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Page 1: KANTON BERN SPARMASSNAHMEN BEI ALTERS- … · geheime. Die Regierung will die Abgeltung, welche die Heime für Gebäude, Einrichtungen und die übrige Infrastruktur erhalten, um 30

SchweizMittwoch28. August 2013

Die Berner Alters- und Pflege-heime sollen künftig wenigerGeld für ihre Infrastruktur er-halten: Der Regierungsrat willdie Beiträge kurzerhand um 30Prozent kürzen, um die Ergän-zungsleistungen zu entlasten.Die Branche läuft Sturm.

Im Schloss Sumiswald sind die Betagten keine KönigeKANTON BERN SPARMASSNAHMEN BEI ALTERS- UND PFLEGEHEIMEN

Für einen Sarg zum Beispiel istder Lift deutlich zu klein. Das istin einem Altersheim nicht un-problematisch. Auch Bettenbringt man nur hinein, wenn mansie zerlegt. Die Angestellten desPflegeheims Schloss in Sumis-wald müssen viel Treppensteigenund dabei oft schwer tragen. DieZimmer der 40 Bewohnerinnenund Bewohner sind auf dreiStockwerke verteilt. Nachts hateine einzige Angestellte Dienst,die dann meist recht viel Sporttreibe, wie Enrico Casanovasscherzt, der Präsident des Alters-zentrums Sumiswald. Und wennjemand stirbt im Schloss, müssensie den Sarg die Treppen hinun-tertragen.

Das Alterszentrum betreibt inSumiswald drei Pflegeheime mit130 Plätzen. Jenes im Schlossdürfte es eigentlich nicht mehrgeben. Die kantonale Gesund-heits- und Fürsorgedirektion(GEF) schreibt schon lange vor,dass jeder Heimbewohner min-destens 16 Quadratmeter Platzhaben muss. Davon ist man hierim Schloss weit entfernt. DieZweierzimmer sind etwa 20 Qua-dratmeter gross. Wer hier wohnt,muss Nähe vertragen und gutmiteinander auskommen. «Wirhaben Glück, dass unsere Bewoh-ner genügsame Menschen sind»,sagt Geschäftsführer Patrik Wal-ther. «Aber auf Dauer können wirso nicht weitermachen.»

40-Millionen-Projekt inSumiswald steht auf der KippeDie Verantwortlichen der Sumis-walder Heime wollen handeln:Für 40 Millionen Franken planensie einen mehrteiligen Neubauim Dorfzentrum, der zwei derdrei heutigen Standorte ersetzensoll. Das Angebot bliebe bei 130Pflegeplätzen. Es sei ein solides,gutes Projekt ohne jeden Luxus,sagt Casanovas, der als langjähri-ger Präsident der Emmental-Ver-sicherungen weitherum bekanntist. Auch die Bankfinanzierungsei bereits gesichert – jedenfallswar sie das bis Ende Juni. Seit-dem der Regierungsrat das Spar-paket präsentiert hat, mit demer die Kantonsfinanzen ins Lotbringen will, steht das Sumiswal-der Projekt auf wackligen Füssen.Das Paket enthält eine Massnah-me, mit der die Regierung die Be-treiber aller Berner Altersheime,die zusammen etwa 15 000 Plätzeanbieten, brüskiert hat.

Heute erhalten die Heime proPflegetag und Bewohner fix 32.75Franken an die Kosten ihrer In-frastruktur von den Gebäudenbis zum Mobiliar. Diesen Betragwill die Regierung von einemJahr aufs andere um 10 Frankenoder 30 Prozent senken. Damitwürden die Heime total knapp 50von 150 Millionen Franken ver-lieren. Über diese und alle ande-ren Sparmassnahmen entschei-det der Grosse Rat im November.

«Wenn sie das durchziehen,können wir unser Projekt beerdi-gen», sagt Casanovas. Dann ma-che die Bank nicht mehr mit.Man mag einwenden, die Sumis-walder müssten einfach ein paarJahre warten, bis sie die Finan-zierung trotz tieferer Abgeltungstemmen können. «Unmöglich»,sagt Geschäftsführer Walther,«so viel Zeit haben wir nicht, derKanton duldet das Pflegeheim

Schloss nur noch auf Zusehenhin.»

«Das ist fast schon einwenig frech»Dass derselbe Kanton, der manchstrenge Auflage erlässt und denHeimen sogar die Abschrei-bungszyklen vorschreibt, nun dieBeiträge markant kürzen will,lindert den Ärger in der Branchenicht. «Das ist fast schon ein we-nig frech», sagt zum Beispiel UrsLüthi, der für die sieben Dahlia-Heime im Emmental (als Direk-tor) und im Oberaargau (als VR-Delegierter) tätig ist.

Lüthi holt aus: Seit 2011 gilt dieneue Pflegefinanzierung, die im

Kanton Bern ein neues Systemzur Finanzierung der Heiminfra-struktur brachte. Zuvor hatte derKanton die Bauprojekte der öf-fentlichen Heime simpel aus derKantonskasse finanziert. Neu er-halten die Heime einen fixen Inf-rastrukturbeitrag und sind dafürgehalten, sich eigenverantwort-lich um ihre Anlagen zu küm-mern. Sie sollen für Bauprojektenicht mehr beim Kanton anklop-fen, sondern diese mit Bankenprivat finanzieren. Zuvor muss-ten die Heime, denen der Kantonin letzter Zeit Projekte finanzierthatte, einen Teil der Beiträgewieder zurückzahlen. DieEmmentaler Dahlia-Heime etwa

mussten über 3 Millionen Fran-ken abliefern, erinnert sich Lü-thi. Deshalb kann er nicht verste-hen, wie die Regierung nun aufdie Idee kommt, die Infrastruk-turbeiträge um 30 Prozent zukürzen. «Eigentlich müsste sieuns einen Teil der 3 Millionenwieder zurückzahlen.» Sowiesosei es ein Verstoss gegen Treuund Glauben, diese Beiträge nachso kurzer Zeit so massiv zu sen-ken, obwohl die Abmachung war,dass sie langfristig stabil seinmüssen, damit die Heime mit denBanken ins Geschäft kommen.

Plötzlich neue Regeln für60-Millionen-Bau in SpiezIn Spiez werden diese Beiträgezurzeit eifrig verbaut. Hier inves-tiert der Verein Solina, der dasehemalige Krankenheim Spiezund das Ziegelei-Zentrum Stef-fisburg führt, 60 Millionen Fran-ken für zwei grosse Neubauten.Gut möglich, dass die Banker, diediese Projekte finanziert haben,inzwischen etwas nervös sind.«Wir haben bisher nichts von ih-nen gehört», sagt Patric Bhend,Solina-Präsident und SP-Gross-rat. Er erinnert sich gut daran,dass sich die Banken primär fürdie Höhe und Zuverlässigkeit desInfrastrukturbeitrags interes-siert haben. Wenn die Regierungdiesen um 30 Prozent kürzenwill, wird ihnen das nicht egal

sein. «Wir hoffen, dass wir mit ih-nen notfalls eine Lösung finden»,so Bhend. Im schlimmsten Fall –wenn die Kredite gekündigt wür-den – werde man kaum darumherumkommen, den Kanton umUnterstützung zu bitten.

Eine Toilette pro Etage mussreichenIm Schloss in Sumiswald kanneine Angestellte GeschäftsführerWalther noch knapp daran hin-dern, die Tür einer Toilette zuöffnen, die gerade besetzt ist. Erwollte den bescheidenen Lokusdem Fotografen zeigen. Dass erbesetzt ist, ist kein Zufall. Die 13bis 14 Frauen und Männer, die aufjeder Etage wohnen, müssen sichzwei Toiletten teilen. «Zeitge-mäss ist das natürlich nicht»,seufzt Walther.

Später am Sitzungstischkämpft Präsident Casanovas mitZahlen und Moral. Erstens seiendie Angaben des Kantons zumLebenszyklus der Altersheim-In-frastruktur falsch (siehe Artikelrechts): Diese liege nicht bei 20sondern bei durchschnittlich 31Jahren. Die Abschreibungsdauerweiter zu verlängern, sei nichtzu verantworten. Bei Gebäudenzum Beispiel liege sie bereits bei50 Jahren, was schon eher mutigsei. Zweitens setze der KantonBern die Kosten pro Heimplatzschon heute sehr tief an, etwa 40

DIE SICHT DER REGIERUNG

Es ist verlockend, den Sparhebelbei den Ergänzungsleistungen(EL) anzusetzen. Nicht nur, weilsie seit Jahren massiv ansteigen.Sondern auch, weil Kürzungenwegen des enormen Volumensder EL von rund 650 MillionenFranken pro Jahr im KantonBern stark «einschenken». Soenthält auch das Sparpaket derRegierung einen Vorschlag zuden EL. Betroffen wären jedochnicht die betagten EL-Empfän-ger, sondern die Alters- und Pfle-geheime. Die Regierung will dieAbgeltung, welche die Heime fürGebäude, Einrichtungen und dieübrige Infrastruktur erhalten,um 30 Prozent kürzen. Dies ent-lastet Kanton und Gemeindenum je 15 Millionen Franken: Siefinanzieren gemeinsam die EL,die für den Grossteil der Heim-kosten aufkommen. Entlastetwerden auch gut situierte Senio-ren, die ihr Heim ohne EL zahlenund deshalb ebenfalls von derBeitragsreduktion profitieren.

Die Regierung verteidigt ihrenAltersheim-Sparvorschlag: Erbewirke nur, dass die Heimeihre Infrastruktur über längereZeit abschreiben müssen. Dassei zumutbar.

Im Namen der Regierung ver-teidigen das zuständige MitgliedChristoph Neuhaus (SVP) sowieHeiner Schläfli, Leiter der Aus-gleichskasse, den Sparvorschlag.Beide betonen, die Kürzung habekaum unmittelbare Konsequen-zen: Weder führe sie zu einemStellenabbau noch treffe sie dieBewohner. Die Folgen seien trag-bar. Nach der Berechnung derRegierung können die Heime mitden heutigen Abgeltungen einenHeimplatz grundsätzlich innert20 Jahren amortisieren; nachder Kürzung sei eine Zeitspannevon 29 Jahren notwendig, umeinen Heimplatz komplett er-neuern zu können. Diese Zahlensind laut der Branche schlichtfalsch (siehe Hauptartikel).

Das Sackgeld kürzen?Neuhaus geht davon aus, dassdie Heime Unterhaltsarbeitenoder Neubauten weniger raschan die Hand nehmen könntenals geplant. Er sagt aber, sogardie Gesundheitsdirektion, diejährlich die Tarifverhandlungenmit den Heimen führe und dasGanze abschliessend beurteilenkönne, trage den Vorschlag mit.

Schläfli betont zudem, dies seieine der wenigen Möglichkeiten,

Lieber bei Infrastruktur sparen als beim Sackgeld der Bewohnerwie der Kanton bei den EL über-haupt sparen könne. Der Gross-teil sei durch Bundesvorgabengebunden. Möglich wäre zwarauch eine Reduktion der Beiträgean die «persönlichen Auslagen»der Heimbewohner – das Sack-geld. Doch dies wäre politischwohl noch heftiger umstritten.Im Kanton St. Gallen wurde einesolche Sparmassnahme 2012 ander Urne klar verworfen.

«Damit müssen wir leben»Den Berner Altersheimen blühtnoch eine zweite Budgetkürzung,die neben dem Streit um denInfrastrukturbeitrag fast unter-geht. Die Regierung will dieHeimtarife um 1,8 Prozent sen-ken. Da Krankenkassen und Be-wohner weiterhin gleich viel zah-len sollen, profitiert der Kantonüberproportional: Seine Beiträgegehen um 5 Prozent zurück.

Unbestritten ist, dass Bern fürdie EL relativ viel ausgibt. LautRegierungsrat Neuhaus ist dasnicht zu ändern: Da es hier relativviele Betagte gebe und zugleichdie Einkommen (und Renten)eher tief seien, liege es auf derHand, dass der Bedarf nach ELgross sei. «Damit müssen wir le-ben», sagt Neuhaus. fab

«Wir hoffen, dasswir mit den Bankennotfalls eine Lösungfinden.»

Patric Bhend, Präsident der So-lina-Heime Spiez und Steffisburg

«Wir haben Glück,dass unsere Be-wohner genügsameMenschen sind.Aber auf Dauerkönnen wir so nichtweitermachen.»Patrik Walther, Geschäftsführer

Alterszentrum Sumiswald

Im Pflegeheim Schloss in Sumiswald müssen sich die 13 oder 14 Bewohnerinnen und Bewohner pro Etage zweiToiletten teilen. Ob der Neubau realisiert werden kann, hängt nun von der kantonalen Finanzpolitik ab. Thomas Peter

Prozent tiefer als Aargau, Basel-land und Solothurn. Und drittenssei es die moralische Pflicht desStaats, die Menschen auch im Al-ter anständig zu behandeln.

Weil Appelle an die Moral inZeiten der Geldnot wenig helfen,zeigen sich Vertreter der Branchekompromissbereit. Vermutlichmüsse man einen Beitrag leisten,sagt etwa Peter Keller, Geschäfts-führer des Verbands der BernerPflegeheime, der jüngst warnte,die Berner Heime würden «ver-lottern». Ein «Deal» scheintdenkbar. Im Zentrum stünde diezweite Sparmassnahme, welchedie Heime betrifft: Die Regierungwill die Pflegetarife um 1,8 Pro-zent senken. Heimvertreter wol-len nun Hand bieten zu einergrösseren Reduktion, wenn dafürdie Infrastrukturbeiträge gleichbleiben. «Aber eigentlich ist auchdas nicht in Ordnung», beharrtPatrik Walther im Schloss Sumis-wald. Solange die Ansprüche stei-gen und die Kundschaft immerpflegeintensiver werde, liege ei-ne Kürzung nicht drin. «Es seidenn, man steht dazu, dass daseine Qualitätseinbusse bedeu-tet», sagt Walther. «Dass dannvielleicht unsere Leute nichtmehr Zeit haben, jemandembeim Essen zu helfen, sonderneinfach ein Plastikgeschirr hin-stellen und die Leute machenlassen.» Fabian Schäfer

Zweierzimmer im Pflegeheim Schloss: Geschäftsführer Patrik Walther (l.)und Präsident Enrico Casanovas. Thomas Peter

Muss damit rechnen, dass die Banken nervös werden: Patric Bhend, Präsident der Trägerschaft des früherenKrankenheims Spiez, das zurzeit abgerissen und durch einen Neubau ersetzt wird. Markus Hubacher

PIERRE WAUTHIER

Vermutlich SuizidDer Finanzchef des Versiche-rungskonzerns Zurich, PierreWauthier, hat sich vermutlich dasLeben genommen. Dies teilte dieZuger Polizei gestern mit. Siestützt sich dabei auf Informatio-nen des Instituts für Rechtsme-dizin. Wauthier wurde am Mon-tagmorgen tot in seiner Wohnungim Kanton Zug gefunden (dieseZeitung berichtete). Die Ursachedes Todes war zunächst un-klar. sda

ZWEITE GOTTHARDRÖHRE

Komitee bringtsich in StellungDas Komitee «Ja zum Sanie-rungstunnel am Gotthard» will«riskante Basteleien» verhin-dern und setzt sich für einezweite Röhre ohne Kapazitäts-erweiterung ein. «Ein Sanie-rungstunnel ist eindeutig die ver-nünftigste Lösung», sagte Stän-derat Filippo Lombardi (FDP,TI) gestern in Bern. sda

AUSWEISUNG

Tschagajew nichtmehr in der SchweizBulat Tschagajew, ehemaligerBesitzer des Fussballclubs Neu-enburg Xamax, hat die Schweizverlassen. Sein Schengen-Visumsei abgelaufen, sagte LarisaVasilievna, Direktorin einer Fir-ma von Tschagajew, zu einer Mel-dung der «Tribune de Genève».Im April dieses Jahres wiesendie Behörden den Tschetschenenmit russischem Pass an, dieSchweiz zu verlassen. Tschaga-jew akzeptierte den Entscheidnicht und gelangte ans Bundes-gericht, wo er aber verlor. sda

BÜROMATERIAL

Biella-Neher: Verlustund UmsatzplusDer Büromaterialhersteller Biel-la-Neher mit Sitz in Brügg konnteim vergangenen Halbjahr denUmsatz zwar steigern, doch nurweil das Unternehmen im Früh-ling 2012 die deutsche Falken-Gruppe zugekauft hatte. Die Um-satzerlöse der Gruppe beliefensich im ersten Semester 2013 auf91,2 Millionen Franken – 16 Pro-zent mehr als im Vorjahr. Markt-bedingt habe sich die Nachfragein der Branche aber spürbarabgeschwächt. sda

AWARD

Preis für BernerCascination und das Artorg Cen-ter for Biomedical Engineeringder Uni Bern haben den mit10 000 Franken dotierten KTIMedtech Award gewonnen. Ge-meinsam haben die beiden Fir-men ein Navigationssystem fürLeberoperationen entwickelt,welches den Chirurgen erlaubt,Streutumore zielsicher zu iden-tifizieren und zu veröden. sda

ONLINE-PORTAL

Theaterkritik.chwird eingestelltMit dem Ziel, eine deutsch-fran-zösischsprachige Plattform fürTheater- und Tanzkritik zuschaffen, ging die Website thea-terkritik.ch Anfang November2011 online. Im Verlauf desBetriebsjahres hat das Interesseder Theatergruppen und Veran-stalter an einer Beteiligung starkabgenommen. Deshalb hat derVorstand des Trägervereins nundie Einstellung der Seite aufEnde Oktober beschlossen. EineSchlussaktion in Form eines«Feuerwerks» soll das Projektwürdigen. pd

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