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BÜCHER-FASS WEIHNACHTSBRIEF 2020

BÜCHER-FASS 2020 · 2020. 12. 10. · Wir alle wünschen Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und alles Herzlich ... Fr. 14.50 Russische Seele Marina Zwetajewa, 1892–1941, ist eine

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B Ü C H E R- FA S SW EIH NACHTSBR IEF

2020

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Belletristik 3

12 Geheimtipps 8

Zhuangzi und Daodejing 11

Verlegerische Grossprojekte 12

Das Schöne und die Kunst 16

Auch eine Weihnachtsgeschichte 18

Apollonius von Rhodos und Kallimachos 20

Roger Bacon, der Franziskanerorden und das Haus Plantagenet 21

Kleine literarische Preziosen 22

Rassismus und Zivilcourage 24

Geografie der Schweiz 26

Von Gourmetkünstlern und Hausköchinnen 28

Bilderbücher 29

WEIHNACHTSBRIEF 2020Buchhandlung Bücher-Fass Webergasse 13, 8201 SchaffhausenTel. 052 624 52 33 | [email protected]

Texte: Georg FreivogelGestaltung: richtigundschön.ch, Silvia BartholdiVignetten S. 2, 5, 7, 11–13, 18, 19, 21, 24, 26: KOONI.CH unter Verwendung des Adventskarten-Sets (vgl. S. 19)

I M P R E S S U M

Dank

Das zu Ende gehende Jahr wird uns wohl noch lange in Erinne-rung bleiben als eines, das Sicherheiten, die als selbstverständ-lich galten, brüchig werden liess. Die Geschichte der Evolution lehrt uns, dass Anpassung und nicht Verharren gefragt ist. Und: Es gibt auch für uns Menschen kein Naturgesetz, das besagt, dass das Leben einfach sein muss. Dank Ihrer Solidarität und Unterstützung hat das Bücher-Fass die schwierige Zeit wirtschaftlich gut überstanden: Stets noch gesund, blicken wir getrost in die Zukunft. Dem Buch wurde schon oft vorausgesagt, dass sein Grab längst geschaufelt sei. Doch das Buch bleibt im Bücherregal – anders als Lesungen und Literaturfestivals – ein solider Wert: heute, morgen und übermorgen.Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Verbundenheit zum Kultur-gut Buch und wir danken Ihnen, dass Sie das Bücher-Fass als Ihren verlässlichen Angelpunkt zur Literatur zu schätzen wissen. Last but not least gilt mein aufrichtiger Dank meinen Mit-arbeitenden: Gabriele Meier, Iris Papke, Matthias Felix und im-mer wieder auch als Einspringende in Not: Martina Cucinotta. Und wie jedes Jahr danke ich herzlich Silvia Bartholdi für das unverwechselbare und schöne Layout des Weihnachtsbriefes.

Wir alle wünschen Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und alles Gute im kommenden Jahr.

HerzlichGeorg Freivogel

Zur Zukunft des Bücher-Fass’

Die Zukunft bleibt uns immer verschlossen – und das ist gut so. Ob ich für mein Bücher-Fass eine Nachfolge finde, die ab kommenden November die Buchhandlung weiterführen wird, weiss ich noch immer nicht. Aber ich stehe einmal mehr wieder in Übernahmeverhandlungen – wenn Sie gwundrig sind, finden Sie alle Neuigkeiten dazu auf der Website. Nur so viel: Für mich persönlich wäre es keine Katastrophe, wenn ich die Buchhandlung schliessen müsste, denn: Ein jedes Ding hat seine Zeit. Ich wünschte mir aber für Sie eine engagierte Nachfolgerin/einen engagierten Nachfolger. Und ich bin zuversichtlich.

BÜC H E R-FA S SW EIHNACHTSBR IEF

2020

I N H A L T

Illustration: Sydney Smith © Aladin Verlag

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Belletristik

Hans-Dieter Gelfert: Was ist gute Literatur? Beck’sche Reihe, Fr. 18.90Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Rowohlt, Fr. 45.90Andreas Wang: Lob der Schwierigen Lesart. Matthes & Seitz, Fr. 26.90

Und immer wieder: Was ist gute Literatur?

Einen Diskurs darüber, was gute Literatur ausmacht, führen meistens nur jene, die auf die Trivialliteratur und manchmal auch auf die Unter-haltungsliteratur hinunterschauen. Zur Literaturliteratur, wie sie Hans Dieter Zimmermann in seiner minutiösen Untersuchung «Das Vorurteil über die Trivialliteratur das ein Vorurteil über die Literatur ist» nennt, schaut selten einer hinauf. Alle, die an dieses Thema schon einmal ein paar Gedanken verschwendet haben und es immer auch wieder einmal tun möchten, finden in den folgenden drei Titeln anregende Einwände, Belehrungen, Literaturvorschläge oder Argumentationshilfen.

Hans-Dieter Gelfert war bis zum Jahr 2000 Professor für englische Literatur an der FU Berlin; seither arbeitet er als Buchautor zu Themen, die sich auf vorwiegend englische Literatur oder Kulturgeschichte kon-zentrieren. Sein Bändchen, das im Untertitel Klartext verspricht – Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet –, kommt im besten Sinne analytisch daher und nimmt wie H.D. Zimmermann in den frühen 70er-Jahren Abstand von Wertungen, die Autoren oder Leser diskriminieren und den Kritiker erhöhen. Er geht z.B. Kriterien einer ästhetischen Wahrnehmung nach, macht unterschiedliche Stilmerkmale einsichtig, oder macht lapidar im Kapital «Was soll man lesen» klar, dass wer zum Vergnügen liest, nur auf das Barometer seines Geschmacks achten soll.

Michael Maar ist Germanist, Literaturkritiker und Schriftsteller. Er nennt sein neustes Buch Die Schlange im Wolfspelz im Untertitel: Das Geheimnis grosser Literatur. Anders als Gelfert bespricht Maar einige ausgewählte Werke der (vorwiegend) deutschen Literatur, ver-gleicht sie miteinander und schält die jeweilige Essenz heraus. So lernt man, elegant formuliert, herausragende und auch überbewertete Werke kennen. Dass allerdings jede noch so stringente Argumentation, auch seine eigene, immer subjektiv unterfüttert ist, räumt der Autor offen ein; das macht sein Buch nicht zu einem Lehrbuch, sondern zu einem Buch, das einlädt, Texte sorgfältig zu lesen. Dabei fehlt auch Spielerisches nicht: Bei einem Literaturquiz darf man z.B. darüber rätseln, von wem eine kleine Textpassage ist.

Andreas Wang ist promovierter Literaturwissenschaftler, kein Viel-schreiber und Juror von «Sachbücher des Monats». Sein Buch Lob der schwierigen Lesart trägt den Untertitel: Streifzüge durch unles-bare Bücher. Da haben wir es also schwarz auf weiss: das soll es wirk-lich geben – und Andreas Wang argumentiert gut und unterhaltsam. So stellte ich fest, dass im Bücher-Fass mit grosser Regelmässigkeit auch die-se Bücher zu finden sind, und das Bücher-Fass für eine eingeschworene Leserschaft immer wieder eine Schatztruhe ist.

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Faksimile der Handschrift Georg Trakls

Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Otto Müller Verlag, Fr. 44.90Louise Glück: Averno. Luchterhand, Fr. 22.90Ivan Blatný: Alte Wohnsitze. Edition Korrespondenzen, Fr. 31.50

Lyrik

Es war Dr. Hans Steiner, der mir als Kantischüler der ersten Klasse die Lyrik nahebrachte. Das Trakl-Gedicht, das wir im Unterricht bespra-chen, öffnete mir aus herbstlich grauem Himmel die Augen: Als ein im Grunde zuversichtlicher Mensch erkannte ich plötzlich die mir mal ferner oder näher stehende, imaginäre Schwester: die Melancholie. Die ersten vier Verse schon sind knapp, dicht und von expressiver Kraft; sie beschreiben zwar nur einen unauffälligen Alltag, doch hinter diesem lässt sich ein Unglück ahnen:

Der Acker leuchtet weiss und kalt.Der Himmel ist einsam und ungeheuer.Dohlen kreisen über dem WeiherUnd Jäger steigen nieder vom Wald.

Georg Trakl starb früh, mit 27 Jahren, in Krakau. Einige seiner Gedichte finden noch heute, über hundert Jahre nach seinem Tod, Einlass in jede Anthologie. Dem Verlag Otto Müller, Salzburg, sei’s gedankt, dass er dieses Jahr wieder eine Werkausgabe des Ausnahmelyrikers vorlegt.

Louise Glück erhielt dieses Jahr überraschend für fast alle den Literatur-nobelpreis; die beiden im deutschen Sprachraum schon vor über zehn Jahren erschienenen Lyrikbände waren längst vergriffen. Nun sind die von Ulrike Draesner einst entdeckten und übersetzten Perlen in zwei-sprachigen Ausgaben wieder lieferbar und eine Lyrikerin kann entdeckt werden, die es immer wieder versteht, Alltägliches unaufgeregt und sorg-sam mit einer dem Thema angepassten Sprache einzufangen.

Flucht und Exil sind immer wieder Themen der Literatur. Ivan Blatný ist im mondänen Literaturzirkus ein Unbekannter – und wird es wohl bleiben. Der 1919 in Brünn (Brno) geborene Autor kehrte 1948 nach der kommunistischen Machtübernahme nicht mehr aus England zurück. Von 1954 bis zu seinem Tod 1990 lebte er seiner Angstzustände wegen in einer Nervenheilanstalt und nur dank einer seiner Krankenschwestern ist es zu verdanken, dass seine späten Gedichte erhalten blieben. Ein grosser Schatz von existentiellem Tiefgang harrt seiner Bergung.

Ivan Blatný

1919–1990

Georg Trakl

1887–1914

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Romane in Versen

2006 erschien von Christoph Ransmayr ein für viele aussergewöhnlicher Roman: Der fliegende Berg. Vom Österreicher wusste man, dass er immer wieder neu überraschen konnte – sein in Versform verfasster Roman blieb jedoch vielen fremd. Dieses Jahr erschienen nun gleich zwei Ro-mane, die formal die Fährte von Ransmayrs Roman von zwei Brüdern in Osttibet wieder aufnehmen.

Heldinnenepos heisst der Roman der Deut-schen Buchpreisträgerin 2020, Annette Weber. Die in Offenbach geborene Autorin lebt seit Langem in Paris; sie lernt dort eine Frau kennen, die sie fasziniert: Anne Beaumanoir. Wohl nur Spezialisten kennen bei uns die Neu-rologin, kommunistische Résistancekämpferin und auf der Seite der algerischen Unabhängig-keitsbewegung engagierte Frau. Beaumanoir hat selber eine Autobiografie geschrieben, die Annette Weber ins Deutsche übersetzt hat. Annette Weber hat aber auch eine Romanbio-grafie der Frau geschrieben, die nun 97-jährig stets noch politisch aufrechten Ganges unter-wegs ist. Webers Roman in Versform ist inhalt-lich wie literarisch ein grosser Wurf.

Maiser nennt der in Mailand geborene und seit langem im Tessin lebende Autor und Literaturvermittler Fabiano Alborghetti seinen ebenfalls in Versform geschriebenen Roman, den die beiden Übersetzerinnen Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski phänomenal tref-fend ins Deutsche gebracht haben. Erzählt wird die Geschichte von Bruno aus Kalabrien, der in den früher 1950er Jahren als Gastarbeiter in die Schweiz kam. Einfach hatten es die oft aus Italien kommenden Saisonniers nicht, die damals, vor allem in Graubünden, Maiser oder Maisfresser tituliert wurden. Alborghetti reha-bilitiert eindrücklich seine Vorfahren und be-schämt ebenso die oft gezeigte Überheblichkeit der Schweizer.

Wenn die Halbwertszeit kurz ist

Es erscheinen jährlich weit über zehntausend belletristische Titel. Die Halbwertszeit der meisten ist selten mehr als zwei, drei Wochen, dann ist ihr Stern verglüht. Ein Buch, dessen Halbwertszeit länger als sechs Monate dauert, gilt als Erfolg. Erfolgreich sind die wenigsten. Dennoch gibt es immer wieder Titel, denen die Verlage, meist mit neuer Umschlagsgestaltung, eine zweite Chance geben. Gerne empfehle ich Ihnen drei wenig bekannte Titel, die Ihnen eine spannende, packende Lektüre garantieren – und die Sie als Geheimtipp vielleicht gar wei-terempfehlen möchten.

Daniel Mason ist ein amerikanischer Psychiater und Schriftsteller. Sein Roman Der KLAVIER-STIMMER IHRER MAJESTÄT ist ein historischer Unterhaltungsroman erster Güte. Weshalb? Die britische Krone beherrscht einen Grossteil der Kolonien in Afrika und Asien. Weshalb jedoch erhält der Klavierstimmer Edgar Drake den Auftrag, in Birma den Flügel eines Generals zu stimmen? Grossartige Fiktion und Geschichte vermengen sich zu einem Roman, der Sie die Welt besser verstehen lässt.

Regina Scheer ist eine in Deutschland be- kannte Autorin der zweiten Reihe – verzeihen Sie bitte, Frau Scheer. Ihr Roman Machandel aber nimmt es locker auf mit Juli Zeh’s Unterleuten, doch spannt sie den histo-rischen Bogen weiter. Es ist ein stilsicherer, grossartiger Roman, der uns die Geschichte Deutschlands, oder der Deutschlande, BRD und DDR, sympathisch näher bringt und sie und die Menschen, die verschieden sind wie überall, besser begreifen lehrt. Ein grosser Wurf und unbedingt lesenswert.

Fabiano Alborghetti: Maiser. Limmat Verlag, Fr. 32.–Annette Weber: Heldinnenepos. Matthes & Seitz, Fr. 29.50

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Daniel Mason: Der Klavierstimmer ihrer Majestät. C.H. Beck, Fr. 33.90Regina Scheer: Machandel. Knaus Verlag, geb., Fr. 33.90 oder Penguin TB Fr. 17.90Christina Viragh: Im April. Ammann Verlag; vergriffen; Dörlemann, Fr. 34.–

Marina Zwetajewa: Lichtregen. Suhrkamp, Fr. 57.90Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. Andere Bibliothek, Fr. 57.90Joseph Brodsky: Erinnerungen an Leningrad. Fischer TB, Fr. 14.50

Russische Seele

Marina Zwetajewa, 1892–1941, ist eine Lichtgestalt der russischen Literatur, wie es sie so längst nicht mehr gibt. Sie ist bei uns vor allem als Lyrikerin bekannt – der Schaffhauser Ralph Dutli hat z.B. einige ihrer Werke übersetzt. Von Ilma Rakusa herausgegeben, ist dieses Jahr nun ein zweiter Band der gesammelten Werke erschienen: Lichtregen. Der wiederum umfangreiche Band versammelt einerseits Porträts von noch bekannten, aber auch von längst vergessen gegangenen Zeitgenos-sen, andererseits Essays zum literarischen Schaffen von Rilke etwa oder Mandelstam und Pasternak; dem Band beigegeben ist im Weiteren ein Bildteil sowie ein reichhaltiger Anhang. Faszinierend bei der Lektüre ist, wie weit entfernt uns Sprache, Stil, Weltanschauung und Alltag der Autorin sind. Mit Zwetajewas Texten fühlt man sich versetzt in die Welt eines andern Sterns, auf einen Stern, der aber längst noch nicht erloschen ist.

Nur sieben Jahre jünger, 1899 geboren, ist Nadeschda Mandelstam, die Frau von Ossip Mandelstam. Ihr grosses Erinnerungsbuch, neu über-setzt von Ursula Keller, ist seit Kurzem als Band 426 der Anderen Biblio-thek wieder lieferbar. Der vorliegende Band endet mit Mandelstams Tod Ende Dezember 1938. Das Buch ist Literatur und Dokument zugleich, auch eine Rohfassung, die die Autorin nicht mehr bearbeitet hat, nach-dem das Manuskript in den Westen geschmuggelt worden war. Anders als Solschenizyn oder Grossman schrieb Nadeschda Mandelstam nicht für ein zukünftiges Publikum, sondern für sich als Aufarbeitung von Erinnerungen.

Christina Viragh ist gebürtige Ungarin und ihr herausragender Roman Im April erschien 2006 im Ammann Verlag. Die Autorin ist nicht nur eine ausgezeichnete Stilistin deutscher Sprache, sie bringt in ihren Übersetzungen auch Meister-werke wie jene von Imre Kertész oder Péter Nádas zum Leuchten. Sabine Dörlemann legte diesen lange vergriffenen Roman verdienst-vollerweise dieses Jahr wieder auf – leider, wenn ich das so sagen darf in Richtung Verlegerin – in einer wenig attraktiven Auflage. Diese tut den literarischen Qualitäten des Buch allerdings keinen Abbruch. Viragh nimmt in diesem grossartigen Roman einen Fadenknäuel in einem Bauernhaus auf und beginnt ihre Ge-schichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei der dort wohnhaften Familie Schacher. Doch es ist nicht diese Familie, die geheimer Akteur des Buches ist, sondern der geografische Ort, der zu verschiedenen Zeiten auch verschiedene Geschichten erlebt. Ein Lesegenuss und ein Leseereignis.

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Ein schmales Erinnerungsbuch sei in diesem Zusammenhang auch noch erwähnt: Erinnerungen an Leningrad von Joseph Brodsky. Der Autor, der 1940 als Sohn jüdischer Eltern in Leningrad geboren wurde, verliess nach dem neunten Schuljahr die Schule und ar-beitete in verschiedenen Berufen und lernte zu-dem im Selbststudium Polnisch und Englisch. Bald schon publizierte er Gedichte und geriet in den Radar des sowjetischen Geheimdienstes. 1972 wurde er ausgebürgert und nach Wien ausgeschafft. In seinem amerikanischen Exil veröffentlichte er ein Jahr vor der Auszeichnung mit dem Nobelpreis und zehn Jahre vor seinem Tod zwei essayistische Prosastücke, in denen er die Stoffe wieder aufnimmt, die Mandelstam, Achmatowa oder Zwetajewa beschäftigten. Einmal mehr wird uns Lesern dabei bewusst, wie verschieden die Volksseele Russlands von der unsrigen ist.

Usama Al Shahmani: Im Fallen lernt die Feder fliegen. Limmat, Fr. 28.–Akram Aylisli: Steinträume. Osburg, Fr. 26.90Pia Tschupp: Eine Geige für Palästina. Eigenverlag, Fr. 18.–

Kaukasus und Naher Osten

Die Kaukasusregion zählt zu den unruhigsten Gegenden an den Rän-dern Europas. Erst kürzlich standen einmal mehr Armenien und Aserbeidschan im Fokus der Nachrichten. Es ist zwar nicht direkt der Konflikt um die Region Berg-Karabach, den der Roman Steinträume von Akram Aylisli zum Thema hat, doch der in der grossen aserischen Exklave Nachitschewan 1937 geborene Autor nimmt die immer wie-der aufflammende Feindschaft der muslimischen Aserbaidschaner und der christlichen Armenier ins Visier: In Baku wird der aserische Schauspieler Sadygly Zeuge, wie ein Armenier von einem Mob ver-folgt und zu Tode getreten wird; er, der sich für den Fremden einsetzt, wird dabei selber schwer verletzt. Im Spital erinnert er sich zurück an seine Jugendzeit, wo in seinem Geburtsort noch Armenier und Aser- baidschaner friedlich zusammenlebten. Dem mit vielen Preisen geehrten Autor entzog der Präsident Aserbaidschans nach der Veröffentlichung dieses Romans alle Aus-zeichnungen, und das Buch wurde verboten.

Usama Al Shahmani kennen Sie vielleicht schon von seinem ersten Roman In der Fremde sprechen die Bäume arabisch, aus dem der Autor im vergangenen Jahr im Fasskeller gelesen hat. Nun liegt der zweite Roman des im Irak geborenen und im Jahr 2002 in die Schweiz geflohenen Autors vor: Im Fallen lernt die Feder fliegen. Auch das neue Buch hat das Thema Flucht und Emigration zum Thema. Und es erzählt auch eindrücklich davon, wie schwierig für viele Flüchtlinge die Integration ist, die oft schon mit der Sprache zu scheitern droht. Unspektakulär und nicht auf billige Allgemeinplätze bauend, berührt einen das neue Buch, das von der irakischstämmigen Aida und ihrem steinigen Weg zur Anerkennung in der Schweiz erzählt – und auch immer wieder zurückblendet in ihre Heimat, die sie verlassen musste.

Pia Tschupp wuchs im Freiamt auf und unterrichtete nach dem Leh-rerseminar in Wohlen an Schulen in der Schweiz und in Westafrika. Nach ihrer Pensionierung reiste sie mit einem Chor nach Palästina und begegnete dort drei Frauen, die sie stark beeindruckten; eine von ihnen war Sumaya Farhat-Naser. Zwei Jahre später meldete sie sich bei einer Menschenrechtsorganisation und reiste für diese als Beobachterin für drei Monate nach Palästina. Eine Geige für Palästina ist ihre ein-drückliche Berichterstattung über ihre vielseitigen Begegnungen mit Bauern, Soldaten, Polizisten, Kindern, Frauen. Pia Tschupps Sicht ist einseitig, solidarisch mit den Unterdrückten. Und dennoch spürt man immer wieder auch, dass sie weiss, dass man mit Waffengewalt nur vordergründig eine Lösung der verfahrenen Situation erreichen wird.

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Giulia Caminito, geboren 1988 in Rom, studierte politische Philosophie und entführt einen mit ihrem packenden Roman Ein Tag wird kommen in die Zeit des Ersten Weltkrieges, der Spanischen Grippe, in die Welt des be-rühmtesten italienischen Anarchisten Errico Malatesto bis zum Aufstieg Mussolinis. Kriegt von mir ***** Sterne.

Mit dem englisch-US-ameri-kanischen Lee Child ist nach Michael Connelly ein weiteres Schwergewicht der traditionellen Thrillerautoren zu entdecken. Traditionell meint, dass es sich nicht um extrem brutale Thrillers

Krimis und Thrillers

handelt, der Autor von Schilderungen sadistischer Ge-waltorgien weitgehend absieht. Auch Lee Child schreibt kontinuierlich an einer Serie weiter: Jack Reacher, ein ehemaliger Elite-Militärpolizist, ermittelt inzwischen schon in 25 Bänden, auf Deutsch liegen bislang 22 vor. Reacher ist ein Einzelgänger, ein Vagabund, intelligent, ungebunden, gerecht – er vereinigt grundsätzlich also alle Eigenschaften eines Gutmenschen, der als Cop meistens in Spionagefälle und Militärangelegenheiten involviert wird. Ein Page-Turner, dem man gerne folgt.

Mick Herron ist ein waschechter Engländer und seine bei Diogenes erscheinenden Jackson-Lamb-Thrillers sind auch eine herrliche Gesellschaftssatire. Lamb ist ei-ner der abservierten MI5 Agenten, die sich unversehens wieder in einen brisanten Inlandfall verwickelt sehen. Herrons Romane sind nicht nur spannend, sondern in einem charmanten Sinne auch altmodisch. Der Prota-gonist gehört deswegen aber nicht zur Riege derjenigen Ermittler, die einem Menu surprise mit edlem Tropfen durchaus nicht abgeneigt sind.

Tony Hillerman, geboren 1925 auf einer Farm in Okla-homa, besuchte ein Internat, das vor allem auch India-nerjugendliche besuchten. Da lernte er einiges über die Native Americans. Seine Krimis handeln vorwiegend in Indianerreservaten, und Lieutenant Joe Leaphorn be-greift die Verbrechen, die er aufklären soll, nur deshalb, weil er mehr versteht von der Lebensweise der Indigenen. Hillermans Krimis beschönigen nichts und schildern auch eindrücklich die zum Teil elenden Lebensbedin-gungen seiner Protagonisten. Der Rowohlt Verlag hält einige der Bücher immer noch lieferbar, auch wenn man sich für die Lieferung oft etwas gedulden muss.

Lee Child: Die Abschussliste. Blanvalet TB, Fr. 15.50Mick Herron: Real Tigers. Diogenes, Fr. 24.–Toni Hillerman: Wolf ohne Fährte. Rowohlt Thriller, vergriffen, aber andere Bände sind noch lieferbar.

Unsere 12 Geheimtipps, die auf keiner Bestsellerliste stehen

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Kerry Drewery ist eine erfolgreiche englische Autorin mit Schwerpunkt Jugendliteratur. In ihrem ergreifenden Roman Der letzte Papierkranich erzählt sie auf einmalige Art und Weise vom Atombombenabwurf auf Hiroshima und dessen verheerenden Zerstörungen, die auch den Über- lebenden zeitlebens nahe blieben. Einfach geschrieben und doch lange nachhallend.

Gustave Flauberts grosser Roman L’Éducation sentimen-tale steht im deutschen Sprachraum noch immer im Schat-ten der Madame Bovary, ganz anders als in Frankreich, wo beide Romane sich auf Augenhöhe begegnen. Vielleicht gelingt es nun der begnadeten Übersetzerin Elisabeth Edl, diese Scharte auszuwetzen. Lehrjahre der Männlichkeit titelt sie den Roman. Herausragend an dieser vorzüglichen und schönen Ausgabe ist auch der umfangreiche Anhang.

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Wagenbach; Fr. 32.–Kerry Drewery: Der letzte Papierkranich. Arctis/Atrium; Fr. 25.50Gustav Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit. Hanser, Fr. 56.50David Grossman: Was Nina wusste. Hanser, Fr. 35.–Yukio Mishima: Der goldene Pavillon. Kein & Aber, Fr. 28.–Christoph Nussbaumeder: Die Unverhofften. Suhrkamp; Fr. 35.90Cilette Ofaire: Ismé. Sehnsucht nach Freiheit; erw. Neuauflage; Th. Gut, Fr. 39.–Richard Powers: Die Wurzeln des Lebens. Fischer TB, Fr. 20.50Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph. Wallstein, Fr. 34.–Margrit Sprecher: Irrland. Reportagen. Dörlemann; Fr. 30.–Szczepan Twardoch: Das schwarze Königreich. Rowohlt, Fr. 33.90Peter Weibel: Mensch Keun. edition bücherlese, Fr. 25.–

Unsere 12 Geheimtipps, die auf keiner Bestsellerliste stehen

David Grossman, der vor ein paar Jahren mit dem schmalen Roman Kommt ein Pferd in die Bar Furore machte, dop-pelt nun grossartig nach: Mit Was Nina wusste verfolgt er romanhaft reale Lebensläufe, die einen zurückführen in die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Kroatien und nach Palästina um 1960. Es ist die Geschichte von drei Frauengenerati-onen und auch die Geschichte vom jungen Rafael, der sich, nicht immer zu seinem Glück, unsterblich in Nina verliebt. Einer der besten Romane des Jahres.

Yukio Mishimas Romane verstören. Mishima, der 1970 ri-tuellen Selbstmord begangen hat, überschritt immer wieder stilistische und inhaltliche Grenzen. In einem seiner wich-tigsten Romane versucht der Autor zu verstehen, wie der stotternde Junge Mizoguchi, der von allen ausgegrenzt wird und sich in ein Kloster zurückzieht, um das Wahre, Grosse und Schöne zu erleben, dazu getrieben wird, das, was er

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verehrt, zu zerstören. Der goldene Pavillon, so der Titel des Romans in neuer Übersetzung, steht im Nordwesten von Kyoto. Weltliteratur.

Christoph Nussbaumeders eindrucksvolles Romandebut Die Unverhofften steht in der langen Tradition von epischen Generationenerzählungen, an deren Anfang oft eine Katastrophe steht. Zu Beginn schaut eine junge Ar-beiterin, Maria, von einem Hügel hinab in ihr Dorf, wo die Glashütte in Flammen steht; sie selbst hat den Brand aus Vergeltung gelegt. Das war im Jahr 1900, und der Roman einer Aufsteigerfamilie, die immer wieder herbe Rück-schläge erleidet, endet im 21. Jahrhundert, als einer der Nachfahren es bis zum Konzernchef gebracht hat. In einer kraftvollen Sprache zeichnet Nussbaumeder die Trieb- federn dieser Geschichten: Verrat, Liebe, Kampf um An-erkennung. Grossartig.

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Annemarie Schwarzenbach, Ella Maillart und Cilette Ofaire sind ein hell leuchtendes Dreigestirn am Firmament der abenteuerlichen Reise-literatur. Ofaire blieb jedoch oft unter dem Horizont. Ismé. Sehnsucht nach Freiheit heisst ihr grosser Reiseroman, eine Geschichte, die immer wieder auf hoher See handelt, mit der Autorin als Kapitänin. Nach einer gescheiterten Ehe kauft sich die 42-jährige Ofaire einen 59-Tonnen- Dampfer und unternimmt zwischen 1933 und 1937 eine waghalsige, abenteuerliche Kreuzfahrt. Sie verlor ihr Schiff, die Ismé, in den Wirren des spanischen Bürgerkriegs und schuf im selben Jahr dessen Wieder-geburt als literarisches Kleinod.

Richard Powers, geboren 1957, zählt zu den wichtigsten amerikanischen Erzählern. Sein letzter Roman Die Wurzeln des Lebens wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. In Powers Romanen spielen Ideen und Ideale oft eine tragendere Rolle als blosse Handlungen. In diesem Roman stehen Bäume und der Wald im Zentrum, der Mensch als Ausbeuter, der jedoch, da seine Wurzeln weniger tief reichen und verzweigt sind, auf bedrohlichen Pfaden wandelt. Ein grosser, aufrüttelnder Roman.

Patrick Roth ist einer der grossen Aussenseiter der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Dabei sind seine Romane keineswegs unles-bar. Ihre Sprache erinnert an die archaisch anmutende Bibelübersetzung Luthers. Sunrise heisst der Roman, der im Jüdischen Krieg handelt, als die Römer Jerusalem erobern. Dabei blendet die Geschichte immer wie-der zurück auf den neutestamentlichen Josef. Der Roman folgt thema-tisch auf Roths Christus-Trilogie aus den 90er-Jahren. Für Wagemutige ein Hammerbuch.

Margrit Sprecher ist für mich die Grande Dame der Schweizerischen Reportageliteratur. Einen frühen Band mit Gerichtsreportagen legte schon Egon Amman 1984 vor; nun folgen bei Sabine Dörlemann die grossen Reportagen aus der ganzen Welt, die in der ZEIT, im NZZ-Folio oder im DU erschienen sind. Thomas Hürlimann attestiert diesen Reportagen: «Wahrheit als Dichtung. Ich betone: Dichtung.» Dem darf man sich jederzeit anschliessen.

Der Pole Szczepan Twardoch, geb. 1979, lässt einen auch mit seinem neusten Roman Das schwarze Königreich kaum mehr schlafen. Zeitlich ist der Roman 1939 angesiedelt und handelt in Warschau. Hitler überfällt Polen und für den Gangster Shapiro beginnt ein neues Lebenskapitel. Aus ist’s mit dem erschwindelten, kriminell erworbenen Reichtum. Doch er weiss sich durchzuschlagen, und man staunt immer wieder über die unglaubliche Energie dieses eigentlich unsympathischen Protagonisten. Schwere Kost, weil auch glasklar ist, wie schwierig es ist, in dunklen Zeiten Mensch zu bleiben.

Peter Weibel, geb. 1947, ist Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie tätig. Nebenher schreibt er auch. Und was für Texte! Mensch Keun heisst seine 2017 erschienene Erzählung; sie ist für mich wohl das Buch, das mich dieses Jahr am tiefsten beeindruckt hat. Nie kitschig, nah am Leben und dem Tod. Es ist die Geschichte von Hannes, sehr betagt schon, verwitwet. Er lebt allein in einem bescheidenen Haus und bear-beitet mit Beitel, Dexel und Scorp rohe Holzstämme – ‹Mensch Keun› ist sein letztes holzbildhauerisches Projekt und er weiss nicht, ob er es noch vollenden kann. Eine Lektüre, die in Erinnerung bleibt.

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Als er Siebzig war und war gebrechlichDrängte es den Lehrer doch nach RuhDenn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlichUnd die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.Und er gürtete den Schuh.

Nun, Brechts Interpretation, wie die 81 Sinnsprüche des Tao te King zustande ge-kommen sind, hat mit der historischen Wirklichkeit wenig zu tun. So ist zum Bei-spiel die Autorschaft des nach der Bibel meistübersetzten Buches ungewiss – Laozi, oder als andere deutsche Lesart: Laotse – meint eigentlich einfach ‹alter Meister›. Das Daodejing gründet in einer kosmologischen Naturphilosophie und leitet da-von didaktische Strategien ab, was gutes Handeln und Regieren ist: Wer sich nach dem Dao (dem Weg, den die Natur vorgibt, salopp formuliert) richtet, wird richtig handeln. Aus europäischer Sicht wurde und wird das Tao te King allerdings oft entweder zu individualistisch oder dann zu esoterisch interpretiert. Peter Sloterdijk publizierte dazu schon 1989 eine anregende Streitschrift. Im deutschen Sprachraum gibt es über hundert Übersetzungen und es ist mir beim besten Willen und Wissen nicht möglich, Ihnen die ultimativ richtige zu empfehlen. Soweit ich mich jedoch schlau gemacht habe, gelten unter Fachleuten jene von Viktor Kalinke und Hans-Georg Möller zu den zur Zeit besten. Am wei-testen verbreitet und immer wieder von Neuem aufgelegt ist die Übersetzung von Richard Wilhelm aus dem Jahr 1921. Und wen wunderts, es gibt auch Übertragungen in die Schweizer Mundart. Bekannt ist mir eine Teilübertragung von Thomas Hostettler in die Aargauer Mundart von Zofingen und nun neu auch jene des Perkussionisten Balts Nill. Einer Rezitation von Thomas Hostettler durfte ich mal beiwohnen, die war schlicht beeindruckend. Balts Nills Übertragung in die Berner Mundart scheint mir auf demselben Niveau zu stehen. Beide Übertragungen beanspruchen nicht, exakte, wissenschaftlich fundierte Übersetzungen zu sein, sie kommen deshalb auch ohne jeden Kommentar aus. Was beide aber auszeichnet: Sie sind gut ver-ständlich und nehmen einen dank ihres fast schon musikalischen Rhythmus federleicht mit auf eine Reise in eine ferne Kultur.

Das etwas jüngere, doch ebenfalls im 4. Jahrhundert v. Chr. entstandene Zhuangzi liegt gleichfalls in zahlreichen Übersetzungen vor. Das Buch des uni-versell gebildeten Meisters aus dem Lackgarten in Meng, in der heutigen Provinz Anhui, versteht unter dem Dao mehr das bewegende Agens als den vorgegebenen Weg. Anders als das Daodejing ist das «Buch vom südlichen Blütenland» aber auch ein literarisches, poetisches Meisterwerk. Die neue, von Viktor Kalinke edierte Ausgabe überzeugt in doppelter Hinsicht: Sie ist ein Lesegenuss und der Kommen-tar, so man denn auf ihn eingehen möchte, informiert ausführlich über Probleme der Übersetzung, aber auch über Geschichte und Kultur des alten China.

Zhuangzi und DaodejingZwei chinesische Weisheitsbücher

Einmal mehr möchte ich Ihnen zwei Bücher anempfehlen, die mit 98 ande-ren zum Fundament einer Bibliothek zählen.

Bertolt Brecht beschäftigte sich im-mer wieder mit der Philosophie des alten China, die ihn zu einem seiner eindrücklichsten Gedichte inspirierte: «Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration». Das 13-stro-phige Gedicht packt einen vom ersten Vers an und nimmt mit den letzten bei-den eine typische brechtsche Wendung:

Persönliche Auswahl von Übersetzungen:Laozi: Daodejing. Leipziger Literaturverlag, Fr. 11.50Laozi: Dao De Jing. In die Zofinger Mundart

übertragene Auswahl von Thomas Hostettler, Eigenverlag, Fr. 12.–

Laotse: Tao te King – ins Berndeutsche übertra-gen von Balts Nill, Lokwort Verlag, Fr. 26.–

Zhuangzi. Das Buch der daoistischen Weisheit, übersetzt und herausgegeben von Viktor Kalinke. Reclam, Fr. 41.50

Bert Brechts Gedicht Legende von der Ent-stehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration gibt’s in verschiedenen Ausgaben:zum Beispiel in den Anthologien: Deutsche Gedichte, Reclam, Fr. 25.90 (die Ausgabe ist leider nur noch gebunden erhältlich, doch wenn Sie Geduld haben, wird sie gewiss auch wieder in der gelben Universalbibliothek erhältlich sein).

oder auch in: Die besten Deutschen Gedichte, ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki, Insel, Fr. 14.50 (Enthält ein paar meiner Lieblings-gedichte, die bei Reclam nicht enthalten sind: Gryphius’ «Vanitas vanitatum», Rilkes «Panther» oder auch Brechts «Es wechseln die Zeiten».)

Als Sekundärliteratur sei u.a. empfohlen:Wolfgang Bauer: Geschichte der chinesischen Philosophie. C.H. Beck, Fr. 24.–Hans-Georg Möller: In der Mitte des Kreises. Verlag der Weltreligionen/Insel Verlag, Fr. 22.–

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Das für die Schweiz umfangreichste – und immer noch nicht abgeschlos-sene – verlegerische Grossprojekt ist die Herausgabe des Schweizerischen Idiotikons: 1881 erschien im Verlag Huber Frauenfeld die erste Lieferung dieses Wörterbuches, das die Schwei-zer Mundart dokumentiert. Es han-delt sich dabei um ein Projekt ohne Ende, da sich die Mundarten auch stets ändern; fortgeführt wird das Projekt z.Z. noch vom Schwabe Verlag und steht im Band 17 (Z), der in einzelnen Lieferungen erscheint. Doch auch für mich, der ich bald schon fünfzig Jahre im Buchhandel tätig bin, gibt es Grossprojekte, die mich persönlich faszinieren und die für das Bücher-Fass wichtig sind, auch wenn natürlich eine Feld-, Wald- und Wiesenbuchhandlung in der Provinz davon nie leben könnte. Ziemlich genau vor 25 Jahren, am 4. November 1995, durften wir für einen unserer Kunden von Martin Heidegger den Band 38A der Ge-samtausgabe bestellen. Die Bestellung schrieben wir noch mit der Schreib-maschine und behielten für uns einen Durchschlag auf Seidenpapier zurück. Das Original ging per Briefpost an den Verlag Vittorio Klostermann nach

Verlegerische Grossprojekte oder: Literatur verbindet

Giordano Bruno: Welterkenntnisse in DialogenEr fehlt in der oben angepriesenen Philosophiegeschichte, oder genauer: Er taucht immer wieder da und dort auf, doch ist ihm kein eigenes Kapitel gewidmet. Ich meine Giordano Bruno. Der Nolaner wurde von der Inquisition wegen Ketzerei zum Tod verurteilt und starb im Februar 1600 den Flammen-tod. Bruno, der keine theoretischen philosophischen Systeme oder Theo-rien hinterlassen hat, entwickelte seine Welterkenntnisse in Dialogen. Zum Verhängnis wurde ihm, dass er vor der Inquisition daran festhielt, dass das Universum unendlich sei und nicht, wie Johannes Kepler postulierte, un-ermesslich. Der Unterschied mag auf den ersten Blick minim sein, in der Tat jedoch ist er fundamental. Giordano Brunos Werke sind noch heute in ver-schiedenen Ausgaben greifbar; als vor rund zehn Jahren der Meiner Verlag das Aschermittwochsmahl ankün-dete, bestellte ich den Band 2 dieser Gesamtausgabe, der damals schon mit rund achtzig Franken nicht gerade günstig war; Ende 2019 war es so weit und wir durften das auf lesefreund-

Frankfurt am Main. Im Juli dieses Jahres traf nach unglaublich langer Funkstille der Band bei uns ein – und in unserer Zettelkartei befand sich natürlich noch die handschriftliche Bestellung unseres Kunden. Er ist mittlerweile Professor für Philosophie an einer Universität in Frankreich. Wir kannten nur seine Briefadresse und meldeten ihm das freudige Ereignis – und vor wenigen Wochen stand er im Bücher-Fass. Wir schauten uns nur kurz an und wussten sogleich, wer un-ser Gegenüber war. Und unvermittelt standen wir in anregendem Gespräch, wie wenn keine Zeit dazwischen ge-legen hätte.

Noch bevor wir mit unserer Buchand-lung ins Fass an die Webergasse zogen, bestellte ich 1976 für mich aus dem Verlag C.H. Beck den ersten Band der Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Wolfgang Röd. Im Februar 2020 erschien mit Band 14 der letzte Band dieses Projektes. Mittlerweile weiss ich, dass keine Geschichte der Philosophie umfassend ist, auch diese aus dem überaus so-liden und kompetenten Verlagshaus nicht. Dennoch ist diese Philosophie-geschichte empfehlenswert und extrem spannend; spannend zum Beispiel ist nur schon zu beobachten, wie sich die wissenschaftliche Sprache in den vergangenen gut vier Jahrzehnten ver-ändert hat. Und faszinierend ist die stetige Gratwanderung der Autoren, die zwischen akademischem Kauder-welsch und allgemeinverständlicher Plauderei zu balancieren wissen. Ich kenne keine andere Philosophiege-schichte, die gleichzeitig derart hoch differenziert und gleichwohl noch all-gemeinverständlich ist.

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lichem edlen Papier schön gedruckte und in Leinen gebundene Buch im Bücher-Fass in Empfang nehmen. Und mir macht es schon Freude, in der über 300-seitigen römisch nummerierten Einleitung zu lesen. Wer sich über diese extrem span-nende Zeit an der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit intensiver informieren möchte, dem sei von Hans Blumenberg Die Genesis der kopernikanischen Welt und Die Legitimität der Neuzeit, sowie von Alexandre Koyré Von der geschlos-senen Welt zum unendlichen Uni-versum wärmstens anempfohlen.

Hans Blumenberg, © Suhrkamp Verlag

Onetti: leichter lesbar als BorgesZehn lange Jahre mussten die wenigen, doch immer von Neuem begeisterten Leser des 1909 in Montevideo gebo-renen Juan Carlos Onetti warten, bis bei Suhrkamp 2015 der letzte Band der Gesamtausgabe erschien. Onetti darf ohne Zweifel neben Jorge Luis Borges als wichtigster Autor Lateinamerikas des 20. Jahrhunderts bezeichnet wer-den. Anders aber als das Werk des Argentiniers sind die Erzählungen und Romane des Uruguayers leich-ter lesbar. Die Handlungsstränge sind mühelos nachvollziehbar und span-nend erzählt und gründen gleichzeitig in einer existenziellen Tiefe, die einem lange in Erinnerung bleibt. Verdienstvoll ist, dass der Verlag auch wieder Einzelausgaben als BoD (Book on Demand) greifbar macht, zum Beispiel seinen wohl politischsten Roman Für diese Nacht aus dem Jahr 1943. Er handelt in einer Nacht und erzählt davon, wie ein Mann sei-nen ehemaligen Weggefährten und nun politischen Gegnern zu entkom-men versucht – kann man dem politi-schen Irrsinn entfliehen? Ein aktuelles Thema noch heute.

Die Welt der RenaissanceDer Verlag Galiani aus Berlin über-rascht einen immer wieder mit ausser-gewöhnlichen Projekten. Dieses Jahr mit einem Band von Tobias Roth über die Welt der Renaissance. Die Folio-Bände sind nicht gerade preiswert und sie werden wohl, nach-dem sie vergriffen sind, gar richtig teu-er. Gewiss, wer interessiert sich jetzt und heute für Texte der italienischen Renaissance? Wahrscheinlich sind dies nur interessierte Nicht-Fachleute oder dann auch Spezialisten. Und ziemlich sicher kommt das Buch für die Wenig-sten zur richtigen Zeit. Sollte jedoch auch nur einmal ein Gedankenblitz zur italienischen Renaissance Sie im Geringsten elektrisiert haben, dann ist dieser Band das Kompendium der Stunde. Greifen Sie zu!

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Grossartige BuchkunstwerkeKalligraphie und Buchkunst führen zurück zu den handschriftlichen Codices, die vereinzelt bis rund 1600 noch gepflegt wurden. Die Mira Calligraphiae Monumenta gelten als die letzten grossartigen Buchkunstwerke; es gibt davon zwei nahezu identische Ausgaben. Der ältere Schrift-meisterband entstand in den frühen 1560er-Jahren, der jüngere gut zehn Jahre später. Der gebürtige Ungare Georg Bocskay kalligraphierte die beiden Schriftkonvolute in Wien, in den 1590er-Jahren illuminierte Joris Hoefnagel die beiden Exemplare in Frankfurt in stupender künstlerischer Per- fektion. Die beiden Meister haben sich, soweit man heute weiss, nie getroffen. Der ältere Codex befindet sich heute in Malibu, im Paul Getty Museum, der jüngere liegt in der Schatzkammer des Kunsthistorischen Museums Wien. Dem Paul Getty Museum ist es zu verdanken, dass die Handschrift mit den Miniaturen in Originalgrösse all jenen zugänglich ist, die sich für Design, Typografie, Buchkunst und exzellentes Kunsthandwerk interessieren. Neben den hervorragenden Bildreproduktionen enthält das in olivgrünes Leinen gebundene Buch auch einen informativen Textteil.

Mira Calligraphiae Monumenta: Texte von Lee Hendrix, Thea Vignau-Wilberg, Timothy Potts, Thomas Kren. Deutsch 2020. 424 Seiten, 186 Abb., gebunden im Schuber, 14 x 19 cm. Hatje Cantz Verlag, Fr. 99.–Giordano Bruno: Das Aschermittwochsmahl. La Cena de le ceneri. 546 S., Meiner Verlag, Fr. 199.–Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Suhrkamp, Fr. 35.90Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Suhrkamp, Fr. 33.90Alexandre Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. Suhrkamp TB, Fr. 24.50Juan Carlos Onetti: Für diese Nacht. Suhrkamp BOD-Titel, Fr. 20.50Tobias Roth: Welt der Renaissance. Galiani Verlag, Fr. 112.–Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Diogenes, Fr. 37.– Friedrich Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe I-III. Diogenes TB, Fr. 16.–Friedrich Dürrenmatt: Turmbau. Stoffe IV-IX. Diogenes TB, Fr. 16.–

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Dürrenmatt – immer noch taufrischFriedrich Dürrenmatt und Max Frisch wurden in ihren letz-ten Lebensjahren regelmässig als Literaturnobelpreisträger gehandelt, nicht zu Unrecht. Auf der linken Seite der politi-schen Bühne war Frisch meist populärer, nicht zuletzt deshalb, weil er auch zu politischen Themen immer wieder dezidiert Stellung bezogen hat. Anders der Pfarrerssohn Dürrenmatt. Auch er sprachgewaltig und gesellschaftskritisch, doch auf einer nicht parteipolitischen Ebene. Viele seiner Theaterstücke sind zeitlos aktuell und werden immer noch oft gespielt und gelesen. Es gab jedoch eine Zeit, gegen Ende der 60er-Jahre, da schien Dürrenmatts Stern verglüht. F.D. zog sich zurück und schuf nochmals einen neuen Literaturkosmos: 1981 erschienen die Stoffe I–III, keine Autobiografie, aber ein ausuferndes biografisches Nachdenken in einer erzählerischen Dichte und philosophischen Tiefenbohrung, die wohl einzigartig ist in der Schweizer Literatur; kurz vor seinem Tod erschien dann 1990 der Anschlussband, die Stoffe IV–IX. Auf Ende November war eine «Genetische Edition» des Stoffe-Projektes in fünf Bänden angekündigt, die verbunden sein soll mit einer erweiterten Online-Version. Herausgegeben wird das Grossprojekt von Ulrich Weber und Rudolf Probst. Ob es sich um ein Werk handelt, das sich vorwiegend an Ger-manisten wendet, kann ich noch nicht beurteilen, da mir kein Exemplar vorliegt. Der Erscheinungstermin wurde nun kürz-lich auf Ende April 2021 verschoben. Lieferbar sind aber nach wie vor die beiden Taschenbücher – und die lohnen die Lektüre auf jeden Fall. Von einem der beiden Herausgeber, von Ulrich Weber, ist diesen Herbst nochmals eine flüssig zu lesende, vor allem für die späteren Lebensjahre aufschlussreiche Biografie erschie-nen, die man getrost auch nach jener von Peter Rüedi aus dem Jahre 2011 mit Gewinn lesen wird. Auch dreissig Jahre nach seinem Tod ist F.D.s Werk noch taufrisch.

Friedrich Dürrenmatt

© Foto: Kurt Strumpf, ap photo keystone

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Georg Schmidt, 1896 – 1965, war Kunsthistoriker und von 1939 bis 1961 Direk-tor des Basler Kunstmuseums. Sein Buch Kleine Geschichte der modernen Malerei erhielte heute AHV-Pension; es erschien erstmals 1955. Schmidt hielt im Winter 1955 zehn Vorträge im Studio Basel von Radio Beromünster. Dazu stand ihm jeweils eine Viertelstunde zur Verfügung. Das ist schon lange her, doch die Vorträge sind noch frisch wie vor 65 Jahren. Durch die Mündlichkeit des Vortrags, die im Buch erhalten bleibt, folgt man seinen Ausführungen leicht – und vor allem: Man lernt, Kunst zu betrachten. Wer gibt die Farbe und wes-halb, was richten Formen mit uns an, was geschieht mit der Perspektive? Georg Schmidt wählte zehn Bilder zwischen 1850 und 1950 aus und versuchte an ihnen zu zeigen, welche Entwicklungsstufen die Malerei in diesem Zeitraum durch-laufen hat. Er stellt somit auch Fragen, die dem hurtigen Museumsbesucher kaum ins Bewusstsein kommen, weil er oder sie schon beim nächsten Bild ist. Wer sich über Kunstbetrachtung jenseits akademischer Terminologie interessiert, dem empfehle ich dieses schmale Bändchen wärmstens.

Vom 31. Januar dieses Jahres bis zum 2. August zeigte das Kunstmuseum Bern eine Werkschau der 1924 in Nagoya geborenen japanisch-schweizerischen Künst-lerin Teruko Yokoi. Ich wünschte Ihnen, diese Ausstellung gesehen zu haben – mir selber blieben nur die beiden zur Zeit lieferbaren Kataloge. Und diese schon sind sensationell. Das 1957 entstandene Bild «Spätherbst» zum Beispiel verweist auf eine moderne Form- und Farbensprache, die in ihrer ausgewogenen Komposition von vorwiegend sandgrau, rotbraun und braunschwarz als zeitlos schön bezeich-net werden kann und zugleich weder rational noch figürlich nachzuvollziehen ist. Dennoch assoziiert man mühelos die Farbkomposition mit der Vorstellung einer Herbstlandschaft. Die Japanerin schaffte einen einzigartigen Kosmos von Farbe und Form – und die Bildbetrachtungen gewinnen an Schärfentiefe mit Georg Schmidts Vorträgen. Teruko Yokoi starb am 28. Oktober 2020.

Georg Schmidt: Kleine Geschichte der Modernen Malerei. Friedrich Reinhardt Verlag, Basel, Fr. 16.80 Teruko Yokoi: Tokyo – New York – Paris – Bern. Ausstellungskatalog Kunst-museum Bern, Hatje Cantz, Fr. 52.–Teruko Yokoi: Schnee Mond Blumen; 2009, Galerie Kornfeld, Fr. 50.–Teruko Yokoi: Schnee Mond Blumen II; 2012, Galerie Kornfeld, Fr. 50.–Michael Baumgartner: Paul Klee, August Macke, Louis Moilliet. Die Tunisreise 1914. Ausstellungskatalog im Zentrum Paul Klee 2014, Fr. 42.–Wilhelm Hausenstein: Kairuan. Klinkhardt & Biermann, Fr. 34.90

Das Schöne und die Kunst

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Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet unternahmen 1914 eine Reise, die als «Tunisreise» in die Kunstge-schichte eingegangen ist und bald zu einem Mythos über die Entstehung der Moderne wurde. Sicher ist, dass die far-benfrohen Aquarelle und Gemälde vor allem von Macke, der wenige Monate nach der Reise im Ersten Weltkrieg gefallen ist, zunehmend auch abstrak-tere Formen annahmen. Im Vergleich zum Kubismus von Picasso und Braque oder zum Suprematismus von Male-witsch kann man die Werke der Tunis-reise jedoch kaum als avantgardistisch bezeichnen. Für Klee bedeutete die Reise eine Abkehr vom Zeichner und Grafiker, die Farbe hatte ihn in Besitz genommen. Die Tunisreise war für die drei Malerfreunde wohl auch eine Reise zu einer Selbstverwirklichung und In-spiration.

Untitled, 1957 © Foto: Teruko Yokoi

Der Kunsthistoriker Wilhelm Hausenstein publi-zierte schon 1921 dazu eine Verklärung Klees zum «Orientalisten»: Kairuan. Eine Geschichte vom Maler Klee. Zwar nähert sich der Autor dem Künstler für heutige Ohren reichlich schwülstig und abgehoben an, aber im historischen Kontext ist das Buch doch spannend und erhellend zu lesen.

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Zwei Tage später stand ich frühmorgens an der Youhao-Street gegenüber dem Hong Shan Park und wartete auf den täglichen Bus, der mich zum Tian Chi-Lake bringen sollte – damals noch ein selten besuchtes Juwel in den östlichen Ausläufern des Tian-Shan-Gebirges. Als wir ankamen, war der Himmel bedeckt und der in undefinierbarem Grau vor mir liegende Gebirgssee, et-was grösser als der Silsersee, war glatt und nahe dem Himmel. Kaum ausge-stiegen, preschten ein paar Kasachen auf Pferden heran und bestürmten mich, in einer ihrer Jurten am gegenü-berliegenden Ufer zu übernachten. Ein Trekking-Guidebook beschrieb ziemlich vage einen Fünftagestrip, der über Sommerweidegründe am über 5400 Meter hohen Bogda Shan vorbei in ein weiteres Tal führen würde. Mit meinen Gastgebern kam ich überein, dass einer der Söhne mich als Führer auf diesem Trekking begleiten würde; wir vereinbarten dafür die damals hor-rende Summe von 300 US Dollars. Die Familie besorgte Proviant und zwei Pferde und am andern Tag bra-chen der etwa 14-jährige Junge und ich auf. Das Wetter war uns wohl gewogen: wolkenlos und tiefblau der Himmel, blau der See und gleissend der Firn der vergletscherten Berge. Wir folgten zuerst dem Seeufer und stiegen dann auf einem Saumpfad durch einen Fichtenwald bergan. Nach der kurzen Mittagsrast sammelten wir noch etwas Holz für die kommenden Tage. Bald liessen wir die Baumgrenze hinter uns und erreichten gegen Abend einen flachen steinigen Platz. «Sleep» sagte er. Es war frisch geworden und von der etwa dreihundert Meter entfernten

Es war in den letzten Tagen im Mai 1991, als ich endlich Ürümtschi er-reichte. Die Busfahrt von Turfan war weniger beschwerlich als ich vermutet hatte und blieb mir dennoch nachhal-tig in Erinnerung: Unterwegs konnte man während eines beträchtlichen Teil- stücks Arbeiter und Arbeiterinnen be-obachten, die unter einer sengenden Sonne mit Schaufel, Pickel und Schub-karre einen neuen Highway bauten. Kein Baum, kein Schatten weit und breit, dafür immer wieder Soldaten. Verbüssten hier Gefangene ihre Strafe als Fronarbeiter? Gar politische Ge-fangene? Ich wusste es nicht. Die Land-schaft, die wir mit dem klapprigen Bus durchquerten, kümmerte das alles we-nig, sie war nur grandios: lauter Nichts, nur Sand, Geröll und Wüste und je näher wir dem Ziel kamen, im fernen Dunst: Berge.

Von der Hauptstadt Xinjiangs sind nur Schemen im Gedächtnis haften geblieben, einzig das Vierbettzimmer im Hong Shan Binguan werde ich nie mehr vergessen. Ich teilte es mit einem uigurischen Lastwagenfahrer, mein Bett stand zum Fenster hin, seines zur Tür. Als ich den karg eingerichteten Raum betrat, stand die Sonne schon tief, die letzten Strahlen fielen durch das Geäst einiger Bäume im nahe ge-legenen Park. Der Uigure war dabei, seinen Gebetsteppich auszurollen.

Gletscherzunge wehte ein kühler Wind.Der Junge sattelte ab und band die Pferde um zwei mächtige Steine. Dann entfachten wir mit dem Holz, das wir mitgebracht hatten, ein Feuer und setz-ten Wasser für Tee auf. Kaum blubber-te es im Pfännchen, machte der Junge das Feuer wieder aus: «Wood later», offensichtlich sollten wir sparsam mit dem Holz umgehen. Wir legten unser Nachtlager aus – er eine Wolldecke, ich ein kurzes Hartgummimätteli und den Schlafsack – und mit funkelnden Ster-nen am Firmament hofften wir beide, eine kalte und unbequeme Nacht gut zu überstehen. Es war ungefähr ein Uhr morgens, als mich der Junge weckte: «Horse» sagte er leise. Und nochmals: «Horse». Ich blickte zu den Steinen, wo unsere Pferde angepflockt waren. Da war kei-nes mehr zu sehen. Im Nu waren wir in den Kleidern und liefen auf das Tal zu, von welchem wir aufgestiegen wa-ren. Der Mond war fast voll und warf genügend Licht ins Tal, so dass wir die Taschenlampen nicht brauchten. Aus der Ferne vernahmen wir ein leises, hohes Wiehern und der Junge erspähte wenige Momente später auf der linken Talseite die beiden grasenden Pferde; sie waren schon wieder nahe der Baum-grenze, ziemlich weit unten: «Go» hiess er mich und zeigte ins Tal. Ganz kurz dachte ich an das Taschenbuch von Bruce Chatwin, das ich vor einigen Wochen in Hongkong gekauft hatte:

Am Himmelssee, nahe der göttlichen Bergspitze – auch eine Weihnachtsgeschichte

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What Am I Doing Here. Ich eilte das Tal hinunter und er umging die Pferde hangwärts. Der Plan des Jun-gen ging auf; ruhig trieb er die Tiere in den Talgrund, wo wir sie einfangen konnten. Meine Finger waren klamm und gefühllos geworden. Drei Stunden später waren wir wieder bei unserem Schlafplatz. Wir hobbelten die Pferde und banden sie zusätzlich an einem der grossen Steinbrocken fest. Dann legten wir uns durchfroren hin und schlum-merten nochmals zwei Stunden – über uns hatten wir eine Pferdeschabracke geworfen, um das bisschen Wärme zu-sammenzuhalten. Am etwas helleren Horizont machte sich im Osten zaghaft der Morgen be-merkbar. Der Junge hatte schon Feuer gemacht und Wasser aufgesetzt. Gerne hätte ich nach dem Frühstück über den Flammen noch ein wenig die Hände gewärmt, doch der Junge drängte zum Aufbruch. «Walk two days, no sleep.» Und ich begann zu ahnen, dass er für diesen Tag zwei Tagesetappen vorsah. Nach ein paar hundert Metern be-gann das Schneefeld. Die Sonne stieg auf, doch es blieb immer noch kalt. Ich reichte dem Jungen einen meiner Handschuhe. Und wir stapften schwei-gend weiter. Knie-, zuweilen hüfttief war der Schnee, dann machten die Pferde hohe, weite Sätze. Einmal scheu-ten sie plötzlich und wir vernahmen ein Glucksen. Da wir keine Ahnung hatten, wie tief das Wasser sein würde, zogen wir Schuhe und Socken aus, um

sie trocken zu halten; dann wateten wir barfuss durch den zum Teil mit Schnee bedeckten eisigen Bach; ohne Angst folgten die Pferde hinten nach. Die Sonne stand schon hoch, als der Junge fragte: «Time?» Ich zeigte ihm meine Uhr und er sagte: «Lunch». Er öffnete im Weitergehen seine Sattelta-sche und brachte etwas Brot und Käse zum Vorschein; von Rast keine Anzei-chen. Bald danach erreichten wir ein Plateau, südlich begrenzt von einem hohen Massiv, von dem ich annahm, dass es sich um den Bogda Feng, die göttliche Bergspitze handeln musste. Nordwärts deuteten sich drei mögliche Passübergänge an. Der Junge steuerte mit grosser Sicherheit auf den am ent-ferntesten gelegenen zu. Mir war rätsel-haft, wie er sich im grossen Weiss ori-entieren konnte.

Wo Maria den Josef küsst. Schaffhauser Weihnachtsgeschichten, hg. von Richard Kölliker. TVZ Verlag, Fr. 22.–Adventskarten-Set von Kooni und dem Förderverein der Rechts-beratungsstelle für Asylsuchende und Ausländer*innen, Fr. 50.–

Plötzlich deutete mir der Junge anzu-halten, er hatte frische Spuren von Rin-dern, Schafen und Pferden entdeckt. «Wait». Er reichte mir das Leitseil sei-nes Pferdes und verschwand im Ge-büsch. Nach einer halben Stude kehrte er zurück: «Good people». Wenig später wies er mir den schönsten Nachtplatz zu, den ich kenne. Der Blick ins Tal war weit, der Boden weich und das Abendlicht golden und mild. Der Jun-ge verschwand zu den Hirten, die mir verborgen blieben. Ich ass nochmals et-was Brot, Tee dazu. Und kaum war der Abendstern aufgegangen, fiel ich, im Vertrauen auf den Jungen, sogleich in tiefen Schlaf. Zum Frühstück brachte er mir eine Schale Milchreis und eine Tasse Kaffee, dann brachen wir auf. Nach einem weiteren sehr langen Tag erreichten wir zwei Tage zu früh das Jurtencamp der verwandten kasachi-schen Familie. Sie wussten nicht, dass wir kommen würden. Freundlich wur-den wir aufgenommen und ich erhielt auf der Männerseite der Jurte, links vom Eingang, einen Schlafplatz.

Was aus dem Jungen geworden ist, weiss ich nicht; ich bin ihm aber zeit-lebens dankbar, dass er mich heil über die Berge gebracht hat. Nicht immer ist einem das Glück gewogen, doch wenn das Schicksal uns gut gesinnt ist, kommt es einem als Geschenk entgegen: wie Weihnachten.

Am Himmelssee, nahe der göttlichen Bergspitze – auch eine Weihnachtsgeschichte

Weitere weihnächtliche Geschichten finden Sie im soeben erschienenen Buch Wo Maria den Josef küsst. Schaff-hauser Weihnachtsgeschichten. Die von Richard Kölliker herausgegebenen Weihnachtsgeschichten von 27 Schaffhauser Autorinnen und Autoren sind illustriert von der Schaffhauser Künstlerin KOONI (Lea Wäckerlin).

Vor 24 Jahren gegründet, unterstützt der Förderverein der Schaffhauser Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende und Ausländer*innen, diese Beratungsstelle, die heute dem SAH angegliedert ist. Mit dem Adventskarten-Set der Künstlerin KOONI unterstützen Sie zu hundert Prozent die Vereinsarbeit. Das schön verpackte Set erhalten Sie im Bücher-Fass, bei ‹Lieblings› und ‹Roost Augenoptik›.

Endlich standen wir auf der Passhöhe, noch immer im Schnee. Der Blick öff-nete sich auf ein Tal, das weiter unten bewaldet und grün vor uns lag. Nach zehnstündigem Marsch ohne Halt lies-sen wir die Schneewüste hinter uns; es wurde wärmer und ein herrlicher Berg-frühling liess die Strapazen verblassen.

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Die zwei hellenistischen Literaturgiganten aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. vermögen nur noch richtige Spezialisten hinter dem Ofen hervorzulocken. Sollten Sie allerdings ein-mal das kulturelle und landschaftliche Kleinod Georgien am südlichen Fuss des Grossen Kaukasus besuchen, werden Sie in der alten Hafenstadt Batumi, am Schwarzen Meer gelegen, immer wieder Jason und Medea, der Argo und dem goldene Vlies des Widders oder dann auch Ali und Nino begegnen: Batumi ist nicht nur ein Schmelztiegel, wo Antike und Moderne, sondern auch Islam und Christen-tum sich vermengen.

Die Fahrt der Argonauten des Apollonios ist ein Helden-epos wie die Ilias und die Odyssee von Homer; mit rund 6100 Versen nicht ganz so umfangreich und auch nicht ganz so eine runde Geschichte wie die um rund ein halbes Jahrtausend älteren Vorlagen. Das Buch gliedert sich in vier grosse Kapitel, wobei die ersten beiden die Vorgeschichte und die Fahrt nach Kolchis zum Thema haben, das dritte den Raub des goldenen Vlies’ und das vierte die ebenfalls abenteuerliche Rückkehr. Wie schon angetönt, überzeugt die Argonautica nicht ganz, da der Autor zwar ein heraus-ragender Meister von Miniaturen ist, es ihm aber nicht ganz gelingt, die Geschichte als Einheit zu formen. Kallimachos hingegen setzte auf die kleineren Formen und überzeugte durch stringente Komposition des gewählten Stoffes und vollendete sprachliche Form.

Blätter aus dem Erinnerungsspeicher I

Apollonios von Rhodos und Kallimachos

Apollonios von Rhodos: Die Fahrt der Argonauten. Reclam Verlag, Fr. 22.90Kallimachos: Werke (altgriechisch/deutsch); wbg academic, Fr. 107.–Andrea Marcolongo: Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen. Was uns die Argonautensage erzählt. Folio Verlag, Fr. 29.50Stephen Fry: Helden. Die klassischen Sagen der Antike. Aufbau Verlag, Fr. 33.40

Helden sind suspekt geworden. Die 1987 in Crema/Italien geborene Andrea Marcolongo, die vor zwei Jahren schon mit ihrem Buch Warum Altgriechisch genial ist nicht nur viel Anerkennung erhalten hatte, sondern auch einen veri-tablen Bestseller vorlegte, versucht in ihrem neuen Buch Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen eine Re-habilitation des Helden. Sie liest dazu die Argonautensage neu und interpretiert sie für die heutige Zeit. Das gelingt ihr in meinen Augen wirklich gut, weil sie nicht einfach der alten Geschichte eine moralische Überzeugung überstülpt oder andichtet, sondern aufgrund philologischer und histo-rischer Kenntnis den Leser zu überzeugen versucht, dass es immer wieder von Neuem Mut braucht, eingefahrene All-tagssituationen zu überwinden und aufzubrechen nach un-bekannten Gestaden.

Grossartig unterhaltend zu lesen – auch ohne jegliche Vorbil-dung – ist Stephen Frys neustes Buch Helden. Die klassi-schen Sagen der Antike neu erzählt. Dem englischen Schriftsteller, Schauspieler, Moderator und Tausendsassa gelingt es mirakulös, diese wegen der zahllosen Verwandt-schaft von Göttern, Halbgöttern und Normalsterblichen oft komplizierten Geschichten aufs Wesentliche zu verein-fachen und im besten Sinne unterhaltsam nachzuerzählen. Das lateinische Diktum prodesse et delectare, das auf Horaz zurückgeht und schlicht belehren und erfreuen meint, passt in diesem Fall aufs Beste. Natürlich gehört zu diesen Helden-geschichten auch jene von Jason und der Argo.

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Blätter aus dem Erinnerungsspeicher II

Roger Bacon, der Franziskanerorden und das Haus Plantagenet

25 Jahre bevor die wackeren Mannen von Uri, Schwyz und Unterwalden sich auf dem Rütli in einem Bund gegen Habs-burg verschworen, teilte Papst Clemens IV dem Franziska-nermönch Roger Bacon mit, er möge das ihm noch vor seiner Papstwahl skizzierte Werk zügig in Angriff nehmen – und so entstanden zwischen 1266–1268 drei frühe wegweisende Werke: Das opus maius, das opus minus und das opus tertium. Nach dem Tod des Papstes 1268 wurde es still um den Gelehrten, der in Paris und Oxford studiert hatte. Er geriet innerhalb seines Ordens seiner Ideen wegen unter Druck. Bacon vertrat die Ansicht, dass die Kenntnisse des Griechischen, Lateinischen oder Hebräischen unabdingbar seien, um die alten Schriften, sei es nun die Bibel oder die Philosophen der Antike, zu begreifen. Im Weiteren ging er davon aus, dass es eine naturhaft gegebene Logik gebe und auch eine natürliche Erkenntnis: «Ohne Erfahrung kann nichts in hinreichender Weise gewusst werden.» Die zweisprachige Ausgabe des Opus tertium bei Meiner, die von Nikolaus Egel herausgegeben, übersetzt und betreut wurde, hilft den heutigen Lesern wie gewohnt mit kenntnisreichen und erhellenden Kommentaren.

Jörg Lausters Die Verzauberung der Welt möchte ich als wertvolle und ergänzende Lektüre empfehlen. Lauster ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilo-sophie in Marburg und sein Buch ist als Kulturgeschichte des Christentums universeller gefasst. Es ist äusserst span-nend zu verfolgen, wie verschieden der Theologe und der Philosoph die Schwerpunkte setzen; so wird Roger Bacon bei Lauster mit nur einem Satz erwähnt, dafür erfährt man viel, was bei Egels Bacon-Band nur angetippt wird: eine gut verständliche Einführung zu Thomas von Aquin und die Scholastik. Wer sich für die mannigfaltigen kulturel-len Leistungen – im Positiven wie auch Negativen – des Christentums interessiert, der findet bei Lauster eine elegant geschriebene Gesamtschau.

Das Britische Königreich verdankt dem französischen Ge-schlecht der Plantagenets mehr, als die meisten Festland-europäer vermuten. Den Namen trug offiziell nur einer: Gottfried, Graf von Anjou. Er sei rothaarig, streitlustig und gutaussehend gewesen und habe oft am Helm einen Zweig mit gelb leuchtendem Ginster (planta genista) getragen. Seinen Schild schmückten zwei schreitende Löwen, die sich dem Betrachter zuwenden – in der Heraldik spricht man dann eigentlich von Leoparden. Seit seinem Enkel Richard Löwenherz sind es drei Löwen/Leoparden, die das englische Königshaus noch heute zieren. Der schöne Gottfried, wie er auch genannt wurde, heira-tete die deutsche Kaiserin Mathilde; aus dieser Ehe gingen drei Söhne hervor. Einer von ihnen war der spätere König Heinrich II, der sich mit Eleonore von Aquitanien ver-mählte (vgl. Weihnachtsbrief vom vergangenen Jahr). Die Dynastie der Plantagenets herrschte länger über Britannien als alle nachfolgenden; ihre Geschichte ist gezeichnet von List und Verrat, von Kunstsinn und Weitsicht; so geht die Magna Charta, die als frühester Baustein von demokra-tisch-freiheitlichen Spielregeln gilt, auf die turbulente und blutige Zeit von Johann ohne Land zurück. Der Brite Dan Jones studierte Geschichte und arbeitet als Journalist, Autor und Fernsehproduzent zu historischen Themen. Das spannend und süffig zu lesende Buch Spiel der Könige. Das Haus Plantagenet und der lange Kampf um Englands Thron erschien in Englisch erstmals 2012.

Darstellung Gottfrieds V. von Anjou auf der Grabplatte seines Grabes in der Kathedrale von Le Mans

Roger Bacon: Opus tertium, lateinisch-deutsch; Meiner Verlag, Fr. 207.–Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums. C.H. Beck Verlag, Fr. 45.90; neu auch als Taschenbuch bei dtv, Fr. 25.90Dan Jones: Spiel der Könige. Das Haus Plantagenet und der lange Kampf um Englands Thron. C.H. Beck Verlag, Fr. 41.50Geschichte der Philosophie Bd. V – Theo Kobusch: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters. C.H. Beck Verlag, Fr. 42.90

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Kleine literarische Preziosen

Es gibt sie immer noch und immer wieder von Neuem: die waghalsigen Verlegerinnen und Verleger, die handwerklich schön produzierte kleine literarische Perlen verlegen. Die Chan-cen, dass diese im schnelllebigen Buchhandel überhaupt nur ankommen, sind oft gering. Und es sind Texte, die am POS, am Point of Sale, wie es im Buchmarketing heisst, nie zu finden sind. Selbst im Bücher-Fass suchen wir für diese Preziosen immer wieder ein Plätzchen, wo im-merhin wir sie finden, wenn sie denn genau für einen Kundenwunsch passend erscheinen. Spezialisiert auf solche Perlen sind zum Bei-spiel die Friedenauer Presse, die Edition Howeg, der Haymon Verlag und einige weitere Kleinst-verlage. Wagen Sie eine Kleinigkeit und lassen Sie sich verführen, zum Beispiel von:

Robert Macfarlane, Stanley Donwood & Dan Richards erinnern sich in der fadengehefteten Broschur Hohlweg an ihren viel zu früh ver-storbenen Freund und Schriftstellerkollegen Roger Deakin. Das 42 Seiten starke Bändchen ist ein Meisterstück der Naturbeobachtung. Die Autoren begeben sich nach Dorset ins Chideok Valley, wo sie der Geschichte eines ganz bestimmten Hohlweges nachgehen. Sie werden sich nach den ersten zwei, drei Zeilen schon an eine andere hohle Gasse erinnern, die Sie aus der Schweizer Geschichte kennen. Es ist aber auch eine Hommage an einen verlorenen Freund, mit dem die Autoren durch die Erleb-nisse in der Natur verbunden sind.

Der Österreicher Gerd Jaschke und Martin Schweizer aus Schaffhausen überraschten im vergangenen Jahr mit einem schmalen Bänd-chen in der Edition Howeg: Anderswo in Tokio. Die beiden sind seit langem befreundet und gehören zu einem Kreis von Literaten, die gar nie auf schnöde Publikumsgunst schielen. Vergnüglich sind ihre Texte alleweil, wenn man bereit ist, sich auf sie einzulassen:

Für einen Eintrag im 21-bändigen Kindler Literaturlexikon reichte es nicht und er fehlt auch in durchschnittlichen englischen Litera-turgeschichten; in der grossen Brockhaus Enzy-klopädie (24 Bände) allerdings findet man ein paar dürre Angaben: John Clare, geboren 1793 als Sohn eines Landarbeiters, verfasste vor allem bäuerliche Naturlyrik, verbrachte die letzten 23 Lebensjahre in einer Nervenheilanstalt. Esther Kinsky, die 2018 im Rahmen der Schaffhauser Buchwoche den schottischen Klassiker Lied vom Abendrot vorgestellt hat, ist es zu ver-danken, dass uns die kurzen autobiografischen Prosaskizzen aus dem Leben dieses Aussen- seiters – einmal mehr treffend übersetzt – vor-liegen. Clare war ein Exzentriker, der mit einem Gedichtband in der Londoner Gesellschaft wie eine Sternschnuppe aufleuchtete und dann erlosch.

Im Haymon Verlag aus Innsbruck/Wien er-scheinen unregelmässig fadengeheftete Bro-schuren, literarische Kostbarkeiten. Xaver Bayers Erzählung Atlas etwa, eine äusserst skurrile Geschichte eines Landstreichers, der aus der Stadt in die Wälder floh, als ein paar Jugendliche ihn anzünden wollten. In einer ver-fallenen Kapelle fand er Unterschlupf und rich-tete sich im Beichtstuhl ein gemütliches Lager ein. Da tauchte, nach einigen Monaten, plötz-lich ein breitschultriger Mann auf und nahm auf der Sünderseite im Beichtstuhl Platz ... Oder die Vermischte Erinnerung des früh verstorbenen Paul Fröhlich mit einer ver-störenden autobiografisch grundierten Erzäh-lung aus einem gottverlassenen Berghof wohl in der Nähe des Brennerpasses. Ein Text der unter die Haut geht wie jene des etwas jüngeren Döblin- und Büchner-Preisträgers Josef Wink-ler. Und zum 75. Geburtstag legte diesen Herbst der Verlag eine der schönsten Geschichten von Klaus Merz vor: Im Schläfengebiet, eine Er-zählung, die früher schon im Band Am Fuss des Kamels zu lesen war.Etwas Gutes für die Welt,

das gefälltmir sehr da mehr Meerplus Letternkehrvorm Verzehr, lieber M.,meint Dein G.

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Robert Macfarlane: Hohlweg. Verlag Friedenauer Presse, Fr. 21.50Gerhard Jaschke/Martin Schweizer: Anderswo in Tokio. Edition Howeg, Fr. 18.– John Clare: Raunen des Windes und bebende Distel. Verlag Golden Luft, Fr. 25.50Xaver Bayer: Atlas. Haymon Verlag, Fr. 24.–Paul Fröhlich: Vermischte Erinnerung. Haymon Verlag, Fr. 24.70Klaus Merz: Im Schläfengebiet. Haymon Verlag, Fr. 24.90Albert Vinzens: Tod durch Granit. Verlag Aquinarte, Fr. 25.50Gonçalo M. Tavares: Herr Valéry und die Logik. Edition Korrespondenzen, Fr. 21.50Patrick Leigh Fermor:– Flugs in die Post. Ein abenteuerliches Leben in Briefen. Dörlemann, Fr. 52.–– Die Entführung des Generals. Dörlemann, Fr. 34.–

Für literaturaffine Bergsteiger, aber auch nur für Literaturliebhaber, er-schien schon 1986 eine autobiografische Skizze des in den Schweizer Alpen aufgewachsenen Albert Vinzens: Tod durch Granit. 1980 un-ternimmt der Autor mit einem zufällig angetroffenen Extremkletterer eine Tour im Yosemite Nationalpark. Ihr Plan: Durchklettern der tau-send Meter langen, senkrechten und überhängenden Granitwand des El Capitan. Kurz vor dem Ziel stürzt der neu gewonnene Freund und ver-unglückt tödlich. Es ist atemberaubend, wie Vinzens wenige Momente und Ereignisse isoliert und so verdichtet, dass sie einen direkt berühren.

Gonçalo M. Tavares ist im deutschsprachigen Raum weitgehend unbe-kannt; da hilft auch nicht, dass der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago ihm ebenfalls einen Sitz im Literaturolymp vorhersagt. Sein neustes Projekt besteht aus der Besiedelung eines imaginären Stadtvier-tels, wo namhafte Literaten zuhause sind, Herr Valéry zum Beispiel. Natürlich handelt es sich nicht eins zu eins um Paul Valéry, den bedeu-tenden Lyriker, Essayisten und Philosophen, Tavares aber verleiht seinen Figuren doch so viele Eigenschaften, dass sie sich wohl selber im Text erkennen würden. Die Bändchen sind treffend von Rachel Caiano illus-triert und ein intellektuelles, humorvolles Amuse-Gueule.

Solch mundgerechte Apéro-Häppchen servieren zuweilen die Verlage auch ihren Buchhändlerinnen und Buchhändlern. Die Verlegerin Sabine Dörlemann liess uns zum Jahreswechsel ’19/’20 ein schönes Pappbänd-chen mit Briefen von Patrick Leigh Fermor zukommen, um uns den Gaumen zu kitzeln. Dieses Bändchen können wir Ihnen leider nicht ver-kaufen, dafür aber den fertigen Briefband – und wenn Sie weder Briefe noch Reiseberichte gerne lesen, so packt Sie vielleicht seine Bericht- erstattung, worin er schildert, wie er zusammen mit Partisanen im letzten Kriegsjahr auf Kreta den Nazi-Generalmajor Kreipe entführte. Kurz: Lesen Sie Patrick Leigh Fermor.

Patrick Leigh Fermor, © Dörlemann Verlag

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Fabrizio Silei/Maurizio A.C. Quarello: Der Bus von Rosa Parks. Verlag Jacoby & Stuart, Fr. 19.90Mona Horncastle: Josephine Baker. Weltstar, Freiheitskämpferin, Ikone. Molden Verlag, Fr. 38.50Zora Neale Hurston: Barracoon. Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven. Penguin Verlag, Fr. 28.90Nancy Cunard’s Negro; hg. von Karl Bruckmaier. kursbuch edition, Fr. 34.20

Der Bus No 2857 oder eine Lektion über Rassismus

und Zivilcourage

Die 2013 entstandene Bewegung Black Lives Matter, die nach der Tötung von George Floyd durch weisse Polizisten im vergangenen Mai auch ausserhalb der USA wieder mächtigen Schub erhalten hat, macht einmal mehr deutlich, dass zivilisatorische Errungenschaften wie die Überwindung von Rassismus oder auch die gesellschaftliche Übereinkunft, dass demokratische Herrschaftsformen ver-nünftig sind, keineswegs auch nur annä-hernd gesicherte Werte sind. Die Literatur dazu ist Legion.

Am 1. Dezember 1955 bestieg Rosa Parks den Bus No 2857 in Montgomery; die 42-jährige Farbige wählte einen der Sitze im Bus, den Schwarze nur dann benut-zen durften, wenn keine Weissen diesen beanspruchten. Ein paar Stationen später stiegen Weisse zu und Rosa Parks wurde aufgefordert, diesen Platz zu machen. Sie sagte: Nein. Der Buschauffeur holte die Polizei und in Handschellen wurde Parks abgeführt. Martin Luther King setzte sich für sie ein und für ein Jahr boykottierten die Farbigen die Buslinien. Im November 1956 entschied das oberste Gericht der USA, dass eine Segregation in den Bussen verfassungswidrig sei. Rosa Parks wurde zu einer der bekanntesten Kämpferinnen gegen Rassismus. Fabrizio Silei und Maurizio A.C. Quarello adaptierten diese Geschichte schon 2011 zu einem eindrücklichen Bilderbuch. Grossvater und Enkel Ben unternehmen eine Reise ins Henry Ford Museum in der Nähe von Detroit. Sie würden nur ein Ausstellungsstück besu-chen, meinte er, aber zu diesem möch-te er ihm eine Geschichte erzählen: Vor dem renovierten Bus No 2857 blieben sie

stehen und der Grossvater erzählte von Mitgliedern des Ku Klux Klan, die einen seiner Arbeitskollegen beinahe zu Tode geprügelt hatten, und er erzählte davon, wie er mit Rosa Parks im Bus sass und sich nicht für sie gewehrt hatte, als sie laut und deutlich NEIN sagte. Und er sagte auch, dass er sich immer noch schäme, dieser mutigen Frau nicht beigestanden zu sein.

Rosa Parks nahm am Marsch nach Washington am 28. August 1963 teil. Sie wollte sich, wie 250'000 andere Teil-nehmende, Martin Luther Kings Rede «I have a dream» anhören, die als einer der Höhepunkte der schwarzen Bürgerrechts-bewegung in den USA gilt. Ob sie damals auch Josephine Bakers Rede hörte, ist nicht verbürgt. «Farbige sind nicht genötigt, zu provozieren: Die Zwischenfälle ereignen sich ganz von alleine.» Das meinte Josephine Baker bei einer anderen Gelegenheit und sie wusste von klein auf, wovon sie sprach. Sie wurde 1906 in St. Louis, Missouri, in eine maus-arme Familie hineingeboren. Als Kind schon wusste sie, dass sie Tänzerin wer-den möchte und fand als Jugendliche den Weg nach New York. Dort wurde sie als Chorus-Girl von einem Talentsucher entdeckt und erhielt ein Engagement in Paris, wo ihre steile Karriere begann. Hier im prüderen Mitteleuropa wurde Josephine Baker ziemlich reduziert wahr-genommen und im Boulevard gefeiert: als schwarzer Megastar aus dem verruchten Folies-Bergère-Kabarett, der sich immer wieder auch barbusig ablichten liess. Mona Horncastle hat der schwarzen Künstlerin eine süffig zu lesende Biogra-fie gewidmet, die auch mit Anekdoten nicht geizt, wie jener z.B., wo sie mit Le

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Corbusier während der Überfahrt von Rio de Janeiro nach Europa auf einem Masken-ball herumalbert. Eine Biografie zudem, die zeigt, dass die erste Hälfte des letztes Jahrhundert neben kaum auszuhaltendem Elend eben auch schillernd-hedonistische Seiten hatte.

Zora Neale Hurston ist eine Generation älter als Rosa Parks und wurde wie diese in einer der Reden beim Lincoln Memorial in Washington D.C. 1963 als Vorkämpferin geehrt. Die Schriftstellerin verfasste schon 1928 eine Biografie des letzten bekannten amerikanischen Sklaven, der 1860 mit dem Sklavenschiff Clotilda in die USA gebracht wurde. Eigentlich handelt es sich um die Autobiografie von Cudjo Lewis, der als 86-Jähriger der Autorin seine Geschichte erzählt hat. Die Autorin hat der münd-lichen Erzählung eine schriftliche Form gegeben; diese reisst einen derart mit, dass man glaubt, man sei mit einer Zeitma-schine ins 19. und frühe 20. Jahrhundert zurückversetzt worden. Und man erfährt ganz plastisch, was Rassismus bedeutet. Das Buch wurde in den USA 90 Jahre nach Entstehen publiziert, nun liegt es auch auf Deutsch vor.

Als Hitler 1940 London bombardieren liess, ging auch ein Lagerhaus in Flammen auf, in welchem ein noch beträchtlicher Teil der ersten Auflage eines umfang-reichen Buches ein Raub der Flammen

wurde: Negro, eine Anthologie schwarzer Künstlerinnen und Künstler, zusammen-gestellt von Nancy Cunard. Sie war eine steinreiche Nachfahrin des legendären kanadischen Reeders Cunard, dessen er-stes Schiff 1840 zwischen Europa und Amerika verkehrte. Sie verkehrte in den besten Kreise, war Muse und Gespielin von Aldous Huxley und Louis Aragon und lernte 1926 in Venedig einen schwarzen Jazzpianisten kennen; durch ihn vertiefte sie sich in die afrikanischen Kulturen – Musik, Literatur, Kunst – woraus dann 1934 das umfangreiche Werk «Negro» entstanden ist, das zwar von einigen be-kannten Autoren gerühmt wurde, dennoch aber immer unter dem Schwellenwert zum Geheimtipp blieb. Cunard lebte als von et-lichen Süchten getriebene Aktivistin und engagierte sich bis zu ihrem Tod 1965 in Paris stets für die Entrechteten. Eine kleine Auswahl der Texte aus Negro, darunter auch einige von Zora Neale Hurston, sind in diesem Frühjahr auf Deutsch erschienen und dokumentie-ren die vielfältigen Strömungen farbiger Musiker und Autorinnen der ersten Hälfe des vergangenen Jahrhunderts.

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Geografie der SchweizManch einer, der die Schweiz auf Schusters Rappen erkundet, sie mit dem Auto schnell durchquert oder sie gar aus der Luft betrachtet, fragt sich, wie denn das Relief unseres Landes entstanden ist und welche Kräfte dahinterstecken.

Der ehemalige Schaffhauser Regierungsrat Herbert Bühl, Dipl. Natw. ETH, mit langjähriger Erfahrung als Geologe und Umweltplaner, publizierte dazu im renommierten Verlag Paul Haupt diesen Sommer ein Referenzwerk. Die Geologie erfuhr in den vergangenen Jahrzehnten einen Wissenschaftsschub, der die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft derart akademisierte, dass Laien kaum mehr Zugang hatten.

Herbert Bühl gelang mit seinem Buch der Spagat, wissenschaftliche Forschung mit naturwissenschaftlichem Gwunder eines Nichtakademikers zu vereinen. Konsequent orientiert sich der Autor stets an seinem Thema: dem Relief der Landschaft. Und dieses kann jede und jeder in der Natur beobachten. Das zahlreiche Bildmaterial, oft vom Autor selber fotografiert,lässt sich mit der individuellen Beobachtung in der Natur bestens nach-vollziehen – und so kann man sich die Entstehungsgeschichte eines bestimmten Reliefs bei einem Spaziergang gut vorstellen. Für uns aus dem Kanton Schaffhausen macht es Herbert Bühl noch um ein Mü einfacher: Nicht wenige der Anschauungsmaterialien im opulenten Band stammen aus unserer Region – nochmals ein wichtiger Band für die individuelle Bibliothek.

Urtümliche Bergtäler der Schweiz nennt Marco Volken seinen äusserst informativen Bildband zur Natur, Kultur und Geschichte von 15 Alpentälern der Schweiz. Kennen Sie zum Beispiel das Isental? Es mündet bei Isenthal in den Vierwaldstättersee – dem einzigen Ort, wo die Alpen direkt an den See stossen.

Marco Volken hebt in seinem Porträt der 15 Schweizer Täler einen Schatz, der einen immer wieder staunen lässt. Mit Leichtigkeit ver-bindet der Autor Geschichte, Kultur und Wirtschaftsleben dieser Alpentäler und ergänzt alles mit Wanderungen und Kulinarik. Es gibt meines Wissens keinen informativeren, schöneren und geheimnis-volleren Reiseführer zur Schweiz. Und nicht zuletzt deshalb, weil die Informationen nur so viel verraten, dass man die Region doch selber auf eigene Faust erkunden muss – und möchte.

Das Einzige, das dem Buch fehlt, ist die detaillierte Karte. Diese liefert aber umso genauer die Schweizerische Landestopografie. Entweder mit der äusserst genauen 1 : 300'000 Karte der Schweiz – nochmals ein unverzichtbares Teil eines Schweizer Haushalts! – oder dann auch mit den speziellen Ausschnitten der Regionen.

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Herbert Bühl: Das Relief der Schweiz. Haupt Verlag, Fr. 78.–Marco Volken: Urtümliche Bergtäler der Schweiz. at-Verlag, Fr. 39.90Alex Lörtscher: LockDown. Eigenverlag, Fr. 75.–Generalkarte der Schweiz, 1 : 300'000. Bundesamt für Landestopografie, Fr. 18.–

Flughafen ZH aus: LockDown; Foto © Alex Lörtscher

Jeder scheint heutzutage seine Haut so teuer zu verkaufen wie möglich. Das gilt auch für den Foto-grafen Alex Lörtscher. Da Hochzeiten und Bewerbungen in den Zeiten des ersten Lockdowns keine grossen Tätigkeitsfelder mehr öffneten, ent-schied sich der umtriebige Fotograf, einen Fotoband zum Thema Lockdown zu konzipieren. Und er hat ohne Zweifel ein kleines Bijou geschaffen. Leider eines, das den Buchhandel ausschaltet. Ich habe das schöne Buch dennoch ans Lager genommen, auch wenn wir dabei keinen Franken verdienen. Und das, lieber Herr Lörtscher, kann kein Geschäftsmodell sein.

Trotzdem: Sollten Sie keinen dokumentarischen Bildband zum Lockdown im März/April 2020 suchen, sondern eine stimmige Reportage, dann ist und bleibt wohl auch Lörtschers Buch ein echter Geheimtipp.

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Irina Georgescu: Carpatia. Verlag ars vivendi, Fr. 33.40Sandra und Urs Durrer: Safran. Das rote Gold. at-Verlag, Fr. 48.–

Von Gourmetkünstlern und Hausköchinnen

Meisterinnen haben die französische Küche in Lyon einst berühmt gemacht (vgl. NZZ vom 24.10.20), doch es war Paul Bocuse, der wohl berühmteste Koch des 20. Jahr-hunderts, der in seinem Restaurant L’Auberge du Pont de Collonges die Nouvelle Cuisine zelebrierte, oder auch Paul Haeberlin von der Auberge de l’Ill im Elsass, die dem Koch-buch erstmals einen edlen Touch verliehen haben, sodass die Warengruppe 4.5.0 (Essen & Trinken) im Buchhandel zu einem veritablen Umsatzträger aufgestiegen ist. Heute sind die oft auch toll ausgestatteten Bände der Kochstars so zahlreich geworden, dass sie Regale füllen. Persönlich ziehe ich Kochbücher nationaler oder regio-naler Küchen vor; sie kommen meistens ohne Stars, aber dafür oft mit schmackhaften Rezepten von unbekannten Hausköchinnen daher. Wer gerne in der Küche hantiert und ebenfalls gerne auf Reisen dem verführerischen Duft aus Küchen nachgeht, dem empfehle ich überzeugt fol-gende Leckerbissen.

Irina Georgescu entführt einen mit ihrem schön gestalteten Band Carpatia. Eine kulinarische Reise durch Rumä-nien in den Balkan. Das Buch gliedert sich traditionell, beginnt mit den Vorspeisen und endet bei den Desserts. Im Weiteren werden die Hauptnahrungsmittel der rumä-nischen Küche vorgestellt: Schweinefleisch, Polenta, Brühe, Äpfel, Knoblauch, Käse, Joghurt, Wein. Die Autorin ver-gisst auch nicht, dass die Einflüsse aus anderen oder längst untergegangenen Kulturen mannigfaltig sind: u.a. Kelten, Griechen, Römer, Slawen, oder das osmanische Reich. Handel und Migration machten Bukarest gar berühmt als Klein-Paris. Und weil die Kochkünste immer auch zum Kulturgut einer Region gehören, rundet Irina Georgescu den Band ab mit einer Tour d’Horizon zu den Kulturdenk-mälern ihres Landes.

Wer in den Orient reist, begegnet auf den Basaren über-all Gewürzhändlern, die immer auch Safran anbieten. Meistens jedoch ist dieser Safran gestreckt, besteht also nicht nur aus den roten Fäden der Narbe des Safran- krokus. Dieser ist zwar in den grossen Ursprungsländern, im Iran zum Beispiel, etwas günstiger als bei uns, doch auch in Isfahan oder Shiraz muss man die grossen Geld-scheine zücken, um ein paar wenige Gramm des roten Goldes zu erstehen. Sandra und Urs Durrer legen in ihrem kürzlich erschienenem Band Safran. Das rote Gold. An-bau, Geschichte, Handel, Rezepte eine Fundgrube für alles Wissenswerte zum Thema Safran vor. Da erfährt man, auch typografisch schön gestaltet, alles über die Herkunft der Namen, über Qualitätskriterien, über europäische Her-kunftsorte, da fehlt natürlich auch das Wallis nicht, über legale und illegale Schwindel der Herkunft (iranischer Safran wird zum Beispiel von spanischen Firmen aufge-kauft, neuverpackt und somit auch mit neuem Herkunfts-land etikettiert, was sich natürlich dann auch im Preis niederschlägt). Zwei der 15 Kapitel sind zum Schluss der Küche und ausgewählten Rezepten gewidmet.

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Bilderbücher

Auf nach Yellowstone! Vor sieben Jahren erschien von Aleksandra und Daniel Mizieliński ein phänomenales Landkartenbuch: Alle Welt. Das Buch war so erfolgreich, dass der Verlag vor zwei Jahren eine um 20 Länder erweiterte Neuausgabe auf-legte. Das Buch kommt daher wie eine Art Wimmelbuch: Die gezeichneten Kartenbilder zeigen nicht nur Städte, Flüsse, Gebirge oder Seen, man entdeckt auch Kulturdenk-mäler oder man erfährt etwas über die Sprachen, über be-liebte Vornamen oder über Nationalspeisen und Getränke, aber auch Fauna und Flora werden nicht vergessen. Das grossformatige Bilderbuch vermag nicht nur Kinder zu be-geistern, auch Erwachsene sind sogleich hingerissen. Und vor allem: Selten gelingt es einem Buch zu zeigen, dass die Vielfalt der vermittelten Informationen eben doch nur eine Auswahl ist und sein kann. Nun ist ein neuer, wiederum faszinierender Band des polnischen Paares erschienen: Auf nach Yellowstone! Was Nationalparks über die Natur verraten. Das ähnlich gestaltete Buch nimmt den Betrachter mittels einer kleinen Rahmengeschichte auf die Reise zu acht exemplarischen Nationalparks rund um den Globus. Aus-gangspunkt ist der polnische Białowieża Nationalpark, wo der Wisent Kuba Post aus Amerika erhält; dort soll ein Cousin von ihm leben: der Bison. Zusammen mit dem smarten Eichhörnchen Ula macht sich Kuba auf die Reise – und wir erfahren so viel über Fauna und Flora, aber auch über Gebirgsformationen oder Vulkanismus und öko-logische Zusammenhänge, dass man sich mit Lust und Gwunder immer wieder von Neuem der «artenreichen» Vielfalt des Bandes widmet.

Ginting und GantengGinting und Ganteng sind Orang-Utan-Zwilling, die in einer Auffangstation zur Welt gekommen sind. Das far-benfroh von Petra Rappo illustrierte Buch erzählt in einer Art Graphic Novel eine Geschichte aus dem indonesischen Regenwald, wo einzig noch auf Sumatra und Borneo diese Menschaffen in freier Wildbahn leben. Das Buch basiert auf einer wahren Geschichte. Zuerst begleitet man in einer Rückblende das Weibchen Merah, und erfährt mannig-faches über die Lebensweise der Orang-Utans, z.B., dass es die schwersten Tiere sind, die stets auf Bäumen leben, dass sie täglich ein neues Baumnest bauen, wo auch die Jungtiere mit der Mutter übernachten, bis sie sieben, acht Jahre alt sind. Eines Tages werden sie von ungewöhnlichem Lärm auf-geschreckt: Baumfäller fahren mit grossen Maschinen auf und roden riesige Flächen, um dort dann Plantagen mit Öl-palmen anzulegen. Bei der späteren Brandrodung gelingt Merah die Flucht. Ein glücklicher Zufall ist es, dass sie von Naturschützern aufgegriffen wird und in eine Auffang-station gebracht werden kann. Ihre dort geborenen Zwil-linge werden grossgezogen und dann wieder im tropischen Regenwald ausgesetzt. Das Buch informiert im Weiteren auch über die Zusammenhänge von Palmölproduktion und Umweltzerstörung und zeigt Möglichkeiten auf, wie man auf das in der Nahrungsmittelindustrie so beliebte Fett ver-zichten kann. Regina Frey ist Biologin, die sich seit ihrem Studien-abschluss 1973 für die Erhaltung des Lebensraumes der Orang-Utans einsetzt; sie berät seit 1999 auch die indone-sischen Behörden. Petra Rappo verbrachte mehrere Wochen in Indonesien, um sich mit der natürlichen Umwelt dieser faszinierenden Tiere vertraut zu machen.

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Aleksandra und Daniel Mizieliński: – Alle Welt. Pappband, Grossformat, 152 S., Moritz Verlag, Fr. 42.90 – Auf nach Yellowstone. Pappband, Grossformat, 125 S., Moritz Verlag, Fr. 36.60Regina Frey / Petra Rappo: Ginting und Ganteng, geb., ohne Pag., Atlantis Verlag, Fr. 29.80Rébecca Dautremer: Punkt 12. Ein Bilderbuch mit über hundert ausgestanzten Seiten, Insel Verlag, Fr. 65.–Gerelchimeg Blackcrane / Jiu Er: Der Elch der Ewenken, geb., ohne Pag., Jacoby & Stuart, Fr. 26.60Maria Teresa Andruetto / Martina Trach: Clara und der Mann im grossen Haus, geb., ohne Pag., Baobab Verlag, Fr. 24.80 Joanne Schwartz / Sydney Smith (ill.): Stadt am Meer, geb., ohne Pag., Aladin Verlag, Fr. 24.50François Place: Les derniers Géants; geb., 79 S., Editions Casterman, Fr. 29.10 (nur noch in Französisch lieferbar)

Punkt 12Rébecca Dautremers dreidimensionales Bilderbuch richtet sich seiner Fragilität wegen doch eher an die Eltern als an ihre Kinder – oder eben auch an SammlerInnen aussergewöhnlicher Buchobjekte. Die Autorin er-zählt in ihrem nur äusserst sparsam mit Text versehenen Prachtsband die Geschichte einer Verabredung. Punkt 12 Uhr wird das Schiff den An-ker lichten, und wenn Sweety, das Kaninchenmädchen ihren Jacominus Gainsborough noch kurz davor zum Abschied in die Arme nehmen möchte, muss sie sich rechtzeitig auf den Weg machen. Dieser führt nämlich durch über hundert ausgestanzte Seiten quer durch die Stadt zum Hafen. Und da gibt es so viel zu sehen und es gibt so viele Möglich-keiten zu verweilen. Die Geschichte ist einfach und schlicht, doch dann dämmert einem, dass eben auch der Weg das Ziel sein könnte und man sich zuweilen entscheiden muss, diesem Weg, einem fremden Ziel ent-gegen, sein Augenmerk zu schenken – oder aber ein klares Ziel im Blick zu haben: So stehen wir ganz unverhofft wieder im realen Leben und vor grundsätzlichen Fragen.

Der Elch der EwenkenDie Ewenken sind ein indigenes Volk, das sich aus mehreren Grup-pen, Völkern oder Stämmen zusammensetzt, die einst Sibirien, Teile der Mongolei und Nordchinas, die Innere Mongolei, besiedelten – ein Gebiet, f lächenmässig grösser als ganz Europa. In der früheren Literatur waren sie bekannt als Tungusen. Heute leben in demselben Gebiet noch knapp 80'000 Ewenken, rund 200 Personen bewohnen das waldreiche Grosse Hinggan-Gebirge im äussersten Nordosten Chinas an der Gren-ze zur Mongolei: die Elch-Ewenken. Sie leben noch heute als Rentier-züchter und Jäger. Und von ihnen erzählt Gerelchimeg Blackcrane, der im Grasland der Inneren Mongolei aufgewachsen ist. Die chinesische Illustratorin Jiu Er hat das Buch wunderbar feinfühlig illustriert. Der alte Jäger Gree Shek lag eine ganze Nacht auf der Lauer, bis er erfolgreich war und einen Elch schoss. Als er sich darauf auf einen Stein setzte, um etwas auszuruhen, vernahm er ein Geräusch hinter sich – und sah einen jungen Elch, der ihn seinerseits beäugte. Kurzentschlossen fing der Alte das Jungtier ein und nahm es mit in seine Jurte und zog es auf; so lange, bis er es schweren Herzens wieder in die Wildnis entlassen musste. Viele Jahre später suchte ein Wilderer das entlegene Gebiet auf und begegnete einem riesigen Elch, das Ende der Geschichte sei hier nicht verraten.

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Clara und der Mann im grossen HausAuch dieses wunderbare Bilderbuch basiert auf einer wahren Geschichte; sie spielt in der unendlichen Weite der Pampa Argentiniens und sie er-zählt davon, wie die Mutter der Autorin den Weg zu den Büchern gefun-den hat und Juan, ein begüterter Eigenbrödler wieder ins Licht hinaus getreten ist. Die Mutter Claras macht die Wäsche Juans und das Mäd-chen muss diese jeweils dem Einsiedler bringen. Sie legt diese jeweils auf die Türschwelle, wo immer auch schon ein paar Münzen liegen. Eines Tages schiebt Juan den Vorhang etwas zur Seite und Clara erheischt einen Blick ins Innere. Sie sieht an der gegenüberliegenden Wand ein langes Bord, voll mit Büchern. Mit der Zeit kommen sie ins Gespräch, dann darf das Mädchen auch das Haus betreten und sie liest ein Buch ums andere. Eines Tages frägt Clara Juan, ob er denn immer schon so gelebt habe. Da meinte er: nein. Doch seit er vor vielen Jahren sich in einen jungen Gärtner verliebt habe und dieser dann weggezogen sei, habe er das Haus nicht mehr verlassen – «ich hatte nicht die Courage, mit ihm zu gehen». Freudig, das Geheimnis gelüftet zu haben, springt Clara hurtig nach Hause und denkt: Courage, das möchte ich im Leben haben. Und Juan? Er nimmt das Buch, das Clara vergessen hat und tritt nach langer Zeit erstmals wieder ins Freie. Das Buch ist von Martina Trach phänomenal illustriert, lässt einen von der ersten Seite weg nicht nur in die argentinische Pampa reisen, sondern auch in die Gefühlswelten von Clara und Juan.

Stadt am Meer Joanne Schwartz wurde auf Cape Breton Island, im Nordwesten des amerikanischen Festlandes gelegen, geboren und wuchs auch dort auf. Die zu Kanada gehörende Insel ist heute mit dem Festland verbunden und war bis gegen Ende des letzten Jahrhunderts für gut hundert Jahre ein Kohlerevier. Das Leben und die Arbeit der Minenarbeiter prägten während Generationen die Geschichte der Familien in den Dörfern an der rauen Meeresküste. Diesen setzt die Autorin ein eindrückliches Denkmal. Das etwas schwermütig stimmende Bilderbuch liess mich immer wieder an Die schwarzen Brüder von Lisa Tetzner denken; ein Buch, das mich bis heute nicht losgelassen hat. Zusammen mit den stimmigen Bildern von Sydney Smith lässt uns die Autorin einen Tag im Leben einer solchen Bergbauarbeiterfamilie miterleben. Vom Haus aus kann man immer das Meer sehen, das mal glitzert, mal tost und stürmt, mal sanfte Schaumkrönchen tanzen lässt. Wenn der Junge aufwacht, hört er Möwen schreien und «am Strassen-rand wispern Wiesenkerbel und Lupinen im Wind». Derweil baut der Vater schon tief unter dem Ozean ein Kohleflöz ab – drohend über ihm wellt sich die schwarze Erde. Zum Mittagessen trinkt er ein Glas Milch und isst ein Wurstbrot, am Nachmittag besucht der Junge hin und wie-der das Grab des Grossvaters, der sich gewünscht hatte, mit Blick aufs Meer seine letzte Ruhe zu finden. Abends trinken Vater und Mutter zu-sammen noch eine Tasse Tee und reden miteinander. Und bald einmal wird die Zeit gekommen sein, wo der Junge ebenfalls unter Tag fahren und im Stollen arbeiten werden muss.

Illustration: Sydney Smith © Aladin Verlag

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L A D E N Ö F F N U N G S Z E I T E N im Dezember/Januar:

◆ Sonntagsverkauf 20. Dezember: 11 – 17 Uhr

◆ Montag, 21. Dezember: ganzer Tag geöffnet

◆ 24. Dezember: 8.30 bis 16 Uhr

◆ Mo 28. – Do 30. Dezember: geöffnet wie immer

◆ Silvester: 8.30 bis 16 Uhr

Im neuen Jahr wieder ab Montag, 4. Januar 2021, geöffnet wie immer.

Extrait de l'ouvrage «Les derniers Géants» de François Place © Casterman

Avec l'aimable autorisation de l’auteur et des Editions Casterman

Die letzten RiesenZum Glück sind sie noch immer lieferbar, unsere grossen Bilderbuch-klassiker: Carigiets Schellenursli, Hans Fischers Pitschi, Ulrich Stegers Reise nach Tripiti oder auch Sendaks Wo die wilden Kerle wohnen oder Petrides’ Xaver und Wastel. Dass hingegen vom genia-len französischen Zeichner und Geschichtenerzähler François Place im deutschen Sprachraum zum Beispiel Die letzten Riesen vergriffen ist, kann ich kaum fassen. 1992 erschien das Buch in Frankreich, drei Jahre später bei Bertelsmann in deutscher Übersetzung von Marie Louise Knott. (M.L. Knott übrigens übersetzte u.a. auch von Danielle Auby den Wald der toten Dichter, das 1995 im Verlag des ehemaligen Bücher-Fass-Lehrlings Daniel Bruckner erschienen ist; sie war bei der taz Gründerin der deutschen Ausgabe von Le monde diplomatique und hat zwei oder drei Essaybände zu Hannah Arendt publiziert.) François Place zeichnet und erzählt in seinem zauberhaften und gleichwohl nachdenklich stimmenden Debut die Geschichte des Archibald Leopold Ruthmore, der im namenlosen Hafengelände bei einem Trödler einen riesigen Zahn ersteht, in den eine Karte eingraviert ist. Und Ruthmore, eine Karikatur des englischen Forschungsreisenden, macht sich auf die Suche nach diesem entlegenen Land – und wird fün-dig, wohl irgendwo im fernen Asien ausserhalb der Grenzen Birmas. In einem abgelegenen Tal findet er neun Riesen, die über den ganzen Kör-per tätowiert sind. Friedfertige Riesen. Wieder zurück in London hält er Vorträge und macht sich einen Namen als Forscher. Als er später in das sagenhafte Land zurückkehrt und in Martaban, heute Mottama im südlichen Myanmar gelegen, einen Zwischenhalt einlegt, wird er Zeuge eines Triumphzuges ... Place hat seine Abenteuergeschichte kongenial illustriert: Die Riesen, die Gebirge, die Wasserfälle, die Tätowierungen, sie lassen einen kaum mehr los – grossartig!