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DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 05.07.2011 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr
Blauer Himmel über der Ruhr
Vom Begreifen der Demokratie als Möglichkeit
Von Erika Fehse
URHEBERRECHTLICHER HINWEIS
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
� Deutschlandradio
- Unkorrigiertes Manuskript -
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Musik
O-Ton Gisela van Haut
Man macht sich keine Vorstellung, was das für ein Dreck war. Was aus den
Schornsteinen kam. Gelbe Rauchfahnen, graue. Man kann sich das nicht mehr
vorstellen.
O-Ton Hermann Fengels
Wenn man morgens über die Straße ging, der Rost, der rotbraune Staub lag dann
überall, die Autos auf den Parkplätzen waren versaut.
O-Ton Anna Weinberg
Durch die Kokerei, durch die Zeche, durch das Hüttenwerk flogen ja immer
irgendwelche Schmutzpartikel durch die Luft, die setzten sich dann auf der Wäsche
fest. Und natürlich auch in Gesichtern, auf Haaren, überall. Aber ich habe damals
gedacht, das müsste so sein. Das sei normal.
O-Ton Kurt Pfläging
So etwas hatte ich vorher in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Nur Bäume,
die gar keine Blätter hatten, Dreck bis dorthinaus, richtig empfindlichen Dreck, der
sich auf die Lunge legte. Man konnte kaum atmen. Ich könnte nicht hier leben, ich
würde bald sterben. Es war grausig, richtig grausig.
O-Ton Gisela van Haut
Wir wollten die Luft sauberer haben. Wir wollten, dass der Bevölkerung das nicht
zugemutet wird. Das war ein harter Kampf (lacht) na ja, wir haben uns bemüht.
Sprecher
Blauer Himmel über der Ruhr - Vom Begreifen der Demokratie als Möglichkeit
Ein Feature von Erika Fehse
3
Musik
Sprecher
I. Der Landwirt
O-Ton Kurt Pfläging
Alle Leute redeten von der Dreckschleuder unten und meinten das
„Gemeinschaftswerk“. Es war wirklich etwas Schlimmes was uns da passiert. Und
deshalb prozessieren wir auch.
Sprecherin:
Anfang der 50er Jahre wohnte der damals 17-jährige Kurt Pfläging in Hattingen in
unmittelbarer Nähe des Kraftwerks. Er litt unter Bronchitis, seine Mutter unter Asthma
und auch seine zwei Jahre ältere Schwester Waltraud merkte, dass ihr die Luft in
Hattingen nicht gut tat.
O-Ton Waltraud Achenbach
Ich weiß, dass ich immer fürchterliche Kopfschmerzen hatte davon. Und als wir
heirateten und zogen dann nach Heiligenhaus, da waren die mit einem Schlag weg.
Nun fuhren wir jedes Wochenende nach Hause, dann hatte ich die wieder und waren
wir dann in Heiligenhaus, waren sie wieder weg.
Sprecherin:
Die Familie betrieb eine kleine Landwirtschaft im Nebenerwerb. Über hundert
Pflaumen- und Apfelbäume sollten das Einkommen der Bergmannsfamilie
aufbessern. Doch jedes Jahr waren die Früchte von einer dicken, schmierigen
Dreckschicht überzogen, die Ernte war mager und das Gras konnte nicht zur
Fütterung der Kühe genutzt werden. Das Haus war schwarz von Ruß und die
Dachrinnen waren vom Gift zerfressen.
1951 beauftragte Vater Pfläging einen Rechtsanwalt, das „Gemeinschaftswerk“ auf
Schadensersatz zu verklagen. Im April fand eine Ortsbesichtigung statt.
O-Ton Waltraud Achenbach
Meine Mutter hatte dann weiße Bettlaken in den Hof gelegt, um zu beweisen, wie
dreckig das war.
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O-Ton Kurt Pfläging
Das sind so Deckbettlaken, ich würde mal sagen so zweieinhalb, mal zweieinhalb
Meter, so große Laken, die ausgebreitet wurden, die kriegten an den vier Ecken
kriegten die noch einen Stein, damit die nicht wegfliegen konnten, und dann wurden
die nachmittags um 5, 6 Uhr wurden die verteilt aufgebaut.
O-Ton Waltraud Achenbach
Denn das „Gemeinschaftswerk“ hat meines Erachtens immer nachts auch ziemlich
viel Dampf rausgelassen oder wie man das sagen will.
O-Ton Kurt Pfläging
Und morgens ging man dann vorbei und guckte sich die Bettlaken an. Dann waren
sie nicht mehr weiß, sondern waren grau, bzw. an vielen Stellen auch schwarz. Ja,
das war natürlich der Erfolg, den man dann wollte. Und wenn die Gutachter kamen,
konnten sie an dieser Tatsache auch nicht vorbei. Es ist auch nie bezweifelt worden.
Sprecherin:
Trotz des Gutachtens wurde die Klage abgewiesen. Familie Pfläging ging in
Berufung. Der Sohn fuhr gemeinsam mit dem Anwalt zum Prozess am
Oberlandgericht Hamm.
O-Ton Kurt Pfläging
Die große Frage war bei dem Prozess, dass man damals meinte, in den
Industriestädten muss sich die Bevölkerung an Dreck gewöhnen. Das war die
offizielle Meinung der Gerichte auch. Das ist also nicht zu ändern, das müssen die
ertragen, wenn wir hier eine Industrienation sein wollen. Da wurde eben auch gesagt:
Was ihr da habt in Hattingen, das ist ortsüblich. Das Wort werde ich nie vergessen.
Und das ist ein juristisches Wort. Und was war jetzt ortsüblich?
Sprecherin:
Familie Pfläging verlor auch die Berufung. Das Gericht bezog sich bei der Ablehnung
der Schadensersatzforderungen auf §906 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Der
stammte aus dem Jahre 1900 und legte fest, dass Anwohner in Industriegebieten
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Verschmutzung hinnehmen müssen, wenn die „ortsüblich“ sei. Die Städte an der
Ruhr waren „Industrieschutzgebiet“ und das waren sie auch noch Anfang der 50er
Jahre. Die meisten Anwohner regten sich darüber allerdings auch nicht weiter auf
und nahmen den Dreck und die schmutzige Luft in Kauf. Rauchende Schornsteine
galten als Inbegriff des Wirtschaftswachstums. Und das war rasant. Wurden 1950
103 Millionen Tonnen Kohle gewonnen, waren es 1957 schon 123 Mio. Tonnen. Das
Ruhrgebiet war in weiten Teilen noch vom Krieg zerstört. Jeder war glücklich über
einen Arbeitsplatz – auch wenn die Arbeit unter Tage oder an den Hochöfen schwer
und dreckig war. Sie wurde gut bezahlt. „Ohne Ruß kein Moos“ lautete deshalb die
Devise.
Musikakzent
Sprecher
II. Der Betriebsrat
O-Ton Harald Winter
Willi Winter war ein ziemlich gestandener Mann, der also sein Wort machen konnte.
Und dessen Wort auch Gewicht hatte, auch sagen wir mal auf Landesebene bei den
Ministerien oder so. Weil er auch mit Wahlergebnissen in Oer-Erkenschwick mit den
Pfunden immer wuchern konnte. (lacht) So kann man sagen. Weil er immer sehr gute
Ergebnisse hier eingefahren hat für die SPD.
Sprecherin:
Oer Erkenschwick, ein kleiner Ort am Rande des Ruhrgebiets. Willi Winter war hier
Bürgermeister und gleichzeitig Betriebsrat auf der Zeche „Ewald Fortsetzung“. Im Juli
1954 wurde dort ein neues Kraftwerk mit zwei Hochdruck-Schmelzkammerkesseln in
Betrieb genommen. Die Abgase gelangten durch zwei sechs Meter lange Rohre in
die Umwelt. Kurz nach der Einweihung erkrankten einige Arbeiter in der Kokerei.
Harald Winter, der Neffe des Betriebsrates, war damals 14 Jahre alt.
O-Ton Harald Winter
Es ging also um Brechreiz, um Schwindelgefühle, bei einem trat sogar eine
Leberschwellung auf. Man versuchte dann mit allen möglichen Sofortmaßnahmen,
mit Milchgaben und was weiß ich, da also erste Abmilderung zu schaffen. Das war
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schon eine sehr heftige gesundheitliche Beeinträchtigung für die Kokereiarbeiter, die
ja nun sowieso ihre Probleme haben am Arbeitsplatz.
Sprecherin:
In den Gärten im naheliegenden Stadtteil Rapen fielen mitten im Sommer die Blätter
von den Bäumen. 130 Belegschaftsmitglieder, die dort wohnten, meldeten Schäden
an Obst und Gemüse in ihren Gärten. Auch die Familie von Rudi Moisch.
O-Ton Rudi Moisch
Wir haben uns beschwert beim Betriebsrat, damals war der Betriebsrat Winter noch
Betriebsrat. Er sagte, wir leiten das weiter. Und dann nach drei Wochen kam eine
Kommission, die haben dann den Garten besichtigt und haben dann die Bäume
gezählt, wie viel Schaden wir haben.
O-Ton Harald Winter
Willi Winter, mein Onkel, der hat sich da sehr heftig mit den Betriebsräten zusammen
engagiert und hat sich sofort eingeschaltet und hat also bis an die höchsten Stellen
entsprechende Beschwerdebriefe geschrieben.
Sprecherin:
Im August informierte Willi Winter das Oberbergamt Dortmund über die
Umweltschäden und schickte Durchschläge an alle Fraktionen des Landtags, an die
Stadt- und Kreisverwaltungen, den Vorstand der IG Bergbau und an den zuständigen
Minister des Landes NRW. Er wollte, dass die Belästigungen der Bevölkerung durch
die Abgase aufhören, die Arbeiter entschädigt werden, aber auch, dass sich die
Politik mit der Luftverunreinigung befasst.
Weil nichts geschah und es im Oktober erneut zu einem Zwischenfall kam, wandte
sich Willi Winter noch einmal an das Oberbergamt:
Zitator:
„Am 24.10.1954 bemerkte der anwesende Sanitäter Wember auf der Morgenschicht,
dass mehrere Kokereiarbeiter ihre Arbeit im schwankenden Zustand verrichteten. Auf
Anweisung des Werksarztes wurden sofort von der Molkerei in Datteln 40 Flaschen
Milch herbeigeschafft. …. Husten, Kopfschmerzen und Erbrechen waren die
7
hauptsächlichsten Erscheinungen. Wir bitten um sofortige Untersuchung des
Vorfalles und um beschleunigte Abstellung der Mängel.“
Sprecherin:
Wohl auch weil die Zeitungen über den Vorfall berichteten, beauftragte nun endlich
das Oberbergamt das Hygieneinstitut Gelsenkirchen, die Schwefeldioxidwerte an der
Zeche zu messen. Soviel Aufmüpfigkeit gefiel der Werksleitung natürlich ganz und
gar nicht. Am 26. November wurde Betriebsrat Winter zu einer Aussprache in die
Zeche einbestellt. Über den Vortrag seines Vorgesetzten, den er über sich ergehen
lassen musste, verfasste er ein Gedächtnisprotokoll.
Zitator:
„Nach einer längeren Vorrede gipfelte seine Ausführung in der Annahme, die
Belästigungen durch den Rauch des Kraftwerks seien übertrieben, bzw. die
Maßnahmen des Betriebsrates seien zu weit gegangen. Zweck seines Vortrages
war, den Betriebsrat davon zu überzeugen, dass eine Weiterverfolgung der Eingaben
zu parlamentarischen Diskussionen im Landtag führen würde, die unangenehme
Folgen für die gesamte Industrie und damit der Volkswirtschaft nach sich ziehen
würde.“
O-Ton Harald Winter:
Und es gab dann zum Schluss wohl das Angebot: Wir erhöhen die Schornsteine,
damit das also beseitigt wird, das Problem. Wir entschädigen die Leute, die also
Schaden erlitten haben und dafür Betriebsrat, hängst du das nicht mehr an die große
Glocke, sondern wir regeln das hier intern und damit ist die Sache gegessen. Aber
das wurde rund heraus abgelehnt von Willi Winter. Er sagte: Nein, wir werden das
weiter verfolgen, weil das einfach auch wichtig ist für diese Diskussion, für diese
Luftreinhaltungsgeschichte, die da nun im Gange waren.
Sprecherin:
Willi Winters „Nein“ war erfolgreich und die Befürchtungen der Betriebsleitung
wurden wahr: Im Januar 1955 mischte sich das zuständige Wirtschaftsministerium
ein und wies die Bergbehörde an, dafür zu sorgen, dass eine unzulässige
Verunreinigung der Luft durch Rauch, Flugstaub und schädliche Gase verhindert
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werde. Die Werksleitung ließ nun die beiden Schornsteine um ganze 14 Meter
erhöhen, doch damit gab sich das Hygiene Institut nicht zufrieden. Die Maßnahme
sei nicht ausreichend, befand es in seinem Gutachten vom 3. Februar 1955. Doch
das hatte keine unmittelbaren Konsequenzen. Die Werksleitung dachte gar nicht
daran, die Schornsteine mit Filter zu versehen, sie versuchte stattdessen die
protestierenden Anwohner ruhig zu stellen.
O-Ton Rudi Moisch
Wir kriegten unsere 200 Mark entschädigt, also nach Wochen, und mussten dann
noch einmal hin und unterschreiben, dass wir keine Ansprüche mehr stellen.
Sprecherin
Doch inzwischen hatten auch die Parteien erkannt, dass die Rede von der
„ortsüblichen Verschmutzung“ nicht mehr in die Zeit passte. Im Herbst 1955 erteilte
die CDU-Fraktion in Nordrhein-Westfalen der Verwaltung den Auftrag, ein „Gesetz
zur Reinhaltung der Luft“ vorzubereiten.
O-Ton Harald Winter
Ich denke mal, das wird ein gutes Stück dazu beigetragen haben, die ganzen Dinge,
die hier aufgedeckt wurden, dass diese Luftreinhaltungsverordnung dann doch auf
den Weg gebracht wurde.
Sprecherin
Am 13. Dezember 1955 beschäftigte sich der Düsseldorfer Landtag als erstes
deutsches Parlament mit der dicken Luft. Zuvor hatte die Industrie vor immensen
Kosten für den Fall gewarnt, dass alle Werke mit Filtern ausgestattet werden
müssten. Von 50 Milliarden DM war die Rede und von einer Beeinträchtigung der
Wettbewerbsfähigkeit. Das verfehlte seine Wirkung nicht, vorerst würde es kein
Gesetz zur Reinhaltung der Luft geben. Es sollten erst einmal Daten erhoben und
geforscht werden.
Musik
9
Sprecher
III. Die Wissenschaftler
O-Ton Gisela van Haut:
Ja, wie sah das aus? Wenn man bei Nacht kam, dann waren da Feuer. Das
Ruhrgebiet brannte. Offene Feuer. Das war ich nicht gewöhnt, wie ich aus
Norddeutschland kam. Also, das war atemberaubend. Ein Lärm, ein Rauch und
Feuer.
Sprecherin:
1956 fand die 21-jährige Gisela van Haut eine Anstellung in Essen. Jeden Tag fuhr
sie nun nach Essen-Bredeney in die „Kohlenstoffbiologische Forschungsstation“,
kurz Kofo genannt. Ein Verein, der seit 1946 Forschungen auf
ernährungswissenschaftlichem Gebiet betrieb und von der Privatwirtschaft finanziert
wurde. Hier ging man seit 1951 auch der Frage nach, welche Schäden Staub und
Rauchgase bei Pflanzen bewirken können. Gisela arbeitete nun eng mit dem
Biologen Hans van Haut zusammen, den sie später heiratete.
O-Ton Gisela van Haut
Der erste Luftreinhaltungsforschungsauftrag, das war „Schäden durch Zementstaub“.
Die Zementwerke hatten damals kaum Staubfilter und schickten den Staub raus. Es
hat ein Zementwerk gegeben, da war die Umgebung weiß.
Wir sind mit Pflanzen, die in vier Wochen fertig sind, wir sind angefangen mit
Keimpflanzen, mit Radieschen, Spinat, Rüben, Getreide, haben wir in Parzellen
ausgesät und bestäubt.
Wir haben eine Bestäubungsanlage gehabt, ganz einfach, aber sehr effektiv. Ich
habe die Versuchsreihen nebeneinander gestellt, das konnte man so sehen, was
behandelt war und was nicht behandelt war. Das war der Beweis, dass es schädlich
ist.
Sprecherin
Doch es geht nicht nur um Staub. Seit Anfang der 50er Jahre beschäftigte sich die
von dem Chemiker Heinrich Stratmann geleitete Forschungsstation mit der Wirkung
von Schwefeldioxid. Stratmann nahm an, dass zu viel Schwefeldioxid aus den
10
Werken an der Ruhr entweiche und die Pflanzen dadurch geschädigt würden. Er
entwickelte das erste mobile Messgerät für SO2– den „Stratmannkoffer“.
O-Ton Gisela van Haut
Dann ist er mit seinem Messgerät rundgegangen und hat gemessen und hat gesagt:
„Hier kommt aber viel zu viel Schwefeldioxid raus. Das geht so nicht.“ Und die Firmen
haben aber dann gesagt: „Du kannst messen so viel du willst, wen stört das, wer
sagt, dass das eine Wirkung hat?“
Sprecherin:
Also musste festgestellt werden, wie viel Schwefeldioxid in der Luft sein darf, ohne
dass Pflanzen beeinträchtigt werden. Hans van Haut baute eine Versuchsanlage.
Glaskästen, in denen auf der einen Seite Pflanzen mit Schwefeldioxid begast
wurden, und die auf der anderen Seite nicht. Die Blätter der behandelten Pflanzen
wurden schnell braun, welk und fleckig. Die Schäden waren deutlich zu sehen und
wurden mit einer großen Plattenkamera dokumentiert.
Heinrich Stratmann forderte, dass der Gesetzgeber Grenzwerte festlegen müsse –
mehr als 0,5 mg Schwefeldioxid dürfe in einem Kubikmeter Luft nicht sein. Doch
davon wollten weder die Politik noch die Industrie etwas wissen. Denn oftmals
wurden sogar 5 mg pro Kubikmeter gemessen. Auch offizielle Gutachter wehrten sich
gegen Grenzwerte, weil dadurch die industrielle Entwicklung gehemmt würde.
Stratmann wurde aufgefordert, seine Untersuchungsergebnisse öffentlich zu
widerrufen. Er lehnte ab.
O-Ton Gisela van Haut
Wir hätten gerne das Ganze auf die Gefährlichkeit für den Menschen bezogen, aber
wir waren ja gebrannte Kinder mit Giftgasen. Also das Wort Gas durfte man
eigentlich nicht benutzen. Wenn Wissenschaftler, Besucher das Institut besuchten
und wir sagten: „Wollen Sie mal die Begasungsversuche sehen?“, die wurden blass
und wir haben die später „Klimakammerversuche“ genannt.
Sprecherin:
Der Verein Deutscher Ingenieure erhielt nun von der nordrhein-westfälischen
Landesregierung den Auftrag, einen wissenschaftlichen Großversuch zu starten.
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Heinrich Stratmann und seine Mitarbeiter sollten dabei die Luftmessungen
durchführen. Für den Versuch wurde die Grube Füsseberg in dem kleinen Ort
Biersdorf ausgesucht, im Erzbergbaugebiet im Westerwald.
O-Ton Gisela van Haut:
Das war eine Eisenrösterei und man sah einen Berghang, an dem die Rauchfahne
sich niederschlug, der war kahl. Mein Mann hatte regelrecht geschrieben von der
„Todeszone“! Das sah furchtbar aus. Und ich weiß nicht in wie viel Entfernung, 500
Meter Entfernung würde ich sagen, haben wir Tische mit Versuchspflanzen
aufgestellt gehabt.
Sprecherin:
Je näher die Pflanzen an der Eisenrösterei standen, desto schlechter wuchsen sie,
die Blätter wurden braun und fleckig. Die Entwicklung der Pflanzen wurde wieder
fotografisch dokumentiert und in einem Schadatlas festgehalten, welche Schäden an
welchen Pflanzen unter dem Einfluss von Schwefeldioxid entstehen. 1960 war er
fertig, veröffentlicht wurde er aber erst zehn Jahre später.
O-Ton Gisela van Haut:
Der Schadatlas, der wurde erst mal irgendwo versteckt, der wurde nicht
veröffentlicht. Ich weiß es nicht aus welchem Grund. Ich glaube, dass es zu
gefährlich war. Ich denke, es sollte nicht so öffentlich werden. Vielleicht war es ein
bisschen ein Politikum.
Sprecherin:
Die Versuche in Biersdorf brachten eine erste Klärung. Entgegen der bis dahin
verbreiteten Meinung, erzeugte Schwefeldioxid schon in geringer Konzentration
Schäden an Pflanzen. Doch noch immer wehrten sich viele Fachleute aus der
Industrie gegen einen Grenzwert. Erst im September 1961 wurde der Grenzwert von
0,5 mg pro Kubikmeter Luft in die offiziellen Richtlinien des VDI aufgenommen – als
Empfehlung.
Musik
12
Sprecher:
IV. Die Mediziner
O-Ton Frau:
Herr Doktor, ich habe eine Frage: „Glauben Sie, dass meine Bronchitis mit der
schlechten Großstadtluft oder mit dem Industriequalm zusammenhängt, dass es
vielleicht daher kommt?"
Sprecherin:
Das fragten in den 50er Jahre viele Patienten ihre Ärzte und sie hatten allen Grund
für ihre Besorgnis. In Oberhausen warfen 1951 sechs Kraftwerke pro Stunde 6,4
Kilogramm Flugasche aus. In Herne verbrannten durch säurehaltige Abgase und
Salpeterstaub die Wiesen. Zäune wurden vom Rost zerfressen. Und den Menschen
fiel das Atmen schwer. Der feine Staub setzte sich auf die Bronchien,
Schwefelwasserstoff reizte die Schleimhäute und konnte Nervenschäden
verursachen. Schwefeldioxid beeinträchtigte die Atmung und führte zu
Kreislaufstörungen.
Durch die vielen Beschwerden der Bürger aufgeschreckt, schlossen sich 1954 zehn
Ruhrgebietsstädte zu der "Arbeitsgemeinschaft Lufthygiene" zusammen. Man wollte
wirksame Gesetze gegen die Luftverschmutzung. Dazu brauchte es fundiertes
Wissen. Der Gelsenkirchener Oberstadtdirektor Hans Hülsmann, der die
Arbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen hatte, wurde nach der ersten Zusammenkunft
am 19. Oktober 1954 so zitiert:
Zitator:
Die Kommunen des Industriereviers hätten zwar genug Lasten zu tragen, die
Menschen aber, die in diesem Gebiet leben müssten, hätten ein Recht darauf, dass
ihnen geholfen würde. Es sei notwendig, Grundlagenforschung zu betreiben und
dieses habe aus kommunaler Sicht heraus zu geschehen.
Sprecherin:
Das war neu: Kommunalvertreter stellten sich auf die Seite der Bürger und vergaben
selbstständig Forschungsaufträge. Das Hygieneinstitut Gelsenkirchen, das
Wetteramt in Mühlheim und das Oberhausener Gesundheitsamt sollten gemeinsam
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herausfinden, ob die Bewohner im Ruhrgebiet kränker sind als die in ländlichen
Regionen. Über ein Jahr lang sammelten sie Daten über den Gesundheitszustand
von Kindern aus Oberhausen und verglichen den mit Kindern aus Empel-Rees und
Geldern. Zudem maß man den Grad der Luftverunreinigung in beiden Gebieten.
O-Ton Anna Weinberg:
Ich war sehr viel krank, ich hatte sehr oft Mittelohrentzündung, Husten, Schnupfen
und war insgesamt auch appetitlos und schwächlich. Ich habe sehr, sehr viele Tage
im Bett verbracht mit Ohrenschmerzen, mit Fieber und Husten und musste dann
eigentlich immer warten, bis ich wieder auf den Beinen war, dass ich auch spielen
konnte mit den anderen Kindern. Also ich habe darunter schon gelitten.
Sprecherin:
Anna Weinberg wuchs in Oberhausen-Osterfeld auf, einem Stadtgebiet, das in der
Studie besonders schlecht wegkam:
O-Ton Anna Weinberg:
„Es herrschte große Aufregung, ich sollte mit meiner Mutter zu einem besonderen
Arzt kommen, nämlich zum Gesundheitsamt. Die Untersuchung, daran kann ich mich
nur ganz dunkel erinnern. Da wurde in die Ohren hinein geguckt, natürlich in die
Augen, in die Nase, in den Hals, dann wurde der Rücken abgeklopft, vorne die Brust
auch, es wurde abgehorcht. Dann die Wirbelsäule untersucht, die Körperhaltung
wurde untersucht. Daran kann ich mich noch erinnern.“
Sprecherin:
Die Ergebnisse der Studie wurden Ende 1959 veröffentlicht.
O-Ton Reporter:
Schwerpunktuntersuchungen von Kindern in Oberhausen in Vergleich mit Kindern
aus weniger staubgefährdeten niederrheinischen Landkreisen ergaben: Die Kinder
im Windschatten der Schlote, der Konverter und Hochöfen leiden. Schon Säuglinge
zeigten doppelt so viel rachitische Symptome wie ihre Altersgenossen weiter
westlich. Die Stadtkinder wiesen fast vier Mal so viel Augenverletzungen und
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Entzündungen auf und die Vierzehnjährigen in der Stadt waren im Durchschnitt
leichter und kleiner als ihre Altersgenossen in den grünen Zonen.
Sprecherin:
Die Ergebnisse der Studie beunruhigten die Bürger. Zum ersten Mal ging es um die
Gesundheit – nicht nur um Dreck und Gestank. Doch Entstaubungsanlagen und
Filter sind teuer und eine gesetzliche Handhabe gab es nicht – denn § 16 der
Gewerbeordnung von1900 ließ es nicht zu, bei einmal genehmigten Betrieben
Nachbesserungen zu verlangen. Und freiwillig baute die Industrie nur selten diese
Filter ein. Preiswerter war es, die Kinder zur Kur ans Meer zu schicken.
O-Ton Anna Weinberg:
Ich bin dann nach Borkum gekommen, für sechs Wochen, das war eine
wunderschöne Zeit, ein wunderschöner Sommer und das war eigentlich auch der
gesundheitliche Durchbruch. Das hat wirklich geholfen.
Musik
Sprecher:
V. Die Bürgervereine
O-Ton Hermann Fengels:
Da kamen ja diese Staubwolken hier rüber - der Himmel war verdunkelt,
dunkelbrauner Qualm, der zog über ganz Meiderich drüber weg. Im Stadtpark sind
die Bäume eingegangen. In den Gärten konnte man kaum Gemüse ernten. Es war
alles voll Dreck. Man hat ja nicht umsonst gesagt: Im Ruhrgebiet, wenn man tief Luft
holt, hat man ein Brikett unter der Nase!
Sprecherin:
Hermann Fengels wohnt in Duisburg, in unmittelbarer Nähe der Phönix Rheinrohr
AG. In dieser Gegend war die Luftverschmutzung besonders unerträglich. Ein
Industriebetrieb reihte sich an den anderen. Bei der Phönix-Rheinrohr AG wurde aus
Roheisen Edelstahl hergestellt. Und da das Wirtschaftswunder-Deutschland nach
immer mehr Stahl verlangte, wurden 1957 neue Konverter gebaut. Die Behörden
15
konnten keine Auflagen machen. Denn nach der alten Gewerbeordnung mussten
Betriebserweiterungen nicht genehmigt werden.
Zitator:
„Duisburger Luft wirbelt Staub auf“ – „Die Dunstglocke nimmt uns unsere
Gesundheit“
Sprecherin:
textete die Westdeutsche Allgemeine am 19. Januar 1957 und berichtete von einer
Versammlung der Bürgervereine, bei der ein „Volksaufstand gegen
Luftverschmutzer“ gefordert worden sei.
Zitator:
Wir müssen auf breitester Basis gegen die Luftverschmutzer Sturm laufen – nicht nur
in Duisburg, im ganzen Ruhrgebiet.
Sprecherin:
Natürlich gab es keinen Volksaufstand. Doch die Versammlung hatte Folgen: Zehn
Duisburger Bürgervereine schlossen sich zur „Interessengemeinschaft gegen
Luftverunreinigung“ zusammen. Das war etwas ganz Neues. Bürgervereine, die sich
bislang um die Verschönerung von Parks und Kirchenportalen bemüht hatten,
mischten sich in die Politik ein. Sie spielten fortan eine wichtige Rolle und bündelten
den Protest der Bevölkerung. Gut zehn Jahre nach Kriegsende und dem Ende der
Hitlerdiktatur hatten die Menschen das Gefühl, dass sie endlich die Dinge beim
Namen nennen können.
O-Ton Gisela van Haut:
Das hing auch ein bisschen mit Demokratie zusammen. Das war ja ein ganz neuer
Begriff, ein ganz neues Leben eigentlich. Das kannten wir nicht. Dass man sich
beschweren durfte, ohne den Arbeitsplatz zu verlieren. Das war, das war großartig,
dass man das sagen durfte.
16
Sprecherin:
Gisela van Haut war häufig in Duisburg, denn die Kohlenstoffbiologische
Forschungsstation, bei der sie arbeitete, führte in der Nähe der Kupferhütte
Messungen durch.
O-Ton Gisela van Haut:
In der Nähe der Kupferhütte waren die Straßen rot. Und Vorgärten waren nur Erde,
rot, rote Erde. Und in einem Garten gab es einen grünen Rasen und Tulpen. Da bin
ich hingegangen und habe mir das angeguckt, weil das wirklich ein Wunder war,
dass da Grün war. Und der Rasen war aus Kunststoff und die Tulpen aus Polyester.
Ja, es war schon traurig. Duisburg war sehr traurig.
Sprecherin:
Zwei Jahre nachdem die Phönix-Rheinrohr AG die neuen Konverter in Betrieb
genommen hatte, sollte das Werk noch einmal erweitert werden. Deshalb lud im Juli
1959 der Meidericher Bürgerverein wieder zu einer Versammlung ein. 10 000
Flugblätter wurden verteilt, 250 Plakate aufgehängt. Fast 1000 Bürger kamen ins
Duisburger Bahnhofshotel. Die Stimmung war aufgeladen. Die Kleingärtner klagten,
dass ihre Sträucher und Bäume von den Abgasen zerfressen würden. Die
Berufsgärtner sahen sich in ihrer Existenz bedroht. Andere kritisierten, dass sie
wegen des Gestankes nicht schlafen könnten und sich übergeben müssten. Auch
Lackschäden an den Autos waren Thema. Am Schluss der Versammlung wurde
gefordert, dass die Bundesregierung endlich die Gesetze ändern soll.
Im August 59 wurden trotz des Protestes die größten bodenblasenden Konverter der
Welt in Betrieb genommen. Die neue Anlage kostete 100 Millionen Mark. Im Monat
konnten 115 Tonnen Stahl produziert werden. Und der braune Rauch schoss –
geladen mit feinsten Eisenteilchen - nach wie vor ins Freie.
O-Ton Hermann Fengels:
Da hat sich der Bürgerverein so richtig stark gemacht. Dann hat der Eingaben
gemacht an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf, an den Landtagspräsidenten
und es tat und tat sich nichts. Und dann sind die nachher dazu übergegangen und
haben Bonn eingeschaltet. Haben eine Petition an den Bundestagspräsidenten
eingereicht. Und da wurden die dann auf einmal hellhörig.
17
Sprecherin:
Dass etwas getan werden musste, war allzu augenfällig. Das Thema Luftreinhaltung
stand nun bei allen Parteien auf der Agenda. Die SPD-Fraktion im Duisburger
Stadtrat stellte sogar den Antrag,
Zitator:
„zwei interessierten Bürgern die finanzielle Möglichkeit zur Durchführung eines
Musterprozesses in allen Instanzen gegen die Beeinträchtigung durch industrielle
Luftverschmutzung zu geben.“
Sprecherin:
Ein Novum. Doch der Bürgermeister gab zu bedenken:
Zitator:
„So ganz einfach ist das nicht, dass die Stadt ihrerseits die Prozesskosten übernimmt
für eine Klage eines Bürgers unserer Stadt, gegen ein Duisburger Unternehmen, das
zwar juristische Person ist, aber immerhin doch auch Gewerbesteuerzahler unserer
Stadt ist.“
Sprecherin:
Die missliche Lage der Lokalpolitiker ist klar. Sie saßen zwischen den Stühlen. Doch
der Unmut der Bevölkerung war längst in den Bonner Ministerien angekommen.
Am 22. Dezember 1959 verabschiedete der Bundestag das Gesetz zur Veränderung
der Gewerbeordnung. Nun konnte – erstmals seit Beginn der Industrialisierung - die
Genehmigung von Industrieanlagen vom Einbau wirksamer Filter abhängig gemacht
werden. Endlich erhielten die Behörden ein Instrument, bei bereits genehmigten
Betrieben Nachbesserungen zu verlangen. Und die nach § 906 im BGB festgelegte
Duldungspflicht, die „Ortsüblichkeit“, wurde eingeschränkt.
Musik
Sprecher:
VI. Die Bürgerinitiative
18
Musik
O-Ton Dr. Clemens Schmeck:
Unser Nachbarwerk schüttet stündlich 200 Zentner rotbraunen Staub in die Luft und
bläst 500 000 Kubikmeter Abgase ab. Was das bedeutet, kann nur der ermessen,
der sich an Ort und Stelle von den Dingen überzeugt hat. Die Verschmutzung der
Luft im Ruhrgebiet hat die Grenzen des Zumutbaren weit überschritten und es treten
ernstliche gesundheitliche Schäden jetzt in den Vordergrund.
Sprecherin:
Essen-Dellwig. Der Allgemeinmediziner Clemens Schmeck wohnte und arbeitete in
unmittelbarer Nachbarschaft der Rennanlage Krupp, des Hüttenwerks Oberhausen
und der Zinkhütte in Borbeck. Sein Haus und sein Garten waren ständig von einer
dicken Staubschicht überzogen und die Kinder, die in seiner Praxis Hilfe suchten,
litten häufig unter Bronchitis und Asthma. Werner Alberts hat den couragierten
Mediziner gut gekannt.
O-Ton Werner Alberts:
Ich bin 1960 aus der Lokalredaktion Dortmund in die Lokalredaktion Essen der WAZ
gekommen und da habe ich schon sehr früh Dr. Schmeck kennen gelernt. Der
brachte uns seine Presseerklärung, hat auch ab und zu Versammlungen veranstaltet
und ich habe das damals, weil ich selbst auch unter Bronchitis gelitten habe, als ein
sehr wichtiges Thema angesehen und habe ihm gesagt: „Wenn Sie Hilfe brauchen,
ich helfe Ihnen gerne, wenden sie sich an mich, ich bin ja jetzt hier Lokalredakteur.“
Sprecherin:
Clemens Schmeck, der auch Vorsitzender des Bürger- und Verkehrsvereins war, lud
am 16. September 1960 Vertreter der Gesundheitsämter, Gewerbeaufsichtsämter,
Politiker, Ärzte und die örtlichen Betriebschefs zu einem Gespräch ein. Denn auch
die Dellwiger Bürger wollten den Dreck nicht mehr länger widerstandslos hinnehmen
Die Anwohner machten ihrem Ärger Luft. Clemens Schmeck nahm kein Blatt vor den
Mund.
19
O-Ton Werner Alberts:
Das war so ein richtiger Ruhrgebietstyp, so ein Bullerkopf sagen wir hier. Aber da
hatte er sein Pendant in Dr. Roskothen. Beide haben also immer auf den Putz
gehauen und haben sich auch nicht gescheut, ziemlich harte Worte zu gebrauchen.
Beispielsweise war da ständig die Rede von den Verbrechern in Nadelstreifen, die
uns vergasen und so haben die gepoltert, aber sie haben ja dann letztlich auch den
Erfolg gehabt.
Sprecherin:
Zu Beginn des Jahres 1961 bekamen Clemens Schmeck und seine Mitstreiter
Rückenwind durch die Veröffentlichung einer neuen Studie. Das Oberhausener
Gesundheitsamt und das Hygieneinstitut in Gelsenkirchen hatten untersucht, wie
viele Männer in Oberhausen an Lungenkrebs gestorben waren. Das Fernsehen kam
nach Oberhausen und Ministerialdirektor Klaus Peter Faerber erklärte die
Ergebnisse.
O-Ton Hier und Heute 17.2.1961
Wir sind dabei zu der Feststellung gekommen, dass z.B. für die Vereinigten Staaten
von Nordamerika, kürzlich, das heißt vor einem Jahr jetzt ungefähr, eine
Sterblichkeitsrate an Lungenkrebs angegeben worden ist, die sich auf 31 pro
100 000 Menschen beläuft, wir haben nach denselben statistischen Verfahren unsere
Untersuchungen betrieben und festgestellt, dass diese Rate bei uns bereits 1952
erreicht worden war und dass sie seitdem kontinuierlich weiter angestiegen ist und
jetzt auf über 50 pro 100 000 liegt. D.H. wir haben auf diesem kleinen Raum natürlich
…. immerhin aber doch 60 Prozent mehr Lungenkrebstodesfälle als der Durchschnitt
der Vereinigten Staaten. …..
Sprecherin:
Nun landete das Thema in der großen Politik: Die SPD entdeckte die schlechte Luft
als Wahlkampfthema.
O-Ton Willy Brandt
Erschreckende Untersuchungsergebnisse zeigen, dass im Zusammenhang mit der
Verschmutzung von Luft und Wasser eine Zunahme von Leukämie, Krebs, Rachitis,
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Blutbildveränderungen sogar schon bei Kindern festzustellen sind. Es ist bestürzend,
dass diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen
Menschen geht, bisher fast völlig vernachlässigt wurde. Verehrte Anwesende und
besonders Freunde aus dem Revier: Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder
blau werden!"
Sprecherin:
Willy Brand verkündete die Parole, die sich in das Gedächtnis der Nation einprägen
sollte. Er prägte eine griffige Formel, mit der die Medienaufmerksamkeit gesichert
war. Die „Zeit“, der „Spiegel“ und viele andere Zeitungen widmeten sich fortan
verstärkt der Luft im Ruhrgebiet. Doch Willi Brandts Einschätzung, dass diese
Aufgabe bislang völlig vernachlässigt worden sei, stimmte zumindest für das
Ruhrgebiet nicht. Denn hier wurde unter der Federführung von CDU-Arbeits- und
Sozialminister Konrad Grundmann bereits an einem Landesimmissionsschutzgesetz
gearbeitet.
Clemens Schmeck lud den Minister im Dezember nach Essen-Dellwig ein, damit er
sich vor Ort einen Eindruck von der Situation verschaffe. Nach dieser
Besichtigungstour erklärte der CDU Mann:
Zitator:
„Wenn ich mit meinen drei Kindern dort wohnen müsste und wenn meine Kinder in
diesen Straßen spielen sollten und ich nachts meine Fenster nicht öffnen könnte,
dann gehörte ich auch zu denen, die auf die Pauke schlagen.“
Sprecherin:
Im Januar 1962 gründeten Clemens Schmeck und 116 Dellwiger Bürger offiziell die
„IG gegen Luftverschmutzungsschäden und Luftverunreinigung e.V." Die erste
Bürgerinitiative der Bundesrepublik! Werner Alberts war dabei.
O-Ton Werner Alberts:
Der ganze Saal picke packe voll, die hatten ihre Patienten da mobilisiert und auch
der Bürger- und Verkehrsverein hatte sich eingeschaltet - also brechend voll der Saal
und jeder rauchte. Es war eine Luft wie es draußen nicht schlimmer sein konnte. Da
sind dann aber auch die Forderungen aufgestellt worden und Konrad Grundmann,
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das weiß ich, hat das mitgenommen nach Düsseldorf und hat es im Kabinett erzählt,
und von da an galt diese Interessengemeinschaft als eine mächtige Organisation.
Sprecherin:
So mächtig, dass Konrad Grundmann den Arzt aus Essen alsbald in den von ihm
geschaffenen "Landesbeirat für Immissionsschutz" berief. Schmeck blieb auch in den
Medien präsent: Immer wieder warnte er öffentlich wirksam vor den Gefahren der
Umweltverschmutzung.
O-Ton Dr. Schmeck:
Meine Herren, Sie wissen, dass ich Ihnen als Arzt klar gemacht habe, wie groß die
Gesundheitsschäden in letzter Zeit geworden sind, die handgreiflich aufzuzählen sind
wie die Zunahme der Rachitis, die Reduzierung des Längenwachstums bei Kindern,
die Atemnotzustände, das Ansteigen des Lungenkrebses. In Zusammenhang damit
auch die Schäden in den Augen, die immer mehr bei den Schulkindern auftreten. Es
ist wichtig, gerade als Arzt darauf hinzuweisen, dass wir endlich etwas dagegen
unternehmen und handeln danach. Denn Sie wissen, dass die Dunstglocke, die uns
hier belastet, zwei Drittel der Sonneneinstrahlung unterbindet und uns auf die Dauer
krank macht und wir auf die Dauer ersticken!
Sprecherin:
Die Bürgerinitiative machte fortan von sich Reden, lud die
Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt nach Essen ein und
verkündete ihre zentralen Botschaften auf Flugblättern:
Zitator:
„Die Industrie soll endlich ihre Gewinne dazu benutzen unser Leben zu schützen,
indem sie endlich Filter einbaut und sie auch benutzt.
Das geht uns alle an! Bürger wehrt Euch!“
Sprecherin:
Clemens Schmeck und sein Kollege und Mitstreiter, der Hals- Nasen- und Ohrenarzt
Rolf Roskothen, wollten nicht nur die Menschen informieren und aufrütteln, sie
wollten auch mit den Verursachern des Schmutzes ins Gespräch kommen. Werner
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Alberts erinnert sich an einen Besuch bei den Hüttenwerken in Oberhausen, der
HOAG, gegen die Schmeck 1959 Klage wegen Körperverletzung eingereicht hatte.
O-Ton Werner Alberts:
Bei der HOAG war ich mit dabei. Das war sehr lustig. Wir kamen da an, gingen zum
Pförtner und sagten, wir möchten gerne zum Vorstand. Da sagte der Pförtner: „Das
geht heute nicht, da kommen gleich so ein paar Idioten, die wollen, dass wir hier den
braunen Rauch verschwinden lassen.2 Dann sagte Roskothen: „Melden Sie Ihrem
Vorstand, die Idioten sind schon da.“ Das waren wir.
Die Angriffe waren sehr, sehr krass und teilweise auch sehr verletzend, weil die
Industrie dann auch mit unwahren Behauptungen argumentiert hatte und dann
standen die beiden da, als würden sie dummes Zeug erzählen. Das was sicherlich
auch verletzend für die beiden.
Sprecherin:
Die Forschungsergebnisse der Ärzte und Wissenschaftler, die Aktionen der
Bürgervereine und Betriebsräte, die Klagen einzelner und die Eingaben der
Kommunalvertreter zeigten Wirkung. Im April 1962 wurde das
Landesimmissionsschutzgesetz vom Düsseldorfer Landtag einstimmig angenommen.
Es war das erste Landesgesetz zur Reinhaltung der Luft in der Bundesrepublik, und
es wurde für andere Länder zum Vorbild. Es stärkte die Regulierungsmöglichkeiten
der Behörden, man beschloss, kommunale Messstationen aufzubauen, gründete ein
landeseigenes Forschungsinstitut, legte Grenzwerte fest. Aber immer noch standen
diese Maßnahmen unter dem Vorbehalt, dass sie „im Rahmen der wirtschaftlichen
Möglichkeiten“ der Unternehmen bleiben müssten.
O-Ton Schmeck:
Eine Lücke ist die sog. Kautschukbestimmung, wonach die Betriebe nur dann
gezwungen werden können Filter einzubauen, wenn sie das wirtschaftlich verkraften
können. Hinter dieser Tatsache wird sich die Industrie lange, lange Zeit drücken
wollen und möglichst dadurch den Termin hinausschieben.
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Sprecherin:
Der Gründer der ersten Bürgerinitiative im Ruhrgebiet sollte Recht behalten mit
seinem Einwand. Doch wichtige Weichen in Richtung "Blauer Himmel" waren nun
gestellt. 1963 nahm die „Landesanstalt für Immissions- und Bodennutzungsschutz“
ihre Arbeit auf. Ein Zusammenschluss der ehemaligen KOFO und der Landesanstalt
für Bodennutzungsschutz.
Die Aufgabe: Das Landesinstitut sollte erstmals unabhängig von der Industrie
Forschungen und Messungen durchführen. Man begann, die Luftverschmutzung
systematisch zu erfassen. Über das ganze Land verteilt wurde an 2700 Messpunkten
Staub gesammelt und überall wurden Schadstoffe analysiert. Werner Alberts arbeitet
mittlerweile als Hörfunkreporter für den WDR.
O-Ton Alberts:
Diese neue Landesanstalt, die hieß ja „Landesanstalt für Immissions- und
Bodennutzungsschutz“. Und das war ein Stolperstein für jeden Sprecher im Radio
und wir haben überlegt, wie können wir das vielleicht vereinfachen und ich meine,
damals gab es das Wort „Umwelt“ noch gar nicht und wir haben dann überlegt:
Können wir sagen „Landesanstalt für Umweltschutz“. Man kannte Naturschutz, man
kannte Landschaftsschutz, aber das Wort Umweltschutz meine ich, hätten wir hier
erfunden. Da gebe ich aber keine Garantie für.
Musik
Sprecherin:
Umweltschutz - ein neuer Begriff in einer sich verändernden Gesellschaft. 15 Jahre
werden verstreichen, bis sich die langsam wachsende Umweltbewegung so
organisierte, dass sie den etablierten Parteien mit grünen und bunten Listen die
Wähler abspenstig machte.
O-Ton Kurt Pfläging:
Es kam an bei der Bevölkerung. Und die Bevölkerung wirkte mit. Und sie achtete
darauf, sie kriegte ein Umweltbewusstsein, klagte an, wenn etwas nicht stimmte... Im
Ruhrgebiet brach eine neue Zeit an.
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Musik
Absage:
Blauer Himmel über der Ruhr
Vom Begreifen der Demokratie als Möglichkeit
Ein Feature von Erika Fehse
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2011.
Es sprachen: Anja Herden und Michael Wittenborn
Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Hanna Steger
Regie: Claudia Kattanek
Redaktion: Hermann Theißen
Musik