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1 Das Maltreatment Classification System (MCS) in Theorie und Praxis ein wissenschaftlich fundiertes Modell zur Kategorisierung von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung Autoren: Jenny Horlich, Stefanie Dehmel, Susan Sierau, Lars White, Kai von Klitzing Zusammenfassung: Der folgende Beitrag befasst sich mit dem Maltreatment Classification System (MCS) nach Barnett, Manly und Cicchetti (1993), eines der wenigen international anerkannten und theoretisch sowie empirisch fundierten Klassifikationssysteme zur Erfassung von Misshandlung und Vernachlässigung im Kindes- und Jugendalter. Nach Einführung theoretischer und inhaltlicher Aspekte des MCS wird anhand eines Fallbeispiels aus der Jugendhilfe die Anwendung im Rahmen des Forschungsprojektes AMIS beschrieben. Dabei wird auf Besonderheiten der Umsetzung dieses in Deutschland noch weitgehend unbekannten Klassifikationsmodells eingegangen. Das MCS grenzt verschiedene Subtypen von Misshandlung und Vernachlässigung voneinander ab und erfasst diese hinsichtlich Schweregrad, Entwicklungsperiode, Häufigkeit und Täter. Ziel des Artikels ist es mit der Vorstellung und praktischen Erprobung dieses einzigartigen Klassifikationssystems einen Ausblick für den Nutzen im Rahmen des Diagnostikprozesses der Jugendhilfe zu geben. Abstract: This paper focuses on the Maltreatment Classification System (MCS), as developed by Barnett, Manly and Cicchetti (1993). Though less well-known to a German audience, the MCS is one of the few internationally recognized and empirically validated systems to evaluate abuse and neglect in childhood and adolescence. Following a theoretical introduction to the MCS, we describe its application to a case from the child protection services, assessed as part of the research project AMIS. We pay close attention to the special challenges facing the adaptation of the MCS to a German context. The MCS attempts to demarcate various subtypes of abuse and neglect, classifying maltreatment in terms of its severity, developmental period, frequency as well as identifying the perpetrators. By means of this theoretical and applied introduction, this article offers a vantage point for the utility of this unique classification system as part of the diagnostic process in the child protection services.

Das Maltreatment Classification System (MCS) – Ein Modell zur Kategorisierung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (Teil 1)

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Das Maltreatment Classification System (MCS) in Theorie und Praxis – ein

wissenschaftlich fundiertes Modell zur Kategorisierung von Kindesmisshandlung und

Vernachlässigung

Autoren: Jenny Horlich, Stefanie Dehmel, Susan Sierau, Lars White, Kai von Klitzing

Zusammenfassung:

Der folgende Beitrag befasst sich mit dem Maltreatment Classification System (MCS) nach

Barnett, Manly und Cicchetti (1993), eines der wenigen international anerkannten und

theoretisch sowie empirisch fundierten Klassifikationssysteme zur Erfassung von

Misshandlung und Vernachlässigung im Kindes- und Jugendalter.

Nach Einführung theoretischer und inhaltlicher Aspekte des MCS wird anhand eines

Fallbeispiels aus der Jugendhilfe die Anwendung im Rahmen des Forschungsprojektes

AMIS beschrieben. Dabei wird auf Besonderheiten der Umsetzung dieses in Deutschland

noch weitgehend unbekannten Klassifikationsmodells eingegangen. Das MCS grenzt

verschiedene Subtypen von Misshandlung und Vernachlässigung voneinander ab und

erfasst diese hinsichtlich Schweregrad, Entwicklungsperiode, Häufigkeit und Täter. Ziel des

Artikels ist es mit der Vorstellung und praktischen Erprobung dieses einzigartigen

Klassifikationssystems einen Ausblick für den Nutzen im Rahmen des Diagnostikprozesses

der Jugendhilfe zu geben.

Abstract:

This paper focuses on the Maltreatment Classification System (MCS), as developed by

Barnett, Manly and Cicchetti (1993). Though less well-known to a German audience, the

MCS is one of the few internationally recognized and empirically validated systems to

evaluate abuse and neglect in childhood and adolescence. Following a theoretical

introduction to the MCS, we describe its application to a case from the child protection

services, assessed as part of the research project AMIS. We pay close attention to the

special challenges facing the adaptation of the MCS to a German context. The MCS

attempts to demarcate various subtypes of abuse and neglect, classifying maltreatment in

terms of its severity, developmental period, frequency as well as identifying the perpetrators.

By means of this theoretical and applied introduction, this article offers a vantage point for

the utility of this unique classification system as part of the diagnostic process in the child

protection services.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ....................................................................................................................... 2

1.1 Geschichte und wissenschaftlicher Hintergrund ........................................................... 3

1.2 Das Forschungsprojekt AMIS ....................................................................................... 4

1.3 Fallbeispiel ................................................................................................................... 5

2. Vorstellung MCS ............................................................................................................ 6

2.1 Subtypen und Schweregrade ....................................................................................... 6

2.2 Entwicklungsperioden .................................................................................................17

2.3 Häufigkeit und Chronizität ...........................................................................................18

2.4 Täter ...........................................................................................................................19

3. Erfahrungen in der Anwendung des MCS......................................................................20

4. Besonderheiten des MCS ..............................................................................................21

5. Ausblick .........................................................................................................................23

6. Literatur .........................................................................................................................24

1. Einleitung

Was ist Misshandlung? Welche Formen gibt es? Wie sind diese einzuordnen und in der

praktischen Arbeit zu erkennen und voneinander abzugrenzen? Dies sind zentrale Fragen in

der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, welche Fachkräfte sich immer wieder stellen, wenn

sie vor der Herausforderung stehen, Kindeswohlgefährdung zu beschreiben, zu klassifizieren

und einzuschätzen. Obwohl die gesetzliche Grundlage und das übergeordnete Ziel, das

Wohl des Kindes zu schützen, in Deutschland überall gleich sind, gibt es dennoch

unterschiedliche Herangehensweisen zur Beantwortung dieser Fragen. So existieren vor

allem verschiedene Kategorisierungen und Vorgehen zur Einordnung von

Kindeswohlgefährdung (z.B. Münder u.a. 2000, Reich 2004). Von einer Implementierung

standardisierter Vorgehensweisen und eines einheitlichen Klassifikationssystems ist die

deutsche Forschungs- und Praxislandschaft im Gegensatz zum internationalen Vergleich

noch weit entfernt. Jedoch gestaltet sich aufgrund des gesellschaftlichen Wandels sowie des

häufigen Vorkommens multipler Gefährdungsformen und verschiedener Einflussfaktoren

eine Vereinheitlichung als schwierig (vgl. Aberle 2011, S. 4). Für ein professionelles und

gezieltes Handeln ist jedoch eine möglichst objektiv nachvollziehbare und einheitliche

Beschreibung und Charakterisierung dessen, was unter Kindesmisshandlung und

Vernachlässigung zu verstehen ist, unerlässlich. Dies ist vor allem auch dann bedeutsam,

wenn unterschiedliche Professionen und Institutionen des Kinderschutzes innerhalb eines

Diagnostik- und Interventionsprozesses zusammenarbeiten. Die Forschung, die sich unter

anderem mit den Ursachen und Folgen von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung

3

beschäftigt, hat sich vor allem auch der Thematik einer umfassenden und

vereinheitlichenden Messung dieses Phänomens angenommen. Insbesondere im

angloamerikanischen Raum gibt es eine lange Forschungstradition auf dem Gebiet von

Misshandlung und Vernachlässigung (Dubowitz; Bennett 2007). In der deutschen

Forschungslandschaft wurde dieses Thema lange Zeit kaum berücksichtigt und rückte erst in

den letzten Jahren in den Fokus der Wissenschaft (Fegert; Spröber 2012). Nicht zuletzt

wurde im Rahmen des 2010 durch die Bundesregierung eingerichteten Runden Tisches

„Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und

öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ dieses Thema auch politisch

zunehmend präsent.

Das in diesem Artikel vorgestellte Maltreatment Classification System1 (MCS) entstand

aufgrund von langjähriger klinischer Forschung durch die amerikanische Forschungsgruppe

um Dante Cicchetti (Barnett u.a. 1993) als theoretisch fundiertes System zur Auswertung von

Dokumentationen (vor allem Akten des Jugendamts) über Kindesmisshandlung und

Vernachlässigung in Familien. In Deutschland ist das MCS bisher noch wenig bekannt und

hebt sich im Vergleich zu anderen, bisher vorliegenden Kategorisierungen aufgrund seiner

umfassenden und detaillierten Beschreibung sowie seiner empirischen Validierung von

Misshandlung und Vernachlässigung ab.

Im Rahmen des BMBF-geförderten Forschungsprojektes AMIS (englischer Titel: „Analyzing

pathways from childhood maltreatment to internalizing symptoms and disorders in children

and adolescents“, deutscher Titel: Von der Kindesmisshandlung zu

Internalisierungssymptomen und -störungen in Kindheit und Adoleszenz) wird dieses

Verfahren nun erstmalig ins Deutsche übersetzt und anhand von Aktenauswertungen im Amt

für Jugend, Familie und Bildung in Leipzig sowie am Stadtjugendamt München erprobt. Ziel

dieses Artikels ist es, die Anwendung, die Besonderheiten und damit die Möglichkeiten des

MCS als ein Instrument im Gesamtkontext eines komplexen Diagnostikverfahrens in der

hiesigen Kinder- und Jugendhilfe darzustellen.

1.1 Geschichte und wissenschaftlicher Hintergrund

Das Maltreatment Classification System ist ein wissenschaftlich anerkanntes, theoretisch

fundiertes Klassifikationssystem zur Erfassung und Einschätzung von Misshandlung und

Vernachlässigung im Kindes- und Jugendalter. Das MCS entstand aus dem Bedürfnis der

Wissenschaft und Praxis nach klaren und einheitlichen Definitionskriterien zur Beschreibung

von dokumentierten Vernachlässigungs- und Misshandlungserfahrungen in Familien (vgl.

Manly 2005). Bedeutsam hierbei ist, dass diese Kriterien im engen Zusammenhang mit den

entwicklungspsychologischen Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung für das Kind

1 dt. Übersetzung: Misshandlungsklassifikationssystem

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oder den Jugendlichen stehen. So haben nicht nur die Art der Misshandlungs- oder

Vernachlässigungserfahrungen einen Einfluss darauf, wie das Kind darauf reagiert, sondern

auch, in welcher Entwicklungsphase es sich befindet. Daneben ist es wichtig zu beachten,

wie lange die Erfahrung andauert bzw. wie häufig sie auftritt und von wem sie ausgeht.

Mittels des MCS werden diese für die kindliche Entwicklung zentralen

Beschreibungsmerkmale von Misshandlung und Vernachlässigung quantifiziert und somit

vergleichbar gemacht. Das MCS wurde am Mount Hope Family Center in Rochester (NY,

USA) im Rahmen eines mehrere Jahrzehnte andauernden, intensiven Austauschs zwischen

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, klinischen Praktikerinnen und Praktikern sowie

Fachkräften der Jugendhilfe entwickelt und 1993 durch Barnett, Manly und Cicchetti

veröffentlicht, sowie in der Folge durch zahlreiche Studien mit z.T. schwer misshandelten

Kindern empirisch validiert (vgl. Cicchetti; Valentino, 2006). Es zielte zunächst auf die

Analyse von Jugendamtsakten und wurde später im Rahmen verschiedener Studien durch

die Übertragung auf die Analyse von Interviews mit der Bezugsperson (Maternal

Maltreatment Interview) erweitert (Cicchetti u.a. 2003). Ziel ist es, die Informationen

verschiedener Informanten und Quellen, welche Misshandlungs- und

Vernachlässigungserfahrungen des Kindes erfassen, innerhalb eines einheitlichen Systems

zu integrieren und ein kohärentes, möglichst objektives Bild der Vorkommnisse zu erstellen.

1.2 Das Forschungsprojekt AMIS

Im Rahmen des Forschungsprojekts AMIS ist es in einer für die deutsche

Forschungslandschaft bislang einzigartigen Form der Kooperation gelungen, sowohl

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch Praktikerinnen und Praktiker aus den

Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe in einem interdisziplinären

Forschungsprojekt zusammenzuführen. Das Projekt begann im Juni 2012 und wird in einer

ersten Projektphase für drei Jahre vom BMBF gefördert. Als Kern des Projekts werden

Zusammenhänge zwischen Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungserfahrungen und

psychischen Symptomen wie Angst und Depressivität von Kindern und Jugendlichen im Alter

von 4 bis 16 Jahren näher untersucht sowie mögliche biologische, psychische und soziale

Risiko- und Schutzfaktoren ermittelt. Das Phänomen der Misshandlungs- und

Vernachlässigungserfahrungen wird hierbei durch unterschiedliche Perspektiven erfasst:

zum einen mittels persönlicher Interviews mit dem Elternteil und dem betroffenen Kind in der

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters des

Universitätsklinikums Leipzig, zum anderen durch die Auswertung der Aktendokumentation

mithilfe des MCS am Amt für Jugend, Familie und Bildung in Leipzig. Die

Projektmitarbeiterinnen am örtlichen Jugendamt arbeiten sowohl für die Gewinnung von

teilnehmenden Familien als auch für die einzelfallbezogene Aktenanalyse eng mit dem

Allgemeinen Sozialdienst und den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zusammen. Das

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MCS stellt innerhalb des Forschungsprojektes zur Erfassung der Phänomenologie der

Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrung das zentrale Forschungsinstrument dar.

Um das MCS vorzustellen und seine praktische Anwendung zu verdeutlichen wird ein

anonymisiertes und leicht abgewandeltes Fallbeispiel aus Aktenaufzeichnungen des Amts

für Jugend, Familien und Bildung Leipzig genutzt.

1.3 Fallbeispiel

Max ist 2006 1 Jahr alt, als Meldungen bekannt werden, dass es gegen ihn und seine

Geschwister durch die Eltern immer wieder zu körperlicher und psychischer Gewalt kommt.

Nachbarn berichten von lautstark ausgetragenen, verbalen Beleidigungen und körperlichen

Übergriffen der Eltern untereinander und gegenüber den Kindern. Max wird des Öfteren

dabei beobachtet, wie er unbeaufsichtigt in der Nachbarschaft an der Straße und den

naheliegenden Bahngleisen mit seinen älteren vier Geschwistern spielt, die zu diesem

Zeitpunkt zwei bis zehn Jahre alt sind. Die Nachbarn berichten weiterhin, die Kinder würden

nach Essen betteln. Laut Aussage der Eltern stünde dafür kein Geld zur Verfügung.

Während eines Hausbesuchs durch eine Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD)

wird die Überforderung der Eltern, die Kinder zu versorgen, bestätigt. Windeln werden nur

ungenügend gewechselt und bei den Kindern wird eine Mangelernährung deutlich. Zudem

gibt es seit Monaten einen Läusebefall. Es zeigt sich immer wieder, dass die Mutter sehr

spät auf Krankheitssymptome der Kinder eingeht. Beispielsweise geht die Mutter erst nach

14 Tagen mit Durchfall und Erbrechen bei Max mit diesem zum Arzt.

2008 lebt Max mit einem Bruder im Haushalt der Mutter und dem Lebensgefährten der

Mutter. Die leiblichen Eltern von Max sind seit 2007 getrennt. Der leibliche Vater besucht die

Kinder seitdem so gut wie nicht mehr. Die Mitarbeiterin des ASD beschreibt den Zustand der

Wohnung nach einem Hausbesuch als chaotisch und voller Müll. Das Katzenklo wurde

länger nicht gereinigt und riecht stark. Allgemein riecht es sehr nach menschlichem und

tierischem Urin. Daraufhin folgt eine Prüfung des Kindeswohls durch den ASD. Der

unzureichende hygienische Zustand der Wohnung, die Geruchsbildung aufgrund des

Einnässens von Max und die hohen Gefahrenquellen in Reichweite der Kinder (z.B.

ungesicherte Kabel) begründen die Gefahr des Kindeswohls von Max und seinem Bruder.

Weiterhin werden Mitarbeiter des Kindergartens auf schlimme Verletzungen bei Max auf

seinem Rücken und im Gesicht aufmerksam, die noch entzündet sind. Daraufhin wird ein

Arzt aufgesucht, der ein Gutachten erstellt. Max erklärt dem Arzt, dass die Hämatome auf

dem Rücken von der Mutter seien. Die Mutter habe ihn mit einem Schuh geschlagen und

verletzt. Das ärztliche Gutachten ergibt, dass diese Verletzungen nicht nur einmalig passiert

sein können, sondern von unterschiedlichen Zeiträumen stammen. Die Verletzungen seien

durch einen harten Gegenstand verursacht worden. Durch den Kindergarten erfolgt eine

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Anzeige gegen die Mutter und ihren aktuellen Lebenspartner. 2008 wird Max aus der Familie

genommen und stationär untergebracht. 2008 wird bekannt, dass Max von seinem

zuständigen Betreuer im Heim eine Ohrfeige bekam und Schrammen im Gesicht davon trug.

Während des Gerichtsverfahrens 2010 wird darüber hinaus deutlich, dass Max durch den

Lebenspartner der Mutter als Strafe für sein Einnässen regelmäßig kalt abgeduscht worden

sei. Weiterhin sei er in Fällen von Ungehorsam durch den Lebenspartner der Mutter

mehrfach an den Stuhl gefesselt und ihm der Mund mit Klebeband zugeklebt worden. Die

Mutter war während dieser Taten anwesend und habe diese Vorgehensweisen ohne

einzuschreiten geduldet. Ausgesagt wurde durch die Mutter, dass das Schlagen und

„Anbrüllen“ der Kinder zwischen 2008 und 2009 durch ihren Lebenspartner tagespräsent

gewesen sei. Die Mutter ist nicht in der Lage gewesen ihre Kinder vor den massiven

körperlichen Übergriffen durch den Lebenspartner zu schützen.

2. Vorstellung MCS

Im Folgenden soll das MCS anhand der zugrundeliegenden Dimensionen vorgestellt und

erläutert werden. Dabei werden zunächst die verschiedenen Subtypen von Misshandlung

und Vernachlässigung beschrieben und der Umgang mit unterschiedlichen Schweregraden

anhand des eingangs vorgestellten Fallbeispiels eingeführt. Anschließend wird auf die

Bedeutung von Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungserfahrungen in verschiedenen

Entwicklungsperioden, die Erfassung von Häufigkeit und Chronizität sowie auf die Rolle des

Täters eingegangen.

2.1 Subtypen und Schweregrade

Der Subtyp bzw. die Art der Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungserfahrung stellt die am

häufigsten untersuchte Dimension innerhalb des MCS dar. Es werden folgende Subtypen

unterschieden: Körperliche Misshandlung, Sexueller Missbrauch, Emotionale Misshandlung,

Körperliche Vernachlässigung hinsichtlich Mangelnder Versorgung und Mangelnder

Beaufsichtigung und Moralisch-rechtlich-erzieherischer sowie Bildungsbezogener

Misshandlung2 (siehe Abbildung).

In diesem Abschnitt sollen zunächst alle dem MCS zugrundeliegenden Subtypen

beschrieben werden. Dabei wird auch auf die Abgrenzung zu anderen Subtypen bzw.

mögliche Überschneidungen in Form von Einschluss- und Ausschlusskriterien eingegangen.

Dies ist im Besonderen relevant für bestimmte Subtypen wie beispielsweise Emotionale

Misshandlung, da alle Subtypen eine gewisse emotionale Komponente enthalten. Somit wird

2 Aufgrund der geringen Auftrittshäufigkeit von Moralisch-gesetzlich-erzieherischer und

Bildungsbezogener Misshandlung wurden diese beiden Subtypen von Barnett u.a. (1993) zu einer gemeinsamen Kategorie zusammengefasst.

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gewährleistet, dass verschiedene Subtypen im MCS gleichzeitig erfasst werden können,

aber dennoch die konzeptuelle Integrität jedes Subtyps gewährleistet bleibt.

Für ein Ereignis von Misshandlung oder Vernachlässigung wird immer auch der

Schweregerad für jeden Subtyp einzeln erfasst und auf einer Skala von 1 bis 5 eingeschätzt.

Dabei stellt 1 den geringsten und 5 den höchsten Schweregrad dar. Die Einschätzung des

Schweregrades orientiert sich an den psychischen und physischen Folgen des

Vorkommnisses für das Kind oder den Jugendlichen. Je nach Alter kann es dabei in

Abhängigkeit der Art der Misshandlung und Vernachlässigung zu einer unterschiedlichen

Einschätzung des Schweregrads kommen (siehe Kap. 2.3). Im MCS werden je Subtyp für

jede Stufe des Schweregrads Beschreibungen und typische Beispiele aus der Untersuchung

von Barnett u.a. (1993) vorgegeben, die als objektive Ankerpunkte zur Einordnung eines

Ereignisses dienen sollen. Im Rahmen der AMIS-Studie werden diese Beispiele

kontinuierlich erweitert. Die Handhabung des Manuals wird anhand der eingangs

beschriebenen Situationen aus dem Fallbeispiel (soweit zutreffend) exemplarisch erläutert.

Um die Lesbarkeit zu vereinfachen, verwenden wir die im Rahmen des AMIS-

Forschungsteams erarbeitete Übersetzung basierend auf dem Originalkapitel von Barnett

u.a. (1993). Inhaltliche Abweichungen vom englischen Original sind als solche explizit

kenntlich gemacht3. Die Veröffentlichung einer durch die amerikanischen Autoren

autorisierten deutschen Übersetzung des MCS ist in Planung.

2.1.1 Körperliche Misshandlung liegt dann vor, wenn eine Bezugsperson oder ein

verantwortlicher Erwachsener einem Kind eine körperliche Verletzung zufügt, die durch nicht

akzidentelle Mittel (d.h. Fahrlässigkeit oder Unfall) verursacht wurde.

In einigen Fällen ist die Abgrenzung zu anderen Subtypen nicht ganz eindeutig. Hierfür gibt

es im Manual Kriterien, die als Leitfaden zur Unterscheidung dienen sollen (vgl.: Barnett u.a.

1993, S. 54 f.): Bei einer Androhung von Gewalt ohne tatsächliche Gewaltausübung wird

dies unter Emotionaler Misshandlung erfasst. Ebenso wird bei Freiheitsberaubung ohne

Verletzungen verfahren. Kommt es infolge sexueller Handlungen zu Verletzungen, welche

ausschließlich damit in Zusammenhang stehen, wird dies als Sexueller Missbrauch erfasst,

wobei Verletzungen, die z.B. auf Schlagen oder Fesseln zurückzuführen sind, zusätzlich als

Körperliche Misshandlung aufgenommen werden.

Schweregrad 1: Das Kind wurde geschlagen und erlitt geringfügige Verletzungsspuren

(nicht am Hals oder Kopf) oder wurde am Kopf geschlagen, was es ängstigte, jedoch keine

Verletzungen vorliegen. Es wurde gemeldet, dass das Kind geschlagen wurde, aber es

liegen keine genaueren Informationen vor welche eine höhere Einstufung rechtfertigen.

3 Die mit einem * gekennzeichneten Beispiele wurden im Zuge der Adaption des MCS im AMIS-

Projekt ergänzt.

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Beispiel: das Kind zog sich ein Hämatom am Arm zu nachdem es geschlagen wurde; das

Kind bekam Angst aufgrund von Schlägen auf den Hinterkopf, aber es gab keine

Verletzungsspuren.

Schweregrad 2: Das Kind weist zahlreiche oder nicht geringfügige Verletzungsspuren am

Körper auf (unterhalb des Halses), es wurde mit einem Gegenstand4 (z.B. Haarbürste)

geschlagen, welcher vermutlich geringfügige Verletzungsspuren hinterlässt oder es wurde

getreten bzw. gestoßen.

Beispiele: nach Schlagen mit einem Gürtel sind blaue Flecken auf dem Gesäß des Kindes zu

verzeichnen; das Kind erhielt Prügel mit einem Kabel, was zu zahlreichen Striemen auf dem

Rücken führte, welche aber nicht medizinisch versorgt werden mussten.

Schweregrad 3: Es gibt Verletzungsspuren am Kopf oder Hals des Kindes (z.B. blaues

Auge) und/ oder Beulen, Striemen oder kleinere Verletzungen unterhalb der Schultern, die

eine medizinische Versorgung erfordern oder auch geringfügige Verbrennungen am Körper

(z.B. Zigarettenabdrücke).

Beispiele: Schlagen des Kindes zog Nasenbluten nach sich*; runde Verletzungsspuren auf

der Hand wurden als Zigarettenabdrücke identifiziert; das Kind erlitt durch Schlagen mit

einem Stock Wunden, die medizinisch versorgt werden mussten.

Schweregrad 4: Das Kind erlitt durch Schlagen mit einem Gegenstand beträchtliche

Verletzungen (z.B. mittelstarke Verletzungen, Verbrennungen 2. Grades, Frakturen oder

Gehirnerschütterung). Die Bezugsperson versuchte, das Kind zu würgen oder zu ersticken

bzw. hinterließ beträchtliche Brandwunden oder Verletzungen, die eine Versorgung im

Krankenhaus mit bis zu 24 Stunden Aufenthalt bedurften.

Beispiele: das Kind wurde die Treppe hinuntergestoßen und zog sich eine Armfraktur zu; es

wurde derart schwer verbrannt, dass es in der Notaufnahme behandelt werden musste.

Schweregrad 5: Die Bezugsperson verursachte eine schwerwiegende Verletzung, die einen

Krankenhausaufenthalt von mehr als 24 Stunden erforderte bzw. bleibende Schäden

verursachte.

Beispiele: das Kind wurde aufgrund innerer Verletzungen bzw. Verdacht auf Schütteltrauma

eine Woche im Krankenhaus behandelt.

Anhand der Definitionen, Erläuterungen sowie Beispiele im MCS würde sich im eingangs

vorgestellten Fallbeispiel die Einordnung hinsichtlich Körperlicher Misshandlung wie folgt

darstellen:

Es liegen Meldungen vor, dass es gegen Max immer wieder zu körperlicher Gewalt und zu

körperlichen Übergriffen kommt: Schweregrad 1, da keine genaueren Informationen

vorliegen.

4 Hier erfolgte eine Anpassung der US-Fassung (siehe Kap. 3).

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Später sind Verletzungen auf dem Rücken des Kindes dokumentiert, welche entzündet

waren. Ein ärztliches Gutachten bestätigt auffällige Verletzungen am Rücken, welche durch

einen harten Gegenstand verursacht wurden sowie Verletzungsspuren im Gesicht:

Schweregrad 3 aufgrund der eigentlich notwendigen medizinischen Versorgung der

Verletzungen durch einen Gegenstand (hier zusätzlich Mangelnde Versorgung, da die

entzündeten Verletzungen nicht beim Arzt vorgestellt wurden, siehe unten) und der

Verletzungen im Kopfbereich.

Max bekam von einem Heimmitarbeiter eine Ohrfeige, welche zu Schrammen im Gesicht

führte: Schweregrad 3, da es eine Verletzung am Kopf gegeben hat.

1.1.2 Sexueller Missbrauch liegt bei jeglichem stattgefundenen sexuellen Kontakt oder dem

Versuch eines sexuellen Kontakts zwischen dem Kind und einer Bezugsperson oder einem

anderen verantwortlichen Erwachsenen zu deren sexueller Befriedigung oder finanziellem

Nutzen vor.

Hinsichtlich der Abgrenzung bzw. Überschneidung mit anderen Subtypen finden sich im

MCS folgende Hinweise: wenn Personen beim Versuch, eine sexuelle Handlung mit einem

Kind zu vollziehen, psychische Nötigung anwenden wird neben dem Sexuellem Missbrauch

auch der Subtyp Emotionale Misshandlung erfasst. Im Fall körperlicher Nötigung wird wie

oben beschrieben verfahren: direkte Folgen der sexuellen Handlung werden ausschließlich

als Sexueller Missbrauch verstanden, andere Verletzungen zusätzlich als Körperliche

Misshandlung.

Schweregrad 1: Die Bezugsperson setzt das Kind eindeutigen sexuellen Aktivitäten aus,

wobei es nicht direkt in das Geschehen involviert wird.

Beispiele: das Kind wird pornografischem Material ausgesetzt; die Bezugsperson versucht

nicht zu verhindern, dass das Kind sexuellen Aktivitäten ausgesetzt wird oder bespricht

sexuelle Themen in nicht-pädagogischer Weise explizit in Gegenwart des Kindes.

Schweregrad 2: Das Kind wird direkt zum sexuellen Kontakt aufgefordert oder die

Bezugsperson präsentiert dem Kind seine Genitalien.

Beispiele: Aufforderung des Kindes zu sexuellen Handlungen, jedoch ohne Körperkontakt;

das Kind wird genötigt, beim Masturbieren zuzusehen.

Schweregrad 3: Das Kind wird in (gegenseitige) sexuelle Berührungen verwickelt.

Beispiele: die Bezugsperson liebkost das Kind oder nötigt es zur Masturbation.

Schweregrad 4: Beim Versuch der Penetration und/ oder Penetration des Kindes (auch bei

oralem oder analem Verkehr) wird Schweregrad 4 vergeben.

Beispiele: die Bezugsperson hat mit dem Kind Geschlechts- oder Oralverkehr oder versucht

es; das Kind leidet an einer Geschlechtskrankheit.

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Schweregrad 5: Geschlechtsverkehr oder andere Formen sexueller Penetration des Kindes

wurden erzwungen, z.B. durch körperliche Gewalt oder Fixation. Das Kind wird zur

Prostitution angeboten oder hierzu gezwungen.

Beispiele: das Kind wird gefesselt und vergewaltigt (Hinweis: dies wird ebenfalls als

Emotionale Misshandlung aufgenommen, ggf. als Körperliche Misshandlung wenn

Verletzungen aufgrund der Fixation); das Kind wird zu pornografischen Aufnahmen oder

sexuellen Handlungen mit anderen Personen gezwungen.

1.1.3 Körperliche Vernachlässigung: Mangelnde Versorgung umfasst die

Vernachlässigung der körperlichen Bedürfnisse des Kindes hinsichtlich geeigneter und

ausreichender Nahrung, Kleidung, Wohnraum, medizinischer Versorgung und

angemessener Hygiene.

Liegt das Familieneinkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt Mangelnde Versorgung nur

dann vor, wenn die Bezugsperson es versäumt, Sozialleistungen zu beantragen oder deren

Bezug sicherzustellen und es dadurch zu einer Mangelversorgung kommt.

Schweregrad 1: Zu den Hauptmahlzeiten sind keine Lebensmittel verfügbar, das Kind ist

nicht mit sauberer oder passender Kleidung ausgestattet und es ist kein Bemühen

erkennbar, das Kind und/ oder den Wohnraum sauber zu halten. Es wurden mehrere (Zahn-)

Arzttermine versäumt oder leichten Verhaltensproblemen keine Beachtung geschenkt.

Beispiele: das Kind ist unsauber, riecht nach Urin und hat häufig verfilztes Haar; die

Bezugsperson hat es versäumt, trotz Aufforderung zum Elternabend zu erscheinen und

reagiert auf Briefe nicht.

Schweregrad 2: Im Haus befindet sich häufig keinerlei Nahrung und zwei oder mehr

aufeinanderfolgende Mahlzeiten bleiben 2-3 mal pro Woche aus. Das Kind hat regelmäßig

keine wettergerechte Kleidung oder Ungezieferbefall in der Wohnung wird nicht versucht zu

begegnen. Es gibt keine angemessene Schlafstätte für das Kind, medizinische

Empfehlungen werden nicht zu Ende geführt und/ oder die Windeln zu selten gewechselt, so

dass es zu Windelausschlag kommt.

Beispiele: ein Sozialarbeiter hat das Haus mehrere Male aufgesucht ohne das Lebensmittel

verfügbar waren; die Kinder erhalten 2-3 mal pro Woche kein Mittag- oder Abendessen;

Eltern führen die Antibiotikabehandlung bei einer Ohrenentzündung nicht zu Ende.

Schweregrad 3: Das Kind erhält keine regelmäßigen Mahlzeiten, wodurch ein Muster von

häufig ausgefallenen Mahlzeiten entsteht; die Bezugsperson kümmert sich nicht um

angemessene Lebensmittelvorräte, beantragt oder erhält keine Sozialleistungen, was zum

Verlust der Wohnung oder Minderung der finanziellen Unterstützung führt. Mittelschwere

Erkrankungen werden nicht behandelt oder Medikamente (z.B. schwache Beruhigungsmittel)

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werden ohne ärztliche Verordnung verabreicht. Die Behandlung einer diagnostizierten

Verhaltensstörung wird nicht zu Ende geführt was das Kind daran hindert, soziale oder

schulische Strategien zu entwickeln. Eine unhygienische Lebenssituation (verdorbenes

Essen, Abfall und/ oder Ungezieferbefall) wird beibehalten. Die angehende Mutter gefährdet

das ungeborene Kind durch Alkohol- oder Drogenkonsum in der Schwangerschaft.

Beispiele: das Kind versäumte innerhalb der letzten Monate durchschnittlich 4 mal pro

Woche zwei aufeinanderfolgende Mahlzeiten; die Wohnung wurde zwangsgeräumt, da die

Eltern den Bezug von Sozialleistungen nicht sicherstellten; das Kind ist nicht

krankenversichert*; die Mutter war während der Schwangerschaft mehrfach alkoholisiert;

wiederholt herrschten chaotische Lebensumstände mit verdorbenem Essen, Müll und

Ungeziefer; die Eltern brachten das Kind seit 6 Wochen nicht zur Therapie einer psychischen

Auffälligkeit.

Schweregrad 4: Das Kind lebt über einen längeren Zeitraum in einer unangemessenen oder

extrem ungesunden Wohnsituation, z.B. ohne Heizung im Winter oder mit Fäkalien und Urin

im Wohnbereich. Möglicherweise lebensbedrohliche Erkrankungen werden nicht medizinisch

behandelt (z.B. wird es bei Verbrennungen 3. Grades oder Schädelfraktur nicht in die

Notaufnahme gebracht). Das Kind wurde derart dürftig ernährt, dass es nicht

entwicklungsgemäß zunimmt oder wächst.

Beispiele: das Kind lebt in einem ungeheizten Haus, da die Eltern es versäumt haben, sich

um eine benutzbare Heizung zu kümmern und kam mit Erfrierungen in die Schule; das Kind

wurde angefahren, erlitt einen Knochenbruch und klagt über Schmerzen und berichtet in der

Schule, die Eltern wollten es nicht ins Krankenhaus bringen.

Schweregrad 5: Das Kind leidet aufgrund derart dürftiger Ernährung und Pflege unter

körperlichen Folgeerscheinungen (z.B. Unterernährung oder Gedeihstörungen). Das Kind

wird mit einem fetalen Alkoholsyndrom oder einer kongenitalen Drogenabhängigkeit

geboren. Das Kind verstarb oder leidet an einer dauerhaften Behinderung aufgrund massiver

Hungersnot oder Flüssigkeitsmangel. Das Kind äußerte Suizidgedanken, jedoch bemühte

sich die Bezugsperson nicht um Hilfe um seine Sicherheit zu gewährleisten.

Beispiele: das Kind ist zur Geburt heroinabhängig; eine schwere Unterernährung/

Gedeihstörung wurde diagnostiziert.

Fallbeispiel: Die Kinder betteln wiederholt bei den Nachbarn um Essen. Die Eltern sagen,

dafür stünde kein Geld zur Verfügung und es wird durch den ASD eine Mangelernährung

dokumentiert: Schweregrad 2, da offenbar häufig Mahlzeiten ausfallen und/ oder sich nicht

ausreichend Nahrung im Haus befindet. Bei genaueren Angaben zur Häufigkeit der

ausgefallenen Mahlzeiten könnte auch ein höherer Schweregrad in Betracht gezogen

werden.

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Das ungenügende Wechseln der Windeln weist ebenfalls auf einen Schweregrad 2 hin.

Weiter ist in der Akte vermerkt, dass es seit Monaten Läusebefall gibt und die Mutter immer

wieder erst verspätet auf Krankheitssymptome der Kinder reagiert, z.B. als sie erst nach 14-

tägigem Durchfall und Erbrechen zum Arzt geht oder die von Max‘ Erziehern entdeckten

Verletzungen auf dem Rücken nicht einem Arzt vorstellt: Schweregrad 3 da mittelschwere

Erkrankungen nicht (rechtzeitig) behandelt werden (hier zusätzlich Körperliche

Misshandlung, da die Verletzungen nicht unfallbedingt waren, siehe oben).

Die Wohnung wird als chaotisch und voller Müll beschrieben, das Katzenklo ist nicht

gereinigt, der hygienische Zustand ist unzureichend und die Geruchsbildung aufgrund des

Einnässens des Kindes begründet die Gefahr des Kindeswohls: Schweregrad 4 aufgrund der

extrem ungesunden Wohnsituation u.a. durch Fäkalien und Urin im Wohnbereich.

1.1.4 Körperliche Vernachlässigung: Mangelnde Beaufsichtigung beinhaltet die

mangelhafte Beaufsichtigung eines Kindes bzw. die Beaufsichtigung eines Kindes durch eine

ungeeignete Betreuungsperson (welche z.B. alkoholisiert ist oder bereits Gewalttätigkeiten

an Kindern verübt hat). Bei diesem Subtyp geht es eher um Risikofaktoren die aus einer

mangelnden Aufsicht resultieren, welche das Kind gefährden (können) - unabhängig davon,

ob daraus tatsächlich Schädigungen hervorgehen - ergänzt um Situationen mit unkritischer

oder unzureichender Gefährdungseinschätzung durch die Bezugsperson.

Für die Einschätzung des individuellen Schweregrades sind insbesondere folgende Aspekte

zu berücksichtigen: die Zeitspanne der fehlenden bzw. inadäquaten Beaufsichtigung in

Relation zum Entwicklungsstand des Kindes, potentielle Gefahren der physischen

Umgebung (z.B. Glasscherben, ungesicherte Steckdosen; dies ist von Mangelnder

Versorgung im Sinne hygienischer Bedingungen abzugrenzen) sowie die Eignung der

(stellvertretenden) Betreuungsperson. Die Zeiträume und Altersangaben in den Beispielen

sollen dabei als Orientierung zur Abwägung im Einzelfall dienen.

Schweregrad 1: Das Kind ist für kurze Zeiträume nicht angemessen beaufsichtigt (weniger

als 3 Stunden), bei keiner unmittelbaren Gefahrenquelle in der Umgebung.

Beispiele: ein 8-jähriges Kind wird tagsüber für einige Stunden allein gelassen; Vorschüler

spielen für einige Stunden tagsüber allein draußen bzw. werden nur durch ein 8-jähriges

Kind betreut (Hinweis: ggf. noch Emotionale Misshandlung für das 8-Jährige prüfen, falls

unangemessen hohe Verantwortungsübernahme von diesem erwartet wurde).

Schweregrad 2: Das Kind ist ohne unmittelbare Gefahrenquelle in der Umgebung über

mehrere (ca. 3 bis 8) Stunden nicht angemessen betreut oder ist für kürzere Zeiträume (bis

zu 3 Stunden) nicht angemessen beaufsichtigt während es auf unsicherem Spielgelände

spielt.

13

Beispiele: das Kind wird häufig über den Tag allein gelassen; ein Säugling wird über mehrere

Stunden von einem 8-jährigen Kind betreut (Säugling=Schweregrad 2, Kind=Schweregrad 1,

ggf. noch Emotionale Misshandlung für das ältere Kind; siehe unten); es wird zugelassen,

dass das Kind unbeaufsichtigt in einer gefährlichen Gegend spielt (z.B. Glasscherben).

Schweregrad 3: Das Kind ist über längere Zeiträume (3-8 Stunden) nicht angemessen

betreut oder spielt für mehrere Stunden auf unsicherem Spielgelände.

Beispiele: das Kind wird nachts allein gelassen; das Kind ist in Obhut einer wenig

vertrauenswürdigen Person (die z.B. Drogen nimmt* oder Alkohol trinkt).

Schweregrad 4: Das Kind wird über weitreichende Zeiträume (z.B. über Nacht oder 10 bis

12 Stunden) nicht angemessen betreut. Es wird zugelassen, dass das Kind in einer

gefährlichen Gegend spielt, wo z.B. eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, vom Auto

angefahren zu werden, aus dem Fenster zu fallen oder zu ertrinken. Ein Kind mit

bekanntermaßen destruktivem Hintergrund (z.B. Brandstiftung, Suizidgedanken) wird

unbeaufsichtigt gelassen.

Beispiele: ein Grundschulkind wird über Nacht allein gelassen; das Kind spielt an einer stark

befahrenen Straße oder auf einem Häuserdach; die Betreuung wird einer Person übergeben,

bei der gewalttätige/ sexuelle Handlungen gegenüber Kindern bekannt sind.

Schweregrad 5: Das Kind wird für mehr als 12 Stunden nicht angemessen betreut oder in

eine lebensbedrohliche Situation gebracht.

Beispiele: ein Vorschulkind wir 24 Stunden allein gelassen; das Kind wird zuhause

rausgeworfen ohne Vorbereitung eines alternativen Lebensraums; eine Kleinkind spielt

unbeaufsichtigt in der Nähe eines Swimmingpools.

Fallbeispiel: Der einjährige Max spielt unbeaufsichtigt bzw. mit seinen Geschwistern (max.

10 Jahre alt) auf der Straße und an Bahngleisen: Schweregrad 4, da die Eltern zulassen,

dass die Kinder in einer gefährlichen Gegend spielen. (Gleichzeitig ist für das älteste

Geschwisterkind ggf. Emotionale Misshandlung in Erwägung zu ziehen (sofern hier ebenfalls

eine Einschätzung erfolgen soll), wenn erwartet wurde, dass sie auf die jüngeren

Geschwister acht gibt wegen unangemessener Verantwortung für (mehrere) Kleinkinder;

siehe unten.)Die hohen Gefahrenquellen in der Wohnung, welche aus Sicht des ASD eine

Kindeswohlgefährdung begründen werden mit Schweregrad 2 erfasst.

1.1.5 Emotionale Misshandlung ist der mit Abstand am schwierigsten zu definierende

Subtyp, bei welchem basale emotionale kindliche Bedürfnisse, z.B. nach psychischer

Sicherheit und Geborgenheit, Akzeptanz und positiver Aufmerksamkeit, altersgemäßer

Selbständigkeit im Sinne von Gelegenheiten, die Umgebung zu erkunden und außerfamiliäre

Beziehungen zu knüpfen, vereitelt werden. Auch das Fehlen einer konstant verfügbaren

14

Bezugsperson sowie häusliche Gewalt (z.B. Beobachtung verbaler und/ oder physischer

Gewalt an bzw. zwischen Bezugspersonen) gehört in diesen Bereich.

Nahezu alle Fälle von Misshandlung und Vernachlässigung ziehen emotionale Folgen nach

sich. Der naheliegenden Schlussfolgerung, jedes Vorkommnis zugleich auch als Emotionale

Misshandlung aufzufassen wird im MCS begegnet, indem Emotionale Misshandlung sich auf

andauernde oder extreme Vernachlässigung emotionaler kindlicher Bedürfnisse bezieht.

Missbrauchshandlungen können ausschließlich als Emotionale Misshandlung oder aber in

Verbindung mit anderen Subtypen erfasst werden. Um Emotionale Misshandlung von

anderen Subtypen abzugrenzen oder mögliche Überschneidungen aufzuzeigen sollen

folgende Ein- und Ausschlusskriterien spezifiziert werden:

Eine Schnittstelle von Emotionaler und Körperlicher Misshandlung betrifft körperliche

Beschränkungen bzw. Freiheitsberaubung des Kindes. Da diese das kindliche

Autonomiebedürfnis gefährden werden sie als Emotionale Misshandlung aufgefasst. Führen

solche Handlungen weiterhin zu körperlichen Verletzungen werden sie als Emotionale und

als Körperliche Misshandlung aufgenommen. Der Umgang mit der Erfassung Sexuellen

Missbrauchs ebenfalls als Emotionale Misshandlung ist im Abschnitt zu Sexuellem

Missbrauch ausgeführt. In Fällen von Verlassen des Kindes durch die Bezugsperson (z.B.

zurücklassen des Kindes bei Verwandten ohne Angabe des eigenen Aufenthaltsortes) wird

als Emotionale Misshandlung erfasst. Wird das Kind jedoch ohne Vorkehrung zur

Beaufsichtigung und Verpflegung allein gelassen, so ist dies zusätzlich als Körperliche

Vernachlässigung (Mangelnde Beaufsichtigung sowie Mangelnde Versorgung) zu werten.

Schweregrad 1: Vom Kind wird erwartet oder es wird dazu aufgefordert, häufig ein

unangemessen hohes Maß an Verantwortung für jüngere Kinder zu übernehmen. Die

Beziehungen des Kindes zu anderen ihm wichtigen Personen werden untergraben (z.B.

durch häufig abfällige Bemerkungen über das andere Elternteil); das Kind selbst wird

verhöhnt, erniedrigt, mit Schimpfworten bezeichnet, verängstigt und eingeschüchtert oder

ignoriert (z.B. auf das Schreien eines Säuglings wird grundsätzlich nicht reagiert).

Beispiele: ein 10-jähriges Kind hat die Verantwortung für ein Kleinkind zu übernehmen; die

Bezugsperson hat kein Interesse an den Leistungen des Kindes; ein Elternteil bricht den

vereinbarten Umgang abrupt ab*.

Schweregrad 2: Die Bezugsperson lässt keine altersangemessene Sozialisierung zu, das

Kind darf z.B. nicht mit Schulfreunden spielen. Es findet eine Rollenumkehr zwischen Eltern

und Kind statt, wobei erwartet wird, dass das Kind sich um den Erwachsenen kümmert. Dem

Bedürfnis nach Zuneigung wird keine Beachtung geschenkt oder es zurückgewiesen, wobei

es sich um ein chronisches Verhaltensmuster handelt. Es wird zugelassen, dass das Kind

einem extremen, aber nicht gewalttätigen Ehestreit beiwohnt.

15

Beispiele: die Bezugsperson verhält sich passiv bzw. jegliche Interaktionen zwischen Eltern

und Kind sind harsch und kritisch; das Kind darf nach der Schule nicht mit Freunden spielen,

da das Elternteil selbst Gesellschaft braucht; eine Elternteil schreit, beschimpft und beleidigt

den Partner vor dem Kind.

Schweregrad 3: Dem Kind wird vorgeworfen, Schuld an Ehe- oder Familienproblemen, z.B.

Scheidung, zu sein. Das Kind wird mit entwürdigenden Worten beschimpft oder ernsthaft und

überzeugend bedroht. Die Hände oder Füße des Kindes werden gefesselt (ca. 2-5 Stunden),

wobei das Kind nicht unbeaufsichtigt ist. Das Kind wird extremen, unvorhersagbaren und/

oder unangemessenen Handlungen ausgesetzt, z.B. Gewalttaten anderen

Familienmitgliedern gegenüber.

Beispiele: die Bezugsperson schreit das Kind regelmäßig an, beschimpft es oder weist es

ständig zurück; dem Kind wird gedroht, dass es aus dem Fenster geworfen wird; die

Bezugsperson droht dem Kind mit Heim*; das Kind ist anwesend, wenn ein Geschwisterkind

stark körperlich misshandelt wird*.

Schweregrad 4: Die Bezugsperson droht im Beisein des Kindes mit Selbstmord oder dem

Verlassen des Kindes. Das Kind erlebt extreme häusliche Gewalt, bei der eine

Bezugsperson ernsthaft verletzt wird. Das Kind wird beschuldigt, für den Selbstmord oder

Tod eines Familienmitglieds verantwortlich zu sein. Das Kind wird für 5-8 Stunden

eingesperrt oder für weniger als 2 Stunden gefesselt oder körperlich „stark eingeengt“ (starke

Bewegungseinschränkung, Temperatur, Luftzufuhr oder Licht stark gemindert), z.B. in eine

Kiste gesperrt.

Beispiele: das Kind beobachtet einen Streit der Eltern, nachdem die Mutter im Krankenhaus

behandelt werden muss; das Kind wird als Strafe für 10 Stunden in einem Raum

eingeschlossen; die Eltern sagen dem Kind, es solle zur Adoption freigegeben werden, da es

schlecht ist.

Schweregrad 5: Die Bezugsperson vollzieht einen Selbstmordversuch im Beisein des

Kindes, versucht, das Kind umzubringen oder droht damit, ohne es tatsächlich zu verletzen.

Die Bezugsperson verlässt das Kind für mehr als 24 Stunden, ohne Angabe, wann bzw. ob

sie zurückkommt und wo sie sich aufhält. (Hier ggf. noch Mangelnde Beaufsichtigung und/

oder Mangelnde Versorgung erfassen, es sei denn, es wurden entsprechende Vorkehrungen

getroffen.) Das Kind wird durch extrem restriktive Methoden für mehr als 2 Stunden gefesselt

oder stark eingeengt bzw. für ausgedehnte Zeiträume (mehr als 8 Stunden) auf engem

Raum (z.B. Kammer) eingesperrt.

Beispiele: die Bezugsperson nahm eine Überdosis Schlaftabletten im Beisein des Kindes

und sagte, ein Leben mit ihm sei nicht auszuhalten; die Mutter hinterlässt die Kinder bei der

Großmutter ohne Auskunft über ihren Aufenthaltsort und Aussage, wann/ ob sie

16

wiederkommen würde; das Kind wird für zwei Tage mit einem Hundehalsband in der

Wohnung angekettet.

Im Fallbeispiel wird zunächst von psychischer Gewalt und Beleidigungen gegen Max und

seine Geschwister berichtet: Schweregrad 1 aufgrund der beschriebenen Regelmäßigkeit.

Später werden massive verbale und körperliche Ausbrüche des Vaters gegenüber den

Kindern und der Mutter beschrieben: Schweregrad 3, da es zu gewalttätigen Ausbrüchen

des Vaters gegenüber anderen Familienmitgliedern kommt und davon auszugehen ist, dass

Max diese Gewalttätigkeiten miterlebt hat. Der 4-jährige Max wird vom späteren Partner der

Mutter als Strafe für sein regelmäßiges Einnässen mehrere Male kalt abgeduscht. Bei

Ungehorsam fesselte dieser ihn am Stuhl und der Mund wurde mit Klebeband zugeklebt. Die

Mutter duldete diese Vorgehensweisen ohne einzuschreiten: Schweregrad 4 aufgrund des

Fesselns und der verminderten Luftzufuhr. Bei genaueren Angaben zur zeitlichen Dauer

könnte auch Schweregrad 5 in Betracht gezogen werden.

1.1.6 Moralisch-rechtlich-erzieherische Misshandlung liegt vor, wenn eine Bezugsperson

das Kind illegalen Handlungen oder anderen Aktivitäten aussetzt, welche kriminelles oder

antisoziales Verhalten fördern oder das Kind in solche involviert.

Schweregrad 1: Das Kind darf Aktivitäten von Erwachsenen beiwohnen, für die es eigentlich

noch zu jung ist.

Beispiele: das Kind wird mit auf Partys oder in Kneipen genommen, wo Alkohol getrunken

wird (wobei eindeutig keine familiäre Situation vorliegt); das Kind darf nicht altersgerechte

Medien nutzen (z.B. ein 7-Jähriger PC-Spiele ab FSK 16)*.

Schweregrad 2: Die Bezugsperson betreibt illegale Geschäfte und das Kind weiß davon

(z.B. Diebstahl).

Beispiele: Kind war bei Drogengeschäften anwesend; Konsum illegaler Drogen durch die

Eltern in Gegenwart des Kindes*.

Schweregrad 3: Die Bezugsperson weiß um illegale Aktivitäten des Kindes und unternimmt

nichts dagegen (z.B. Diebstahl, Alkoholkonsum).

Beispiel: Eltern wurden über Ladendiebstahl informiert, nehmen aber keinen Einfluss auf ihr

Kind.

Schweregrad 4: Die Bezugsperson ermutigt das Kind zu Straftaten oder erzwingt diese (z.B.

Aufforderung zu Diebstahl oder Drogenkonsum).

Beispiel: Kind soll Lebensmittel in einem Supermarkt stehlen.

Schweregrad 5: Das Kind wird in Verbrechen (z.B. bewaffneten Überfall, Entführung)

einbezogen.

17

Beispiel: Kind wird in Drogenverkauf oder bewaffnete Konflikte mit einbezogen.

1.1.7 Bildungsbezogene Misshandlung liegt vor wenn die Bezugsperson nicht für ein

minimales Maß an Unterstützung sorgt, die das Kind benötigt um sich in der Gesellschaft

zurecht zu finden. Dies umfasst z.B. eine angemessene Ausbildung und die Sorge dafür,

dass es regelmäßig zur Schule geht.

Schweregrad 1: Das Kind darf (nicht aus Krankheitsgründen) oft zuhause bleiben, wobei die

Abwesenheitszeiten weniger als 15% der Gesamtschulzeit betragen.

Beispiele: das Kind hat 29 unentschuldigte Fehltage; die Eltern lassen zu, dass das Kind

häufig deutlich zu spät kommt (aber weniger als 50% der Schultage)*.

Schweregrad 2: Das Kind versäumt 15-25% der Schulzeit (nicht aufgrund von Krankheit).

Beispiel: das Kind versäumt Schule, um auf jüngere Geschwister aufzupassen.

Schweregrad 3: Die Bezugsperson behält das Kind zu Hause oder weiß um das

Schwänzen und interveniert nicht. Dies betrifft 26-50% der Schultage im Jahr oder mehr als

16 Tage am Stück).

Beispiel: Kind fehlt unentschuldigt drei Wochen in Folge.

Schweregrad 4: Die Bezugsperson lässt zu, dass das Kind mehr als 50% der Schulzeit oder

mehr als drei Wochen in Folge nicht zur Schule geht.

Beispiele: die Familie ist mehrfach umgezogen, jedes Mal fehlt das Kind große Zeitraume in

der Schule; das Kind ist in Schule angemeldet, hat jedoch mehr als die Hälfte des

Schuljahres verpasst.

Schweregrad 5: Die Bezugsperson ermutigt das Kind zum Schulabbruch oder schickt es

erst gar nicht zur Schule.

Beispiel: das Kind ist nicht in der Schule angemeldet (jedoch kein Ruhen der Schulpflicht

oder Teilnahme an alternativem Schulprojekt).

2.2 Entwicklungsperioden

Die Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung stehen in engem Zusammenhang mit

den gerade vorherrschenden Entwicklungsbedürfnissen und dem Alter des Kindes oder

Jugendlichen (Cicchetti; Valentino 2006). Daher stellt die Berücksichtigung des

Entwicklungsaspektes eine bedeutsame Dimension für die Beschreibung und

Charakterisierung der Misshandlungserfahrung dar. Im Rahmen des Forschungsprojektes

AMIS wurden die Entwicklungsperioden entsprechend der bereits existierenden Literatur

zum MCS (vgl. Cicchetti; Valentino 2006) sowie gängigen Phasentheorien der

Entwicklungspsychologie (vgl. Schneider; Lindenberger 2012) in folgende

Entwicklungsabschnitte eingeteilt: Säuglingsalter (0 bis unter 18 Monate), Kleinkindalter (18

18

Monate bis unter 3 Jahre), Vorschulalter (3 bis unter 6 Jahre), Frühe Schulzeit (6 bis unter 8

Jahre), Späte Schulzeit (8 bis unter 13 Jahre) und Jugendalter (ab 13 Jahre).5

Weiterhin bedeutsam ist, dass das Alter des Kindes entscheidend ist, ob und in welchem

Schweregrad bestimmte Subtypen von Misshandlung oder Vernachlässigung vorliegen. Vor

allem bei den Subtypen Mangelnde Versorgung, Mangelnde Beaufsichtigung und

Emotionale Misshandlung ist eine altersgemäße Auslegung des Subtyps erforderlich.

Beispielsweise wird beim Subtyp Mangelnde Beaufsichtigung die Einschätzung als

Vernachlässigung sowie der Schweregrad u.a. von der jeweiligen Entwicklungsstufe des

Kindes beeinflusst. So wird ein Vorkommnis höher eingestuft, je jünger (und damit potentiell

gefährdeter) ein Kind ist.

2.3 Häufigkeit und Chronizität

Eine andere bedeutsame Dimension des MCS stellt die Zeitspanne dar, in der ein Kind

Misshandlung oder Vernachlässigung ausgesetzt war. In der ursprünglichen Fassung des

MCS wurde die Häufigkeit als die absolute Anzahl der Akteneinträge bzw. Ereignisse von

Misshandlung und Vernachlässigung ausgewertet (vgl. Barnett u.a. 1993). Dadurch kam es

in Abhängigkeit der Anzahl der vorhandenen Akteneinträge und dem Alter des Kindes zu

einer hohen Varianz zwischen den Fällen. In der AMIS-Studie wurde diese Auswertung in

Anlehnung an Manly (2005) vereinfacht und am Entwicklungsalter des Kindes standardisiert,

indem für jede Entwicklungsperiode (EWP) die Häufigkeit eines Ereignisses auf einer

dreistufigen Skala erfasst wird. Dabei steht (1) für ein einmaliges Ereignis innerhalb dieser

EWP, (2) für wiederholte bzw. andauernde Ereignisse, welche jedoch an weniger als 50 %

der Tage in der EWP auftraten und (3) für sehr häufige bzw. andauernde Ereignisse, welche

an mehr als 50 % der Tage in der EWP auftraten.

Anhand dessen lässt sich die Chronizität von Misshandlungserfahrungen über mehrere

Entwicklungsperioden hinweg darstellen (Manly 2005) und somit als eine wesentliche

Dimension der Misshandlungserfahrungen des Kindes beschreiben. Chronizität kann sowohl

nach Subtypen und Tätern differenziert ausgewertet werden. Barnett u.a. (1993) wählten

auch für die Chronizität ursprünglich eine breitere Definition als die Zeit, in der die Familie

durch das Jugendamt unterstützt wurde. Die Auswertung nach Anzahl der betroffenen

Entwicklungsperioden sowie die Häufigkeit und Dauer der Ereignisse ist jedoch ein

genauerer Indikator für die Beschreibung der psychischen und sozialen Folgen von

Misshandlung und Vernachlässigung (vgl. Manly 2005). So konnte in einer Untersuchung

von Bolger und Patterson (2001) gezeigt werden, dass chronisch misshandelte Kinder

5 Im MCS wurden ursprünglich folgende Entwicklungsperioden unterschieden: 0 bis unter 6 Monate, 7

bis 11 Monate, 1 bis 1,5 Jahre, 1,5 bis 3 Jahre, 3 bis 5 Jahre, 6 bis 7 Jahre, 8 bis 10 Jahre, 11 bis 13 Jahre, über 13 Jahre; vgl. Barnett u.a. 1993). Die in AMIS verwendete, grobkörnigere sechsstufige Einteilung hat sich jedoch im Zuge der Forschung von Cicchetti und Kollegen durchgesetzt (vgl. Manly u.a. 2001).

19

aggressiveres Verhalten zeigten und dadurch weniger beliebt bei ihren Altersgenossen

waren.

2.4 Täter

Die Bedeutung einer Misshandlungserfahrung wird beeinflusst durch die Identität des Täters

und die Beziehung, in der dieser zu dem Kind steht.

Im MCS werden ausschließlich Personen als „Täter“ erfasst, die zum Auftreten der

Misshandlung beitragen sowie zum Kind in einer Verantwortungsposition stehen. Hierbei

findet eine Unterscheidung statt zwischen eng gefasster Definition des Täters im häuslichen

Umfeld (primäre Bezugsperson) und breit gefasster Definition des Täters in verschiedenen

Kontexten (z.B. Babysitter, Schulpersonal, Heimmitarbeiter). Im MCS wird beides erfasst,

wobei grundlegend gilt, dass der Täter in einer verantwortlichen Position gegenüber dem

Kind stehen muss. Dies ist naturgemäß bei den leiblichen Eltern, Stiefeltern, Großeltern

sowie anderen erwachsenen Familienmitgliedern/ Verwandten bzw. jugendlichen

Geschwistern, deren Altersabstand zum Misshandlungsopfer bedeutend ist, der Fall. Nicht-

Familienangehörige werden als Bekannte erfasst, wenn sie in der Situation für das Kind (mit-

)verantwortlich waren, z.B. Babysitter, Freund/ Partner eines Elternteils, Verantwortliche

aufgrund institutioneller Beziehungen (Lehrer, Erzieher etc.) Ausschließlich bei Sexuellem

Missbrauch werden auch Fremde (d.h. die Identität des Täters ist bekannt, dieser war bis

dahin der Familie aber fremd) oder Unbekannte (d.h. der Täter konnte nicht bestimmt

werden) als Täter im Sinne des MCS erfasst, ohne dass dieser zwangsläufig in einer

Verantwortungsrolle gegenüber dem Opfer stand. Der Gebrauch des Täterbegriffs ist

demnach als eher weit zu verstehen, da er auch diejenigen Personen umfasst, die, wie im

Falle der Mangelnden Beaufsichtigung bzw. Versorgung, durch ihr passives Unterlassen

fürsorglicher Handlungen indirekt zum Eintreten der Misshandlung beitragen bzw. durch ihr

indirektes Zutun oder billigendes Verhalten, wie im Falle einer Bezugsperson, die ihren

momentanen Lebenspartner mehrfach nicht daran hindert bzw. dazu ermutigt das eigene

Kind körperlich oder emotional zu strafen, die Körperliche oder Emotionale Misshandlung

begünstigen.

Fallbeispiel: Täter Körperlicher Misshandlungen von Max waren seine Eltern, der spätere

Lebenspartner der Mutter sowie ein Mitarbeiter im Heim. Körperliche Vernachlässigung

(Mangelnde Versorgung sowie Mangelnde Beaufsichtigung) erfuhr Max durch seine Eltern

sowie Emotionale Misshandlung ebenfalls durch die Eltern und den späteren Lebenspartner

der Mutter.

20

3. Erfahrungen in der Anwendung des MCS

Die erstmalige Anwendung mit Übersetzung und Adaption des MCS im deutschsprachigen

Raum erfolgt innerhalb des Forschungsprojektes AMIS als Erhebungsinstrument zur Analyse

der Interviews mit der Bezugsperson und der Dokumentation am Amt für Jugend, Familie

und Bildung in Leipzig seit August 2012. Im Vorfeld fand eine mehrtägige Expertenschulung

durch die Klinische Direktorin des Mt. Hope Family Centers, Dr. Jody Todd Manly, eine der

Autorinnen des Systems, statt um das Verständnis des Instruments und seine korrekte

Anwendung sicherzustellen. Anschließend wurde das MCS durch die AMIS-Mitarbeiterinnen

und -mitarbeiter ins Deutsche übersetzt und pilotiert. Auch wenn es das Anliegen des MCS

ist, objektive Daten zu erheben, sind kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede in der

Auffassung und Abgrenzung bestimmter Subtypen einzubeziehen. Daher wurden einige

wenige Aspekte an hiesige Verhältnisse zum Original adaptiert.6

Beispielsweise wurde beim Subtyp Körperliche Misshandlung (Kap. 2.1.1) für den

Schweregrad 2 eine Anpassung der US-Fassung an die erzieherischen Gepflogenheiten in

Deutschland vorgenommen. Im Original wird das Schlagen eines Kindes mit Gegenständen

(z.B. Gerte, Gürtel) mit einer 1 kodiert (Barnett u.a. 1993, S. 55). Nach Diskussion innerhalb

des multidisziplinären AMIS-Forschungsteams wird für derartige Vorkommnisse eine höhere

Einstufung (Schweregrad 2) vorgenommen, wenn das Kind mit einem Gegenstand

geschlagen wurde und Verletzungen erlitt, die jedoch nicht medizinisch

behandlungsbedürftig waren.

Ein weiterer Diskussionspunkt war die begriffliche Übersetzung des Subtyps Mangelnde

Beaufsichtigung, die letztendlich jedoch sehr nah an der englischen Vorlage orientiert ist. In

der deutschen Übersetzung (engl. „Lack of Supervision“) wird der Begriff der Mangelnden

Beaufsichtigung verwendet, da neben (rechtlich relevanten) Aspekten einer Verletzung der

Aufsichtspflicht auch Situationen erfasst werden, in denen eine fahrlässige Gefährdung des

Kindes durch bzw. trotz anwesender Bezugsperson (z.B. aufgrund einer fragwürdigen

Gefahreneinschätzung) vorliegt. Außerdem wurden im Lauf des Forschungsprojekts weitere

Beispiele ins Manual aufgenommen, welche den Aktendokumentationen sowie den

geführten Interviews mit der Bezugsperson entstammen und das MCS somit näher an der

Praxis der Kinder- und Jugendhilfe ausrichten.

Im MCS wird der Täterbegriff trotz gewisser Vorbehalte (z.B. hinsichtlich des Themas

Schuldzuweisung) zwecks größtmöglicher Übereinstimmung mit dem amerikanischen

Original („Perpetrator“) verwendet. Insgesamt gilt, dass der Täterbegriff nicht im engen

juristischen Sinne definiert wird und ebenfalls nicht die Problematik einer endgültigen

6 Die möglichst hohe Übereinstimmung des Systems mit dem Originalsystem ist von enormer

Bedeutung, da Ergebnisse aus der Vielzahl an internationalen Forschungsvorhaben nur bei vergleichbaren Definitionen von Misshandlung bzw. Vernachlässigung gut auf Deutschland übertragbar bleiben.

21

Ursachenzuschreibung leugnen soll, zumal es sich bei Täterinnen und Tätern

bekanntermaßen häufig selbst um Opfer von Misshandlung handelt und dementsprechend

eine intergenerationale Verursachung vorliegt (Widom 1989).

4. Besonderheiten des MCS

Wie in der Einleitung bereits benannt wurde das Thema Misshandlung in der deutschen

Forschungslandschaft lange vernachlässigt (Fegert; Spröber 2012) und ein einheitliches an

internationalen Standards orientiertes Klassifikationssystem zur Erfassung von

Kindeswohlgefährdung fehlt. Das MCS kann anhand von klaren Definitionskriterien den

Grundstein für eine einheitliche Definition von Misshandlungs- und

Vernachlässigungserfahrungen in Forschung und Praxis in unterschiedlichen disziplinären

Kontexten legen. Zugleich nimmt das System dabei eine breite und objektive Erfassung von

Misshandlung und Vernachlässigung vor.

Die Einordnung von Ereignissen, welche Kindesmisshandlung und Vernachlässigung

widerspiegeln, erfolgt nach langjähriger Forschung praxisnah und anwenderfreundlich

anhand von konkreten Beispielen innerhalb des MCS. Besonders die Emotionale

Misshandlung ist als eigenständiger Subtyp und in seinem Ausmaß schwierig zu erfassen

und von anderen Kategorien wie Körperliche Misshandlung oder Vernachlässigung

abzugrenzen. Das MCS hat es geschafft eine Definition zu finden, die Emotionale

Misshandlung einerseits als eigenen Subtyp abgrenzt, andererseits aber auch

Überschneidungen herausstellt. Nach dem MCS zählt hierunter vor allem das Beiwohnen

verbaler oder physischer Gewalt an bzw. zwischen Bezugspersonen (Stichwort „häusliche

Gewalt“). Ein anderes typisches Beispiel ist die Rollenumkehr zwischen einem

Erwachsenem und dem Kind (Parentifizierung), wenn sich das Kind um die Bezugsperson zu

kümmern hat (siehe hierzu 1.1.5).

Während bestimmte Subtypen wie z.B. körperliche Misshandlung in Forschung und Praxis

gut beschrieben sind, wurden andere Formen, insbesondere Vernachlässigung und

emotionale Misshandlung, lange Zeit wenig untersucht. Bei beiden Formen handelt es sich

um die bedeutsamsten und am häufigsten auftretenden Subtypen innerhalb des MCS (vgl.

Barnett u.a. 1993) mit Auswirkungen auf die kindliche psychische Entwicklung. So zeigen

chronisch vernachlässigte Kinder vor allem internalisierende Symptome wie z.B. depressive

Symptome oder Ängste (Manly u.a. 2001). Laut einer Untersuchung an 200 Familien von

Kindern mit Misshandlungserfahrungen lag in 75% der Fälle mehr als ein Subtyp von

Misshandlung und Vernachlässigung vor (Barnett u.a. 1993). Die am häufigsten gleichzeitig

vorkommenden Subtypen waren Körperliche Misshandlung, Körperliche Vernachlässigung

und Emotionale Misshandlung. Ebenso stehen verschiedene Subtypen in Zusammenhang

mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung. So zeigen beispielsweise

22

körperlich misshandelte Kinder im Vergleich zu Kindern ohne Misshandlung bzw. mit

anderen Subtypen von Misshandlung/ Vernachlässigung mehr externalisierende

Auffälligkeiten (u.a. Aggressionen in ihrem sozialen Umfeld).

Das MCS grenzt sich von anderen, bereits bestehenden Klassifikationen von Misshandlung

und Vernachlässigung ab. Innerhalb der Kategorisierung nach Münder, Mutke und Schone

(2000, S. 47), welche den Begriff Kindeswohlgefährdung in vier zentrale Formen einordnen

und definieren (Vernachlässigung, Körperliche Misshandlung, Sexueller Missbrauch und

Seelische Kindesmisshandlung), wurde beispielsweise keine Abstufung des Ausmaßes

vorgenommen, welche das MCS durch den Schweregrad bietet.

Das MCS ist nicht in erster Linie im Sinne eines Screenings oder eines Instruments zu

Verdachtsabklärung in (möglichen) Kinderschutzfällen konzipiert (wie gängige und in der

Praxis der Jugendhilfe verwendete Modelle, z.B. der Stuttgarter Kinderschutzbogen, welcher

in vielen Jugendämtern als Grundlage für die Erarbeitung eigener standardisierter Modelle

diente, vgl. Reich 2004). Es zielt vielmehr darauf, eine Einschätzung der vorliegenden

Informationen im Zusammenhang mit Misshandlung oder Vernachlässigung hinsichtlich

verschiedener, für die (psychische) Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen bedeutsamen

Dimensionen (Subtyp, Schwere, Zeitpunkt im Hinblick auf Lebensalter des Kindes bzw.

Jugendlichen, Häufigkeit/ Chronizität, Täterschaft) sowie Risikofaktoren vorzunehmen. Damit

stellt es ergänzend ein hilfreiches Werkzeug sowohl im Diagnostik- als auch im

Entscheidungsprozess hinsichtlich geeigneter und notwendiger Interventionen sowie der

(weiteren) Hilfeplanung dar.

Eine weitere Besonderheit des MCS ist die Unterscheidung verschiedener

Entwicklungsperioden nach altersrelevanten Aspekten der Entwicklung im sozioemotionalen

Bereich, bei der vor allem Bindung, Emotionsregulation, Selbstwahrnehmung, Beziehungen

zu Gleichaltrigen, sprachliche Entwicklung und moralisches Denken (Barnett u.a. 1993) eine

Rolle spielen. Da die Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung in einem engen

Zusammenhang mit den momentan gegebenen Entwicklungsbedürfnissen und dem Alter

des Kindes oder des Jugendlichen stehen (Cicchetti; Valentino 2006), stellt die

Berücksichtigung des Entwicklungsstandes des Kindes eine besondere Dimension für die

Beschreibung der Schwere dar. Eine gezielte Einbeziehung möglicher früherer

Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungserfahrungen in die aktuelle Interventions- und

Hilfeplanung wird durch die Einbeziehung des Lebensalters zum Zeitpunkt der

Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungserfahrungen anhand der Entwicklungsperioden des

MCS gewährleistet.

23

5. Ausblick

Das MCS stellt eine Chance dar, Informationen verschiedener Informanten und Quellen,

welche Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen eines Kindes beschreiben,

innerhalb eines Systems zu bündeln und durch ein international anerkanntes, einheitliches

Klassifikationssystem ein kohärentes, möglichst objektives Bild der Vorkommnisse zu

erstellen. Es bietet in einer praxisnahen Anwenderfreundlichkeit eine präzise und konkrete

Hilfestellung innerhalb des Diagnostikprozesses nicht nur der Kinder- und Jugendhilfe. Dies

begründen die benannten Besonderheiten, welche das MCS von anderen bisherigen

Kategorisierungen abgrenzen und es so zu einem innovativen System machen.

Das MCS ist vor allem aufgrund der eingefügten Beispiele praxisnah und

anwenderfreundlicher als andere Kategorisierungen. Die Einordnung der Schwere der

Situation stellt in der praktischen Arbeit immer wieder eine fachliche Herausforderung dar

und gleichzeitig einen entscheidenden Indikator für die Notwendigkeit, die Auswahl und den

Umfang anschließender Maßnahmen. Das MCS nimmt diesbezüglich wissenschaftlich

fundiert eine Einordnung vor. Dies ist beispielsweise für Familiengerichte bedeutsam. Hier

wird der Frage nachgegangen, auf welcher Grundlage die Einordnung der Art und Schwere

des Vorkommnisses zustande kam.

Bis heute gibt es in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe keine wissenschaftlich fundierte

Kategorisierung von Kindeswohlgefährdung (Aberle 2011). Ähnliches gilt für die deutsche

Forschungslandschaft, in der ebenfalls kein vergleichbares System zur Erfassung von

Kindesmisshandlung und Vernachlässigung vorliegt. Zusammengefasst bildet das MCS als

Baustein im Gesamtkontext der Kinder- und Jugendhilfe eine Möglichkeit als

fallübergreifende Grundlage bzw. Schnittstelle zwischen verschiedenen Professionen und

Institutionen zu fungieren und kann damit sowohl für die praktische Arbeit als auch für

Forschungsvorhaben im Bereich Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ein relevantes

Instrument sein.

Für eine mögliche Implementierung in Deutschland ist zu beachten, dass keine vorbehaltlose

Assimilation deutscher Verhältnisse an amerikanische Wertesysteme erfolgen sollte

(insbesondere im Hinblick auf körperliche Misshandlung). Hierfür bietet das MCS die

einzigartige Möglichkeit der Intensivierung des internationalen Austauschs im Forschungs-

und Praxisbereich, indem es einen umfassenden Ansatz darstellt, den stetigen Prozess der

Qualitätsfindung und Qualitätsentwicklung als Informationsquelle innerhalb eines

Diagnoseverfahrens sowie der interdisziplinären Zusammenarbeit im Bereich des

Kinderschutzes zu fördern.

24

6. Literatur

Aberle, Lisa: Kindeswohlgefährdung – Diagnostik am Beispiel internationaler Instrumente,

2011

Barnett, Douglas; Manly, Jody T.; Cicchetti, Dante: Defining child maltreatment: The

interface between policy and research. In: Cicchetti; Dante; Toth, Sheree L. (Hrsg.): Child

abuse, child development, and social policy. Norwood, NJ 1993

Bolger, Kerry E.; Patterson, Charlotte J.: Developmental pathways from child maltreatment

to peer rejection. Child Development, 72/2001, S. 549-568

Cicchetti, Dante; Toth, Sheree. L.; Manly Jody T.: Maternal Maltreatment Interview.

Unpublished manuscript. NY: Rochester 2003

Cicchetti, Dante; Valentino, Kristin: An ecological transactional perspective on child

maltreatment: Failure of the average expectable environment and its influence upon child

development. In: Cicchetti, Dante; Cohen, Donald J. (Hrsg.): Developmental

psychopathology. Risk, disorder, and adaptation. New York 2006

Dubowitz, Howard; Bennett, Susan: Physical abuse and neglect of children. In: The Lancet,

369/2007, S. 1891–99

Fegert, Jörg M.; Spröber, Nina: Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch. In:

Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Berlin Heidelberg 2012, S.

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Angaben zu den Autoren:

Jenny Horlich: AMIS-Projektleiterin innerhalb des Amtes für Jugend, Familie und Bildung

Leipzig

Stefanie Dehmel: AMIS-Projektmitarbeiterin, Amt für Jugend, Familie und Bildung Leipzig

Dr. Susan Sierau: AMIS-Teilprojektleiterin, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie,

Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters des Universitätsklinikums

Leipzig AöR

Lars White: AMIS-Projektkoordinator, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie

und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters des Universitätsklinikums Leipzig AöR

Prof. Dr. Kai von Klitzing: Klinikdirektor und AMIS-Verbundprojektleiter, Klinik und Poliklinik

für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters des

Universitätsklinikums Leipzig AöR

Ansprechpartner / E-Mail:

Jenny Horlich, [email protected],

Dr. Susan Sierau, [email protected]