von Gegeben-
heiten im System und zwischen Systemen verlangt eine hohe Flexibilität von Systemen.
Die systemtheoretische Sichtweise zeigt Hilfen auf für zukünftige Entwicklungs- und
Erziehungsziele, indem sie anhand der Organisation und Struktur von Systemen deren
Möglichkeiten und Grenzen erkennen läßt (vgl. den Absatz über den Sinn von Erzie-
hung). Erziehung als System hat somit eine schwierige Aufgabe zu lösen: Komplexität,
Kontingenz, Reduktion von Komplexität, Selektion und die zeitliche Begrenzung füh-
ren dazu, daß Regelungen zur Bewältigung dieser Systemmerkmale im System ge-
schaffen werden müssen. Gleichzeitig verlangen gerade dieselben Systemmerkmale,
daß Regelungen nicht starr, sondern flexibel gehandhabt werden. Die Strukturen von
Erziehung müssen flexibel sein und das gleich gilt für die Personen (Erzieher), die diese
Strukturen repräsentieren.
- Die Komplexität von Welt und das systemtheoretische Verständnis über die Organisa-
tion personaler Systeme führt dazu, daß es keine zentrale Steuerungsinstanz im System
Erziehung gibt. Es können Aufgaben gleichmäßig verteilt werden, Veränderungen ge-
meinsam besprochen und durchgeführt werden etc., und das gilt für die Erzieher genau-
so wie für das Verhältnis zwischen Erzieher und Kind. Wenn man eine Steuerungsin-
stanz aus systemtheoretischer Sicht dennoch festlegen will, dann besteht sie in dem
komplexen Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung.
- Das System Erziehung und die Entwicklung des Kindes sind selbstorganisierend. So
wird sich die Einheit des Systems Erziehung immer durch Erzieher und Kinder als Teile
ergeben, ganz unabhängig von ihrer Struktur, und auch die kognitive Entwicklung des
Kindes ist ohne biologische und neurophysiologische Gegebenheiten nicht möglich, die
aber individuell verschieden sind. Selbstorganisation meint in diesem Zusammenhang,
daß in der Erziehung und der Entwicklung selbsttätig Umweltereignisse in Strukturen
327
umgesetzt werden. Die Selbstorganisation gibt letztlich die Richtung von Erziehung an,
da sie die Basis des Lebens ist. Die Aufgabe von Erziehung ist dann, Umweltereignisse
so zu gestalten, daß diese vom Kind kognitiv verarbeitet werden können, sodaß sich die
kognitiven Strukturen (selbstorganisierend) verändern. Entwicklung ist Strukturverän-
derung des Systems. Und Erziehung ist Strukturveränderungen gemäß den Strukturver-
änderungen des Kindes. Erziehung ist deshalb auch durch Entwicklung gekennzeichnet.
- Erziehung und Entwicklung weisen bei gleicher Organisation unterschiedliche Struk-
turen auf. Deshalb ist die Struktur des Zusammenhangs von Erziehung und Entwicklung
von besonderem Interesse. Die Struktur „betont die Relation zwischen den Teilen eben-
so wie die Selbständigkeit der Teile, die das Ganze bilden“ (Maturana 19852, S.314).
Die Struktur von Erziehung besteht in dem asymmetrischen Verhältnis zwischen Erzie-
her und Kind auf kognitiver Ebene, der erzieherischen Kommunikation, des gemeinsam
geschaffenen konsensuellen Bereichs, in dem Lernen möglich wird, der pädagogischen
Sinn-einheiten, die grundlegend sind und den Sinneinheiten, die gemeinsam geschaffen
werden. Die Struktur von Erziehung ergibt sich somit durch die strukturelle Koppelung
mit der Struktur der Entwicklung des Kindes. Die gegenseitige Strukturveränderung von
Entwicklung und Erziehung führt zur Ko-Ontogenese. Erziehung und Entwicklung ent-
wickeln sich gleichzeitig und durch die strukturelle Koppelung in Abhängigkeit vonein-
ander. Es kann auch formuliert werden, daß sich die Entwicklung des Kindes ko-
ontogenetisch mit der Erziehung ergibt. Sie umfaßt damit die Verbindung von Selbst-
und Fremdreferenz. Selbstreferenz meint die Koppelung von person-internen Struktu-
ren, Fremdreferenz die Koppelung zu Umweltereignissen.
- Die Beschreibung der Entwicklung des Kindes, das Feststellen eines Entwicklungs-
fortschrittes oder das Bewerten einer Leistung ist nicht gleichzusetzen mit dem selbst-
organisierenden Geschehen im personalen System Kind. Die Entwicklung des Kindes ist
eine Beobachterkategorie, die in der Erziehung als Maßstab für Struktrurveränderun-
gen eingesetzt wird. Näher kommt die Erziehung an die Entwicklung des Kindes nicht
heran. Erziehung, das wurde schon gesagt, bleibt mit Risiken verbunden, weil sie an
Reduktion gebunden ist.
- Erziehung ist zugleich abhängig und unabhängig von ihrer (systemeigenen) Umwelt.
Abhängig, weil sie Umweltgegebenheiten aufnehmen und verarbeiten muß (wozu poli-
tische Entscheidungen genauso gehören wie z.B. spezifische örtliche Gegebenheiten
einer Schule), unabhängig, indem sie nur selbstorganisierend Umweltparameter verar-
328
beiten kann. Das gleiche gilt auch für die Entwicklung des Kindes. Sie ist abhängig von
Umwelteinflüssen und zugleich selbstorganisierend, was sich allein schon aus der auto-
poietischen Organisation des Organismus ergibt. Die Einheit eines Systems und die
Differenz zu dessen Umwelt macht die System/Umwelt-Differenz als Einheit aus. Im
System Erziehung bilden Erziehung und Entwicklung selbständige Einheiten, die sich
gerade als Einheiten durch ihre Differenz zueinander ergeben. Und indem sie sich ge-
genseitig voneinander differenzieren (Systemdifferenz) und von ihren je eigenen Um-
welten (Umweltdifferenz) entsteht eine übergeordnete Einheit, weil Differenzschaffung
zu gegenseitige Strukturveränderung führt. Differenzen sind damit kennzeichnend für
die Erziehung, sei es nun die Differenz zwischen dem sozialen System Erziehung und
einem anderen sozialen System oder die zwischen Erzieher und Kind in der konkreten
Erziehungssituation. Indem die Erziehung die Entwicklung des Kindes ernst nimmt, hat
sie zugleich eine differenzschaffende Aufgabe.
- Erziehung und Entwicklung erfolgen im Kontext verschiedener (Umwelt)Systeme.
Die je eigene strukturelle Koppelung von Umweltdifferenz und Systemdifferenz wird in
der Erziehung noch einmal miteinander verkoppelt und führt so zum Zusammenhang
von Erziehung und Entwicklung. Die Einheit des Systems Erziehung kommt dann im
Phänomenbereich der Kommunikation zum Ausdruck.
- Der kommunikative Prozeß ist kennzeichnend für Erziehung, denn das Bewußtsein
des Kindes entwickelt sich durch die Koppelung des neurophysiologischen Systems des
Organismus und dem Kommunikationssystem der Gesellschaft. Erziehung hat die Auf-
gabe eine erzieherische Kommunikation in Gang zu bringen, die für Überschneidungs-
freiheit zwischen Bewußtseinsstrukturen und kommunikativen Strukturen sorgt, für pas-
sende Auslöseereignisse und entsprechendes Anschlußverhalten in der Kommunikation,
weil nur dann Strukturveränderungen im Bewußtsein ausgelöst werden. Da sich das
Bewußtsein im Laufe der Entwicklung mit der Sprache partiell identifiziert, ist die
Kommunikation zwischen Erzieher und Kind alltäglich, die Entwicklung des Sprach-
verständnisses beim Kind wird aber zu einem elementaren Erziehungsziel.
- Die Bedeutung der binären Codierung von Sprache sollte dabei nicht unterschätzt
werden: Es gibt immer die Möglichkeit, eine Aussage zu bejahen, was zu Anschluß-
verhalten in der Kommunikation führt, und eine Aussage kann verneint werden, was
Kontingenzen schafft. Das gleiche gilt auch für Handlungen oder Verhalten. Ein aus-
gewogenes Verhältnis zwischen Bestätigung und Einmaligkeit im Erziehungsprozeß ist
329
für die Entwicklung des Kindes gleichermaßen wichtig. Die Bestätigung führt zur Si-
cherheit bei gleichzeitiger Begrenzung, während Kontingenzen Möglichkeiten und Fle-
xibilität im Denken und Handeln herausfordern.
- Die strukturelle Verkoppelung von Erziehung und Entwicklung ist eine notwendige
Folge der autopoietischen Organisation des Organismus. So wie im Organismus che-
mische und physikalische Verbindungen für die Existenz notwendig sind, so sind auch
biologische und psychische Strukturen gekoppelt. Und schließlich sind die kognitiven
Strukturen, die entwicklungsfähig sind, dies auf dem Hintergrund von Strukturen in der
Erziehung, wenn sich diese speziell an die Strukturen der Entwicklung anpassen. Der
Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung ergibt sich durch strukturelle Koppe-
lung von neurophysiologischen, biologischen, psychischen, kognitiven, kommunikati-
ven, personalen und sozialen Systemebenen.
- Erziehung ergibt sich durch die Einheit der strukturellen erzieherischen Koppelung
zwischen Erzieher und Kind. Diese erfolgt vielfach auf der kommunikativen Ebene.
Durch die Erziehung werden Zustandsveränderungen in den kognitiven Strukturen des
Kindes ausgelöst, die vom Erzieher als Beobachter dann als Entwicklung bezeichnet
werden, wenn sie den pädagogischen Sinnkriterien von Erziehung entsprechen. Der
Erzieher ist damit zugleich Teil von Erziehung und Beobachter der Einheit des Erzie-
hungsgeschehens. Es hängt von den Fähigkeiten des Erziehers ab, inwieweit seine Be-
schreibungen oder die Bewertung von Erziehung und Entwicklung dem Phänomen Er-
ziehung in einer aktuellen Situation tatsächlich nahe kommt.
- Der prozeßhafte Verlauf von Entwicklung kann aus systemtheoretischer Sicht auch als
Lernen bezeichnet werden, denn Lernen entspricht dem systemtheoretischen Entwick-
lungsbegriff und bleibt letztlich, wie auch die Entwicklung des Kindes, eine Beobach-
terkategorie.
- Erziehung erfolgt im konsensuellen Bereich, der sich durch sinngebundene struktu-
relle Koppelungen auszeichnet. Im konsensuellen Bereich manifestiert sich auch die
Entwicklung des Kindes. Dieser Bereich gibt den Umfang an für die operationale Über-
einstimmung von Erzieher und Kind. In ihm kann es dann auch zur Synchronisation des
Verhaltens aufgrund unterschiedlicher Bewußtseinsstrukturen kommen (wenn sich z.B.
das Kind mit den Eltern in einem Gespräch einigt, wann es abends zu Hause sein soll).
Der konsensuelle Bereich muß von Erzieher und Kind gemeinsam abgesteckt werden,
damit für jeden die gleichen Voraussetzungen gelten. Extreme Erziehungsstile, wie ein
330
autoritärer, widersprechen damit von vornherein systemtheoretischen Zusammenhän-
gen. Erziehung ist an einen inter- und intrapersonalen Konsens in der Gegenwart ge-
bunden, der gleichzeitig die Entwicklung des Kindes berücksichtigt. Der konsensuelle
Bereich ist Reduktion von Komplexität von Sinn, Kontext, Strukturenkoppelung, Inter-
aktion, Kommunikation und Situationen. Er schränkt damit zum einen Freiheiten ein
(im Unterricht kann nicht zu jeder Zeit über jedes Thema gesprochen werden) und bie-
tet zum anderen Sicherheit für die Entwicklung des Kindes (das Kind kann sich z.B. auf
unterschiedliche Unterrichtsstunden wie Mathematik oder Musik einstellen). Erziehung
schafft durch den konsensuellen Bereich, der auch die dingliche Umwelt des Kindes
umfaßt und auch als Kontext bezeichnet werden kann, Stabilität und Sicherheit in der
Entwicklung des Kindes.
- Probleme in der Erziehung und Entwicklung können immer auch kontextbedingt sein.
In der systemtheoretischen Auffassung steht nicht die Person als abgeschlossene Einheit
im Mittelpunkt, sondern die Vielfalt der Umwelt- und Systemdifferenzen, die der
Mensch konstruiert aufgrund der strukturellen Koppelung mit anderen Systemen bzw.
Systemebenen. Erziehungsprobleme können ebensowenig einem einzelnen Menschen
oder nur den Umständen zugeschrieben werden, sie sind komplexer Natur und müssen
entsprechend behandelt werden. Erziehung ist eben zeitaufwendig.
- Aus systemtheoretischer Sicht ist Erziehung nicht Erziehung zur Anpassung, denn An-
passung ist die Voraussetzung und nicht das Resultat von Erziehung. Erziehung führt
lediglich die Tendenz der Anpassung fort, die bereits im Organismus im Sinne von A-
daptation vorgegeben ist, als ein Fließgleichgewicht der Person, die gegenüber wech-
selnden Umweltbedingungen die Selbstorganisation aufrechterhält. Entwicklung be-
deutet dann die Erhöhung eines dynamisch-stabilen Gleichgewichts, das mit der durch
die Erziehung allmählich zunehmende Komplexität von Umweltgegebenheiten selb-
ständig zurechtkommt. Grundsätzlich ist damit die Entwicklung gerichtet auf die Er-
haltung der Organisation durch Strukturänderung und der Anpassung dieser Organisati-
on an wechselnde Umweltgegebenheiten.
- Die Anpassung personaler Systeme an sich selbst kann durch eine Erziehung, die die
Selbstanpassung bewußt macht, gefördert werden und zur Klarheit über die eigene I-
dentität beitragen. Erziehung ist damit an die Individualität des Kindes gebunden und
kann nur in vielgestaltiger Form zum Ausdruck kommen. Das Kind entwickelt sich
331
schließlich, weil es lebt und weil Erziehung ein Teil seines Lebens ist, entwickelt es
sich durch Erziehung.
- Erziehung ist die Auslösung von Zustandsveränderungen personaler Systeme, die
dann als Entwicklung beobachtbar sind. Die Steuerung der Entwicklung des Kindes
ergibt sich durch den Bereich seiner Beeinflußbarkeit, der eher durch vielfältige Ange-
bote in der Erziehung getroffen werden kann. Die Steuerung der Entwicklung durch
Erziehung umfaßt die Auslösung von (kognitiven) Ungleichgewichten und Hilfen bei
den Regulierungen zugunsten eines „besseren“ (kognitiven) Gleichgewichts. Ob jedoch
das Kind eine Steuerung zuläßt hängt davon ab, inwieweit für das Kind Umweltereig-
nisse zur Selbstirritation führen. Erziehung als Steuerung kann nur die Selbstregulation
des Systems fortführen und zwar auf der Ebene des Bewußtseins. Die bewußte, reflexi-
ve Selbststeuerung des Kindes wird damit Ziel von Erziehung.
- Erziehungsziele sind die Steuerungsnormen von Erziehung, die bei der Analyse des
Zusammenhangs mit der Entwicklung weiter konkretisiert und schließlich auf operative
umgesetzt werden. Die strukturelle Koppelung der Steuerungsebenen verlangt Rück-
meldungen, Durchlässigkeit und auch Veränderbarkeit zwischen und auf den verschie-
denen Ebenen. Das Wissen des Erziehers über Erziehung umfaßt deshalb Steuerungs-
wissen.
- Der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung ist der Sinn von Erziehung. Der
Sinn als Existenzgrundlage psychischer und sozialer Systeme, der sich durch die Kop-
pelung von Bewußtsein und Kommunikation ergibt, ist das grundlegendste System-
merkmal, durch das sich auch der Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung ü-
berhaupt erst ergibt. Erziehung ist Sinnerziehung und Entwicklung ist Sinnentwicklung
durch Sinn. Neben der Organisation des Organismus gibt der Sinn somit die Richtung
von Erziehung und Entwicklung an. Nach systemtheoretischer Sicht müssen in der Er-
ziehung auch systemtheoretische Kenntnisse vermittelt werden.
- Der Gegenstand von Erziehung ist nicht das einzelne Kind, sondern die Koppelung
kognitiver und kommunikativer sinnhafter Prozesse. Die Bewußtseinsstrukturen des
Kindes (eine Verbindung biologischer, psychischer und sozialer Prozesse) bilden den
Gegenstand von Erziehung. Sie sind nicht, wie in anderen sozialen Systemen, Mittel
zum Zweck.
- Aus der Koppelung von Sinn als Gegenstand der Erziehung lassen sich vielfältige pä-
dagogische Sinneinheiten ableiten, die den Sinn von Erziehung ausmachen. Dazu gehört
332
die Sinnentwicklung und Sinnvermittlung, das Herstellen einer erzieherischen Kommu-
nikation, die mit der Schaffung von Anschlußfähigkeit beim Kind verbunden ist, der
Aufbau komplexer Bewußtseinsstrukturen, ein Bewußtsein für Kontingenzen zu schaf-
fen, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen der Abhängigkeit und der prinzipiellen
Autonomie des Kindes, für soziale Integration zu sorgen und nicht Anpassung fordern.
Damit verbunden sind Erziehungsziele wie Verantwortlichkeit gegenüber sich selbst
und seiner Umwelt, Selbständigkeit und Fähigkeit zur reflexiven Selbstregulation. Zu
den Erziehungszielen gehören schließlich alle weiteren allgemeingültigen Systemmerk-
male und damit die Fähigkeit zum Verständnis von Komplexität und deren Reduktion,
zur Selektion, zur bewußten kognitiven strukturellen Koppelung, zur Grenzerkennung
und Differenzierung, zur Kommunikation und zum Sinnverständnis, zur Assimilation
und Akkomodation und die Fähigkeit zum Verständnis systemischer Zusammenhänge,
die dann zu Zielen wie Verantwortlichkeit hinführen. Der Sinn von Erziehung bleibt der
Zusammenhang zur Entwicklung des Kindes. Dabei ist das Kind als biologische, psy-
chologische und soziale Einheit, die sich durch die ständig ablaufende Differenz zwi-
schen personalem System und Umwelt ergibt, ernst zu nehmen.
- Die Qualität von Erziehung, als das Ergebnis struktureller Koppelungen in Vergan-
genheit, Gegenwart und Zukunft, ist eine Beobachterkategorie, das heißt, sie ist per-
sonengebunden und veränderbar. In einer spezifischen Erziehungssituation zeigt sich
die Qualität in der „Stimmigkeit“ der systemischen Zusammenhänge. Und wenn Kind
und Erzieher mit der Situation zufrieden sind, keine großen Probleme offenbleiben,
dann kann die Erziehungsphase durchaus als gut bezeichnet werden.
- Wissen und Liebe bilden schließlich die Steuerungsgrundlage für Erziehung und Ent-
wicklung. Während das Wissen auf der sozialen Ebene angewandt und vermittelt wird
und zur kognitiven Entwicklung des Kindes beiträgt, spricht die Liebe vor allem die
affektive Seite des Kindes an. Eine positive, liebevolle Einstellung dem sich entwi-
ckelnden Kind gegenüber ist eine gute Basis für die erzieherische Kommunikation und
wird die Koppelung zwischen Erzieher und Kind vertiefen. Sie hilft in der Entwicklung,
daß die zunehmende Erkenntnis über die prinzipielle Selbstregulation des Menschen
nicht mit Einsamkeit verbunden sein muß. Oder wie Maturana es formuliert: „Jeder
Mensch steht als autopoietisches System allein auf der Welt. Wir wollen jedoch nicht
beklagen, daß wir in einer subjektabhängigen Realität existieren müssen. Auf diese
Weise ist das Leben interessanter, denn die einzige Transzendenz unserer individuellen
333
Einsamkeit, die wir erfahren können, entsteht durch die konsensuelle Realität, die wir
mit anderen schaffen, d.h. durch die Liebe zueinander“ (Maturana 19852, S.271).
- Erziehung und Entwicklung stellen sich systemtheoretisch zusammenfassend als Zu-
sammenhang dar zwischen 1. der Selbstorganisation des Menschen, die sich auf das
personale System bezieht, 2. der strukturellen Koppelung, die sich auf die Verbindung
von biologischem, psychischen und sozialen System bezieht, 3. der Ko-Ontogenese von
Erzieher und Kind, der sich auf die Interpenetration von Systemen bezieht und schließ-
lich 4. dem konsensuellen Bereich, der neben der Kulturgebundenheit von Erziehung
und Entwicklung auch auf die pädagogischen Sinneinheiten verweist, die in die Erzie-
hung als Ziele einfließen.
b) Die systemtheoretische Sichtweise in ihrer Bedeutung für die pädagogische Theorie-
bildung
In Abschnitt 2.6 dieser Arbeit wurden offene Fragen formuliert, die sich aus der päda-
gogischen Theoriebildung in Bezug auf die vorliegende Fragestellung ergeben. Im
Verlauf dieses Kapitels wurden viele bereits beantwortet. Hier soll nun noch einmal das
Verhältnis zur pädagogischen Theoriebildung auch entlang dieser Fragen zusammen-
gefaßt werden. Dabei zeigt sich, daß eine an der Systemtheorie orientierte pädagogi-
schen Sichtweise offene Fragen klären kann.
- Zunächst wird durch die pädagogischen Theorien die phänomenologische Beschrei-
bung des Alltagsgeschehens von Erziehung und Entwicklung nicht erfaßt. So ist nach
Montessori der Schonraum der „Ort“, an dem Entwicklung tatsächlich möglich ist. Die
vielfältigen strukturellen Koppelungen zwischen Erzieher und Kind, Kind und Umwelt,
Erzieher und Umwelt und zwischen sozialen Teilsystemen widersprechen einer (örtli-
chen) Gebundenheit von Erziehung und Entwicklung. Und betrachtet man den Schon-
raum als System, verfügt er letztlich auch über System- und Umweltdifferenzen. Statt
von Schonraum kann man von erzieherischen Situationen sprechen, in denen die alltäg-
liche Erziehung tatsächlich stattfindet. Die pädagogisch orientierte Systemtheorie kann
mit Hilfe der Darstellung der Komplexität von Systemmerkmalen auch alltägliches Er-
ziehungsgeschehen erfassen, was im nächsten Kapitel konkretisiert wird.
- Durch die Systemtheorie lassen sich theoretische Aussagen über Erziehung und Ent-
wicklung in pädagogischen Ansätzen präzisieren und erklären. Wenn zum Beispiel
nach Bruner die Entwicklung von „äußeren Gegebenheiten“ und „inneren Kräften“ ab-
hängt, so ist es nun möglich, diese Kräfte bis in ihr neurophysiologisches Geschehen
334
hinein zu verfolgen. Auch wenn dies für die Erziehung selbst nicht notwendig erschei-
nen mag, so lassen sich aus der Systemtheorie allgemeine Entwicklungsprinzipien ab-
leiten, (bis hin zu Zustandsveränderungen im synaptischen Spalt zwischen zwei Ner-
venzellen), die vom organischen Geschehen auf das soziale übertragbar sind. Und es
zeigt sich vor allem auch, daß die biologischen Grundlagen mehr sind als nur die Vor-
aussetzung für Entwicklung, denn sie zeigen Entwicklungsgesetze an.
- In den pädagogischen Theorien wird nicht genau analysiert, von welchen Faktoren
denn nun im einzelnen die Entwicklung des Kindes abhängt. Begriffe wie Vererbung,
Umwelt und auch Lernen sind zu allgemein. Die Systemtheorie zeigt, daß sich Ent-
wicklung und Erziehung nicht an bestimmten Punkten abspielt, sondern Prozesse zwi-
schen Prozessen sind. Der Bereich der vielfältigen strukturellen Koppelungen zwischen
unterschiedlichen Systemebenen kann das Entwicklungsgeschehen widerspiegeln.
- Die pädagogische Theoriebildung verzichtet auch auf die Festlegung bestimmter Ent-
wicklungsstufen oder formuliert sie zu Lernstufen um (vgl. Roth 1971, S.187), indem
sie die Komplexität von Entwicklung akzeptiert. Durch die Einführung und Erklärung
des Beobachters in systemischen Prozessen wie der Erziehung und Entwicklung wird
die Bewertung der Entwicklung des Kindes als systemgebunden akzeptiert. Entwick-
lungsstufen können für die Erziehung formuliert werden, wenn sie für Regelungen im
System hilfreich sind. Sie sind aber durch ihre Bindung an konsensuelle Bereiche als
flexibel und veränderbar zu verstehen und nicht dogmatisch. Festgefahrene Regelungen
in der Erziehung, die über Jahrzehnte z.B. im schulischen Alltag vorkommen, obwohl
sie schon längst aus gesellschaftlicher und/oder wissenschaftlicher Sicht teilweise als
unzeitgemäß angesehen werden, sind aus systemtheoretischer Sicht nicht vertretbar
(Beispiel: Verhältnis von Religionsunterricht und Computerunterricht in der Grund-
schule).
- Das Kind ist nicht als ein von einem Beobachter unabhängiges erzieherisches oder
auch wissenschaftliches Objekt anzusehen (vgl. Rotthaus 1998, S.44). Das gleiche gilt
auf der wissenschaftlichen Ebene auch in bezug auf den Erzieher. In den pädagogischen
Theorien hat man den Eindruck, als wäre Erziehung immer dann erfolgreich, wenn der
Erzieher nur entsprechend geschult würde. Die Systemtheorie macht demgegenüber
deutlich, daß wissenschaftliche Aussagen komplexe Auslöseereignisse für eine komplexe
Praxis sind und sich durch ihre Reduktion in der Umsetzung verändern können. Die
335
Eigenkomplexität psychischer und sozialer Systeme ist nicht zu unterschätzen und
kommt in einer demokratisch orientierten Gesellschaft stark zum Ausdruck.
- Die pädagogische Theorie geht im allgemeinen davon aus, daß das Kind in der Lage
ist, genau die Information aufzunehmen, die ihm vorgegeben wird, wenn sie dem Ent-
wicklungsstand angepaßt ist. Identische kognitive strukturelle Koppelungen im Be-
wußtsein von Erzieher und Kind gibt es aus systemtheoretische Sicht jedoch nicht. Die
Erziehung bietet Auslöseereignisse für die selbstregulative Entwicklung des Kindes. In
der Systemtheorie steht die gleichwertige Autonomie von Erzieher und Kind im Mittel-
punkt, die sich aus der gleich ablaufenden autopoietischen Organisation beider perso-
naler Systeme ergibt. Dies führt zu einem Verhältnis von Erzieher und Kind, das eben-
falls als gleichwertig zu betrachten ist. Das heißt aber auch, daß sich der Erzieher in der
Erziehung nicht zurücknehmen muß (wie bei Montessori) und daß das Kind nicht genau
das lernt, was der Erzieher intendiert (wie bei Bruner).
- Die pädagogischen Theorien behandeln jeweils Teilbereiche des komplexen Zusam-
menhangs von Erziehung und Entwicklung. Verkürzt kann gesagt werden, Montessori
betont die Entwicklungsfähigkeit des Kindes, Bruner die Vermittlung von Strukturen
auf der kognitiven Ebene, nach Krappmann umfaßt Erziehung Sozialisation und die
Bedeutung der sprachlichen Interaktion steht im Vordergrund, nach Roth ist Erziehung
mit Lernen identisch und für Ballauff ist Erziehung gleichzusetzen mit Bildung. Die
Komplexität des Systems Erziehung ist nun nicht gleichzusetzen mit der Verbindung
der Inhalte der Theorien, aber einzelne Erziehungssituationen oder Erziehungseinheiten
und pädagogische Sinnkriterien können genau diesen Inhalten aus der pädagogischen
Theoriebildung entsprechen. Es gibt Situationen, in denen sich der Erzieher zurück-
nimmt und das Kind alleine spielt, es werden Lernergebnisse festgestellt, die auf be-
stimmte (intendierte) kognitive Strukturen schließen lassen, es gibt auch Situationen in
denen die Grenze zwischen Sozialisation und Erziehung fließend ist und schließlich
lassen sich komplexe Lernergebnisse auch als Bildung bezeichnen. Dabei handelt es
sich um Geschehnisse, die von einem Beobachter festgestellt werden. Indem es in der
Systemtheorie um die phänomenologische Beschreibung von Erziehung und Entwick-
lung geht, ist Erziehung und damit die erzieherische Beeinflussung an die tatsächliche
Kommunikation zwischen psychischen Systemen gebunden und erfolgt nicht linear und
so kausal, daß sie von der wissenschaftlichen Ebene sozusagen vorweggenommen wer-
336
den kann, wie dies die pädagogische Theoriebildung vorstellt. Erziehung, so könnte
man heute auch formulieren, ist eine Erziehung von unten und nicht von oben.
- In der pädagogischen Theoriebildung wird der Sinn von Erziehung konstruiert, wäh-
rend die Systemtheorie durch Rekonstruktion des Erziehungsgeschehens zu Sinneinhei-
ten von Erziehung gelangt. Dies wird vor allem durch Ballauffs Theorie deutlich, in der
Begriffe wie Wissen, Freigabe und Emanzipation etc. auftreten. Die Rekonstruktion
muß deshalb interdisziplinär sein und mindestens biologische, soziologische und psy-
chologische Gegebenheiten aufgreifen, bevor sie philosophisch überhöht werden kann.
- Die pädagogischen Theorien haben mit der Systemtheorie gemeinsam, daß sie in un-
serer Gesellschaft entstanden sind und sich deshalb auf ähnliche konsensuelle Breiche
beziehen. Die Kulturabhängigkeit von Erziehung und Entwicklung wird in allen Ansät-
zen betont. Von daher ergeben sich Gemeinsamkeiten von Systemtheorie und pädagogi-
schen Theorien. Die Systemtheorie schafft es zudem, durch die Darstellung der struktu-
rellen Koppelung von System und Umwelt und die Einheit der System/Umwelt-
Differenz, diese Kulturabhängigkeit genau zu erklären.
c) Praktische Konsequenzen für das System Erziehung
Abschließend sollen exemplarisch auch einige praktische Konsequenzen aus der sys-
temtheoretischen Analyse gezogen werden, die für eine spezifische Erziehungssituation
sicherlich noch weiter zu konkretisieren wären. Aber letztlich, darauf wurde auch schon
hingewiesen, lassen sich keine bestimmten Handlungsvorschläge aus der Systemtheorie
ableiten, weil sich eine Handlung erst in einer Situation durch Aktualisierung der
Selbstreferenz eines sozialen Systems ergibt (vgl. Luhmann1987, S.124). Die Handlung
ist ein Ereignis, das durch die Zurechnung in einer Sinneinheit, wozu auch Erziehung
als System gehört, entsteht.
- Erzieher und Kind sind in der erzieherischen Kommunikation gleichwertige Partner.
Fragen und Probleme der Kinder sollten ernst genommen und auch aufgegriffen wer-
den. Gleichzeitig sollte der Erzieher aber auch ehrlich und begründend dem Kind mit-
teilen, wenn er z.B. keine Zeit hat, Fragen zu beantworten oder wenn er ein Problem
selbst nicht lösen kann. Die geschieht, wenn z.B. die Mutter dem Kind erklärt, daß sie
beim Kochen keine Zeit hat, dem Kind ein Buch vorzulesen, es aber gerne in der Mit-
tagszeit nachholen wird. Oder wenn sich der Lehrer im Fachunterricht nicht mit einem
Problemen auseinandersetzen kann, das nicht zum Thema gehört. Er sollte aber dann
die Möglichkeit geben, vor Ende der Stunde das Problem noch einmal aufzugreifen. Die
337
Erziehung erfordert Zeit für Gespräche, die gerade in der Schule nicht genügend vor-
handen ist. Das bedeutet auch, daß die Eltern sich Zeit für Gespräche mit den Kindern
nehmen sollten. Diese ergeben sich oft von ganz alleine, wenn z.B. ohne Zeitdruck ge-
meinsam Mittagessen wird.
Eine systemische Richtlinie wäre hier: sich so viel Zeit für die Kinder nehmen wie es
dem Erzieher für die Entwicklung des Kindes nötig erscheint, ohne daß der Erzieher
seine eigenen Interessen ganz vernachlässigen darf. Das verlangt vom Erzieher Selbst-
reflexivität.
- Den Eltern kommt aus systemtheoretischer Sicht ein hohes Maß an Verantwortung für
die Erziehung der Kinder zu. Erziehung findet eben nicht nur in der Schule statt, die in
unserer Gesellschaft nur die Hälfte des Tages einnimmt. Und in einem erzieherischen
konsensuellen Bereich, der die Entwicklung des Kindes berücksichtigt, ist es nun ein-
mal leichter zu erziehen. Ein kindgerechtes Gestalten der Freizeit gehört sicherlich da-
zu. Dabei ist abzuwägen, wieviele Kurse das Kind am Nachmittag verkraftet, wieviel
Zeit es zum selbständigen Spielen benötigt, wann die Schularbeiten gemacht werden,
wann die Freunde kommen können, ob Zeit zum Üben bleibt und welche gemeinsamen
Aktivitäten Eltern und Kind unternehmen. Heute ist außerdem die Fernseh-, Computer-,
Game-boy- oder Nintendo-Zeit von Bedeutung. Hier gilt es zu selektieren, ohne in star-
re Regeln zu verfallen, die die Freizeit durchorganisieren. Eine aktive, mit dem Kind
gemeinsam gestaltete Reduktion der Komplexität von Freizeitangeboten ist die systemi-
sche Devise, die die bewußte Selbständigkeit des Kindes fördert.
- Durch die bewußtseinsmäßige Asymmetrie zwischen Erzieher und Kind fallen dem
Erzieher somit erhebliche Aufgaben zu. Insbesondere der Lehrer als Erzieher bietet ge-
zielte Auslöseereignisse für die Entwicklung des Kindes an. Dabei muß er die Anforde-
rungen an seine Arbeit mit dem Entwicklungsstand der Kinder in Einklang bringen. Er
muß für Situationen sorgen, die zu Erstmaligkeit oder zur Bestätigung führen (vgl. Bü-
eler 1994, S.90ff.). So umfaßt der Unterricht nicht nur die Präsentation von neuen
Lerninhalten, sondern es gehört auch viel Zeit zum Üben dazu und Unterrichtseinheiten,
in denen das Kind sein neues Wissen sicher anwenden kann. Oft bleibt aber nicht genug
Zeit zum Üben innerhalb der Schule. Eine erhöhte Stundenzahl von Unterricht sollte
aus systemtheoretischer Sicht für Übungen und Sicherung des Gelernten genutzt werden
und nicht für zusätzlichen Unterrichtsstoff. Dabei kann hier nicht im einzelnen erörtert
werden, welche Auswirkungen die systemtheoretischen Erklärungen des Zusammen-
338
hangs von Erziehung und Entwicklung für die Organisation von Schule vorstellbar wä-
ren. Beispielhaft könnte man an eine Einführung von Gesprächsrunden denken, an de-
nen alle Fachlehrer mit den Schülern einer Klasse gemeinsam teilnehmen, an eine er-
höhte Zahl von Neigungskursen für die Schüler und auch an einen regelmäßigen Stun-
denplan in der Oberstufe, ohne Freistunden und unregelmäßigen Unterricht am Nach-
mittag.
- Auch die Lehrerausbildung gilt es aus systemtheoretischer Sicht zu überprüfen. Der
Lehrer als Erzieher muß, das wurde bereits gesagt, nicht nur über Fachwissen verfügen,
sondern auch über Steuerungswissen und damit im Grunde über systemische Zusam-
menhänge im Erziehungsgeschehen. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion muß besonders
ausgeprägt sein. Denn als Beobachter, Gestalter und Bewerter von Erziehung und Ent-
wicklung muß der Erzieher die vielfältigen System- und Umweltdifferenzen erfassen
können. Das heißt konkret, er muß zunächst eine positive Grundeinstellung Kindern
gegenüber haben, denn jemand der Kinder nicht mag, wird sich wohl kaum auf ihre
Entwicklung einlassen. Er muß außerdem differenzieren können zwischen seinem Ver-
halten in einer Erziehungssituation und der anschließenden Bewertung der Leistung des
Kindes, die aus dieser Situation hervorgegangen ist. Dabei muß er sich selbst gut beo-
bachten und einschätzen können. Er sollte schließlich auch für eine vielgestaltige, also
abwechslungsreiche Lern- oder Spielatmosphäre sorgen, wodurch Kontingenzbewußt-
sein gefördert wird. Dazu gehört u.a., daß vom Lehrplan einmal abgewichen wird, daß
Unterrichtsstoff auch außerhalb von Schule erarbeitet wird, was sicherlich auch für den
Lehrer auf Dauer interessanter, befriedigender ist. Eine fundierte pädagogische und
entwicklungspsychologische Ausbildung des Lehrers ist hier von Vorteil. Denn das Kind
kann „grundsätzlich nur das tun, was das psychische System erlaubt“ (Grzesik 1994,
S.291), und der Erzieher muß in der Lage sein zu entscheiden, was dem psychischen
System möglich ist.
- Eine vielgestaltige Erziehung fördert, wie gerade gesagt, das Bewußtsein für Kontin-
genzen beim Kind. Die Möglichkeiten in der Entwicklung des Kindes sollten sich auch
in der Organisation des Erziehungssystems widerspiegeln. Eine Vielzahl von Schultypen
und auch die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulen wäre eine systemische
Forderung. So sollte ein Übergang von der Hauptschule auf die Realschule und von dort
z.B. nach gelungenem Abschluß der 10. Klasse auf jedes Gymnasium möglich sein. Nur
339
so gestalten sich auch vielfältige Lebensmöglichkeiten für das Kind, dessen Entwick-
lung nicht mit Abschluß der Grundschule genau festgelegt werden kann.
- Damit in der Entwicklung das Kind durch die Umweltkomplexität nicht überfordert
wird, muß für Stabilität in der Erziehung gesorgt werden, was durch die Gestaltung des
konsensuellen Bereichs erfolgt. Regeln zur Lebensgestaltung sollten gemeinsam mit
dem Kind aufgestellt werden, damit sie für das Kind verständlich sind. An diese Regeln
sollten sich dann Erzieher und Kind halten. Dabei kann es sich sowohl um die Regelung
des Fernsehverhaltens des Kindes handeln, wie um das Vorlesen am Abend oder das
Kochen des Lieblingsgerichtes des Kindes einmal pro Woche etc. Regeln können aber
auch durchbrochen werden, was manchmal sogar zugunsten flexiblen Verhaltens not-
wendig ist. Man versuche beispielsweise einmal die oft festgefahrene Tischordnung zu
Hause zu unterbrechen. Vom Erzieher initiierte Veränderungen führen, wenn sie von
den Kindern auch nicht akzeptiert und deshalb vielleicht zurückgenommen werden, zu
einer oft interessanten erzieherischen Kommunikation, in der die binäre Codierung von
Sprache vollzogen und wiederum Kontingenzen geschaffen werden. Erzieherische Re-
geln ergeben sich in Abhängigkeit systemischer Zusammenhänge. Wieviel Stunden
Schlaf das Kind benötigt und wann es abends ins Bett soll, hängt schließlich auch von
der körperlichen Konstitution des Kindes ab, was dem Kind durchaus erklärt werden
kann.
- Insgesamt zeigt sich, daß die Schaffung einer „positiven Atmosphäre“ in der Erzie-
hung die Basis bildet für die Komplexität des Zusammenhangs von Erziehung und Ent-
wicklung. Diese Atmosphäre ist gekennzeichnet durch Höflichkeit, Hilfsbereitschaft,
Zuhören, sich Zeit nehmen u.ä. (zur Bedeutung eines positiven Schulklimas siehe Span-
hel/Hüber 1995, S.202ff.). Dem Erzieher kommt hier nach wie vor eine Vorbildfunktion
zu und er kann auch entsprechende Umgangsformen mit den Kindern einüben. Die
Mutter kann zeigen, wie das ältere Kind dem jüngeren z.B. beim Anziehen helfen kann,
indem es die Schleife der Schuhe bindet. Oder die Kinder helfen der Mutter beim Ab-
räumen des Tisches, weil dann eine Geschichte vorgelesen werden kann. Und so kann
auch der Lehrer durch Gruppenarbeit Hilfeleistungen einüben etc.
- Erziehung findet immer in der Gegenwart statt, auch wenn für die Zukunft erzogen
wird. Dies sollte im alltäglichen Erziehungsgeschehen nicht vergessen werden. Oft wird
von Kindern verlangt, daß sie etwas können und üben müssen, weil es für „später“ so
wichtig ist. Aufgaben, die das Kind zu bewältigen hat (seien es Schulaufgaben oder der
340
Schwimmkurs zu dem es regelmäßig erscheinen muß) sollten ihm nicht verleidet wer-
den, weil sie nur in Bezug auf die Zukunft geschehen. Gegenwärtige Tätigkeiten des
Kindes sollten mit nahen Zielen verbunden sein, damit das Kind Freude, Erfolg oder
Befriedigung in seiner Aktivität findet. So kann z.B. das für die Schule zu lernende Ge-
dicht auch der Oma Freude bereiten.
- Die systemischen Zusammenhänge, in denen wird leben, können dem Kind vermittelt
werden. Dafür müssen die konsensuellen Breiche und die Systembeziehungen durch-
sichtig gemacht werden. Exemplarisch sei an den Einfluß der Werbung und des Fernse-
hens (Beispiel: der Pokèmon-Boom) erinnert oder an den Gruppendruck (man denke an
die gleiche Kleidung der Jugendlichen). Es können Zusammenhänge aufgezeigt und
dem Kind erklärt werden, wie seine „persönliche“ Meinung tatsächlich zustande
kommt. Das Verhältnis von Außensteuerung des Kindes (z.B. durch Werbung) und der
Innensteuerung, die in diesem Fall oft der Außensteuerung gleichkommt, kann im Ge-
spräch zwischen Erzieher und Kind aufgedeckt werden. In der Erziehung ist darauf zu
achten, daß das Kind zu „transferentiellen Operationen“ fähig wird. Mit diesem Beg-
riff von Braten (siehe genauer Willke 1989, S.47f.) wird auf die Verschränkung von
Selbst- und Fremdreferenz hingewiesen, die zu einer aufgeklärten Selbstbestimmung
führt und einem selbstreferentiellen System angemessen ist. So kann, je nach Entwick-
lungsstufe des Kindes, mit dem Erzieher gemeinsam überlegt werden, was dem Kind
von der (systemeigenen) Umwelt vorgegeben wird, was es selbst will und wie es beide
Perspektiven in Einklang bringen kann, damit es in unserer differenzierten Gesellschaft
zurechtkommt.
Es zeigt sich, daß systemische Zusammenhänge in allen pädagogischen Bereichen vor-
liegen, aufgedeckt und für die Praxis fruchtbar gemacht werden können. Das gilt für die
frühkindliche Erziehung, für den Schulunterricht, die Medienpädagogik oder die Fami-
lienerziehung. Dabei bleibt grundsätzlich die Offenheit von Handlungsplänen zu be-
achten (vgl. Spanhel/Hüber 1995, S.52), weil die Entwicklung aufgrund der Selbstorga-
nisation und der vielfältigen Umweltbeziehungen des Kindes nicht verläßlich vorher-
sagbar ist, das Kind nicht zu einem festgelegten Verhalten erzogen werden kann und der
Zusammenhang von Erziehung und Entwicklung in der Einheit des Systems Erziehung
nicht das Leben des Kindes vollständig abdeckt.
341
6. Die Erziehungssituation als Schnittpunkt von Erzie-hung und Entwicklung
In der Erziehungssituation vollzieht sich der Zusammenhang von Erziehung und Ent-
wicklung. Um dies darzustellen, ist vorab der Begriff der Situation zu klären, um von
hier aus die Erziehungssituation aus systemtheoretischer Perspektive zu erklären. Dazu
gehört schließlich, daß die Verquickung von Entwicklung und Erziehung durch eine am
erzieherischen Sinn orientierte strukturelle Koppelung personaler Systeme (Kind und
Erzieher) zustande kommt.
6.1 Der Situationsbegriff
In der systemtheoretischen Literatur gibt es bisher noch keine genaue Kennzeichnung
des Situationsbegriffs353. Deshalb wird hier von der Arbeit von Arnold (1981) ausge-
gangen, in der der Situationsbegriff unter Berücksichtigung seiner soziologischen Aus-
prägung354 direkt aus pädagogischer Sicht erklärt. Arnolds pädagogische Sichtweise soll
hier resümiert und dann aus systemtheoretischer Sicht überprüft werden.
Die Theoriequellen des Situationsbegriffs liegen nach Arnold in der Pädagogik bei Pe-
tersen355, in der Psychologie bei Lewin, in der Soziologie bei Thomas und schließlich in
der Philosophie bei Husserl. Daneben sind für die Pädagogik vor allem das Situations-
353 Der Situationsbegriff wird in allgemeinen Einführungen in die Systemtheorie nicht definiert, er wird teilweise gar nicht erwähnt,
wie zum Beispiel bei Krieger (1996), Willke (19872) oder Müller (1996). Auch bei Luhmann wird er nur nebenbei erwähnt (vgl. z.B.
Luhmann 1987, S.229) und auf keinen Fall zählt er zu den Grundbegriffen oder Merkmalen sozialer Systeme, wie sie von Luhmann
in seiner Arbeit über soziale Systeme in Zusammenhang gebracht werden (vgl. Luhmann 1987, S.34ff.). Allerdings haben Luh-
mann/Schorr für den pädagogischen Bereich auf die Diagnostik von Erziehungssituationen hingewiesen, die für den Verlauf von
Erziehung notwendig sind: „Während Unterricht eher im Hinblick auf Ziele programmiert werden kann, die fixieren, was gelernt
worden sein soll, muß Erziehung eher konditional und wirkungsoffen programmiert werden; sie muß an educogene Situationen
anschließen und dem Moment Tragweite geben können. Soweit für Erziehung überhaupt Programmformen und erfolgsträchtige
Verhaltensstrategien entwickelt werden können, müssen sie daher auf Anlaßtypisierungen und letztlich auf einer Situationsdiagnos-
tik beruhen, die Vergangenes und Gegenwärtiges grob resümiert, weil es in der Situation gerade einmal in einer bestimmten
Konstellierung greifbar und entwickelbar ist“ (Luhmann/Schorr 1979, S. 231).354 „Obgleich die Aussage trivial erscheinen mag, soll an dieser Stelle postuliert werden, daß sich der ‘Inhalt’ des Situationsbegriffs
(...) auf den Gegenstandsbereich sozialer Sachverhalte, sozial vermittelter Ereignisse und sozial bedeutsamer Phänomene bezieht.
Der Begriff der Situation erschließt also Phänomene, die in Referenz zu menschlichen Handlungs-, Interaktions- und Kognitions-
prozessen stehen; es wird unterstellt, daß ‘Situation’ soziale Wirklichkeit abzubilden vermag“ (Arnold 1981, S.344).355 „... so bin ich immer in Situationen, d.h. ich stehe nicht vor einer konkreten Wirklichkeit oder in ihr als einem großen, nach allen
Seiten hin zerfließenden Ganzen, sondern, bildlich gesprochen, in Gewebeteilchen der einen Wirklichkeit, d.h. eben in Situationen“
(Petersen in Arnold 1981, S.10).
342
konzept Mollenhauers356 und der didaktische Situationsbegriff von Robinsohn357 zu
nennen, die die Grundlage für Arnolds Ausarbeitungen waren, ohne daß diese Ansätze
selbst „historisch weit zurückreichen“ (Arnold 1981, S.347).
Situationen repräsentieren immer Teilsegmente der sozialen Wirklichkeit oder abgrenz-
bare Ausschnitte des sozialen Geschehens (ebd., S.349). In Hinblick auf Erziehung und
Unterricht wird von abgrenzbaren Teilausschnitten des unterrichtlichen Geschehens
gesprochen oder von sinnhaften Teilsequenzen des Unterrichts. Daneben werden Situa-
tionen auch als Bedingungsgefüge sozialen Geschehens verstanden und sie repräsentie-
ren dann verhaltensauslösende Bedingungen. Insbesondere im unterrichtlichen Bereich
werden „pädagogische Hintergrundbedingungen“ zu Auslösern für Situationen, so daß
formuliert werden kann: „In abstrakt klassifikatorischer Weise werden erzieherisch-
intentional gestaltete soziale Geschehensprozesse als ‘pädagogische Situationen’ spezi-
fiziert“ (ebd., S.353). Der Situationsbegriff ist somit immer abhängig von Raum und
Zeit, denn innerhalb eines prozeßhaften Verlaufs soll durch die Kennzeichnung von
Situationen eine „Abgrenzung von Geschehensprozessen“ eben dieses Verlaufs möglich
sein. Hinzu kommt die Perspektive, von der aus Situationen als solche bezeichnet wer-
den. Arnold unterscheidet zwischen der Außenperspektive, die die Situation, die Perso-
nen und die Hintergrundbedingungen umfaßt und der Binnenperspektive, die die Perso-
nen und deren Handlungen bezeichnet. Zusammenfassend läßt sich dann der Begriff
„Situation“ vorab wie folgt definieren:
„ Als ‘Situation’ wird ein ausreichend sinnhaltiger Ausschnitt eines sozialen Gesche-
hensprozesses bzw. das diesem zeitlich-räumlich abgrenzbaren Segment zugehörige
komplexe Bedingungsgefüge bezeichnet. Der soziale Geschehensprozeß ist abbildbar in
einer Folge elementarer ‘Situationseinheiten’, die nach Merkmalen unterscheidbar, d.h.
vergleichbar sind und zu ‘Meta-Situationen’ klassifikatorisch zusammengefaßt werden
können. Eine ‘Einzelsituation’ besitzt eine zeitliche Extension, in der zwar eine perma-
nente Änderung der Einzelmerkmale stattfinden kann, phänomenal bleibt die Qualität
jedoch unverändert. Der Prozeß der Identifikation von ‘Situationen’ ist eng verbunden
mit dem Prozeß der Situationsinterpretation, deren individuelle Spezifität nur in einer
356 „Den kleinsten Referenzrahmen für solche Analysen, und damit auch für kleinste deskriptive Einheiten für Sozialisationsprozes-
se, nennen wir ‘Situationen’“ (Mollenhauer in Arnold ebd., S.7).357 „Die allgemein formulierte Aufgabe der Erziehung sieht Robinsohn in der ‘Ausstattung zur Bewältigung von Lebenssituationen’“
(Arnold ebd., S.3).
343
selbstreflexiven, hermeneutischen Sinnvergewisserung erschließbar ist und deren in-
terindividuelles Substrat über entsprechende Objektivierungsverfahren bestimmt wer-
den kann (ebd., S.419).
Neben dieser allgemeinen Definition unterscheidet Arnold strukturelle Aspekte, die
zwar nicht vollständig überschneidungsfrei sind, wodurch jedoch die „Differenziertheit
der Entwicklungsmöglichkeiten des Situationsbegriffs“ deutlich wird (ebd., S.359). Die
von Arnold bearbeitete Literatur wird unter folgenden Aspekten gesehen (vgl. ebd.,
S.359ff.):
1. Elementaraspekt: Die Situation wird als elementare Einheit eines Geschehensprozes-
ses aufgefaßt. 2. Ganzheitsaspekt: Soziale Prozesse werden als strukturierte Ganzheit
von Bedingungsfaktoren aufgefaßt. 3. Referenzaspekt: Der Situationsprozeß erschließt
den Referenzrahmen des Geschehensprozesses. 4. Interpretationsaspekt: Durch den
Begriff der Situation wird auf die Interpretation, die subjektive Wahrnehmung von sozi-
alem Geschehen aufmerksam gemacht. 5. Konstruktionsprozeß: Situationen werden als
Ergebnisse von Handlungsprozessen verstanden. 6. Aktualisierungs- und Konkretheit-
saspekt: Die Situation umfaßt ein in der Gegenwart sich vollziehendes Andauern eines
sozialen Geschehensverlaufs und durch den Konkretheitsaspekt werden spezifische
Randbedingungen berücksichtigt. 7. Einmaligkeitsaspekt: Die Situation wird als nicht
wiederholbar verstanden358. 8. Strukturiertheitsaspekt: Aufgrund „qualitativer Subbeg-
riffe des Situationsbegriffs“ (ebd., S.370) sind Situationen klassifizierbar. 9. Aspekt der
Handlungsaufforderung: Situationen als diskrete Bedingungskonstellationen sollen das
Individuum zu spezifischen Handlungen auffordern.
Neben den strukturellen Aspekten des Situationsbegriffs lassen sich verschiedene Situ-
ationsmodelle entwerfen (vgl. zum Folgenden ausführlich Arnold ebd., S.371ff.). Dabei
sind zu nennen: 1. Folgemodell: Durch eine Situationsfolge soll ein Geschehensprozeß
abgebildet werden. 2. Taxonomiemodell: Situationen können in Klassen gruppiert und
zu „übergeordneten Gruppen von Verlaufssequenzen“ (ebd., S.374) zusammengefaßt
werden. 3. Vergleichbarkeitsaxiom: Nachdem Gemeinsamkeiten von Situationen gege-
ben sind, werden die in Frage stehenden Situationen mittels eines theoretisch-
358 „In erziehungswissenschaftlichen Ausarbeitungen des Situationsbegriffs wird durch den ‘Einmaligkeitsaspekt’ die Besonderheit
konkreter Ausschnitte des Erziehungs- und insbesondere des Unterrichtsgeschehens betont und damit auf die grundlegende Verant-
wortlichkeit pädagogisch-intentionalen Handelns gegenüber jedwedem Handeln und Erleben der zu Erziehenden hingewiesen,
zugleich wird die prinzipielle Fragwürdigkeit hervorgehoben, generalisierende Aussagen über pädagogische Bedingungsverhältnisse
in experimentell hergestellten ‘Situationen’ zu gewinnen“ (ebd., S.369).
344
begrifflichen Systems beschrieben. 4. Klassifikationsmodell: Hier geht es darum, daß
diskrete Ausschnitte von sozialen Geschehensprozessen und deren Bedingungskonstel-
lationen „aufgrund theoretischer abgeleiteter Ähnlichkeitsrelationen zu Gruppen, Un-
termengen bzw. Klassen von ‘Situationen’ zusammengefaßt“ werden (ebd., S.378). 5.
Prozessualitäts- und Regelungsmodell: Abschließend wird auf den Verlaufscharakter
von Situationen hingewiesen, wobei von einem Regelmodell im engeren Sinne dann zu
sprechen ist, wenn die Situation als Regelstrecke verstanden wird, auf die in zeitlicher
Abfolge Störgrößen einwirken.
In Anlehnung an Arnold kann dann von einer Erziehungssituation gesprochen werden,
wenn folgende Bedingungen gegeben sind: Eine Situation wird aufgrund ihres pädago-
gischen Sinns zu einer Erziehungssituation, aufgrund erzieherischer Bedingungen, die
eine Erziehungssituation auslösen, sie ist zeitlich und räumlich begrenzt, ist gegenwär-
tig und einmalig, wird durch eine am pädagogischen Sinn orientierte Interpretation zur
Erziehungssituation. Die Erziehungssituation ist eine Einheit, die durch eine Folge von
Handlungen gekennzeichnet ist, bei der die Handlungsaufforderung an das Kind im
Mittelpunkt steht.
Diese noch recht formale Beschreibung der Erziehungssituation läßt sich in Anlehnung
an Kratochwil weiter konkretisieren (vgl. Kratochwil 1993, S.93ff.). So beinhaltet eine
Erziehungssituation externe und interne Erziehungsbedingungen (zu den externen gehö-
ren anthropologische Grundlagen wie Erziehbarkeit u.ä., zu den internen z.B. das Le-
bensalter des Kindes), Hemmnisse beim Erziehen, einen konkreten Anlaß für erzieheri-
sches Handeln, die Vorbereitung der Erziehungshandlung, ihre Durchführung, das Er-
lebnis der Erziehungshandlung und deren Folgen. Die abschließende Reflexion der Er-
ziehungshandlung erfolgt bereits außerhalb der Erziehungssituation. Dies gilt für die
Beobachtung einer Situation.
Für die einzelnen Personen, die in einer Situation als Individuen handeln, ergibt sich ihr
Handeln durch eine Verbindung von objektiven (im weitesten Sinne auch gesellschaftli-
chen) Bedingungen, persönlichen Einstellungen, die bereits vor der Situation bestehen
und der „Definition der Situation“ (ein Begriff von W.I.Thomas) als „Apperzeption der
subjektiven und der objektiven Gegebenheiten“ (Dreitzel 1972, S.159). Hier wird der
Anteil der Person in einer Situation bereits deutlich. Eine Situation kann niemals ganz
festgelegt werden. Das Verhalten der Personen in einer Situation kann auch beschrieben
werden durch das Verhältnis von Ich-Leistungen und fixierten Rollenerwartungen, wo-
345
bei der Umfang der Ich-Leistungen von der Rolle359 mitbestimmt wird (vgl. Goffman in
Dreitzel 1972, S.189ff.). Wesentlich ist hier, daß das Individuum die Situation „definie-
ren“ kann, indem es z.B. das Thema der Situation festlegt. Dies geschieht im Rahmen
eines Relevanzbereiches, der sich in der Erziehungssituation durch die „pädagogischen
Hintergrundbedingungen“ ergibt, durch die Vorgaben, Kenntnisse, Einstellungen,
Handlungsmöglichkeiten oder –fähigkeiten etc. Das gilt für den Erzieher genauso wie
für das Kind. Beide können prinzipiell die Erziehungssituation „definieren“. Inwieweit
dies dann tatsächlich geschieht, ist eine andere Frage. Zu Situationsstörungen kann es
jedenfalls dann kommen, wenn sich die Situation so verändert, daß die Intention den
Interaktionspartnern zuwiderläuft (vgl. Dreitzel 1972, S.165). Das ist zwar auch durch
zeitliche oder räumliche Strukturen möglich, in der Regel ist aber davon auszugehen,
daß der Erzieher, aufgrund seiner „Definition der Situation“, eine Erziehungssituation
auslöst oder beendet. So kann beispielsweise die Störung einer Unterrichtssituation zu
einer Erziehungssituation führen (z.B. Streit zweier Kinder, während der Lehrer etwas
erklären will), die der Lehrer, nach Klärung des Problems, beendet und sich wieder auf
den Unterricht konzentriert. In der Erziehungssituation ist der Relevanzbereich klar, da
es (aus der Sicht des Erziehers) um Erziehung unter Berücksichtigung der Entwicklung
des Kindes geht, das Thema der einzelnen Erziehungssituation ergibt sich oft erst im
gegenwärtigen Vollzug von Interaktionsprozessen zwischen Erzieher und Kind.
Diese ersten Kennzeichen einer Erziehungssituation aus erziehungswissenschaftlicher
Sicht sollen nun die Basis für die pädagogisch-systemtheoretische Analyse der Erzie-
hungssituation werden. Das grundlegende Verständnis folgender Begriffe kann dabei
erhalten bleiben: Unter einer Situation ist die Einheit eines sozialen Geschehens zu ver-
stehen (daß dieses Geschehen prozeßhaften Charakter hat ist selbstverständlich), die
Erziehungssituation umfaßt solche Situationen die sich durch den pädagogischen Sinn
von „anderen“ Situationen, wie zum Beispiel der Umgangssituation, unterscheiden.
359 „Rollen können dann, von der individuellen Person unterschieden, als eigene, schon abstrakte Gesichtspunkte der Identifikation
von Erwartungszusammenhängen dienen. Eine Rolle ist zwar noch dem Umfang nach auf das zugeschnitten, was ein Einzelmensch
leisten kann, ist aber gegenüber der individuellen Person sowohl spezieller als auch allgemeiner gefaßt. Es geht immer nur um einen
Ausschnitt des Verhaltens eines Menschen, der als Rolle erwartet wird, andererseits um eine Einheit, die von vielen und auswech-
selbaren Menschen wahrgenommen werden kann: um die Rolle eines Patienten, eines Lehrers, eines Opernsängers, einer Mutter,
eines Sanitäters usw.“ (Luhmann 1987, S.430).
346
6.2 Die systemtheoretische Betrachtung der Erziehungssitua-tion
Die Erziehungssituation ist Teil des Systems Erziehung und damit selbst System. Sie
verfügt über die Systemmerkmale, die allgemein für soziale Systeme gelten. Sie ent-
spricht dem Phänomenbereich, in dem Erziehung tatsächlich stattfindet. Erst die Folge
von Erziehungssituationen, die aufeinander aufbauen oder eine nächste Erziehungssitu-
ation vorbereiten, macht Erziehung als System aus.
Erziehung, so wurde bereits gesagt, erfolgt durch Kommunikation in einem konsen-
suellen Bereich. Und da in sozialen Systemen durch Kommunikation die Handlung
konstituiert wird360, ist die Erziehungssituation das Teilsystem des Systems Erziehung,
in dem erzieherische Handlungen ausgeführt werden. Die Erziehungssituation ist das
konkrete Handlungsfeld von Erziehung. Auf die Entwicklung wird noch eingegangen.
Die Struktur der Erziehungssituation läßt sich zunächst durch folgende Abbildung ver-
deutlichen, bei der die Abbildungen in Kapitel 5.4.4 über die erzieherische Kommuni-
kation und die Abbildung in Kapitel 5.6.2 über das personale System die Voraussetzung
bilden und mitzudenken sind, weil sich die Komplexität der Erziehungssituation
schlecht in ein Schema pressen läßt:
360 „Sozialität ist kein besonderer Fall von Handlung, sondern Handlung wird in sozialen Systemen über Kommunikation und Attri-
bution konstituiert als eine Reduktion der Komplexität, als unerläßliche Selbstimplifikation des Systems (...) Auf der Basis des
Grundgeschehens Kommunikation und mit ihren operativen Mitteln konstituiert sich ein soziales System demnach als Handlungs-
system“ (Luhmann 1987, S.191 und S.227).
347
Umwelt desErziehers
personales SystemErzieher
Umwelt desKindes
Umwelt der Erziehungssituation(z.B. Institution, Raum, Wissenschaft)
Kommunikation/Handlungim konsensuellen Bereich
(Kontext, Rahmen)
Erziehungssituation
Abb. 11: Die Struktur der Erziehungssituation
Diese Struktur der Erziehungssituation kann verschiedene Erziehungsphänomene in
Beziehung setzen, wie etwa den Unterricht in der Schule, außerschulischen Musikunter-
richt oder auch familiäre Erziehung. Die Qualität und damit die Unterschiede einzelner
Erziehungssituationen ergibt sich dann durch die Personen, die an der Erziehungssitua-
tion teilnehmen, den konkreten Inhalt der Kommunikation, den Sinn der Erziehungssi-
tuation und den spezifischen Erziehungsrahmen, Kontext bzw. konsensuellen Bereich.
Die Erziehungssituation als erzieherisches Handlungssystem ist selbstorganisierend.
Durch die Art der Kommunikation zwischen Erzieher und Kind wird die Erziehungssi-
tuation gestaltet, strukturiert, eingeleitet, fortgesetzt oder aufgelöst. Sie wird von Erzie-
her und Kind gemeinsam „definiert“ (vgl. vorherigen Abschnitt). Dies geschieht in Ab-
hängigkeit der die Erziehungssituation mitkonstituierenden systemeigenen Umwelten.
Die Organisation der Erziehungssituation führt zu ihrer prinzipiellen Einmaligkeit und
Nicht-Wiederholbarkeit361. Die Erziehungssituation ist ein gegenwärtiges Geschehen,
wie stark auch immer ihr Sinn an der Zukunft ausgerichtet sein mag. Es wird von daher
361 „Wenn auch die Elemente, aus denen das System besteht, durch das System selbst als Einheit konstituiert werden (wie komplex
immer der ‘Unterbau’ als Energie, Material, Information sein mag), entfällt jede Art von basaler Gemeinsamkeit der Systeme. Was
immer als Einheit fungiert, läßt sich nicht von außen beobachten, sondern nur erschließen“ (Luhmann 1987, S.61).
348
auch nicht möglich sein, präzise Handlungsanweisungen zu geben, die für jede Erzie-
hungssituation Gültigkeit haben362.
Nun stellt sich die Frage, warum es überhaupt zu einer Erziehungssituation kommt oder
wann eine Alltagssituation oder eine Umgangssituation in eine Erziehungssituation um-
schlägt. Dies hängt mit dem asymmetrischen Verhältnis zwischen einem Erwachsenen
und einem Kind zusammen. Eine Erziehungssituation kommt zustande, weil das Kind
sich in Entwicklung befindet und deshalb pädagogische Schwierigkeiten in der Kom-
munikation auftreten können. Die Kommunikation, so wurde gesagt, ergibt sich durch
das Nacheinander von Information, Mitteilung und Verstehen. Wenn beispielsweise
vom Erwachsenen eine Mitteilung erfolgt, dann versteht das Kind diese in Abhängigkeit
seines in Entwicklung befindlichen kognitiven Systems. Die Reaktion des Kindes, seine
Mitteilung kann nun beim Erwachsenen dazu führen, das ursprüngliche Thema zu ver-
lassen und die Mitteilung des Kindes selbst als Ausgangspunkt für die weitere Kommu-
nikation zu nehmen, weil die Mitteilung des Kindes auf eine entwicklungsbedingte
Aufgabe hinweist, die in einer Erziehungssituation von Erzieher und Kind gemeinsam
bearbeitet/gelöst werden kann. Darauf wird genauer im nächsten Abschnitt hingewie-
sen. Hier soll genügen, daß es einen Anlaß für eine Erziehungssituation gibt, durch die
der Erwachsenen dann zum Erzieher und das Kind zum zu Erziehenden wird.
Der Anlaß für eine Erziehungssituation ergibt sich durch den erzieherischen Sinn, über
den der Erwachsene verfügt, der in Abhängigkeit seiner eigenen Entwicklung entstan-
den ist.
Die Komplexität der Erziehungssituation kann durch die Darstellung der sie konstituie-
renden Elemente noch deutlicher werden: So fließen in den konsensuellen Bereich, der
den Rahmen der erzieherischen Kommunikation angibt folgende Faktoren mit ein: Das
Vorverständnis des Erziehers und des Kindes von Erziehung (wobei es sich nicht um
eine bewußte Reflexion über Erziehung handeln muß), Erziehungsziele und konkrete
Inhalte und damit auch sozio-kulturelle Gegebenheiten der Gesellschaft. Der konsen-
suelle Bereich ist auch abhängig von der Institution, in der Erziehung stattfindet, kann
also in Schule, Kindergarten oder Familie anders aussehen. Gerade in der institutionali-
sierten Erziehung fließen auch pädagogische Theorien des Erziehers in den Rahmen ein.
362 Speck zieht daraus folgendes Fazit: „Ein harmonisierendes Erziehungsmodell steht nicht mehr zur Diskussion (...) Von diesem
Grundbedürfnis, bei aller Differenz letztlich die Einheit, also den Zusammenhalt zu wahren oder wiederherzustellen, ist pädagogisch
auszugehen“ (1991, S.143).
349
Hinzu kommen situative Bedingungen. Eine Erziehungssituation wird am Frühstücks-
tisch einer Familie von anderen Bedingungen abhängig sein, als eine Erziehungssituati-
on in der fünften Schulstunde einer ersten Grundschulklasse. Schließlich beinhaltet der
konsensuelle Bereich auch die Anforderungen, die der Erzieher an das Kind hat und die
sich aus dem Sinn von Erziehung ergeben. Und natürlich fließen persönliche Bedürfnis-
se und individuelle Bedingungen von Seiten des Kindes und des Erziehers mit in den
konsensuellen Bereich ein.
Der konsensuelle Bereich wird erweitert zum Kontext oder Rahmen der Erziehungssitu-
ation, wenn auch materielle oder örtliche Gegebenheiten berücksichtigt werden (wie
z.B. eine Erziehungssituation auf dem Schulhof oder im Kinderzimmer oder Materialien
wie Spielzeug, Bastelsachen bis hin zu Medien). Schließlich ergibt sich der Rahmen
einer Situation durch die Definition der Situation363.
Die wesentlichen Elemente der Erziehungssituation bilden die psychischen Systeme des
Erziehers und des Kindes. Dabei wird die Erziehungssituation von Seiten des Kindes
durch folgende Faktoren mit beeinflußt: genetische (biologische), kognitive, motori-
sche, affektive und sensorische, die jeweils Teilbereiche des psychischen Systems sind;
durch den Entwicklungsstand (Wissen und Fertigkeiten) der auch abhängig ist von bis-
herigen Erfahrungen, Erziehung und anderen biographischen Gegebenheiten und durch
soziale Faktoren (soziale Beziehungen und gesellschaftliches Umfeld des Kindes). In
der aktuellen Erziehungssituation kommen diese psychischen Bedingungen durch die
konkreten Operationen oder die dem Kind zu Verfügung stehenden Schemata zum Aus-
druck364. Schließlich ist das Kind als Subjekt der Erziehungssituation gleichzeitig auch
Beobachter derselben.
Diese von dem spezifischen Entwicklungsstand unabhängigen allgemeinen Bedingun-
gen liegen auch beim personalen System des Erziehers vor und beeinflussen die Erzie-
363 „Ich gehe davon aus, daß wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere
persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihrer Herausarbeitung gelingt,
nenne ich ‚Rahmen‘.“ (Goffman 1980, S.19 in seinem Buch über die Rahmen-Analyse). Zum Begriff des Kontextes siehe Kapitel
5.3.2. Eine Beschreibung des psychologischen Rahmens findet sich bei Bateson 19945, S.252ff.364 Zum Begriff des Schemas als Struktur der Handlung vgl. das Skript der Vorlesung von Spanhel: Theorien erzieherischen Han-
delns und Verhaltens (nicht veröffentlicht). Siehe auch, stellvertretend für viele Definitionen, eine Definition des Schema-Begriffs
bei Piaget: „Wir verstehen unsererseits unter einem Handlungs- oder Operationsschema das Ergebnis der aktiven Reproduktion von
Handlungen jeglicher Art, vom sensorischen Verhalten zu verinnerlichten Operationen, gleichgültig ob es um einfache Handlungen
(z.B. das Schema des Greifens) oder um Koordinationen zwischen Handlungen (z.B. das Schema der Vereinigung oder des Auftei-
lens) handelt. Die Rolle des ‘Schemas’ das so mit Bezug auf die Aktivität des Subjekts definiert wurde, besteht nun im wesentlichen
darin, die Eingliederung oder Assimilation von neuen Objekten an die Handlung zu gewährleisten“ (Piaget 1975b, S.242-243).
350
hungssituation. Außerdem ergeben sich auf Seiten des Erziehers noch weitere, für die
Gestaltung der Erziehungssituation wesentliche Fragen: Wie verhält sich der Erzieher
als Gestalter, Auslöser und Beobachter der Erziehungssituation? Über welches Steue-
rungswissen verfügt er in normativer, analytischer und operativer Hinsicht und welche
Kriterien wendet er bei der Bewertung kindlicher Kommunikation/Handlung an? Der
Erzieher ist nicht nur Konstrukteur der Erziehungssituation, sondern er muß sie auch
zwecks Bewertung rekonstruieren können, was jedoch außerhalb der Erziehungssituati-
on erfolgt. Der Erzieher hat die Verantwortung für die Erziehungssituation, deren Er-
gebnisse Rückwirkungen bis hin auf die gesellschaftliche Ebene haben.
Der Erzieher kann die Erziehungssituation letztlich nur in Abhängigkeit des Kindes und
seines Entwicklungsstandes gestalten. Und wenn man das Verhältnis von Erzieher und
Kind gerade in der institutionalisierten Erziehung wie Schule betrachtet, wo ein einzel-
ner Erzieher eine Erziehungssituation mit in der Regel über 20 Kindern steuern muß,
dann zeigt sich besonders deutlich, daß die Erziehung nur im Zusammenhang mit der
Entwicklung der Kinder erfolgen kann.
Wann eine Erziehungssituation anfängt und wann sie als beendet gelten kann, das ist
abhängig vom Beobachter und systemtheoretisch nicht von großem Interesse, da die
Grenzen von Systemen durch die strukturelle Koppelung fließend sind. Der Begriff
„Erziehungssituation“ sollte als flexibler Begriff gehandhabt werden, der für Unterricht
wie auch für familiäre Erziehung gilt. Je nach wissenschaftlichem Anspruch kann man
eine eher naturwüchsige Erziehungssituation, wie sie in der Familie als wenig organi-
sierte Situation auftritt von einer organisierten Erziehungssituation unterscheiden, wie
sie durch die Ausdifferenzierung sozialer Teilsysteme in der institutionalisierten Erzie-
hung auftritt und durch eine entsprechende Ausbildung des Erziehers/Lehrers gestaltet
wird bzw. werden sollte.
Die Komplexität von Erziehung wird in einer konkreten Erziehungssituation reduziert,
denn bei der strukturellen Koppelung zwischen Erzieher und Kind spielen sich Abläufe
ein, es gibt Muster und Schemata in der Erziehungssituation. So kann ein Lehrer einen
Schüler beiseite nehmen, wenn er über ein erzieherisches Problem mit ihm sprechen
möchte. Er reduziert damit den konsensuellen Bereich, weil dann nur ein Gespräch zwi-
schen zwei Personen erfolgt. Die Mutter kann die örtlichen Gegebenheiten verändern,
wenn sie sich mit dem Kind zu einem Gespräch vom Kinderzimmer ins Wohnzimmer
zurückzieht. Oder es wird in einem Gespräch festgelegt, welche Umweltgegebenheiten
351
der psychischen Systeme mit einfließen können etc. Schließlich erfolgt die Reduktion
durch den aktuellen erzieherischen Sinn, der für die Erziehungssituation grundlegend
wird. Und auch hier gilt, daß Komplexität mit Kontingenz verbunden ist und so wird es
immer verschiedene Möglichkeiten geben, Erziehungssituationen bewußt zu gestalten.
Ob allerdings z.B. die Eltern über verschiedene Möglichkeiten vor oder während einer
Erziehungssituation reflektieren, kann hier nicht beantwortet werden.
Da in der Erziehungssituation eine enge Beziehung zwischen Erzieher und Kind erfolgt,
eine engere Beziehung, als dies vielleicht in einer Umgangssituation möglich ist, ist die
Erziehungssituation die praktische Form der Ko-Ontogenese von Erzieher und Kind.
Wenn beispielsweise die Mutter das Kind bittet, den Tisch zu decken oder etwas tragen
zu helfen und darüber ein kurzes Gespräch entsteht, dann handelt es sich um eine All-
tagssituation. Wenn aber demgegenüber die Mutter mit dem Kind am Tisch sitzt und
das Kind erzählt, was auf dem Schulweg vorgefallen ist, die Mutter das Verhalten des
Kindes versteht, Ratschläge gibt, gemeinsam mit dem Kind die Schulwegsituation ana-
lysiert etc., dann kommt hier eine enge strukturelle Koppelung zustande, die zu einer
Zustandsänderung beider Bewußtseinssysteme führen kann und damit zur konkreten
Ausprägung der Ko-Ontogenese. (Das Kind will z.B. versuchen, sein Verhalten anderen
Kindern gegenüber auf dem Schulweg zu ändern oder die Mutter sieht ein, daß ihr Ver-
ständnis des Verhaltens nicht richtig war o.ä.).
An dieser Stelle soll angemerkt werden, daß der Begriff „Problem“ als Auslöser für eine
Erziehungssituation in der Tat problematisch erscheint. Denn was ein Erzieher oder ein
Kind unter einem Problem verstehen, kann ganz verschieden sein und ist wiederum ab-
hängig vom Entwicklungsstand, denn die „kleinen“ Probleme der Kinder werden von
den Erwachsenen oft nicht als solche empfunden und führen deshalb vielleicht gar nicht
zu einer Erziehungssituation, weil sie als unwichtig abgetan werden, für die Entwick-
lung des Kindes jedoch bedeutsam sein können. Pädagogische Probleme scheint es nur
dort zu geben, wo der Erzieher solche aufgrund seines Verständnisses über den Sinn
von Erziehung sieht. M. E. ist der Begriff „pädagogisches Auslöseereignis“ für die
Entwicklung einer Erziehungssituation angemessener. So gibt es vielfältige Auslöseer-
eignisse, entweder durch den Erzieher oder durch das Kind, die zu einer Erziehungssi-
tuation führen, die die Entwicklung des Kindes beeinflußt (und je nach der Intensität der
strukturellen Koppelung auch zu verändertem Verhalten des Erziehers führen kann).
352
Die Erziehungssituation wird gleichermaßen durch den Sinn von Erziehung und durch
die Entwicklung des Kindes gesteuert. Und durch die strukturelle Koppelung von Er-
ziehung und Entwicklung in der Erziehungssituation erfolgt dann „ein Stück“ Erzie-
hung. Die Koppelung vieler Erziehungssituationen über einen längeren Zeitraum führt
zur Einheit von Erziehung und Entwicklung des Kindes. Die Erziehungssituation ist
schließlich funktional spezialisiert auf die Entwicklung des Kindes. Erst wenn es in der
Entwicklung des Kindes zu einem Verhalten oder Handeln kommt, das dem Verhältnis
zwischen dem Sinn von Erziehung und dem damit verbundenem Sinn von Entwicklung
widerspricht, dann kommt es zu einer Erziehungssituation. Aufgrund der Betrachtung
des Menschen als personales System bleibt die Erziehungssituation letztlich „wirkungs-
offen“, sie muß „dem Moment Tragweite geben können“365 (Luhmann/Schorr 1979,
S.231).
6.3 Die systemische Beziehung zwischen Erzieher und Kindund ihr Verhältnis in der Erziehungssituation
In der Erziehungssituation stehen sich Erzieher und Kind als personale Systeme gegen-
über. Auf die basalen Gemeinsamkeiten psychischer Systeme soll hier noch einmal
konkret hingewiesen werden, um dadurch auch gleichzeitig die Unterschiede zwischen
Erzieher und Kind deutlich zu machen. Dann sollen Beispiele, einmal aus dem familiä-
ren Bereich und einmal aus dem Schulunterricht das Thema dieses Abschnitts verdeut-
lichen.
Erzieher und Kind sind personale Systeme, d.h. ihre jeweilige Einheit ergibt sich durch
die Koppelung von biologischem, psychologischen und sozialen Teilsystemen. Dabei
bildet zunächst das biologische System die Basis zum einen für das psychische System,
so daß das psychische System gar nicht anders funktionieren kann, als es das biologi-
sche System erlaubt. Hier zeigt sich bereits ein erster Unterschied zwischen einem Er-
wachsenen und einem Kind. Das biologische System des Erwachsenen ist ausgereift,
das des Kindes entwickelt sich noch. So treffen in der Erziehungssituation personale
365 „Soweit für Erziehung überhaupt Programmformen und erfolgsträchtige Verhaltensstrategien entwickelt werden können, müssen
sie daher auf Anlaßtypisierungen und letztlich auf einer Situationsdiagnostik beruhen, die Vergangenes und Gegenwärtiges resü-
miert, weil es in der Situation gerade einmal in einer bestimmten Konstellierung greifbar und entwickelbar ist“ (Luhmann/Schorr
ebd.).
353
Systeme aufeinander, die sich allein schon auf organischer Ebene voneinander unter-
scheiden.
Der zweite Unterschied liegt im psychischen Teilsystem, das, wie gesagt, mit dem bio-
logischen strukturell verkoppelt ist, denn der Organismus ist die Quelle des Nervensys-
tems, indem er das physikalische und das biochemische Milieu für die Entwicklung
bietet (wie dies Maturana immer wieder deutlich gemacht hat). Die Erziehungssituation
konstituiert sich somit durch unterschiedliche, asymmetrische psychische Systeme.
Schließlich sind auch die sozialen Beziehungen oder Koppelungen zwischen personalen
Systemen abhängig von den biologischen und psychischen Teilsystemen. In unserem
Fall kann man sagen, daß bei dem Erzieher und dem Kind, da sie der gleichen Gesell-
schaft angehören, auch ähnliche soziale Koppelungen vorliegen. Hier liegt der Unter-
schied in den spezifischen systemeigenen Umwelten, sowie in der Erfahrung und damit
im Lebensalter.
Da die biologischen, die psychischen und die sozialen Koppelungen untereinander wie-
derum verkoppelt sind, zirkulär arbeiten und jeweils durch Rückkoppelungen zu Zu-
standsveränderungen der jeweiligen Teilsysteme führen, gibt es in allen drei Teilsyste-
men Unterschiede zwischen Kind und Erwachsenen. Die basale Gemeinsamkeit aber
besteht in der autopoietischen Organisation des Organismus, in der Selbstorganisation
der personalen Systeme. Kind und Erzieher sind in der Erziehungssituation deshalb
Subjekte366, die autonom sind, individuell verschieden sind, über eine je eigene Identität
verfügen und vor allem auch zu einer je eigenen Selbstreferenz fähig sind. So stehen in
der Erziehungssituation zwei Einheiten gegenüber und zwar in dem Sinne, daß jede
Einheit „nur durch relationierende Operationen zustandekommen kann; daß sie also
zustande gebracht werden muß und nicht als Individuum, als Substanz, als Idee der ei-
genen Operation immer schon im voraus da ist“ (Luhmann 1987, S.58).
Für die Erziehungssituation ergeben sich daraus folgende Konsequenzen: Die an ihr
beteiligten personalen Einheiten stellen sich im Verlauf der Erziehungssituation durch
ihr Operieren dar. In der Erziehungssituation ist die Operation, die Handlung, die
Kommunikation das Zentrum des Geschehens, nicht die Ganzheit der Person. Und das
366 Es soll in diesem Falle der Begriff des Subjekts beibehalten werden, damit nicht das Kind als Objekt von Erziehung bezeichnet
werden kann. Allerdings will Luhmann den Begriff „Subjekt“ als aufgelöst verstehen und meint. „Der Begriff des selbstreferentiel-
len Systems ist weniger gut eingeführt, aber auch weniger mißbrauchfällig als der Begriff des Subjekts. Er setzt vor allem keine
Zentrierung auf das Subjekt (oder doch: eine Art von Subjekten) voraus, paßt also besser zum azentrischen Weltbild der heutigen
Wissenschaften“ (Luhmann 1987, S.596).
354
wurde auch schon gesagt: der Erzieher erzieht nicht das „ganze Kind“, er kann nur auf
Verhalten, Handlungen des Kindes eingehen, diese zu beeinflussen versuchen oder für
wünschbare Handlungen pädagogische Auslöseereignisse schaffen. Er kann nicht direkt
in das psychische oder das biologische Teilsystem eingreifen und schon gar nicht direkt
die Organisation des Kindes beeinflussen. Überspitzt kann man daher formulieren: nicht
das Subjekt ist das Zentrum der Erziehungssituation, sondern dessen Handlungen sind
die eigentlichen Subjekte.
In der Erziehungssituation als soziales System sind die sozialen Strukturen mit den
biologischen und den psychischen also zwangsläufig verkoppelt. Die Erziehungssituati-
on wird damit abhängig von der Reife der Organismus, von der Selbstregulation und der
Selbstreferenz der personalen Systeme, von ihren jeweiligen Erfahrungen, die sie bisher
gemacht haben und damit auch von den bisherigen Erziehungssituationen, Lernprozes-
sen etc. Dies gilt für Erzieher und Kind. So spielt z.B. die spezifische Ausbildung des
Lehrers und seine Erfahrungen mit einer von ihm bevorzugten pädagogischen Theorie
genauso in die Erziehungssituation hinein, wie die Erfahrungen des Kindes, die es in
seinem sozialen Umfeld bisher gemacht hat.
Da nun aber das Kind sich erstens vom Erzieher durch seinen Entwicklungsstand, seine
Entwicklungsbedürftigkeit unterscheidet und zweitens der Erzieher die Aufgabe von
Erziehung und damit Entwicklung übernommen hat, muß der Erzieher diese Faktoren
von Erziehung in der Erziehungssituation berücksichtigen, wenn er das komplexe psy-
chische System des Kindes beeinflussen will. Zu diesen allgemeinen Faktoren kommt
der spezifische Kontext, der konsensuelle Bereich der konkreten Erziehungssituation
noch hinzu. Der Erzieher muß die Form (die Koppelungen zwischen den verschiedenen
Systemen bzw. Systemebenen und damit die Struktur der Beziehungen zwischen Erzie-
her und Kind) und den Inhalt (den spezifischen Erziehungsrahmen und das Thema der
Erziehungssituation) verkoppeln, damit Erziehung und Entwicklung möglich werden.
Schafft er dies, dann kommt auch die Qualität von Erziehung zum Ausdruck.
Dies geschieht nun konkret durch die Art der Koppelung zwischen Erzieher und Kind
und die damit verbundene Reichweite der erzieherischen Kommunikation. Dabei sei auf
die Unterscheidung von loser und fester Koppelung nach Luhmann hingewiesen (vgl.
u.a. Luhmann 1997, S. 92ff., S.190ff., S.776ff.). Bei der losen Koppelung wird kommu-
niziert, aber der Sinn wird nicht den psychischen Systemen als Elemente zugehörig ver-
standen. Als Beispiel sei an eine Unterrichtseinheit gedacht, in der das Kind mitmacht
355
und der Lehrer denkt, daß das Kind auch alles verstanden hat, bei der Kontrolle der
Hausaufgaben aber merkt, daß es den eigentlichen Sinn nicht oder nur lückenhaft er-
faßte. Eine feste Koppelung liegt demgegenüber vor, wenn das Kind eine Mitteilung
nicht nur verstanden, sondern auch selbstreferentiell verarbeitet hat. Und genau darin
liegt die Aufgabe des Erziehers in der Erziehungssituation.
Die Frage stellt sich, wie der Erzieher vorgehen muß, damit er genau den Bereich der
Beeinflußbarkeit des Kindes trifft, einen Konsens zwischen Erzieher und Kind herstel-
len kann, das psychische System durch das soziale System erreicht und Entwicklung im
Sinne von Zustandsveränderungen auslöst. Dafür sind bestimmte Tätigkeiten des Erzie-
hers und des Kindes notwendig, wie sie in Anlehnung an Grzesik (1994, S.216) genannt
werden können. Hierbei wird die Erziehungssituation sozusagen von innen her erfaßt.
Eine konkrete Erziehungssituation kann die Handlungen von Erzieher und Kind dabei
verdeutlichen. Hier wird beispielhaft folgende Erziehungssituation gewählt: Das Kind
steht immer wieder auf, wenn es abends im Bett liegt, was die Mutter stört. Sie will als
Erziehungsziel erreichen, daß das Kind liegen bleibt. Damit ergeben sich folgende
Handlungen:
1. Der Erzieher löst eine Erziehungssituation durch eine Information und eine dafür
geeignete Mitteilungsform aus. (Die Mutter bringt das Kind zu Bett und sagt ihm, es
solle versuchen, liegen zu bleiben und wählt dafür eine entsprechende Gute-Nacht-
Geschichte zum Vorlesen aus).
2. Das Kind muß den Mitteilungssinn verstehen. (Die Mutter stellt dem Kind entspre-
chende Fragen zur Geschichte oder zu dem Bedürfnis des „wieder Aufstehens“ des
Kindes). Hier entsteht die erzieherische Kommunikation.
3. Das Kind muß den Mitteilungssinn akzeptieren. Und nur wenn die Punkte zwei und
drei vorliegen dann kommt es zur festen Koppelung zwischen Erzieher und Kind,
bei der die Selbstorganisation des Kindes ernst genommen wird. (Die Mutter fragt,
ob das Kind bereit sei, zu versuchen, im Bett zu bleiben, welche Gründe von beiden
Seiten dafür oder dagegen stehen).
4. Handlungen des Kindes aufgrund des akzeptierten Mitteilungssinns. (Die Mutter
verläßt das Kinderzimmer und das Kind versucht nun, im Bett zu bleiben).
5. Die Durchführung der geplanten Handlung. (Das Kind nimmt sich vielleicht noch
einmal ein Bilderbuch oder holt sich ein Kuscheltier).
356
6. Die reflexive Kontrolle der Erziehungssituation kann von Erzieher und Kind glei-
chermaßen durchgeführt werden. (Die Mutter merkt, wenn das Kind nicht mehr auf-
gestanden ist oder überlegt sich für den nächsten Abend z.B. eine andere Mittei-
lungsform, weil das Kind doch noch einmal aufgestanden ist. Das Kind wird stolz
sein, wenn es am nächsten Morgen mit der Mutter noch einmal über den Abend
spricht und weiß, daß es im Bett liegen bleiben kann oder nur einmal aufgestanden
ist).
In dieser allgemeinen Beschreibung der Handlungen, die in einer Erziehungssituation
auftreten sollten, wird der Schnittpunkt von Erziehung und Entwicklung deutlich. Die
Erziehungssituation ist nicht einseitig auf Tätigkeiten des Erziehers ausgerichtet, ob-
wohl er sie entsprechend planen kann. Aber nur wenn die Entwicklung des Kindes die
Erziehung sozusagen zuläßt oder aufnimmt, dann ist die Erziehungssituation erfolg-
reich, wird die Qualität von Erziehung deutlich.
Im Vorfeld der eigentlichen Erziehungssituation ist das normative, analytische und das
operative Steuerungswissen des Erziehers gefragt, denn er kann eine Erziehungssituati-
on auslösen, er kann den Rahmen gestalten, er kann die bisherigen Erziehungssituatio-
nen analysieren und pädagogisch diagnostizieren, Ziele und Sinn von Erziehungssitua-
tionen festlegen, einen Handlungsplan entwerfen und im Anschluß an die Erziehungs-
situation über sein Handeln und das des Kindes reflektieren367. Bei der Durchführung
der Handlungen des Erziehers in einer aktuellen Erziehungssituation wird dann das
Steuerungswissen angewendet, denn auch innerhalb der Erziehungssituation kann es
notwendig sein, daß der Rahmen geändert wird oder sich Ziele verschieben, was zum
Beispiel dann der Fall sein kann, wenn das Kind den Mitteilungssinn nicht versteht oder
nicht akzeptiert etc. Dies kann dann dazu führen, daß der vorher entworfene Hand-
lungsplan in der konkreten Situation geändert wird.
Erzieher und Kind sind in der Erziehungssituation (als soziales Teilsystem des Systems
Erziehung) die Elemente bzw. Teilsysteme. Das impliziert aber auch, daß sie füreinan-
der Umweltsysteme darstellen, so wie dies auch für die Erziehungssituation als Einheit
gilt. Für das Kind gehört der Erzieher zu dessen Umwelt und die Erziehungssituation ist
nur ein Teil vielfältiger sozialer Situationen, die zur Umwelt des Kindes gehören. Und
da sich die Einheit eines Systems gerade durch die Differenz zur Umwelt ergibt, wird
367 Vgl. hierzu den Abschnitt über die Steuerung von Entwicklung und Erziehung und das Vorlesungsskript von Spanhel: Theorien
erzieherischen Handelns und Verhaltens, S. 31ff. (unveröffentlicht).
357
verständlich, daß sich das Kind als personales Systems auch von der Erziehungssituati-
on und vom Erzieher zu differenzieren versucht. Das ist schließlich notwendig für die
Entwicklung und trägt zur Identität des Kindes bei. Man darf sich also nicht wundern,
wenn es zu Schwierigkeiten mit dem Kind in der Erziehungssituation kommt. Es ist hier
zu fragen, wieso das Kind ein bestimmtes Auslöseereignis nicht als Irritation auffaßt,
warum es sich nicht auf die erzieherische Kommunikation einläßt, einen Mitteilungs-
sinn nicht versteht oder nicht akzeptiert und es genau anders handelt, als es sich der
Erzieher im Anschluß an eine erzieherische Kommunikation vorstellt.
Diese Differenz zur Umwelt, die auf der einen Seite zur Eigenständigkeit des Kindes
beiträgt, auf der anderen Seite die Erziehung behindert kann zunächst und vor allem
durch die Liebe zum Kind überwunden werden und durch das Vertrauen, das der Erzie-
her dem Kind schenkt. Die Basis einer Erziehungssituation besteht damit in einer At-
mosphäre zwischen Erzieher und Kind, die dem Kind eine Zuneigung vermittelt, die
ihm zeigt, daß die Erziehung eine Voraussetzung für seine (kognitive, psychische oder
personale) Entwicklung ist, daß die Entwicklung nicht der Person inhärent ist und sozu-
sagen ganz von alleine erfolgt und daß Erzieher und Kind in der Erziehungssituation
gemeinsam den Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung herstellen können (zur
Bedeutung des Schul- und Klassenklimas für Erziehung und Unterricht siehe Spanhel in
Spanhel/Hüber 1995, S.191ff.). Der Erzieher muß deutlich machen, daß es in der Erzie-
hungssituation nicht nur um das Lernen geht, sondern daß die Entwicklung des Kindes
im Vordergrund steht. Es kann von daher hilfreich sein, daß systemische Zusammen-
hänge in der Erziehungssituation zur Sprache kommen.
Erzieher und Kind sind nicht nur Akteure in der Erziehungssituationen, sondern gleich-
zeitig auch Beobachter (vgl. Kap. 5.7.3). Sie können sich selbst, die andere Person und
die gesamte Erziehungssituation beobachten und bewerten. Aufgrund des asymmetri-
schen Verhältnisses von Erzieher und Kind aufgrund unterschiedlicher Bewußt-
seinsstrukturen, wird auch die Beobachtung unterschiedlich ausfallen. Vom Erzieher
wird hier erwartet, daß er differenzieren kann zwischen seinen Handlungen in der Er-
ziehungssituation als Beteiligter derselben und der Bewertung der Erziehungssituation,
die im nachhinein erfolgt, d.h. er muß sich von der Erziehungssituation als Betroffener
auch distanzieren können.
Für die Erziehungssituation als System gelten schließlich alle bisher genannten Sys-
temmerkmale. Anhand eines Beispiels sollen die typischen Merkmale kurz zusammen-
358
gefaßt werden, wodurch die Erziehungssituation von außen betrachtet wird, nachdem
vorhin die Innen-Perspektive gezeigt wurde: Ein Lehrer der ersten Grundschulklasse
beginnt mit dem Unterricht (es soll z.B. ein neuer Buchstabe eingeführt werden). Nach
ein paar Minuten muß er unterbrechen, weil sich ein Mädchen über ihre Banknachbarin
beschwert, die sie stört, weil sie ständig mit ihr redet.
- Die Erziehungssituation ist komplex. Es treffen alle Systemmerkmale plötzlich in Er-
scheinung. Der Lehrer will Lehrstoff behandeln, die Zeit drängt, er steht z.B. 29 Schü-
lern gegenüber, er hat die Kinder erst gestern umgesetzt, damit sie sich besser kennen-
lernen, wobei er viel Zeit verloren hat etc.
- Die Elemente der Erziehungssituation sind personale Systeme mit unterschiedlichen
Bewußtseinsstrukturen. Der Erzieher steht als Erwachsenen vielen Kindern gegenüber,
die sich in ihrem Entwicklungsstand gerade in der ersten Klasse stark voneinander un-
terscheiden. Die „schwätzende“ Banknachbarin kann in der Unterrichtseinheit unter-
oder überfordert sein, d.h. sie redet , weil ihr langweilig ist (sie kann schon schreiben),
weil sie Fragen hat (sie will sich Material ausleihen o.ä.) oder weil sich nicht auf den
Unterricht konzentrieren kann (sie will ein Erlebnis dem Mädchen erzählen, das für sie
sehr wichtig ist).
- Der Erziehungssituation liegt ein pädagogisches Sinnkriterium zugrunde. Der Sinn
der Situation ergibt sich zum einen durch den aktuellen Inhalt. So stellt sich hier die
Frage, inwieweit das Stören der Banknachbarin zum Thema wird. Zum andern werden
die Erziehungsziele des Lehrers in Abhängigkeit der aktuellen Situation und dem Ent-
wicklungsstand der Kinder relevant. Der Lehrer möchte in diesem Fall die Konzentrati-
on wieder auf den Lerngegenstand richten, Gründe für das Reden der Banknachbarin
erfahren, er möchte, daß vielleicht vereinbarte Regeln eingehalten werden, wie z.B.
wenn der Lehrer erklärt, sollen die Kinder nicht sprechen.
- Die Komplexität verlangt nach Selektion. Der Lehrer kann sich jetzt nicht mit den bei-
den Mädchen länger unterhalten, denn dann würde die Konzentration der anderen Kin-
der nachlassen. Er kann auch nicht entwicklungspsychologische Hintergründe für das
Reden der Banknachbarin erschließen. Er kann vielleicht eine Frage gezielt an das stö-
rende Kind richten.
- Die Erziehungssituation differenziert sich von ihrer systemeigenen Umwelt. In dem
Moment wo sich der Lehrer den beiden Mädchen zuwendet, wird die Erziehungssituati-
on auf drei personale Systeme beschränkt, die andern Kinder gehören zur Umwelt der
359
Erziehungssituation. Die Differenzierung kann verstärkt werden, indem der Lehrer z.B.
die Kinder in der Klasse auffordert, den Buchstaben zu schreiben und er in dieser Zeit
sich an den Tisch der Mädchen begibt, um mit ihnen zu reden.
- Die reduzierte Komplexität schafft Handlungsspielräume. Wendet sich der Lehrer den
Kindern zu oder schafft er es, z.B. im Anschluß an die Stunde ein Gespräch mit beiden
zu führen, dann bekommen die Mädchen Gelegenheit, über die Situation im Unterricht
ausführlich zu sprechen, sie erhalten die Möglichkeit, ihre Ansichten darzulegen.
- Es ist kontingentes Handeln möglich. Der Lehrer kann die Situation auf unterschiedli-
che Weise handhaben. Er kann z.B. die Banknachbarin bitten, nun ruhig zu sein. Aber
die Bitte des Lehrers muß auch akzeptiert werden, so daß sich das kontingente Lehrer-
verhalten in Abhängigkeit des Verhaltens /Handelns der Kinder ergibt.
- Die Handlungen sind mit Risiken verbunden. Kann der Lehrer in dem Moment die
zukünftigen Handlungen der beiden Mädchen nicht richtig einschätzen, dann läuft er
Gefahr, daß der Unterricht weiterhin gestört wird und die vielleicht dadurch entstehende
Unruhe auf die andern Kinder übertragen wird.
- Die Erziehungssituation ist gegenwartsgebunden. Der Lehrer muß im Moment ent-
scheiden, wie er mit der Komplexität der Situation umgeht, er ist an den gegenwärtigen
Erziehungsrahmen gebunden. Hier macht es z.B. einen Unterschied, ob es sich um eine
erste oder eine fünfte Unterrichtsstunde handelt, um einen Montag oder einen Donners-
tag etc.
- Die erzieherische Kommunikation führt zu festen Koppelung zwischen Erzieher und
Kind. Versteht der Lehrer das Verhalten der Mädchen als einen Auslöser für eine Erzie-
hungssituation, dann muß er für eine feste Koppelung in der sich anschließenden erzie-
herischen Kommunikation sorgen, die entlang der Tätigkeiten des Lehrers/Erziehers
und der Mädchen erfolgt, wie sie weiter oben bei der inneren Betrachtung der Erzie-
hungssituation genannt wurden.
- In der Erziehungssituation vollzieht sich die Ko-Ontogenese zwischen Erzieher und
Kind und damit der Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung. In der Erzie-
hungssituation, in der über das „Schwätzen“ der Banknachbarin gesprochen wird, kann
es durch die feste Koppelung zu jeweiligen Zustandsveränderungen im Bewußtsein von
Lehrer und Mädchen kommen. Die Banknachbarin wollte z.B. nur ein Erlebnis erzählen
und erkennt, daß sie damit bis nach der Stunde warten muß und akzeptiert dies auch.
Das Mädchen hat vielleicht erfahren, wie sie sich verhalten muß, wenn sie im Unter-
360
richt gestört wird. Der Lehrer konnte feststellen, daß die beiden Mädchen insgesamt gut
miteinander auskommen und daß diese spezifische Situation nichts mit seinem gesam-
ten Unterricht zu tun hatte.
- Der Erzieher kann die Erziehungssituation steuern und die Entwicklung des Kindes
beeinflussen. Dies gelingt aber nur dann, wenn der Erzieher/Lehrer über entsprechendes
Steuerungswissen verfügt und den Bereich der Beeinflußbarkeit der Kinder in der Er-
ziehungssituation trifft, indem es in der erzieherischen Kommunikation zu einer festen
Koppelung zwischen Erzieher und Kind(ern) kommt. Und dafür muß das Kind in seiner
Entwicklung als personales System, als Subjekt von Erziehung und als aktiver Mitge-
stalter, weil Adressat der Erziehungssituation, begriffen werden.
6.4 Das Verhältnis von Entwicklung und Erziehung in der Er-ziehungssituation
In der Erziehungssituation treffen die Entwicklung des Kindes und die Erziehung (oft
ausgelöst durch den Erzieher) zusammen. Um das Verhältnis von Entwicklung und Er-
ziehung in der Erziehungssituation genau bezeichnen zu können, ist vom Entwick-
lungsbegriff auszugehen, denn nur weil Entwicklung möglich und aus gesellschaftlicher
Sicht notwendig ist, wird erzogen.
Das Kind ist entwicklungsfähig. Das heißt, es sind Zustandsänderungen bzw. Struktur-
veränderungen im personalen System möglich, die sich auf das biologische, das psychi-
sche und das soziale Teilsystem des personalen Systems beziehen. Die Entwicklung ist
über das soziale System Erziehung beeinflußbar. Das soll heißen, das System Erziehung
hat die Entwicklung des Kindes zur Aufgabe und damit den Bereich der Beeinflußbar-
keit von Entwicklung zum Thema. Das System Erziehung befaßt sich mit der Steue-
rung, der Beobachtung, der Beurteilung, der Hilfe und Beratung bei der Entwicklung
des Kindes. Dies geschieht unter Berücksichtigung der Anforderungen, die andere sozi-
ale Teilsysteme der Gesellschaft an das System Erziehung stellen, denn jedes soziale
System ist eine Einheit aufgrund der System/Umwelt-Differenz. Die Anforderungen
unserer ( in Teilsysteme ausdifferenzierten) Gesellschaft an den Erwachsenen werden
im System Erziehung mit der Entwicklungsfähigkeit der Kinder (als personale Systeme
verstanden) verbunden. Die Erziehungsziele liegen damit in der Umwelt der Entwick-
lung.
361
Die Verklammerung von Entwicklung und Erziehung wird im Wirklichkeitsbereich der
Erziehungssituation vollzogen. Aufgrund der Einheit der System/Umwelt-Differenz
vollzieht sich Entwicklung nicht ohne Erziehung und umgekehrt. In der Erziehungssitu-
ation als Einheit werden Entwicklung und Erziehung zu Teilsystemen und gleichzeitig
zu Umweltsystemen füreinander, die aber aufgrund der strukturellen Koppelung nicht
ohne einander auskommen.
Die Erziehung wird im sozialen System der Erziehungssituation ausgelöst, kann dann
im psychischen System zu Strukturänderungen führen, die im biologischen System e-
benfalls zu Struktur- oder Zustandsänderungen führen, die ihrerseits auf das psychische
und damit auch auf das soziale Systeme zurückwirken. Entwicklung ist Strukturverän-
derung im biologischen und psychischen System, die im sozialen System der Erzie-
hungssituation zum Ausdruck kommt ( in der Kommunikation oder durch eine Hand-
lung). Der für einen Beobachter sichtbare Vollzug von Entwicklung und Erziehung er-
folgt in der Erziehungssituation.
Die Erziehungssituation ist also der Wirklichkeitsbereich, der Schnittpunkt von Ent-
wicklung und Erziehung und in ihr gelangen Entwicklung und Erziehung zu einer Ein-
heit. Dies macht die einfache schematische Darstellung deutlich:
Entwicklung Erziehung
Erziehungssituation
Abb. 12: Das Verhältnis von Entwicklung und Erziehung in der Erziehungssituation
Es zeigt sich, daß Entwicklung und Erziehung sich nicht ganz überlappen und auch
nicht vollständig innerhalb der Erziehungssituation liegen. Das ist verständlich, denn
die Erziehung erreicht nicht jede Entwicklungsebene oder Entwicklungslinie des Kin-
des, sondern wirkt eher bereichsspezifisch (es wurde außerdem bereits gesagt, das es für
den Erzieher schwer wird einen Bereich der Beeinflußbarkeit beim Kind durch Erzie-
hung anzusprechen, wenn dieser bereits „besetzt“ ist) und umgekehrt spricht die Ent-
362
wicklung nicht zwangsläufig auf Erziehung an. Es bleibt schließlich dem Beobachter
überlassen, ob er z.B. die Handlungen des Erziehers, die die Entwicklung des Kindes
nicht ansprechen bzw. Zustandsänderungen im psychischen System nicht auslösen kön-
nen, als Erziehung bezeichnet oder nicht. Und genauso liegt es beim Beobachter, ob
Zustandsveränderungen des psychischen Systems, die in der Erziehungssituation deut-
lich werden, als Entwicklung aufgrund von Erziehung bezeichnet werden können oder
ob es sich um Sozialisation handelt. Im obigem Schema gehören zur Erziehung die vom
Erzieher ausgelösten erzieherischen Handlungen, die aber, wie gesagt, nicht die Ganz-
heit von Entwicklung beeinflussen können. Das kann eine einzelne Situation auch gar
nicht leisten. Bei einer Aufeinanderfolge von Erziehungssituationen wäre es für die Er-
ziehung sinnvoll, wenn der Überschneidungsbereich von Entwicklung und Erziehung in
der folgenden Erziehungssituation die Grundlage bilden würde, der Erzieher also an
Vorangegangenes anknüpft. Anschlußhandlungen des Erziehers und das Schaffen von
Anschlußfähigkeit auf seiten des Kindes erleichtern die Erziehungssituation. Oder an-
ders formuliert: Kontinuität in Erziehung und Entwicklung vereinfacht die Gestaltung
der Erziehungssituation.
Entwicklung, so wird hier deutlich, ist nicht etwas was der Person inhärent ist oder et-
was, das von außen auf die Person übertragen werden könnte (vgl. Kap. 5.8.3). Die
Entwicklung ist durch Erziehung gerichtet und das gilt auch umgekehrt. Aus systemthe-
oretischer (autopoietischer) Sicht geht es in der Entwicklung um die Erhaltung (des Or-
ganismus) und die Zustandsveränderungen der Person erfolgen gerade aufgrund der
Erhaltung, weshalb auch die Anpassung eine Voraussetzung von Entwicklung und Er-
ziehung ist und nicht eine Folge davon (vgl. Kap. 5.8). In der Erziehung hingegen geht
es vor allem um die Veränderung, nämlich die Veränderung von Entwicklung. Die Ver-
änderung von Entwicklung durch die Erziehung und die Erhaltung des personalen Sys-
tems durch die Entwicklung treffen in der Erziehungssituation zusammen. In Hinblick
auf den Sinn der Erziehungssituation heißt das: Der Sinn von Erziehung ist die Sinn-
entwicklung personaler Systeme und der Sinn von Entwicklung ist die Systemerhaltung.
Zur Systemerhaltung gehört aber die Sinnentwicklung, die sich beim personalen System
(Kind) in der zunehmenden Reflektionsfähigkeit äußert. Der Sinn der Erziehungssitua-
tion wird durch den Sinn von Entwicklung und Erziehung tradiert. Wie Erziehung so ist
deshalb auch die Erziehungssituation sinn-konstituierend, sinn-tradierend und sinn-
erschließend (vgl. Kap.5.5.2).
363
Entwicklung und Erziehung sind situationsgebunden. Das bedeutet zum einen für die
pädagogische Forschung, daß sie die Erziehungssituation zum Thema machen muß,
wenn sie für die Erziehung auch zu praktischen Konsequenzen gelangen will. das be-
deutet zum anderen aber auch, daß es nicht möglich ist, jede Erziehungssituation theo-
retisch zu erfassen. Es gibt keine genauen Handlungsanweisungen für die Erziehung,
die immer und in jeder Erziehungssituation Gültigkeit hätte. Und schließlich wurde in
der Kognitionspsychologie bereits die „Situiertheit“ des Lernens hervorgehoben368. Hier
bedeutet „Situiertheit“, daß Erziehungssituationen geschaffen werden, die den lebens-
weltlichen und z.B. außerschulischen Situationen ähnlich sind. Man hofft dadurch, ra-
sche Anschlußfähigkeit auf seiten des Kindes herstellen zu können. Hier müßte aber
nochmals genau über den Begriff der Situation nachgedacht werden, denn auch die
Vermittlung des „trockensten Lernstoffs“ erfolgt in Situationen. Erziehung und Ent-
wicklung bleiben eben immer situationsgebunden.
In der Erziehungssituation steuern sich Entwicklung und Erziehung gegenseitig, sie
lösen gegenseitige Strukturänderungen aus, sie erzeugen sich sozusagen gegenseitig
(vgl. Kap.5.9.1). Die Erziehungssituation ist dabei auf die Aktivität/Handlung von Er-
zieher und Kind gleichermaßen angewiesen. Das Ergebnis der Erziehungssituation
kann, sofern es sichtbar, bewertbar ist, als Entwicklung auf seiten des Kindes oder als
Erziehung durch den Erzieher bezeichnet werden. Der Verlauf der Erziehungssituation
ist eine Abfolge, Aufeinanderfolge von Handlungen, in der Entwicklung und Erziehung
so eng verkoppelt sind, daß ihre Ko-Ontogenese zur Einheit der Erziehungssituation
führt. Und doch bleiben Entwicklung und Erziehung gleichzeitig Umwelten füreinan-
der. Da aber gerade Zustandsveränderungen im System sich dadurch ergeben, daß Um-
weltereignisse in Strukturen umgesetzt werden, setzt die Entwicklung „Erziehungser-
eignisse“ in Strukturen um und die Erziehung setzt „Entwicklungsereignisse“ in Struk-
turen um. Dieser Wechsel macht die Ko-Ontogenese von Erziehung und Entwicklung in
der Erziehungssituation aus.
Man kann auch sagen, die Erziehungssituation verbindet Koppelungen oder Koppe-
lungsprozesse verschiedener Systemebenen. So sind in der Erziehungssituation Erzieher
368 Vgl. als Beispiel Siebert, 1999, S.20: „Die Kognitionspsychologie betont neben der Autopoiese vor allem die ‘Situiertheit’ des
Lernens, das heißt, Lernen erfolgt in sozialen Kontexten, in biographischen Lebenssituationen, in spezifischen Lernumgebungen,
mit Blick auf lebensweltliche Verwendungssituationen. Ohne eine solche ‘Situierung’ bleibt ein erlerntes Wissen ‘träge’, oberfläch-
lich und ist damit lebenspraktisch nicht verfügbar“. Vgl. auch ausführlicher Siebert ebd., S.97ff.
364
und Kind, Kommunikation und Bewußtsein, soziale und psychische Systeme miteinan-
der verkoppelt, aber auch Sinneinheiten und Zeiteinheiten. Wenn wir mögliche Koppe-
lungsformen betrachten (vgl. Kap. 5.6.4), dann bildet die Erziehungssituation die Fusi-
on von Entwicklung und Erziehung, in der die genannten Koppelungen zum Ausdruck
kommen. Hier ist Fusion in einem positiven Sinne zu verstehen, denn durch die Verbin-
dung von Entwicklung und Erziehung in der Erziehungssituation wird die Entwicklung
des Kindes nach pädagogischen Sinneinheiten möglich. Dabei lassen sich konkrete
Abläufe der Erziehungssituation auch als Lehren (bezogen auf die Erziehung) und Ler-
nen (bezogen auf die Entwicklung des Kindes) bezeichnen. Aber diese Bezeichnung der
Erziehungssituation liegt bereits außerhalb derselben und ist abhängig vom Beobachter
der Erziehungssituation und dessen Sinn von Erziehung und Entwicklung.
Als praktische Konsequenz aus dem Zusammenhang von Entwicklung und Erziehung
ergibt sich für die Gestaltung der Erziehungssituation durch den Erzieher vor allem
zweierlei: Er muß dem Kind zum einen verständlich machen, daß die Erziehungssituati-
on nur durch eine gemeinsame Aktivität von Kind und Erzieher zustande kommen kann
und auch nur dann auf die Entwicklung des Kindes einen günstigen Einfluß ausübt. Der
Erzieher muß die Notwendigkeit von Erziehung als die Voraussetzung für die (kogniti-
ve) Entwicklung des Kindes als Weiterführung und Überhöhung organischer Regulie-
rungen, vermitteln können (vgl. Kap.5.9.1). Zum anderen muß der Erzieher für die ste-
tige Offenheit seiner Handlungspläne sorgen (vgl. Kap. 5.10), denn die Erziehung muß
an die Entwicklung des Kindes gebunden bleiben.
365
7. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Folge-rungen für eine Allgemeine Systemtheorie, für diepädagogische Forschung und Praxis
7.1 Folgerungen für eine Allgemeine Systemtheorie
Wie bereits in der Einleitung deutlich wurde, geht die Allgemeine Systemtheorie insbe-
sondere auf v.Bertalanffy zurück. Seitdem hat es verschiedenen Ansätze gegeben und
schließlich hat durch die Theorie der Autopoiesis ein „Paradigmenwechsel“ in der Sys-
temtheorie, der vor allem bei Luhmann deutlich wurde369, stattgefunden. Auf die ein-
zelnen Theorien und ihre jeweiligen Veränderungen konnte hier nicht eingegangen
werden. Es geht heute um die Frage, ob es überhaupt eine Allgemeine Systemtheorie
gibt und ob Ergebnisse aus der vorliegenden Arbeit in eine solche Theorie einfließen
können. Es gibt im wissenschaftlichen Bereich jedenfalls keinen Ort, an dem wirklich
die interdisziplinäre Arbeit im Mittelpunkt steht370. Müller unterscheidet schließlich
zwischen der Allgemeinen Systemtheorie und der Neuen Systemtheorie, die eben jünge-
re Ansätze bezeichnet, wozu die Theorie autopoietischer Systeme, die Katastrophenthe-
orie und die Chaostheorie bzw. die Theorie des deterministischen Chaos zählt. Aber
auch diese Ansätze lassen sich nach Müller nicht zusammenfassend als Systemtheorie
bezeichnen und schon gar nicht können sie die Nachfolge der Analytischen Wissen-
schaft antreten (vgl. Müller 1996, S.318ff.). Diese Ansätze, die als Projekt im Grunde
eine Einheit der Wissenschaften zum Ziel haben, können eine interdisziplinäre Bewe-
gung in den Wissenschaften nicht erreichen, sie bleiben zu unterschiedlich. Es ist also,
bezogen auf die hier zur Diskussion stehenden Ansätze von Luhmann und Maturana
nicht zu erwarten, daß sie über ihren wissenschaftlichen Bereich hinaus eine größere
Wirkung erzielen, wie sich das im Laufe der letzten Jahre bereits gezeigt hat, denn die
Bedeutung systemischer Theorien für wissenschaftliche Arbeiten hat abgenommen371.
369 Vgl. hierzu die Zusammenfassung in Krause 1996, S.10ff.370 „Ungeachtet der Verbreitung systemanalytischer Techniken in Wirtschaft und Politik gelang es der Allgemeinen Systemtheorie
nicht, sich als ein allgemeines Wissenschaftsprogramm dauerhaft zu institutionalisieren (...) Die Behavioral Sciences wurden auf ihr
jeweiliges disziplinäres Format zurückgestutzt“ (Müller 1996, S.323).371 „Die ungebrochene Spezialisierung innerhalb bestehender und die kaum noch überschaubare Entstehung neuer Fachrichtungen
werden als irredizible Divergenz zwischen empirischer und theoretischer Wissenschaft und zwischen Disziplinen gedeutet, die alle
366
Hier sollen noch einmal in Anlehnung an Müller, der sich mit der Allgemeinen Sys-
temtheorie intensiv auseinandergesetzt hat, ihr aber gleichzeitig keine Zukunft beschei-
nigt (Müller ebd.), die Verdienste und den Mangel der Systemtheorie genannt werden,
um von dort aus auf ihre Bedeutung für die Pädagogik und die Rückwirkungen der Pä-
dagogik auf die Systemtheorie hinzuweisen.
Die Allgemeine Systemtheorie hat dem mechanistischen Weltbild ein systemisches ge-
genübergestellt. Sie hat neben Fragen der Grundlagenforschung, der Technologie und
der heuristischen Funktion der Mathematik vor allem ein „ausgeprägtes Gespür für die
Erkenntnisprobleme der fortgeschrittenen Wissenschaften entwickelt“ (Müller ebd.,
S.320). Dies gelang nach Müller jedoch mit dem unzureichenden Mittel des Zugriffs auf
das „Leben“ (im Sinne biologischer, physikalischer und chemischer Gegebenheiten),
das selbst kein normativer Bezugspunkt, vor allem für die Sozialwissenschaft, darstellt.
Es wird hier der Systemtheorie vorgeworfen, sie habe ‚kosmologische Modelle vergan-
gener Zeiten für die Lösung erkenntnistheoretischer Fragen‘ herangezogen (vgl. Müller
ebd.). Aber gerade dieser Zugriff auf die Grundlage des menschlichen Lebens ist ein
notwendiger Ausgangspunkt für die Pädagogik, wenn sie sich mit der Entwicklung be-
schäftigt. Denn die Frage nach der Entwicklung des Kindes kann z.B. nicht auf die kog-
nitive Ebene beschränkt bleiben, sie muß fundamental ansetzen. Die Systemtheorie
zeigt m.E. der Pädagogik Wege, wie sie an komplexe, ganzheitliche Fragen herangehen
kann. Sie führt in der Pädagogik weg von der Vorstellung, Erziehung und Entwicklung
sei „machbar“, die letztlich dazu führt, daß der Mensch „machbar“ sei. Die heutigen
Erziehungsprobleme sind sicherlich ein Beleg dafür, daß Erziehung nicht mechanisch
abläuft. Gerade dieser Vorwurf an die Systemtheorie, von der Organisation des Lebens
auszugehen, ist aus pädagogischer Sicht nicht haltbar. In der Systemtheorie steht letzt-
lich der Mensch (als personales System verstanden, das sich als Einheit der strukturel-
len Koppelung biologischer, psychischer und sozialer Beziehungen konstituiert) im
Mittelpunkt. Und das ist auch in der Pädagogik der Fall.
Nun kann hier direkt eingewendet werden, daß bei Luhmann der Mensch gerade nicht
thematisiert wird, was so nicht stimmt, da der Mensch in Luhmanns Theorie im Grunde
durch die Kommunikation sozialer Systeme sehr wohl Bedeutung hat, die jedoch nicht
auf der sozialen, sondern auf der personalen Systemebene liegt, die für die Kennzeich-
interdisziplinären Gegenbewegungen zum Scheitern verurteilt. Die Einheit der Wissenschaften wird als totalitäre Zumutung gegen-
über ihrer prinzipiellen Diversität aufgefaßt“ (Müller ebd., S.357).
367
nung der Gesellschaft als soziales System bei Luhmann keine besondere Beachtung
findet.
Für die Wissenschaft der Pädagogik bedeutet dies, daß die systemtheoretischen Er-
kenntnisse von Bedeutung sind, die sich auf den Menschen und dessen Stellung inner-
halb sozialer Systeme beziehen. Und indem in der Pädagogik die Entwicklung des
Menschen einen zentralen Stellenwert hat, können ihre Ergebnisse auch auf die Sys-
temtheorie zurückwirken und zwar genau in dem Bereich, wo das Kind als personales
System berücksichtigt werden muß, was bisher in der Systemtheorie nicht thematisiert
wurde. Das ist der Vorwurf, den die Pädagogik an eine Allgemeine Systemtheorie ma-
chen muß, daß nämlich das Kind, das als Erwachsener einmal die sozialen Teilsysteme
unserer Gesellschaft „verkörpert“, keine Beachtung gefunden hat.
Da es nun im eigentlichen Sinne keine Allgemeine Systemtheorie gibt und damit keinen
(wissenschaftlichen) Ort, an dem interdisziplinäre Erkenntnisse zusammenfließen, so
stellt sich die Frage, auf welche Bereiche der Gesellschaft pädagogische Erkenntnisse
zurückwirken können. Geht man davon aus, daß die Gesellschaft in Teilbereiche aus-
differenziert ist, könnte eine Rückwirkung (exemplarisch) folgendermaßen aussehen,
natürlich vorausgesetzt es gäbe eine Zusammenarbeit bzw. ein Interesse anderer gesell-
schaftlicher Teilsysteme an den Erkenntnissen des Teilsystems Pädagogik als Wissen-
schaft und dem sozialen System Erziehung:
Für das soziale Teilsystem Religion können sich beispielhaft folgende Fragen ergeben:
Wie kann kirchliche Arbeit gesteuert werden, die die Entwicklung der Kinder in der
heutigen Zeit berücksichtigt? Wie kann die strukturelle Koppelung zwischen Kind und
dessen systemeigener Umwelt in diese Arbeit einfließen und wie kann die Kirche z.B.
in Form des Gottesdienstes zu einem Teil der Systemumwelt des Kindes gehören, nach-
dem die Teilnahme von Kindern, insbesondere von Jugendlichen, an Gottesdiensten
immer mehr abnimmt? Oder anders formuliert, wie kann die strukturelle Koppelung
zwischen Kind und Kirche konkretisiert werden, welche Kontingenzen ergeben sich
etc.? Und welche Auswirkungen haben systemisch-pädagogische Erkenntnisse speziell
für den Religionsunterricht? Inwieweit kommt schließlich die systemische Sichtweise
der religiösen Weltsicht entgegen, wo gibt es Differenzen?
Auch für die Wirtschaft lassen sich Fragen formulieren: Wie muß der konsensuelle Be-
reich zwischen dem System Erziehung und dem Wirtschaftssystem gestaltet werden,
damit eine strukturelle Koppelung überhaupt zustande kommt? Das heißt konkret: Wie
368
können die Anforderungen der Wirtschaft an die zukünftigen Erwachsenen mit der
Entwicklung des Kindes in Beziehung gesetzt werden? Die Wirtschaft bevorzugt kurze
Schul- und Studienzeiten, praxisnahe Ausbildung etc. Was bietet die Wirtschaft dafür
an? Wie kann sie die Entwicklung des Kindes entsprechend unterstützen? Ist eine Kop-
pelung zwischen dem Wirtschaftssystem und dem System Erziehung direkt möglich
oder muß das politische System einbezogen werden?
Aber auch für das Recht als weiteres Teilsystem der Gesellschaft ergeben sich Fragen.
Man denke nur an die zunehmende Bedeutung des Internets und den ‚schrankenlosen‘
Umgang der Kinder damit. Inwieweit ist auf diesem Gebiet durch Gesetze eine Steue-
rung möglich, die die Entwicklung des Kindes berücksichtigt und auch den Interessen
der Erwachsenen nachkommt etc.
Es ließen sich noch viele Fragen anschließen, die gerade auch in Hinblick auf den Zu-
sammenhang von Entwicklung und Erziehung weiter zu konkretisieren wären. Dies
wäre die Aufgabe der jeweiligen wissenschaftlichen Teilbereiche, die durch eine struk-
turelle Koppelung interdisziplinär arbeiten müßten. Dafür gibt es nun kein Steuerungs-
instrument, es sei denn ein wissenschaftliches Ethos, das nach Müller aber heute eher
einer Zusammenarbeit entgegenwirkt372. Auf den Ethosbegriff kann hier aus systemthe-
oretischer Sicht nicht näher eingegangen werden.
Die einzige strikte und umfassende Ausarbeitung der jüngeren Systemtheorie ist die
Arbeit von Luhmann, die auf den soziologischen Bereich beschränkt bleibt. Sie will die
Rekonstruktion von Wirklichkeit, wodurch Konstruktion bzw. die Konstrukte von
Wirklichkeit entstehen. In dieser Konstruktion, die durch die wissenschaftliche Sprache
vielleicht etwas starr wirkt, steckt eine enorme Dynamik, wie dies im Hauptteil der vor-
liegenden Arbeit deutlich wurde. Einige Vorzüge von Luhmanns Theorie lassen sich
nach Krause (1996, S.65ff.) bezeichnen als: Einsicht durch Fernsicht, Entobjektivierung
von Realitäten, Entautorisierung von Autoritäten, Verzicht auf Letztabsicherungen, die
verbunden sind mit der Offenheit von Handlungsspielräumen, Entdogmatisierung und
schließlich Themenvielfalt. In Hinblick auf den Zusammenhang von Entwicklung und
Erziehung hat sich daraus ergeben, daß eine Fernsicht bis zur kindlichen Entwicklung
372 „... Zum dritten operieren die neuen systemtheoretischen Ansätze und die Sozialwissenschaften in einer gesellschaftlichen
Umgebung, die die kulturelle Orientierungsfunktion wissenschaftlicher Theorie einerseits in ökonomische Nutzenkalküle, anderer-
seits in einen postmodernen Relativismus dekonstruiert; die die Universität weniger als Bildungsinstitution denn als Dienstleis-
tungsunternehmen betrachtet und die Sozialwissenschaft weit eher als Mittel im politischen Richtungskampf denn als kritische
Reflexionsinstanz versteht“ (Müller 1996, S.319).
369
führen muß, wenn sie konsequent gemeint ist, daß Erzieher und Kind gleichermaßen
Subjekte im System Erziehung sind, daß der Erzieher tatsächlich an Autorität verliert,
wenn die Selbstorganisation des Kindes zu Ende gedacht wird. Und aufgrund der auto-
poietischen Organisation des Menschen kann die Erziehung nie vollständig strukturiert
werden. Im Gegenteil müssen die mit der Komplexität von Erziehung verbundenen
Kontingenzen Optionen für offene Handlungsspielräume beim Erzieher und vor allem
auch beim Kind ermöglichen. Damit sind feste, starre und nicht veränderbare Regelun-
gen in der Erziehung ausgeschlossen. Daß Kontingenzen der strukturellen Koppelung
zwischen System und Umwelt zu Themenvielfalt führen, die auch für die Erziehung
Gültigkeit erlangen, ergibt sich schließlich von selbst.
Aber diese Ergebnisse haben sich aus der pädagogischen Perspektive ergeben. In der
systemtheoretisch orientierten Soziologie wird das Kind nicht zum Subjekt, verliert der
Erzieher nicht an Autorität, weil das Kind Mittel und nicht Zweck des Erziehungssys-
tems ist. Pädagogische Ergebnisse können somit genau die Lücke füllen, die schließlich
auch Luhmanns Theorie vorgeworfen wird, nämlich „zu viel Kontingenz von oben – zu
wenig Kontingenz von unten“ (Krause ebd., S.69). Die einzelnen wissenschaftlichen
Teilbereiche der Pädagogik (z.B. Allgemeine Pädagogik, Schulpädagogik oder pädago-
gische Psychologie) können also die Aufgabe übernehmen, sozusagen von unten, von
der Basis an der sie arbeiten, auf die Systemtheorie, die eher von oben, nämlich der ge-
sellschaftlichen Ebene, operiert, zurückzuwirken und damit problematische Sichtweisen
der Systemtheorie erkennen zu helfen oder zu konkretisieren, die sich in Schlagworten
contra Luhmann zeigen wie: „Defizite empirischer Rückversicherung, Akteursperspek-
tive kaum respezifierbar, Mystifizierung des Sozialen (...), geringe Benutzerfreundlich-
keit“ (Krause ebd.). Das setzt natürlich ein intensives Einarbeiten in diese Theorie vor-
aus, was wiederum nur dann geschieht, wenn interdisziplinäres Arbeiten überhaupt an-
gestrebt wird.
Nach Müller wird die Zukunft der Systemtheorie von der kritischen Analyse ihrer Ge-
schichte abhängen und nicht von der Produktion neuer Kosmologien, ein Wissen-
schaftsbereich der „Allgemeinen Systemtheorie“ erscheint nicht mehr möglich (vgl.
Müller 1996, S.359). Einzelerkenntnisse aus der Systemtheorie können jedoch eine
kritische Funktion für andere Wissenschaftsbereiche haben. Diese sollten auch in der
Pädagogik weiterhin genutzt werden.
370
7.2 Folgerungen für die pädagogische Forschung
Für die pädagogische Forschung mit systemischem Bewußtsein ergeben sich aus dem
vorher Gesagten Konsequenzen, von denen hier einige, ohne Anspruch auf Vollstän-
digkeit, genannt werden sollen:
Es geht nicht darum, daß die Pädagogik zu einer systemischen Erziehungswissenschaft
werden muß (vgl. Huschke-Rhein 1989), vielmehr sollte die Pädagogik ein Bewußtsein
für systemische Zusammenhänge entwickeln, ein Bewußtsein für Komplexitäten ihrer
Themen, für Kontingenzen, Selektionen, Differenzen und vor allem für ihren Sinn373.
Von hier aus kommt der Pädagogik als Wissenschaft zum einen die Aufgabe zu, Sys-
temzusammenhänge innerhalb ihrer Themen/Grundfragen herauszuarbeiten, woraus
sich zwangsläufig interdisziplinäres Arbeiten entwickelt, was nicht auf die Sozialwis-
senschaft oder die Psychologie, wie es in der vorliegenden Arbeit vornehmlich der Fall
ist, beschränkt bleiben muß. Dazu gehört z.B., daß man bei dem Thema Schulentwick-
lung oder „Theorie der Schule“ auch rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Erkennt-
nisse überprüfen kann. Beim Thema „Curriculumtheorie“ sind schließlich Erkenntnisse
aus allen wissenschaftlichen Disziplinen gefragt, aus dem Bereich der Theologie genau-
so wie aus dem Bereich der Informatik. Roth hat bereits auf eine „harte kritische Ausei-
nandersetzung mit den Einzelwissenschaften“ hingewiesen (Roth in Dienelt 1970,
S.26). Zum anderen muß die Pädagogik als Wissenschaft sich auch als Einheit gegen-
über anderen Wissenschaften behaupten. Die Koppelung von wissenschaftlicher Ab-
hängigkeit und der Eigenständigkeit der Pädagogik muß durch die Pädagogik geregelt
werden.
In der vorliegenden Arbeit wurden Systemzusammenhänge zwischen den Begriffen
Entwicklung und Erziehung herausgearbeitet. Ein weiteres Beispiel für Systemzusam-
menhänge in der pädagogischen Forschung wäre der Zusammenhang von Schule und
außerschulischen Bildungseinrichtungen oder Schule und Familie. Welche Systemzu-
sammenhänge lassen sich hier finden, was bedeuten spezifische Systemmerkmale für
die institutionalisierte, die organisierte Erziehung?
373 Vgl. hierzu Reich 1996, S.285: „Unser Ansatz behauptet, daß gerade in der Pädagogik ein systemisches und konstruktivistisches
Bewußtsein mit all seiner Singularität mit Abweichungen in den subjektiven Positionen, mit Vielfalt, Multikulturalität, was immer
auch Beziehungsoffenheit und Widersprüchlichkeit bedingt, unvermeidlich ist. Es erscheint uns wichtiger, imaginäre Entfaltungen,
konstruktive Impulse, Kreativität als Bewußtseinsformen zu entwickeln, als ein pädagogisches Regelwerk zu etablieren, das als
Technik Erfolge verspricht, die technisch auf Dauer nicht zu erreichen sind“.
371
Wenn die Forschung auch für die Praxis Relevanz haben soll, besteht eine wesentliche
Aufgabe darin, pädagogische Kriterien zu entwickeln, durch die eine Übertragung sys-
temischer Zusammenhänge in Handlungen möglich wird und ihre Umsetzung auf die
soziale, personale und die institutionalisierte Ebene des Systems Erziehung. Die sys-
temtheoretische Erkenntnis, daß die erzieherische Kommunikation das Kernstück des
Zusammenhangs von Entwicklung und Erziehung darstellt, führt zum Beispiel zu den
Kriterien der Art der Information, Einsatz der Sprache, Mitteilungsart, Beginn der
Kommunikation, mündliche versus schriftliche Aufgabenstellung etc. Diese Kriterien,
die aufgrund der Berücksichtigung des Entwicklungsstandes des Kindes und des Sinnes
von Erziehung zu pädagogischen werden, führen schließlich zu Handlungsmöglichkei-
ten auf Seiten des Erziehers, wie: Welche Informationen braucht das Kind jetzt, welche
will ich vermitteln? Ist eine Textgrundlage oder ein Bild angebracht oder kann die In-
formation mündlich erfolgen? Je nach dem Differenziertheitsgrad pädagogischer Krite-
rien kann ihre Anwendbarkeit bis hin zu einzelnen Erziehungssituationen möglich sein.
Es wurde in der vorliegenden Arbeit zudem deutlich, daß die Pädagogik nicht nur in
Bezug auf Handlungen systemtheoretische Zusammenhänge untersuchen kann, sondern
daß sich auch Erziehungsziele wissenschaftlich begründen lassen, wie dies am Beispiel
der Autonomie (im Sinne der Bestätigung der Identität des personalen Systems durch
sein Funktionieren, vgl. Varela 19903, S.129) angesprochen wurde (vgl. Kap. 5.2.7).
Dabei müssen die Erziehungsziele, die sich durch die wissenschaftliche Arbeit ergeben,
mit den Zielen verkoppelt werden, die die unterschiedlichen sozialen Teilsysteme der
Gesellschaft an das System Erziehung stellen (vgl. Kap. 5.5.4). Das ist aus pädagogi-
scher Sicht nur dann möglich, wenn die anderen Teilsysteme der Gesellschaft ein echtes
Interesse an der Entwicklung des Kindes zeigen. Die Pädagogik muß hier ihre Erkennt-
nisse den anderen sozialen Teilbereichen deutlich machen. Es darf nicht zu Kompro-
missen z.B. aus rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten kommen.
Die mit systemtheoretischem oder systemischem Bewußtsein verbundene Forschung in
der Pädagogik/Erziehungswissenschaft umfaßt danach auch, Differenzen zwischen dem
System Erziehung und dessen Systemumwelten herauszustellen, mit der auch die Diffe-
renz zwischen Aktualität und Possibilität verbunden ist. Es ist stets danach zu fragen,
was möglich, was umsetzbar in die Praxis ist. Realitätsnähe, Wirklichkeitsbezug, Weit-
sicht gehören zu den Aufgaben einer pädagogischen Forschung, die auch ihre eigenen
372
Theorien daraufhin beleuchten muß. So kann auch die Theoriegeschichte der Pädagogik
systemtheoretisches Gedankengut verarbeiten374.
Bei der Frage, was denn nun in die Praxis umgesetzt werden kann, wird interdisziplinä-
res Arbeiten wiederum von Bedeutung. Sollen nämlich neue pädagogische Theorien
fruchtbar werden, müssen sie zu einer „pädagogischen Einheit“ gelangen, die auch
politische und wirtschaftliche Entscheidungen berücksichtigt, die in unserer Gesell-
schaft bestehen und damit auch aufzeigen, wo Veränderungen notwendig wären, damit
sich tatsächlich Anknüpfungspunkte für die Praxis, auch auf der Ebene sozialer Syste-
me, ergeben.
Bei einer Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen und sozialen
Teilsystemen muß es sich aber nicht nur um das politische oder wirtschaftliche System
handeln. Die besondere Bedeutung der Sprache in der erzieherischen Kommunikation
verweist auf die Notwendigkeit, auch Erkenntnisse aus der Kommunikationswissen-
schaft zu berücksichtigen, wobei die Sprache nicht nur als Medium von Erziehung, son-
dern auch die Sprachentwicklung des Kindes bedacht werden muß. Außerdem erfolgt
das wissenschaftliche Arbeiten zum großen Teil im sprachlichen Bereich. Hier stellt
sich insbesondere die Frage, wie Operationen von Systemen mittels Sprache erfaßt wer-
den können, inwieweit die Fachsprache in der Lage ist, Phänomene von Wirklichkeit zu
erfassen. Und wie steht es dabei mit der Terminologie in der Pädagogik? Für welchen
Adressaten muß sie verständlich sein?
Die Perspektive des Beobachters ist auch aus der pädagogischen Forschung nicht zu
eliminieren. Pädagogische Theorien sind immer auch geprägt von weltanschaulichen
oder politischen Einstellungen ihrer Verfasser/Verfechter. Solche Hintergründe von
Theorien gilt es aufzudecken, damit ihr Stellenwert für die Gesellschaft deutlich wird.
Und dann können auch Kontingenzen erfaßt werden, indem nach der Zustandsänderung
von Theorien gefragt wird, wenn einmal andere Einstellungen zugrunde gelegt werden.
Dadurch ergeben sich schließlich auch (in der Theorie) Possibilitäten für Erziehung.
In der vorliegenden Arbeit ist die Komplexität von Entwicklung und Erziehung deutlich
geworden. Forschung hat hier, gerade unter Berücksichtigung systemischer Zusammen-
hänge, auch die Aufgabe zur Reduktion von Komplexitäten, insbesondere in Hinblick
auf die Praxisrelevanz von Theorien. Schäfer hat richtig gesehen, daß die pädagogische
374 Vgl. hierzu den Beitrag von Backes-Haase: Historiographie pädagogischer Theorien. Zwischen historisch-systematischer Me-
thode und Systemtheorie. 1996.
373
Forschung auf die Frage, wie Erziehung unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen
möglich ist, nicht bei der Beantwortung stehen bleiben kann: in ausdifferenzierten In-
teraktionssystemen (vgl. Schäfer 1983, S.123). Eine pädagogische Forschung mit sys-
temischem Bewußtsein muß konkret werden, ohne Handlungsspielräume auszuschlie-
ßen. Denn die Systemtheorie kann in der Praxis zur Überforderung führen. Neben Kri-
terien für die Reduktion müssen pädagogische Selektionskriterien geschaffen werden.
Und wem könnten diese Kriterien von Nutzen sein? - Dabei sollte nicht ausschließlich
an den Lehrer als Erzieher, sondern auch an die Eltern der Kinder gedacht werden, die
sich in Entwicklung befinden, denn letztlich erzieht nicht nur ein einzelner Erzieher die
Kinder. Pädagogische Forschung kann Hilfen für Lehrer und Eltern geben und damit
auch zur strukturellen Koppelung zwischen Lehrern und Eltern beitragen, was ange-
sichts erzieherischer Probleme notwendig erscheint. Wie kann die Pädagogik zu einer
Verbindung von Elternhaus und Schule beitragen?
Die Pädagogik ist an empirische Forschung gebunden. Auch systemische Erkenntnisse,
die sich aus systemtheoretischen ableiten lassen, müssen empirisch abgesichert sein. Es
wird der Sozialwissenschaft vorgeworfen, dies nicht ausreichend getan zu haben (vgl.
Krause 1996, S.69). Empirische Arbeit umfaßt aus systemtheoretischer Sicht vor allem
auch die Perspektive des Kindes. Zur Beobachtung und Interpretation von konkreten
Erziehungssituationen (z.B. in der Schule) gehört auch die Befragung des Kindes. Nur
wenn der kognitive und auch der affektive Zustandsbereich der an Erziehung Beteilig-
ten deutlich ist, können konkrete Möglichkeiten z.B. für die Veränderung des Klassen-
klimas oder die Beziehung zwischen Mutter und Kind etc. überlegt werden. Auch die
System-umwelt muß in empirische Arbeiten einbezogen werden, was z.B. teilweise im
Bereich der Medienerziehung geschieht. Natürlich hängen empirische Untersuchungen
von der Fragestellung ab, auf jeden Fall sollten die Zielgruppen (Erzieher und Kind)
gleichermaßen berücksichtigt bzw. einbezogen werden.
Die Pädagogik muß schließlich ihre Einflußnahme auf die Erziehung und die Entwick-
lung des Kindes herausstellen, sie verfügt nämlich über einen Einfluß, der über die blo-
ße Gestaltung der Umwelt oder der Lebenswelt des Kindes hinausgeht. Das ist hoffent-
lich in der vorliegenden Arbeit deutlich geworden. Ein entwicklungswirksamer, ein
erziehender Einfluß läßt sich dann feststellen, wenn eine feste Koppelung zwischen
Erzieher und Kind möglich geworden ist, die zu Zustandsveränderungen des psychi-
schen Systems führt, die wiederum in Handlungen/Verhalten zum Ausdruck kom-
374
men375. Dieser Einfluß erfolgt in der pädagogischen Praxis, kann aber in der Wissen-
schaft bereits erfaßt werden. Dabei geht es immer um eine Einflußnahme auf die Ent-
wicklung eines personalen Systems, das in seiner Komplexität und Entwicklung ernst
genommen wird. Es kann sich dann aus pädagogischer Sicht nicht um Beeinflussung
handeln, die hier eher negativ verstanden wird.
Wie die Einflußnahme der Erziehung auf die Entwicklung des Kindes erfaßt werden
kann, hängt von dem Sinn der Pädagogik als System ab. Die pädagogische Forschung
hat damit auch die Aufgabe, ihren Sinn deutlich zu machen, pädagogische Sinnkriterien
herauszuarbeiten. Diese beziehen sich nicht nur auf die Erziehung des Kindes, sondern
in der theoretischen Arbeit auf alle Grundbegriffe der Pädagogik. Hier wurden Begriffe
wie Bildung, Begabung, Unterricht, Didaktik Sozialisation etc. nicht auf ihre systemi-
sche Bedeutung hin untersucht. Es kann in jedem Bereich von Erziehung, sei es nun in
der Lehrerausbildung oder in Bezug auf Lerntheorien der systemtheoretische Sinn her-
ausgestellt werden. Pädagogische Sinneinheiten, die sich aus dem wissenschaftlichen
Arbeiten ergeben, sind dann sinnvoll, wenn sie sich in die Praxis umsetzen lassen. Als
Beispiel sei an die prinzipielle Selbstorganisation personaler Systeme gedacht. Wenn
sich daraus als Sinn von Erziehung ergibt, daß der Selbsttätigkeit des Kindes in der Er-
ziehung eine hohe Bedeutung zukommt, muß für die Praxis entschieden werden, wie die
Selbsttätigkeit dem Entwicklungsstand des Kindes gemäß gefördert, unterstützt werden
kann. Wie muß hier die erzieherische Kommunikation gestaltet werden?
7.3 Konsequenzen für die pädagogische Praxis
Hier kann nur exemplarisch noch auf einige Konsequenzen für die pädagogische Praxis
hingewiesen werden, soweit dies nicht in der Zusammenfassung der systemtheoreti-
schen Analyse des Zusammenhangs von Entwicklung und Erziehung erfolgte (vgl.
Kap.5.10). Die Praxisrelevanz systemischer Ansätze wurde bereits von Spanhel/Hüber
375 Nicht so Tschamler in seiner Darstellung einer reflexiven Erziehungswissenschaft, wo es heißt: „Ein Bezug zwischen Erzieher
und Zögling muß dabei genauso negiert werden wie zwischen Subjekt und Objekt des Erkenntnisschemas. Autopoietische Systeme
sind eben autonom und benötigen keine Hilfe von außen. Die einzige Möglichkeit dieser im System sich verwirklichenden Beein-
flussung erreicht man durch die Gestaltung der Umgebung der Lebenswelt (...) Damit rückt die Pädagogik von jeglicher Einfluß-
nahme ab und muß letztlich das sich selbstrealisierende System akzeptieren“ (1996, S.209). Bei der Kritik an der Theorie Montesso-
ris wurde bereits hingewiesen, daß der Rückzug des Erziehers aus der Erziehungssituation der Entwicklung des Kindes nicht zu-
träglich ist, weil der Erzieher schließlich zur Systemumwelt des Kindes gehört. Und außerdem sträubt sich kein autopoietisches
System gegen Einflußnahme, ist es doch zur Anpassung bereit, die für die Erhaltung des Systems eine wesentliche Voraussetzung
ist.
375
(1995) betont. Im Folgenden kann unterschieden werden zwischen allgemeinen Prinzi-
pien von Entwicklung, die für die Praxis von Erziehung von Bedeutung sind und zwi-
schen familiären und schulischen „systemischen Knotenpunkten“ innerhalb des Systems
Erziehung, in denen die allgemeinen Prinzipien noch eine spezifische Ausprägung er-
halten.
In Anlehnung an Spanhel (zum Folgenden siehe ebd., S.52) helfen die Erkenntnisse
über systemtheoretische Zusammenhänge erstens bei einem umfassenden Verständnis
pädagogischer Probleme. Wenn beispielsweise Entwicklungsprobleme beim Kind auf-
treten, ergeben sich Fragen wie: Für wen handelt es sich hierbei um ein Entwicklungs-
problem? Welche strukturellen Koppelungen treten auf, die zu dem Problem führen
können, ist die Koppelung als lose zu bezeichnen? Wie sieht die Systemumwelt des
Kindes aus, der Erziehungsrahmen, der konsensuelle Bereich zwischen Erzieher und
Kind, indem das Problem existent wurde? Die systemische Analyse schafft somit Auf-
klärung auf allen systemischen Ebenen, von der gesellschaftlichen, der personalen, bis
zu situativen Ebene, von biologischen über psychische bis hin zu sozialen Operationen
von Systemen. Im Gegensatz zur pädagogischen Theoriebildung werden nicht einzelne
Segmente von Erziehung oder von Entwicklung erfaßt, sondern die systemische Analy-
se erschließt den Gesamtzusammenhang. Sie erhöht damit die Komplexität von Proble-
men und kann gleichzeitig gezielt die Stellen oder Orte angeben, wo die Lösung eines
Problems einsetzen muß.
Zweitens lassen sich Handlungen mit Hilfe systemischer Zusammenhänge begründen,
bei gleichzeitiger Beachtung der Unverfügbarkeit des Kindes als Person. Bei erzieheri-
schen Handlungen ist ebenfalls der Erziehungsrahmen oder –kontext zu überprüfen, der
erzieherische Sinn, der die Grundlage der Handlung sein sollte, der konsensuelle Be-
reich, in dem die Handlung ausgeführt wird und die Koppelung zwischen der Person,
auf die sich die Handlung bezieht und derjenigen, die sie durchführt. Dabei ist die prin-
zipielle Strukturdeterminiertheit des Kindes zu beachten. Erzieher und Kind müssen
sich gegenseitig als selbständig handelnde, autonome Personen akzeptieren. Die syste-
mische Analyse von Problemen, von Situationen zeigt, wo Handlungen in der Erzie-
hung einzusetzen sind, ohne daß die Würde des Kindes angetastet wird. Für die Sys-
temtheorie gibt es eben in Bezug auf die Achtung der Person keinen prinzipiellen Un-
terschied zwischen Kind und Erwachsenen (vgl. hierzu Speck 1996, z.B. die Ausfüh-
rungen über den pädagogischen Umgangston, S.191ff.).
376
Drittens können systemische Zusammenhänge bei der Herstellung offener Handlungs-
pläne und bei der Gestaltung vielfältiger Handlungsalternativen beachtet werden. Die
Systemtheorie kann nicht nur bei der Frage helfen, welche erzieherischen Handlungen
möglich sind, sondern auch, welche Kontingenzen sich aufgrund des Erziehungs- und
Entwicklungsrahmens noch ergeben. Dies geschieht, indem zunächst auf theoretischer
Ebene der Erziehungsrahmen geändert wird, um weitere Handlungsmöglichkeiten er-
kennen zu lassen. Dann ist schließlich zu überlegen, inwieweit sich der Erziehungsrah-
men auch in der Praxis verändern läßt, inwieweit z.B. der Erzieher in der Lage ist, den
Erziehungsrahmen oder den konsensuellen Bereich zu verändern und Handlungsalter-
nativen durchzuführen. Eine erhöhte Flexibilität des Erziehers wird hier gefordert, der
nicht nur zu vielgestaltigen Handlungen fähig ist, sondern diese auch beim Kind akzep-
tiert, also mit unterschiedlichen Handlungen des Kindes umgehen und dem Kind je nach
Situation auch Handlungsalternativen anbieten kann. Die systemische Analyse führt
durch die Komplexität zur Kontingenz, sie sorgt in der Praxis somit auf keinen Fall da-
für, daß Erziehung langweilig wird.
Viertens gibt die Systemtheorie Hilfen bezüglich der Rückwirkungen des Handelns auf
die eigene Person, was zur Ehrlichkeit gegenüber den Handlungen des Erziehers führt.
Er muß sich selbst fragen, was er an körperlichen, psychischen und sozialen Belastun-
gen schafft und was das Kind wohl in seiner spezifischen Entwicklungsphase verkraften
wird. Wo sind Möglichkeiten, wo liegen die Grenzen von Handlungen aus persönlicher
Sicht? Die systemische Analyse von Entwicklungs- und Erziehungsprozessen des Kin-
des kann auch beim Erwachsenen zu Strukturveränderungen des psychischen Systems
führen und damit zu einer „Selbsterziehung“ beitragen. Die Systemtheorie führt aus der
Sicht der erwachsenen Person nicht nur zu Erkenntnissen über das zu erziehende Kind,
sondern trägt auch zur Selbsterkenntnis bei.
Diese Praxisrelevanz von systemischen Ansätzen führt gleichzeitig auch zu spezifischen
Erziehungszielen: Das Kind muß lernen, das Probleme komplexer Natur sein können, es
muß die Unverfügbarkeit des Erziehers beachten (man denke daran, daß Kinder oft die
Bedürfnisse der Eltern nicht akzeptieren wollen, weil sie sie als eigenständige Person
oft nicht wahrnehmen, was nicht nur für Kleinkinder gilt). Das Kind soll erkennen ler-
nen, daß es bei der Lösung von Problemen verschiedene Möglichkeiten gibt (was si-
cherlich auch im Mathematikunterricht deutlich gemacht werden könnte). Probleme
sozialer Art werden nicht nur durch den Einsatz von Gewalt gelöst, das gemeinsame
377
Gespräch, das Gespräch mit einer „neutralen“ Person, das Füllen von Informationslü-
cken, das Beseitigen von Verständnisproblemen etc. kann eingeübt werden. Nicht nur
der Erzieher, auch das Kind muß lernen, sich selbst einzuschätzen, seine Stärken und
Schwächen erfahren, verstehen und akzeptieren können, Möglichkeiten und Grenzen
seines Körpers, seiner psychischen Kraft und seiner sozialen Beziehungen erleben. Die
systemische Analyse des Gesamtzusammenhangs von sozialen und personalen Gege-
benheiten führt damit zur Neubegründung von Erziehungszielen. Die anthropologischen
Voraussetzungen aus systemtheoretischer Sicht führen bei der Person zur prinzipiellen
Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit. Dabei muß die des Erziehers dafür einge-
setzt werden, daß sich die des Kindes entwickeln kann.
Die enorme Dynamik von Strukturen, Situationen, Systemen, die sich durch systemische
Gegebenheiten entwickelt, muß in der pädagogischen Praxis genutzt werden. Komple-
xität von Erziehung und Entwicklung darf nicht mit Kompliziertheit verwechselt wer-
den, die zu eingeschliffenen Gewohnheiten in der Erziehung oder zur Handlungsroutine
führt, weil der Erzieher im Grunde die Komplexität nicht anders bewältigen kann. Die
systemische Analyse sollte die Vielgestaltigkeit institutioneller Erziehung ermöglichen
und die Vielfältigkeit erzieherischer Handlungen aufdecken. Der Sinn von Erziehung,
der sich letztlich aus der systemtheoretischen Sicht von Entwicklung ergibt, beugt un-
kontrollierten, zusammenhangslosen und unbegründeten erzieherischen Handlungen
vor.
Am Ende der vorliegenden Arbeit ist deutlich geworden, daß Erziehung mehr ist als
Beratung (nicht so Huschke-Rhein 1998, vgl. auch Kap.5.2.5), vorausgesetzt sie führt
zu einer festen Koppelung zwischen Erzieher und Kind. Dann wird sie zur aktiven
Einflußnahme, was aufgrund der Strukturdeterminiertheit personaler Systeme nicht im-
mer erreicht wird. Die Grundhaltung des Erziehers sollte keine distanziert beratende
sein, sondern eine, bei der das Kind die psychische Teilnahme des Erziehers an seiner
Entwicklung erkennen kann, weil nur eine solche enge Teilnahme das Kind psychisch
(und nicht nur sozial) ansprechen wird. Die systemische Analyse führt durch ihre Diffe-
renziertheit zur Nähe der Personen in der Erziehung, sie kann zwischenmenschliche
Distanzen überwinden, ohne daß sich der Mensch eingeengt fühlen muß. Vielmehr wird
in der Erziehung durch die Nähe zwischen Erzieher und Kind dem Kind Sicherheit in
seiner Entwicklung gegeben.
378
Für die Praxis ist besonders relevant, daß die prinzipielle Anpassungsbereitschaft des
Kindes immer neu genutzt werden kann. Dem Kind soll bei seinen Handlun-
gen/Verhalten/Kommunikationen Hilfe angeboten werden. Der Erzieher muß dem Kind
unterstützend zur Seite stehen, bei der Durchführung eigenständiger Handlungen Ver-
trauen schenken, überlegen, wie eine feste Koppelung zwischen Erzieher und Kind oder
auch zwischen dem Kind und seinen Freunden erreicht werden kann, damit Probleme
gelöst werden können oder sich gar nicht erst ergeben. Kurz, der Erzieher soll mit dem
Kind zusammenarbeiten, kooperieren. Damit dies gelingt, muß der Erzieher dem Kind
viele Anschlußmöglichkeiten für eigenständige Handlungen schaffen, damit die Anpas-
sungsbereitschaft bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Individualität der Person
möglich ist. Die Hilfen beginnen im Alltag bei den Schularbeiten oder wenn es um die
Übung für eine Probe geht. Gerade wenn das Kind von sich aus um die Unterstützung
der Eltern bittet, sollte Zeit und auch Geduld da sein, diese Hilfe nicht zu versagen. In
der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Kind, wobei es sich auch um den Versuch
handeln kann, eine Lösung für ein außerschulisches Problem zu lösen, lernen die Eltern
die Stärken und Schwächen ihrer Kinder kennen, können vielleicht abschätzen, wo sie
überfordert sind etc. Das gilt nicht nur in Bezug auf eine zukünftige Schulwahl oder
Berufswahl, sondern z.B. auch bei der Freizeitgestaltung. Die systemische Analyse ver-
zahnt familiäre und schulische Knotenpunkte im System Erziehung, sie verzahnt psy-
chische und soziale Systemgegebenheiten. Was die Analyse für den Zusammenhang
von Entwicklung und Erziehung herausstellt, gilt für die schulische und die familiäre
Erziehung gleichermaßen, was für eine enge Zusammenarbeit zwischen Schule und
Familie spricht. Diese Zusammenarbeit kann schließlich zu einer „Vereinfachung“ von
Erziehung beitragen.
Die familiäre Erziehung hat nach wie vor eine enorme Bedeutung für die Entwicklung
des Kindes. Eltern können durch entsprechende Literatur bezüglich ihres Verantwor-
tungsbewußtseins angesprochen werden. Aber auch Elternabende in Kindergarten und
Schule sollten so gestaltet werden, daß Eltern gerne kommen. Dazu kann vielleicht bei-
tragen, daß nicht nur Lehrinhalte und Unterrichtsmaterialien als Thema bedacht werden,
sondern auch Erziehungs- und Entwicklungsziele von Schule angesprochen und damit
auch über Erziehung im Elternhaus geredet werden kann. Oft beginnen die Lehrer den
Elternabend mit dem Satz: „Ich will sie gar nicht lange aufhalten...“, so als ob die Er-
ziehung und die Entwicklung des Kindes in kurzer Zeit „abgehakt“ werden könnte. Zeit
379
für die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern muß eingefordert werden. Bei
einer guten Kooperation von Lehrern, Eltern und Kindern sind spezifische Beratungs-
stellen nicht in dem Maße nötig, wie dies oft erscheint (vgl. dazu auch Speck 1991,
S.71ff.). Wenn es die systemische Analyse schafft, die Systemprozesse entsprechend
transparent zu machen, daß sich erkennen läßt, wo Unterstützung, Hilfe oder Einfluß
geltend gemacht werden kann, dann wird Erziehung – und das gilt auch für ihre ausdif-
ferenzierte Institutionalisierung – weniger kompliziert, was sogar zum Abbau von Aus-
differenzierung führen kann.
Speziell in Bezug auf die Schule gibt es bereits Literatur, die systemtheoretische Er-
kenntnisse einbezieht (vgl. z.B. Voß 1996 und 1998). Allgemein läßt sich hierzu sagen,
daß zum einen eine Öffnung der Schule nach außen einer Koppelung zwischen sozialen
Teilsystemen nur zuträglich ist. Wie dies im einzelnen aussehen kann, sollte jede Schule
für sich entscheiden können. Eine Verbindung zu wirtschaftlichen, medizinischen oder
rechtlichen Einrichtungen der näheren Umgebung der Schule (neben den Verbindungen
zu einer Kirche, die heute nach wie vor selbstverständlich erscheint) kann zumindest
zur Realitätsnähe von Unterrichtsinhalten führen. Außerdem werden die anderen sozia-
len Teilsysteme auch auf die wirtschaftliche und die soziale Situation an der Schule
aufmerksam, was in Hinblick auf potentielle Lehrverträge nicht bedeutungslos sein
sollte. Damit ist aber auch eine Öffnung der Schule nach innen zu verbinden. Das heißt,
sie muß für eine bewegliche Organisation sorgen, z.B. in Form eines differenzierten
Unterrichts, bei dem alle Sinne des Kindes angesprochen werden und der genügend
Sport umfaßt, genauso wie Projekte, Ausflüge, Filme, Theaterbesuche etc. (So bestand
der einzige Ausflug in einer ersten Grundschulklasse im Schuljahr 1998/1999 in einem
Besuch des Marktes, wo Gemüse eingekauft werden sollte!). Ein differenzierter Unter-
richt muß sich nicht zwangsläufig gegen den Frontalunterricht aussprechen, weil er
konstruktivistischen Gesichtspunkten widerspricht (vgl. Tschamler 1996, S.210). Es
kommt vielmehr auf die feste Koppelung zwischen Erzieher und Kind an, die, je nach
Thema und Interesse auch im Frontalunterricht möglich ist. Das schafft schließlich auch
das Fernsehen. Die systemische Analyse läßt nicht nur Beziehungen innerhalb von
Systemen erkennen, sondern zeigt auch, wo Verbindungen zwischen Systemen möglich
sind. Davon lassen sich dann entsprechende Handlungsmöglichkeiten ableiten.
Bei Käser finden sich noch weitere systemische Knotenpunkte der Schule (1998, S.53).
Dazu zählt der Förderunterricht, der in der Grundschule eingeführt wurde, wobei sich
380
aber auch die Frage stellt, wie Gymnasiasten, Real- und Hauptschüler innerhalb der
Schule gefördert werden können, wenn Entwicklungsschwierigkeiten erkannt werden.
Außerdem sind Eltern, die helfen wollen, mit den Lehrinhalten in höheren Jahrgangs-
stufen schnell überfordert. Wie kann Förderunterricht in höheren Klassen aussehen? –
Neben den Elternabenden sollte auch eine Einzelberatung zwischen Lehrer und Eltern
(aber auch zwischen Lehrer und Kind) möglich sein, die nicht nur in einer Pause kurz-
fristig eingeschoben wird. – Es ist schließlich eine Lehrerberatung notwendig, weil der
Lehrer vor allem mit Erziehungsschwierigkeiten manchmal überfordert ist. Hier stellt
sich die Frage, inwieweit die Lehrerausbildung dahingehend zu ändern ist, wie für Leh-
rer verpflichtende Lehrerfortbildungen zu gestalten sind und was Lehrerkonferenzen
zum Thema Erziehung beitragen können. – In Hinblick auf die systemische Sichtweise
kognitiver Prozesse sind flexibel gestaltete Lerntechniken einzusetzen, die bei Bedarf
auch verändert werden können. Auch diese können Thema von Lehrerfortbildungen und
Lehrerkonferenzen sein. – In Bezug auf den sozialen Aspekt spricht Käser den Lehrer-
wechsel an. Was ist, wenn Lehrer und Schüler nicht miteinander zurechtkommen?
Wann dürfte ein Kind z.B. in eine Parallelklasse wechseln? Die systemische Analyse
läßt also die verschiedensten Knotenpunkte im System Erziehung erkennen, in denen
Handlungsbedarf zugunsten der Entwicklung des Kindes deutlich wird. Wenn die Sys-
temtheorie es schafft, erst auf abstrakter, begrifflicher Ebene und dann auf der prakti-
schen, der Handlungsebene, Möglichkeiten im System Erziehung kenntlich zu machen,
dann trägt dies zum Gelingen von Erziehung und Entwicklung bei.
Die bisher genannten systemischen Knotenpunkte führen im Grunde zu einer Ausdiffe-
renzierung des Systems Erziehung, wenn sie auf individuelle Wünsche und Bedürfnisse
eingeht. Das ist in der Praxis schon oft aus Zeitmangel nicht möglich. Außerdem darf
eine Ausdifferenzierung nicht zur „Entkoppelung“ von Strukturen führen (vgl. Speck
1991, S.19). Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Differenzierungen und Koppelun-
gen, seien sie nun im schulischen, institutionellen oder familiären Bereich, ist zu be-
achten. Die Richtschnur dafür ist die Entwicklung des Kindes. Denn natürlich würde
zum Beispiel ein häufiger Lehrerwechsel, der ständige Wechsel von Lerntechniken, von
Räumlichkeiten etc. zur Unruhe in der Entwicklung und Erziehung führen. Die Aufgabe
einer systemischen Analyse ist es deshalb, gerade durch ihre Differenziertheit auf Kno-
tenpunkte hinzuweisen, um so zu zeigen, wo Handlungen möglich und nötig sind. Die
Differenziertheit darf sich nicht in lauter Einzelelemente verlieren, die keinen Zusam-
381
menhang mehr erkennen lassen. Denn gerade die systemische Analyse zeigt
(Sinn)zusammenhänge da auf, wo strukturelle Koppelungen deutlich werden.
Eine enge, partnerschaftliche Beziehung zwischen Erzieher und Kind ist die Vorausset-
zung für eine feste erzieherische Koppelung und damit für eine entwicklungsgemäße
Erziehung. Dabei gilt es vor allem dem Kind zu vermitteln, daß es eben nicht nur „sich
selbst entwickelt“, wie dies bei Montessori deutlich wurde, sondern daß das Kind neben
biologischen und psychischen vor allem auch in soziale Bezüge eingebettet lebt. Auch
die Schulklasse als System trägt zu seiner Entwicklung bei, so wie die Schule als Le-
bensgemeinschaft. Das Kind kann immer auch selbst Einfluß nehmen, Beziehungen
aktiv gestalten und damit dann auch seine Entwicklung. Diese Tätigkeit, Aktivität und
Teilnahme am sozialen Geschehen muß dem Kind deutlich gemacht und eingeübt wer-
den. Vollzieht sich die Entwicklung auch durch innere operative Tätigkeiten, so ist sie
genauso auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen. Auch wenn manchmal der
„Alleingang“ zur Erprobung der Selbständigkeit notwendig ist, so ist der Wechsel zur
gemeinsamen kooperativen Arbeit mit Freunden, Klassenkameraden, Eltern und Leh-
rern genauso wichtig (vgl. Speck 1991, S.51). Die systemische Analyse deckt in jedem
Bereich Koppelungen auf, im biologischen, im psychischen, im sozialen Bereich und
damit stehen vor allem zwischenmenschliche Beziehungen im Mittelpunkt.
Die biologischen, psychischen und sozialen Voraussetzungen, über die das Kind im
Verlauf seiner Entwicklung und in den je unterschiedlichen Entwicklungsphasen ver-
fügt, sind in der Erziehung immer wieder mit den gesellschaftlichen Erwartungen (die
die Systemumwelt des Kindes z.B. in Form von allgemeinen Erziehungszielen oder
konkreten Lerninhalten bilden) in ein ausgewogenes, systemisches Verhältnis zu brin-
gen. Treffen die gesellschaftlichen Erwartungen mit den entwicklungsbedingten Mög-
lichkeiten personaler Systeme überein, dann gelingt auch die Erziehung.
382
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Lebenslauf
Persönliche Daten:geboren am 30.11.1960 in Düsseldorf, wohnhaft in Erlangen seit 1988Familienstand: verheiratet, 2 Kinder
Ausbildung:1966 - 1980 Schulausbildung in Düsseldorf mit dem Abschluß Abitur1981 - 1988 Studium an der Universität zu Köln: Lehramt an Gymnasien für die
Sekundarstufe II mit den Fächern Deutsch und Pädagogikab 1983 Erweiterungsfach: evangelische ReligionslehreDez. 1987 Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien in Deutsch und Pä-
dagogik1988 - 1990 Studium des Nebenfachs Systematische Theologie an der Universität
Erlangen-Nürnberg
Berufliche Tätigkeit:1989 - 1993 wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl II des Instituts für Pädago-
gik der Universität Erlangen-Nürnberg bei Prof. Dr. H.-K. Beckmann
Stipendium:1996 - 1998 Wiedereinstiegsstipendium aus Mitteln des 2. und 3. Hochschulsonder-
programms der Universität Erlangen Nürnberg