Upload
volien
View
230
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
1
Lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
LebensWEISE – Lern- und Denkwerkstatt
„Christlicher Glaube im 21. Jahrhundert" Intellektuelle Redlichkeit, Rücknahme von Projektionen,
Transzendenz-Offenheit: Schritte zu einer modernen Mystik
In dankbarem Gedenken an Jörg Zink (22.11.1922 - 9.9.2016)
Wolfgang Vorländer
I. Problemanzeige (Seite 1-6)
II. Unterwegs zu einer modernen Mystik (S.6-21)
III. Mystik als Lebensvollzug des Vertrauens im Licht der
Transzendenz (Seite 21-27)
I.
Problemanzeige
„Denn das ist sicher“, schreibt Jörg Zink in seinem Buch Dornen
können Rosen tragen. Mystik - Die Zukunft des Christentums1, „die Zeit, in
der unser heutiges Christentum so, wie wir es kennen, formuliert
worden ist, ist vorüber, und es gilt, um der Wahrheit willen, … wach
zu sein für eine neue Zeit“ (19).
Mit dieser-Zeit-Ansage meint Zink mehr als das übliche Problem der
„Übersetzung“ einer alten Botschaft in neue Kontexte. Es handelt sich
um mehr als um ein Sprachproblem. Es geht auch um den Inhalt,
Religion - in unserem Fall das Christentum oder der christliche 1 Stuttgart 1997, S. 19.
2
Glaube - wird sich auch in inhaltlicher Hinsicht zu verändern haben,
wenn sie lebendig, relevant und plausibel bleiben will.
Ein Blick in die Religions- und Kirchengeschichte lehrt es: Auch
Religionen können sterben, auch christliche Kirchen sterben und sind
längst gestorben bzw. untergegangen etwa in den Gebieten des
heutigen Syrien, Irak und Iran bis weit nach Osten entlang der
damaligen Seidenstraße, oder auch in der heutigen Türkei, dem
früheren Kleinasien, oder im nördlichen Afrika – alles einstige
Hochburgen und Zentren des Christentums!). Kulturen halten sich
einige Jahrhunderte, Religionen einige Jahrtausende; aber dann
betreten neue Gedanken, neue Vorstellungen, veränderte Weltbilder
die Bühne. Entweder vermögen religiöse Systeme - das können die
Kirchen sein oder auch eines Tages die Islamgemeinschaften - diese
Veränderung zu integrieren oder aber sie erschlaffen, veröden und
sterben, um danach nur noch als Museumsartefakt besichtigt zu
werden.2
Es tritt dann etwas anderes an die Stelle. Weithin in unseren
Breitengraden zum Beispiel das schlichte und ganz
selbstverständliche Nicht-Glauben. Der Leipziger Theologe und Lyriker
Christian Lehnert sagt: „Man kann heute vollgültig in verantwortlicher
Weise leben, ohne je die Frage nach Gott gestellt zu haben.“3
Als Beispiel für den theologischen Paradigmenwechsel der Gegenwart nenne ich
einige neuere Buchtitel:
- Heinz Zahrnt, Glauben unter leerem Himmel, München 2000
2 Jörg Zink formuliert es so: „Es ist eine unbestreitbare Grundtatsache, die wir nie übersehen dürfen,
dass auch Religionen… Erscheinungen der Geschichte sind. Sie entwickeln sich aus Anfängen. Sie
leben auf. Sie setzen sich gegen andere oder frühere Religionen durch. Sie wandeln sich. Sie
degenerieren. Sie nehmen Fremdes auf, fremde Gedanken, fremde Rituale. Sie reifen. Sie sterben ab
oder werden von einer anderen Religion aufgesogen. Und das alles in Jahrtausenden. Sie sind, solange
sie wahr sind, nicht nur kenntlich an ihrem Stehvermögen, an ihrer Kraft zu beharren, sondern vor
allem und in erster Linie an ihrer Wandlungsfähigkeit. Innerhalb einer solchen Entwicklung wandeln
sich auch die Bilder, die die Menschen sich von Gott machen oder die ihnen von ihrer Religion gezeigt
werden“, in: Die Urkraft des Heiligen. Christlicher Glaube im 21. Jahrhundert, Stuttgart/Zürich 2003,
S.133. 3 zitiert nach „evangelisch.de“, 12.03.2016, Autor: Martin Rohte
3
- Hans-Martin Barth, Authentisch glauben. Impulse zu einem neuen
Selbstverständnis des Christentums.
- Klaus-Peter-Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem
glaubwürdigen Christentum;
- ders., Update für den Glauben. Denken und leben können, was man
glaubt.
- Matthias Kroeger, Im religiösen Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in den
Köpfen der Kirche.
- Friedrich-Wilhelm Graf, Kirchendämmerung. Wie die Kirche unser
Vertrauen verspielt.
- Norbert Copray (Hrg.), Baustelle Christentum. Glaube und Theologie auf
dem Prüfstand.
- Hubertus Halbfas. Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu
erfinden muss.
- ders., Der Herr ist nicht im Himmel. Sprachstörungen in der Rede von
Gott.
- Jürgen Werbick, Von Gott sprechen an der Grenze zum Verstummen.
- Ulrich H.J. Körtner, Der verborgene Gott.
Dies als eine kleine Auswahl von Beispielen, die das Eingangszitat von Jörg Zink
nur bestätigen.
Allerdings werden die überkommenen christlichen Religions- und
Frömmigkeitsformen gleichwohl noch sehr lange bestehen bleiben.
Denn Religion ist ihrem Wesen nach zäh, dickflüssig, langlebig,
traditionsgebunden, unexperimentell. Was sich überholt hat, beweist
noch lange ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Nicht nur durch
verinnerlichte Rituale und Konventionen, durch kirchliche oder
religiöse Strukturen, ihre Ämter und ihren Klerus. Vielmehr dürfte
eine erhebliche Veränderungsresistenz auch in der Mitte des
Kirchenvolkes und der sog. Laien zu finden sein. Menschen, für die
der persönliche Glaube bedeutsam ist, möchten gerade nicht
verunsichert werden, lieber verdrängen oder ignorieren sie Fragen
und Einwände, als dass sie das, was ihnen Halt gibt, kritisch prüfen,
etwa angesichts neuer Fragestellungen, oder ausgelöst durch
geschichtliche Entwicklungen, durch die Begegnung mit anderen
4
Religionen und Kulturen oder durch ungeahnte wissenschaftliche
Entdeckungen. Ferner ist zu bedenken, dass Religion stets sozial
verankert ist in Gemeinschaftsformen. Kaum jemand stellt den
religiösen Konsens innerhalb der Gemeinschaft, die ihn trägt, ohne
gravierende Gründe in Frage. Daher ist für die meisten „Gläubigen“
die Zugehörigkeit zu einer religiösen bzw. christlichen Gemeinschaft,
wie eng oder distanziert auch immer, viel wichtiger als intellektuelle
Plausibilität oder intellektuelle Redlichkeit.
Was längst anachronistisch geworden ist, vermag daher noch lange,
sogar einige hundert Jahre, zu überdauern.
Dieses Beharrungsvermögen, diese „Übergangsverweigerung“,
diesen „Veränderungswiderstand“ gibt es, näher betrachtet, in
verschiedenen Formen:
- Durch die Vielzahl neokonservativer und fundamentalistischer
Strömungen und Gruppen weltweit. Diese Feststellung bedarf
gegenwärtig keiner weiteren Erläuterung.
- Aber auch durch ein Phänomen, das mir vorkommt wie eine Art
geistiger Trägheit und spiritueller Lahmheit in unseren
Kirchengemeinden. Dasselbe meine ich gerade auch in weiten
Teilen der Pfarrerschaft beobachten zu können:
Verunsicherungen und Glaubenszweifel werden vielleicht in
Morgenandachten im Radio oder in ritualisierter Sprache im
Sonntagsgottesdienst eingestanden und genannt, ohne aber
den Dingen auf den Grund zu gehen, ohne wirklich aufzubrechen
zu neuen Ufern, zu noch unbekannten Antworten. Die Kirchen
in Deutschland rufen seit Jahren zu neuen missionarischen
Anstrengungen auf und bieten dafür z.B. eine Vielzahl von
interessanten Glaubenskursen an, inhaltlich jedoch werden die
überkommenden Glaubensinhalte meist nur neu aufgelegt,
nicht aber redigiert. Die vertrauten religiösen Sprachspiele bei
Gottesdiensten, Feiern und Verlautbarungen wie auch im
Gemeindealltag, wo man unter sich ist, können stattfinden wie
5
eh und je. Oder man nimmt seine Zuflucht, wie immer häufiger
zu vernehmen, bei neuen Kreationen, meist sehr schlichten und
unanstößigen Formeln; so spricht man inzwischen gerne vom
„Glauben unter offenem Himmel“ oder „Glauben an die
Menschenfreundlichkeit Gottes“. Es gab schon einmal eine
dialektischere Theologie; und das stand ihr gut zu Gesicht! –
Gerade unter den jüngeren katholischen und evangelischen
Geistlichen besteht derzeit offenbar eine ausgesprochene
Neigung zur Orthodoxie. Lange nicht mehr waren Pfarrer in
Fragen der kirchlichen Lehre und der Bibelexegese dermaßen
angepasst und ungefährlich wie heute.
- Daneben gibt es eine Bewegung, die nur dem äußeren
Anschein nach innovativ wirkt: Sich als Kirche interessant
machen! Man inszeniert die eigene Religion so, dass sie
möglichst unterhaltsam ist und positive Emotionen weckt, um
damit zu suggerieren, das bereits sei eine religiöse Erfahrung.
Noch nie in der Kirchengeschichte sind dermaßen viele
verschiedene Gottesdienste mit so vielen verschiedenen
Unterhaltungs-elementen angeboten worden wie heute. Wir
erleben eine Kirche, die zeitgemäß sein möchte, aktuell und
medientauglich. Der „Erlebnischarakter“ von Gottesdiensten ist
aber noch keine Gotteserfahrung. Dazu noch einmal der
Leipziger Theologe und Lyriker Christian Lehnert: „Wir sollten
uns … vor der Versuchung hüten, Gottes-erfahrungen selbst
fabrizieren zu wollen. Sie spiegelt sich in der häufigen
Forderung, Gottesdienste müssten Erlebnisqualität haben,
müssten umwerfend gut inszeniert sein… (Es) besteht heute ein
krasses Missverhältnis zwischen den vielen äußerlichen
Aktivitäten unserer Kirche und ihrer inneren Armut und Dürre.“4
4 ebd.
6
Ich habe den Eindruck, mit dieser Art von Antworten nehmen wir ein
en entscheidenden Punkt nicht wahr: wir haben nicht nur eine
Kirchenkrise, eine Relevanzkrise, ein Kommunikationsdefizit, wir
leiden nicht einfach nur unter missionarischer Antriebsschwäche,
sondern wir befinden uns (und das nicht est heute) in einer Krise, die
mit der Wahrnehmung bzw. Wahrnehmbarkeit Gottes selbst zu tun hat.
M.a.W.: Unsere eigentliche Not sind nicht die Säkularisierungsschübe
der Moderne und Postmoderne. Unsere eigentliche Not ist… Gott
selbst. Die tiefsten Überzeugungen vergangener Jahrhunderte im
Blick auf die Frage, was, wer und wie Gott sei, sind ins Wanken
geraten. Diese Gotteskrise hat heute nicht nur zahllose Ehemals-
Glaubende, sondern auch viele Noch-Glaubende erfasst. Früher hieß
es immer (im Rahmen der kirchlichen Sündenpredigt), Gott habe es
mit uns sündigen Menschen nicht leicht. Es verhält sich aber auch
umgekehrt: Wir Menschen haben es auch mit Gott nicht leicht; und er
macht es uns nicht leicht.
Das Christentum befindet sich angesichts eines zunehmend
unkenntlich werdenden Gottes in einer ähnlichen Situation wie die
Juden im Babylonischen Exil vor zweieinhalbtausend Jahren, für die
Gott aufgehört hatte, erfahrbar zu sein: „An den Wassern zu Babylon
saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen
hängten wir an die Weiden dort im Lande. Denn die uns gefangen hielten,
befahlen uns dort zu singen und in unserem Heulen fröhlich zu sein:
‚Singet uns ein Lied von Zion!‘ – Wie könnten wir des Herrn Lied singen in
fremdem Lande. Meine Zunge klebt an meinem Gaumen, wenn ich deiner
gedenke, Jerusalem!“ (Ps.137)!
Heute haben wir Gott nicht verloren, weil uns wie den Juden der
Tempel in Jerusalem genommen wurde oder weil unsere Kirchen
gähnend leer sind, sondern weil wir ihn dort draußen nicht zu finden,
nicht anzutreffen vermögen, wo er am dringendsten benötigt würde,
sodass man Gott, sofern man ihn im theistischen Sinne als Person, als
allmächtig und geschichtslenkend glaubt, eigentlich millionenfache
7
unterlassene Hilfeleistung vorwerfen müsste, ihn auf sein
dröhnendes Schweigen und seine vollendete Tatenlosigkeit an so
vielen blutenden Orten in der Welt aufmerksam zu machen hätte und
dies dann auch liturgisch sowie in den öffentlichen Verlautbarungen
als Klage zum Ausdruck bringen müsste! Vielleicht würde die „Welt“
angesichts solcher ehrlich eingestandener Glaubensnot den Kirchen
und Religionsgemeinschaften erstmals wieder Aufmerksamkeit oder
wenigstens Achtung schenken!
Anstatt das Gottesschweigen auszuhalten und in Form von Klage
oder Schweigen zum Ausdruck zu bringen, sucht das ungebrochene
religiöse Begehren vieler Menschen bei uns und weltweit umso mehr
nach magischen oder rituellen Vermittlungen, z.B. in evangelikalen und
charismatischen Kirchen, gerade auch in den großen Pfingstkirchen
in armen Ländern dieser Erde (Wort-Magie, Gemeinschafts-Magie,
Magie mit den Mitteln suggestiver Heils- und Heilungsversprechen),
oder in katholischen Kerngebieten (sakramentale Magie,
Marienfrömmigkeit, Magie der Wallfahrts-, Pilger- und Heilungsorte).
Manche sind aber auch schon zufrieden, wenn endlich einmal ein
freundlicher, mutiger und glaubwürdiger Papst auf dem Stuhl Petri
sitzt; da kann man den fernen Gott schon wieder ein bisschen
leichter ertragen…
Wo jemand es wagt, die große Gotteslücke der Gegenwart in Worte
zu fassen, wird er eher von den Nichtglaubenden gehört und
verstanden als von den Binnenmitgliedern der Kirche. Um mutige
Klageworte ringt Christian Lehnerts in einigen seiner
Choralneudichtungen:
Sei still und schlafe, warte
und träume nichts und warte,
zu hoffen ist kein Grund.
Hinweggerollt sind Meere,
Kulissen, schwarze Leere,
8
in der sich öffnet Gottes Mund. (nach: Nun ruhen alle Wälder)
Luft, die alles füllet,
Leere ohne Namen,
unbemerkt verwehter Samen,
nur ein langes Warten,
wo nichts ist, und rennen
durch Geröll, ich kann nicht nennen,
was ich sah:
„Du bist nah,
Höhlung ohne Wasser, Talgrund, immer blasser.“
(nach: Gott ist gegenwärtig)
II.
Unterwegs zu einer modernen Mystik
Jörg Zink meint, in solchen Zeiten und Epochen komme es für wache
Menschen darauf an, die bisherige geistige und geistliche Heimat
aufzugeben und sich auf die Suche zu begeben, gleichsam auf eine
spirituelle Wanderschaft, ohne zu wissen, wohin einen dieser Weg
führt.5 Und ich, ganz persönlich, empfinde das längst nicht mehr als
eine bedrückende Vorstellung, sondern vielmehr als eine befreiende
Einladung und Option! Bedrückender ist für mich das reine
Nachahmen vergangener Glaubensepochen; denn Gewissheiten, die
einmal bestanden, sind nun einmal nicht nachahmbar. Bedrückend
finde ich die kirchliche Selbsteinrede, es handele sich im Blick auf den
allgemeinen Glaubensschwund lediglich um ein
Vermittlungssproblem. Jörg Zink meint, wir hätten aufzubrechen, weil
5 J. Zink, Dornen können Rosen tragen. Mystik – Die Zukunft des Christentums, Stuttgart 1997, S.39
9
das, was einmal Heimat war, für wache Menschen zunehmend
weniger bewohnbar ist. Und er fährt fort:
„Nun gehört es zu den eigentümlichen Merkmalen des menschlichen
Gehens, dass es nur dann gelingt, wenn der Gehende bereit ist, bei
jedem Schritt sein Gleichgewicht aufs Spiel zu setzen… Man gibt eine
Heimat auf und sucht einen neuen Ort, von dem man noch nicht
weiß, ob man ihn erreicht.“6 Genau das wollen die meisten
Glaubenden natürlich am allerwenigsten: ihr (spirituelles)
Gleichgewicht aufs Spiel setzen! „Solche Zeiten des Übergangs und
der Neuanfänge“ (erst recht, wenn an die Stelle Gottes eine riesige
Leerstelle zu treten droht) „zwingen immer auch zu einer
Veränderung des religiösen Nachdenkens und Verhaltens.“7 Zink
möchte dazu ermutigen und hält dies für nötig und möglich,
„religiöse Erfahrungen so unmittelbar selbst zu machen, dass eine
fremde Autorität nicht mehr vonnöten sei.“8 Darum werden wir
„unmittelbar und selbständig leben müssen, auch in den religiösen
Dingen. Unmittelbar zu Gott (zu dem fraglich gewordenen Gott !!, WV),
unmittelbar zu den Menschen, unmittelbar zu uns selbst, und wir
werden aus dieser Selbständigkeit heraus neue Gemeinschaften
religiöser Art suchen. Wir werden weitergehen von der alten
rationalen Auslegung der Bibel und selbst mit allen Sinnen
wahrnehmen, was sie sagt. Wir werden weitergehen, von allem
vorgeschriebenen religiösen Verhalten zur Freiheit eines persönlich
verantworteten Stils.“9 – Das aber heißt für Jörg Zink dasselbe, was es
am Ende seines Lebens für Karl Rahner, den großen katholischen
Theologen des 20. Jahrhunderts, hieß: „Der Mensch der Zukunft wird
ein Mystiker sein oder ein Heide.“
6 a.a.O., S.37.39 7 a.a.O., S. 14 8 a.a.O., S.19 9 a.a.O., S. 20.
10
Aber was heißt das – ein Mystiker, eine Mystikerin sein? Ist diese
Kennzeichnung geeignet und hilfreich?
Noch finde ich selbst keinen besseren Begriff, spreche aber im
Folgenden eher experimentell von einer modernen, zeitgemäßen
Mystik. Denn es kann nicht nur darum gehen, den Weg in die Mystik
vergangener Zeiten zu suchen oder diese gleichsam
„wiederzubeleben“ (so wie man es in der Renaissancezeit aufregend
fand, die klassische griechische Antike wieder zu entdecken und
nachzuahmen). Von mystischen Überzeugungen, Haltungen und
Frömmigkeitsformen der Vergangenheit kann man sich genau so
weit entfernt fühlen wie von dogmatischen Lehraussagen der Kirche,
die jahrhundertelang Geltung beanspruchten. Darüber hinaus sind
mystische Traditionen als solche bereits unübersehbar vielfältig,
verwirrend und miteinander bisweilen unvereinbar: Was hat eine
rigorose Zen-Schule im Japan des 18. Jahrhunderts gemeinsam mit
den Tänzen oder Verzückungen islamischer Sufis? Was hat die
mystische Welt der jüdischen Kabbala gemeinsam mit der
mittelalterlichen Bußmystik eines Johannes Tauler, Johann von
Staupitz, Martin Luther oder der spätmittelalterlichen devotio
moderna-Bewegung!
Die Mystik-Lust in Teilen des gegenwärtigen Bildungsprotestantismus
hierzulande ist mir bereits schon wieder verdächtig; insbesondere
dann, wenn die Rezeption sich auf theologische bonmots früherer
Mystiker(innen) beschränkt und man sich die (kritische) Lektüre der
vollständigen Texte erspart. Wer wirklich einmal versucht hat,
Johannes vom Kreuz, Meister Eckhart oder Teresa von Avila gründlicher
zu lesen, stößt auch an Grenzen des Verstehens.
Was mir angesichts der Glaubens- und Gotteskrise der Gegenwart
notwendig erscheint, um nicht einem allgemeinen, indifferenten und
vielleicht auch bequemen Agnostizismus das Feld zu überlassen,
möchte ich an konkreten Themenfeldern verdeutlichen, die m.E. im
11
21. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielen müssen. Dass dabei auch
Einsichten von Mystiker(innen) früherer Jahrhunderte hilfreich sein
können, wird sich hier und dort erweisen.
Kennzeichen einer modernen Mystik (Abgrenzungen)
Spirituelle Kargheit
Erkenntnistheoretische Bescheidenheit
Aufgeschlossenheit und Lernbereitschaft gegenüber den
Naturwissenschaften
Ein anderer Umgang mit religiösen Vorstellungen und
biblischen oder kirchlichen Lehr-Inhalten
Zurücknahme von Projektionen
Verantwortung für die Welt
Schließlich, im dritten Teil, möchte ich Mystik positiv beschreiben als
Lebensvollzug des Vertrauens im Licht der Transzendenz.
Doch zunächst zu den genannten Kennzeichen:
a) Spirituelle Kargheit
Mystik im 21. Jahrhundert darf sich nicht an religiösem
Erlebnisbedarf festmachen oder orientieren! Sie wird vielmehr
mit spiritueller Kargheit und dem ganz Wenigen und Einfachen zu
tun haben – und sich darin als quer zum Trend vollziehen. Aber
es könnte sich erweisen, dass in dieser Kargheit mehr steckt an
Kraft, Fülle und Freiheit als in einer allzu selbstbewussten,
selbstsicheren und erst recht einer allzu unterhaltsamen oder
bedürfnisgesteuerten spirituellen Praxis oder Angebotspalette.
Mystik trägt ein sehr schlichtes Gewand. Sie eignet sich nicht für
12
Großveranstaltungen. Man findet sie nicht auf Bühnen. Denn
sie hat nichts, das sie zeigen könnte. Sie missioniert nicht und
erst recht ist sie keine Verführerin. Was der Prophet über den
verborgenen Gottesknecht sagt (Jesaja 42,2), gilt auch für die
Mystik: Sie schreit nicht, noch ruft sie, und ihre Stimme wird man
nicht hören auf den Gassen. Sie sucht keine Mehrheiten. Mystik
hat nichts zu bieten. Mystik ist wortkarg und scheu. Denn
Mystik ist am Ende nichts als… Liebe und Vertrauen. Einzig darin
liegt ihre Schönheit.
b) Erkenntnistheoretische Bescheidenheit
Damit meine ich ganz schlicht: Weniger Bescheid wissen über
Gott!
Immanuel Kant sagt in seiner epochemachenden Kritik der reinen
Vernunft (1781/1787): Auch wenn die Vernunft nach immer
weiterer Erkenntnis strebt, sind alle Fragen, die die
Transzendenz betreffen - etwa die Frage nach der
Unsterblichkeit, nach Gott und nach der Freiheit des Menschen
- , mit den Mitteln der Vernunft nicht zu beantworten. Diese
Begriffe sind transzendentale Ideen ohne jede empirische
Anschauung. Jeder Versuch, Erkenntnisse über sie zu gewinnen,
endet notwendig im transzendentalen Schein.
Glaubende Menschen einschließlich der theologischen Zunft
neigen dazu, zu vergessen, dass sie an einen Gott glauben, von
dem sie nicht im Geringsten wissen können, um welche Art von
Wirklichkeit es sich dabei handelt. Das hat die Theologie zwar
im Grund immer schon gewusst (wenn auch ebenso häufig
vergessen), aber man hat sich mit der Unterscheidung von
Glaubenssicherheit (securitas) und Glaubens-gewissheit
(certitudo) zu helfen versucht: Was man nicht mit Sicherheit
wissen kann (bzw. mit Sicherheit nicht wissen kann), kann man
13
wenigstens mit Gewissheit glauben! Aber dieses originelle
Hilfskonstrukt leuchtet heute keinem krischen Menschen mehr
ein. Und seit den Erkenntnissen der neurobiologischen
Kognitionsforschung ist diese Formel ohnehin obsolet10.
Die Wolke des Nichtwissens
Entgegen der Vollmundigkeit und Selbstgewissheit einer langen
theologischen Tradition, die sich auf Offenbarung berief, gab es
bereits im Mittelalter eine berühmte mystische Schrift, die
heute wieder einige Aufmerksamkeit gefunden hat, geschrieben
von einem namentlich nicht bekannten englischen Mystiker des
14. Jahrhunderts mit dem Titel: Die Wolke des Nichtwissens. Darin
wird kategorisch bestritten (man bedenke: in einer mystischen
Schrift, die gerade zur Liebe zu Gott einladen will!), dass es für
uns Menschen einen eindeutigen Erkenntniszugang zu Gott
gebe. Im Gegenteil, so heißt es dort: Der Weg zu Gott führt ins
Dunkel, sodass man sich gleichsam in einer Wolke des
Nichtwissens befindet. „Diese Wolke und dieses Dunkel bleibt
zwischen dir und deinem Gott, ganz gleich, was du
unternimmst, und hindert dich, ihn mit deinem Verstand klar zu
erfassen und die Köstlichkeit seiner Liebe in deinem Herzen zu
erfahren.“ Und weiter: „Gott selbst lässt sich nicht durch
Nachdenken erfassen. Man kann ihn lieben, ihn aber nicht
denken.“11
Und Meister Eckehart (1260-1328) vertrat schon 200 Jahre zuvor
dieselbe Erkenntnis. Er kommt als Konsequenz für den
Glaubensvollzug sogar zu der paradoxen Aussage: „Darum bitte
ich Gott, dass er mich quitt mache Gottes.“ Den Ausdruck „quitt“
benutzen wir heute noch gelegentlich, wenn wir sagen, etwas
10 … insofern sie den konstruktivistischen und subjektiven oder aber den Verabredungs-Charakter
aller Arten von Überzeugungen, Annahmen und Perzeptionen aufweist. 11 Zitiert nach: Gebet des Schweigens. Eine Schule der Kontemplation nach der ‚Wolke des
Nichtwissens‘, hrg. Willigis Jäger, Salzburg 1984, S.58.63.
14
„quitt“ , d.h. los zu sein bzw. von etwas befreit zu sein. Das
heißt: Wer Gott sucht und sich vor die Wirklichkeit Gottes
gestellt sieht, der muss geradezu jegliches Wissen um Gott
aufgeben und verabschieden. Dorothee Sölle erinnert in ihrem
Mystik-Buch daran, dass der „Ruf, Gott um Gottes willen zu
lassen, … an vielen Stellen der mystischen Frömmigkeit
(erklingt)… Gott um Gottes willen zu lassen heißt, eine Gestalt
Gottes, eine Weise Gottes, einen Modus, eine Art über Gott zu
reden, aufzugeben.“12
Eine Mystik, wie sie mir vorschwebt, um den Glauben an Gott
aufrecht erhalten und leben zu können, muss aber im 21.
Jahrhundert die Grenze unseres Erkennens noch aus einem
anderen Grund radikal markieren, nämlich auf der Basis
evolutionsbiologischer Erkenntnisse, die übrigens durch die
Hirnforschung der vergangenen fünfundzwanzig Jahre noch
einmal erhärtet worden sind:
Wir Menschen stehen nicht der übrigen Schöpfung gegenüber
als etwas ganz Anderes, Höheres oder „Geistigeres“, sondern
wir sind originäre Säugetiere, ganz und gar hervorgegangen aus
der evolutiven Entwicklung von Jahrmillionen, vom
Schimpansen hinsichtlich des Erbgutes gerade einmal um ein
Prozent unterschieden! Die Zeit sollte vorüber sein, dies als
narzisstische Kränkung zu betrachten. Evolutionsgeschichtlich
hat sich gegenüber den anderen Säugetieren unsere
Großhirnrinde zwar in einem erheblichen Maße vergrößert.
Dadurch ist a) unser Erinnerungsvermögen beträchtlich besser
ausgebildet ist als dasjenige anderer Säugetiere bzw. Primaten;
12 Mystik und Widerstand, Hamburg 1997, S.97. – In der Fachterminologie wird diese
erkenntniskritische Herangehensweise als „negative Theologie“ bezeichnet, wobei „negativ“ meint,
dass wir von Gott allenfalls auszusagen vermögen, was er nicht ist, während wir über sein Sein und
Wesen keine beschreibenden oder feststellenden (ontologischen) Aussagen machen können. – Tief
beeindruckend finde ich zu diesem Thema: Karl Rahner, Von der Unbegreiflichkeit Gottes.
Erfahrungen eines katholischen Theologen, Freiburg 2004, ‚S.23ff.
15
b) besitzen wir die Fähigkeit, Zukunft antizipieren und in die
Zukunft hinein planen zu können; c) verfügen wir über ein
ungleich stärkeres Vorstellungsvermögen, können Bilder und
Symbole verwenden (wozu auch die Sprache gehört) sowie
abstrakt und theoretisch denken. Aber diese Entwicklung des
menschlichen Neocortex entspringt nicht unserem „göttlichen
Ursprung“, sondern rein zweckgebundener Erfordernisse im
Verlauf von 8 Millionen Jahren Hominisierungs-prozess.13 Nur
unsere Phantasie, nicht aber unser Erkenntnisvermögen reicht
über die Grenzen unseres diesseitigen Biotops hinaus. Unser
Gehirn ist kein „metaphysisches Organ“, sondern lediglich ein
Organ, dass metaphysische Überlegungen anzustellen vermag.
Zwar ist der Mensch ein „animal metaphysicum“, ein
„metaphysiktreibendes Lebewesen“ (Schopenhauer), aber seine
metaphysischen Überlegungen sind ungesicherte
Analogieverfahren, Konstrukte und Imaginationen, mehr nicht.
c) Aufgeschlossenheit und Lernbereitschaft gegenüber den
Naturwissenschaften
Vielleicht erstaunt es, wenn ich als weiteres Kennzeichen einer
modernen Mystik ihre grundsätzliche Aufgeschlossenheit
gegenüber den Naturwissenschaften nenne. Es versteht sich von
selbst, dass damit keine Wissenschaftsgläubigkeit gemeint sein
kann.
Aber die Zeit ist vorbei und muss vorbei sein, da sich Theologie
und religiöse Weltdeutung verhielten, wie die drei
Gesprächspartner in Bertolt Brechts „Leben des Galilei“,
13 Vgl. dazu meinen Vortrag „Die Entstehung des Menschen und die Frage nach Gott“ auf meiner
Homepage www.vorlaender-lebensweise,de, Rubrik „Vorträge“ – sowie: Eugen Drewermann: Der
sechste Tag. Die Herkunft des Menschen und die Frage nach Gott, Zürich Düsseldorf, 1998-/2004;
und ders.: „…und es geschah so. Die moderne Biologie und die Frage nach Gott“, Zürich/Düsseldorf,
1999
16
sondern so, dass eine Mystik der Transzendenz-Offenheit
gerade das Erforschen der Natur in ständiger Lernbereitschaft
wahr-nimmt, rezipiert und integriert.
Bert Brecht schildert in seinem ‚Leben des Galilei‘ eine Szene im
Arbeitszimmer des Astronomen: Galilei hat vermittels des eben
erfundenen Fernrohrs Beobachtungen am Himmel gemacht, die seine
Theorie von der Bewegung der Erde um die Sonne stützen. Ein
Theologe, ein Mathematiker und ein Philosoph diskutieren mit ihm,
neben dem Fernrohr stehend, ob das, was das Fernrohr zeigt, möglich
ist… Ein Blick durchs Fernrohr würde die Zweifelnden überzeugen
können. Galilei lädt sie ein, durch das Rohr zu schauen, er bittet, sie, er
beschwört sie; sie aber sind sich völlig darüber im Klaren, dass die
Erscheinungen, die angeblich durch das Instrument zu sehen sind, gar
nicht existieren können. Ohne einen einzigen Blick durch das
Instrument geworfen zu haben, verlassen sie das Arbeitszimmer des
händeringend hinter ihnen herlaufenden Galilei.14
Wenn mystische Transzendenz-Offenheit zugleich
naturwissenschaftliche Erkenntnisse ernst zu nehmen hat, dann
geht es dabei um die Einheit der Wirklichkeit anstelle von
weltanschaulichen Paralleluniversen.
Gerade Theologie und Glaube sollten verstehen und rezipieren,
welche umwälzenden Entdeckungen allen voran die Physik in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zutage gefördert hat.
Moderne Physik und Evolutionsbiologie stoßen uns nicht nur,
wie bereits erwähnt, auf die Grenzen menschlichen Verstehens,
weil die beobachteten Phänomene die Möglichkeiten der
Analogiefindung sowie der sprachlichen Beschreibung und
Vermittlung sprengen, wie insbesondere Werner Heisenberg und
Carl Friedrich von Weizsäcker eindrucksvoll beschrieben haben..15
14 Diese schöne Zusammenfassung stammt von Hans-Martin Barth, Authentisch glauben, Impulse zu
einem neuen Selbstverständnis des Christentums, Gütersloh 2010, S. 15. 15 Durch die allgemeinen Relativitätstheorie und die Quantenpysik macht die moderne
Naturwissenschaft eine grundstürzende Erfahrung: Je mehr man weiß – tatsächlich begründet weiß
17
Vielmehr unterlaufen sie sämtliche überkommenen Weltbilder
und betreffen damit auch alle religiösen Auffassungen, da diese
immer auch ein bestimmtes Weltbild zur Grundlage haben. Das
gilt auch für die biblischen Texte.
Alle bisherigen Begriffe und Vorstellungen von „Natur“, „Welt“
und „Wirklichkeit“ gelten nicht mehr. Die Vorstellung der
vermeintlichen Konstanten Materie – Raum – Zeit, aber auch des
einlinigen Kausalitätsprinzips sind Geschichte. Nach der
Entdeckung der Quantenphysik war „Denken wie bisher nur
gestern richtig“.16
Für den religiösen und theologischen Lernprozess macht Jörg
Zink eine interessante Beobachtung, wenn er sagt: „Was die
Quanten- und die Relativitätstheorie geleistet hat, war, dass sie
unlösbare Probleme lösbar gemacht hat dadurch, dass sie
bestimmte Festlegungen vermied, dass sie also, was sie fand, nicht
widerspruchsfrei zu beschreiben versuchte… Ich möchte
vermuten, dass Ähnliches auch für das Feld religiösen Nachdenkens
gilt.“17 Damit benennt er den Punkt, an dem sich eine moderne
Mystik von einer dogmatisch ausformulierten Glaubenslehre
unterscheiden wird!
d) Ein anderer Umgang mit religiösen Vorstellungen und
biblischen oder kirchlichen Lehr-Inhalten
und mathematisch präzise berechnen kann! – desto mehr gerät man nicht nur an Grenzen der
menschlichen Sprache, sondern in neue unendliche Gebiete des Nicht-Wissens, man denke nur an das
astrophysikalische Thema der dunklen Energie (etwa in Verbindung mit dem Modell der
Vakuumfluktuationen im Universum) und der dunklen Materie: Nach derzeitigen Erkenntnissen ist
nur etwa ein Sechstel der Materie sichtbar!
Die Struktur des menschlichen Gehirns ist trotz seiner enormen Komplexität zu einfach, um das noch
Komplexere der Gesamt-Wirklichkeit zu verstehen. Wenn das bereits für die Teilchenphysik und die
Astrophysik gilt, wie viel mehr dann im Blick auf eine mögliche transzendente Wirklichkeit, wofür
wir den Begriff „Gott“ verwenden! „Vielleicht wird uns dabei auch deutlich“, so Zink (Urkraft 249),
„was mit unserer Theologie zu geschehen hat, wenn wir die Umbrüche in der heutigen
Naturwissenschaft zum Vergleich heranziehen“. 16 Joahnnes Hans A. Nikel, Die Mystik der Physik. Annäherung an das ganz Andere, Kiel 2010, S.62 17 Urkraft, S.258; Hervorhbg. von mir.
18
Wenn die Einsicht in unsere menschliche Erkenntnissituation
sich umstürzend gewandelt hat, dann relativieren sich auch
viele religiöse Vorstellungskomplexe, die in Form von Lehre
und Dogma nicht nur jahrhundertelang das Denken und den
Glauben bestimmten, sondern auch unzählige Religions-,
Kirchen- und Konfessionsstreitigkeiten, ja sogar Glaubenskriege
rechtfertigten. Denn mit der Unmöglichkeit, transzendente
Wirklichkeiten zu erkennen, werden notwendigerweise auch
alle Lehrstücke der Theologie relativiert, die „um des rechten
Glaubens willen“ als Postulate und Axiome zu glauben waren,
und die bis heute weitihin immer noch als „Tatsachen-
Wahrheiten“ verkündigt und geglaubt werden. Letzteres gilt für
die akademische Theologie hierzulande nur noch zum Teil, für
die Mehrheit der Gläubigen jedoch immer noch.
Mit den religiösen Vorstellungskomplexen und Lehrinhalten
meine ich zum Beispiel klassische Themen wie:
(Selbst)Offenbarung Gottes – Erwählungslehre (inkl. Erwählung
Israels) – Gottessohnschaft und Präexistenz Jesu –
Schöpfungslehre – Heilsgeschichte – Sünden- und
Gnadenlehre – die Lehre von den letzten Dingen (Eschologie)
usw…
In all diesen Lehrstücken hat die Theologie oft so gesprochen,
als handele es sich um Tatsachen- bzw. Wirklichkeitsaussagen
(im ontologischen Sinn) mit einem ein für allemal feststehenden
„Wahrheitsgehalt“. Aber „viel, was im Laufe der christlichen
Geschichte dogmatisch festgelegt wurde, wirkt sich in der Tat
heute so aus, dass der christliche Glaube dadurch seine
Glaubwürdigkeit verliert.“18
Eine moderne Mystik wird religiöse Vorstellungen und Lehren
nicht der Vergessenheit preisgeben. Ganz im Gegenteil! Sie wird
sich aber um neue Zugänge bemühen, indem sie zu verstehen
18 Urkraft, S. 258.
19
sucht, wie darin Menschen vergangener Zeiten ihre
Transzendenz-Offenheit vollzogen; wie sie ihrer Suche nach
Gott oder ihrer Gotteserfahrung Ausdruck gaben; und welche
Ur-Bilder der menschlichen Seele dabei zutage treten, die noch
heute archetypisch im Menschen angelegt sind. Religiöse
Mythen und Erzählungen (auch die in der Bibel), aber auch
theologische Dogmen und Lehren gehören in den Bereich
individueller und kollektiver Bewältigungsmechanismen
angesichts unseres fragilen und ungesicherten Daseins! Sie
dienen der Suche nach Orientierung und der Bändigung
unserer Urangst. Und sie alle sind ausnahmslos menschliches
Denken und Sprechen, Glauben und Hoffen, Finden und
Erfinden, vom diesseitigen Ufer aus, unter den (Erkenntnis-,
Geschichts- und Kultur-)Bedingungen irdisch-diesseitiger
Existenz.
Damit wird auch die protestantische Bibelfixiertheit
zurechtgerückt, ihre auffällige Autoritätsstellung, bzw. das, was
man in die Bibel qua Bibel hineinprojiziert.
Damit sind Bedeutung und Wert dieses einzigartigen religiösen
Dokumentes in keiner Weise geschmälert. Aber im
Protestantismus bestand und besteht die Gefahr, die Bibel an
die Stelle eines kirchlichen Lehramts zu stellen oder sie zu
vergöttlichen. Seltsamerweise hat selbst die historisch-kritische
Forschung dieses Phänomen nicht zu überwinden vermocht.
Mit der Bibel hat man – zumindest in Laienkreisen - eine quasi
göttliche „Instanz“, auf die man sich stets berufen kann, ohne
das Geglaubte oder Behauptete in die eigene Verantwortung
nehmen zu müssen. Besonders dort, wo man formelhaft von
„der Bibel“ spricht, ungeachtet der Tatsache, dass es sich um
eine ausgesprochen heterogene Schriftensammlung mit einer
1000-jährigen Entstehungsgeschichte handelt, ist Gefahr im
20
Verzug. Die Bibel gibt es nur aus Papier. Als Dokument von
Glaubenserfahrungen unterschiedlichster Zeiten und Orte
eignet sie sich nicht, um daraus eine „Lehre“ oder „ewige
Wahrheiten“ zu destillieren. Wo dies versucht wurde und wird,
hat man immer bereits interessengeleitete Vorentscheidungen
getroffen, die man dann „biblisch begründet“ sieht.
„Unser ganzes Christentum scheint mir an einer bestimmten
Mangelkrankheit zu leiden“, so Jörg Zink. „Man sagt uns…: Du
musst auf das Wort der Heiligen Schrift hören. Von dort aus
musst du fassen, was du glauben kannst.“ Aber „zu meinen,
Gott habe in der Bibel zum erstenmal zu Menschen geredet,
dürfen wir getrost als naiv ansehen…19 Gott hat, seit es
Menschen gibt, immer geredet, und die Menschen haben so viel
von ihm vernommen, wie der Bewusstseinsstufe entsprach, auf
der sie lebten. Wir alle sind, ob wir es wissen oder nicht, durch
diese tiefe und breite jahrtausendealte Überlieferung
bestimmt…. C.G Jung meinte gelegentlich, wenn wir etwas über
uns selbst wissen wollten, sollten wir doch immer einmal
wieder den hunderttausend Jahre alten Mann fragen,… die
hunderttausend Jahre alte Frau. Sie haben uns eine Menge zu
sagen… Erfahrung hat immer zwei Gestalten: unsere eigene
einerseits, die menschheitliche Gesamterfahrung
andererseits.“20
Gottsuche gewinnt dadurch etwas Entschränktes: Wenn es die
Transzendenz im Sinne des Göttlichen gibt, dann ist Gott nicht
erst vor 2500 vermittels des Judentums bzw. vor 2000 Jahren
durch Jesus von Nazareth an die Menschheit herangetreten.
Und erst recht nicht nur in unserem Kulturkreis oder aufgrund
der christlichen Mission. Beschränktes zu verlassen und das
19 vgl. auch Urkraft, S.130f.134ff.; K. Rahner, a.a.O., S.38. 20 Dornen, S. 30f.
21
Denken über Gott zu entschränken, war immer schon ein
Wesenszug mystischer Glaubenshaltung.
Damit kommen wir zu einer alles entscheidenden Kennzeichnung
moderner Mystik: dem Abschied von einem
projektionsgeleiteten Gottesglauben zugunsten einer Gott-
Offenheit, die nicht primär bedürfnisgeleitet ist. Die Zurücknahme
von Projektionen widersteht der Vernützlichung Gottes.
e) Zurücknahme von Projektionen
Der emeritierte Marburger Professor für Systematische
Theologie, Hans-Martin Barth, ist der Meinung21, dass die
Religionskritik Ludwig Feuerbachs mit ihrer berühmten
Projektionsthese mitnichten erledigt ist, sondern im Grunde
sogar radikalisiert werden muss. Denn es gebe gar keinen
religiösen Glauben, der nicht Projektion sei – einfach aus den
heute unwiderlegbaren erkenntnistheoretischen Gründen: Wir
haben kein Wissen über Gott und können darum die Beziehung
zu Gott, wie auch immer sie aussieht, nur gestalten auf der Basis
unserer Vorstellungen, Bilder und Projektionen.
Projektion bedeutet religionsphänomenologisch und religions-
psychologisch, dass man Gott mit bestimmten
bedürfnisgeleiteten Zuschreibungen versieht, ihn sozusagen mit
spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften ausstattet, um
anschließend daran Anteil zu gewinnen: Man kann nun von
Gott das erbeten, was man ihm zuvor zugeschrieben hat. Das
denkbar banalste, aber bis heute anzutreffende Beispiel ist das
Gebet um (gutes) Wetter. Zunächst wird Gott als Wettergott
21 Authentisch glauben, Impulse zu einem neuen Selbstverständnis des Christentums, Gütersloh, 2010,
S.15-36
22
angerufen („Ist er das?“ – „Aber natürlich, denn er ist doch
allmächtig!“). Anschließend folgt die Bitte. Dabei bittet der
Gemeindepfarrer um Sonne für das bevorstehende
Gemeindefest, während die Bauern ringsum, sofern sie beten,
denselben Gott um den dringend benötigten Regen bitten. Und
jeder weiß: Würde die Wettergottheit alle Wettergebete, die
weltweit zur gleichen Zeit an sie gerichtet werden, erhören,
hätten wir ein unvorstellbares Wetterchaos, das vermutlich eine
globale Klimakatastrophe auslösen würde. – Und dennoch betet
man um Wetter, auch heute noch, im 21. Jahrhundert; auch
hierzulande noch, unter Christen in Deutschland.
An dieser kleinen Humoreske wird deutlich, was religiöse
Projektion ist, und warum sie die archaische Grundform aller
Religion darstellt.
Für jeden Glaubenden geradezu existentiell aber wird die
Projektionsproblematik dort, wo es um das Leben selbst geht,
vielleicht nach einem schweren Unfall des eigenen Kindes,
angesichts der Krebserkrankung des Ehepartners oder der
unausweichlichen Konfrontation mit dem eigenen Sterben. Wir
möchten – wenn wir denn schon sterben müssen – so lange wie
möglich vor Schaden bewahrt und von Erkrankungen geheilt
werden! Lädt nicht die Bibel selbst dazu ein, diese Sorgen und
Ängste vor Gott zu bringen?
Wie ich bereits in den beiden Vorträgen zur Entstehung von
Religion22 eingehend referiert habe, entsteht Religion seit ihrer
vor-theistischen, animistischen Frühzeit aus Bedürfnissen, die
tief in der menschlichen Natur auf Grund der
Lebensbedingungen auf dieser Erde verwurzelt sind.
Namentlich handelt es sich um das Bedürfnis a) nach
Orientierung und b) nach Bewältigungsressourcen im
Daseinskampf.
22 Siehe meine Homepage vorlaender-lebensweise.de, Rubrik „Vorträge“
23
Zu a): Menschen brauch(t)en eine übernatürliche, höhere
Instanz zur Erklärung der Welt (der Naturphänomene und der
geschichtlichen oder biographischen Ereignisse), um sich
orientieren zu können. Das Bedürfnis nach Orientierung und
Kontrolle gehört nach Klaus Grave zu den vier biologisch
(genetisch) verankerten Grundbedürfnissen des Menschen23.
Orientierung ist aber nur möglich – wie jüngst die
Hirnforschung nachgewiesen hat - , wenn man sich Phänomene
oder Erfahrungen erklären kann. Bis heute wird daher Gott zur
Erklärung von etwas benutzt. Daraus entstand der
Schöpfungsglaube, die Geschichte vom Sündenfall sowie die
Annahme eines in der Geschichte handelnden Gottes –
ungeachtet aller daraus folgenden Aporien und der dadurch
allererst auf den Plan gerufenen Theodizeefrage!
Zu b): Menschen brauchen göttliche Kräfte oder Hilfestellungen
für die Daseinsbewältigung. Projektion ist darum in diesem
Zusammenhang kein psychischer Abwehrmechanismus, wie
Siegmund Freud ihn beschreibt, sondern ein Bedürfnis- und
Wunschmechanismus. Gott (und seine animistischen Vorläufer)
gilt dem Menschen vor allem als Ressourcenerweiterung in den
Grundverlegenheiten des Daseins, besonders aber als
Bewältigungshilfe bei Gefahr, Krankheit und Tod.
Dieser archaische Mechanismus gehört so sehr zur
menschlichen Grundausstattung, dass man sich nicht im
Geringsten der Illusion hingeben sollte, die Menschheit werde
sich in den nächsten tausend Jahren diese Haltung
abgewöhnen. Und vielleicht muss das auch gar nicht sein.
Archaische Muster sind beinahe von Ewigkeitsdauer. Und
darum wäre es völlig unangebracht, den Projektionscharakter
23 Klaus Grawe, Neuropsychotherapie, Göttingen 2004, S. 230ff.
24
religiösen Glaubens überwinden zu wollen, indem man ihn von
oben herab kritisiert, entlarvt oder gar lächerlich macht!
Schon in der Anthropologie des Alten Testaments ist die Seele
ursprünglich die Kehle24: Ort der grundlegendsten Bedürfnisse,
des Bedürfnisses nach Nahrung, Sicherheit, Schmerzfreiheit
usw. Die Kehle ist hier das Realsymbol für die menschliche
Bedürftigkeit schlechthin. Religiöser Glaube wird immer wieder
diese archaischen Muster beleben. Daraus können einfache,
kindliche und tröstende Glaubensformen erwachsen, aber
leider auch regressive, destruktive und (auto)aggressive.
Jede/r von uns, so kritisch und „aufgeklärt“ er/sie glauben und
denken mag, kennt Situationen der Bedrängnis, Angst oder
Überforderung, wo man sich auf einmal beten, betteln und
flehen hört wie ein kleines Kind. Und selbst, wo man weiß, dass
dabei Projektion im Spiel ist, spürt man zumindest eine
seelische Entlastung, was an sich bereits hilfreich erlebt wird
und darum auch legitim ist! Aber es muss zu denken geben,
wenn C.G. Jung sagt, dass, wenn erst einmal alle unsere
Projektionen zurückgenommen seien, sich die Frage der
Religion im Grunde erledigt habe. Gibt es denn keinen Glauben,
der aus etwas anderem besteht als aus Wunschvorstellungen
und Bedürfnisäußerungen?
Darum suche ich auf den Pfaden einer modernen Mystik
danach, Projektionen immerhin so weit zurückzunehmen, dass
Gott nicht der Gehilfe meiner Wünsche und Bedürfnisse ist.
Daraus erwächst eine andere Spiritualität, eine andere
Glaubensgestalt und eine andere Gebetspraxis: eine, die nicht
so viel erbittet! So wie Jesus in der Bergpredigt sagt: „Trachtet
zuerst nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit, so wird euch
das Übrige hinzu gegeben werden“ (Matthäus 6,33). Dieser Satz
sagt zu einer projektionsgeleiteten Glaubensweise eben nicht
24 Vgl. dazu Hans Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973.
25
einfach Ja und Amen. Gott lieben, nach Gerechtigkeit trachten -
das ist ein anderes religiöses Paradigma, sogar ein
religionskritisches! Und genau dies meine ich, wenn ich nach
einer neuen mystischen Glaubenshaltung suche.
Um eines ehrlichen Glaubens willen, zumal im Zeitalter
aufgeklärten, kritischen Bewusstseins finde ich daher, es
sei nötig und hilfreich, sich über diese elementare
Bedürfnisstruktur des Glaubens a) selbstkritisch
Rechenschaft abzulegen und b) Projektionen in die eigene
Verantwortung zu nehmen, d.h. so weit wie möglich
zurückzunehmen und loszulassen. Ich meine, dies gehöre
zur Redlichkeit eines „erwachsenen“ Glaubens und zum
menschlichen Reifungsprozess. Dies würde natürlich
unsere Gebetspraxis tiefgreifend verändern. Die
Zurücknahme von Projektionen kann aber zugleich als
große psychische Befreiung erfahren werden, weil Wahrheit
– auch in der Form ernüchternder Erkenntnis! – immer frei
macht.
f) Verantwortung für die Welt
Mit diesem fünften Merkmal einer modernen Mystik wechseln
wir nur auf den ersten Eindruck hin das Feld. Tatsächlich
handelt es sich aber um eine Dimension, die sich zur
Zurücknahme eines projektionshaften Glaubens geradezu
komplementär verhält. Dies entspricht im Übrigen in besonderer
Weise der Praxis Jesu selbst sowie dem Auftrag an seine Jünger,
Salz der Erde und Licht der Welt zu sein (Matthäus 5,13f.).
Viele mystische Traditionen kommen uns freilich extrem
weltabgewandt vor, andere muss man als ausgesprochen
individualistisch kennzeichnen (auch dort, wo das Individuum
sich - wie im Zen-Buddhismus - aufgeben und überwinden soll!).
26
Aber es gibt auch andere Traditionen. Charakteristisch für
solche Mystiker/innen ist: „Sie beginnen in einsamem Lernen
und Prüfen, sie machen mystische Erfahrungen, sie lösen sich
vom vorgeschriebenen Glauben und werden in religiösen
Dingen selbständig und unabhängig. Sie geraten in
Schwierigkeiten mit ihren Oberen und vorgesetzten oder ihren
Kirchen. Sie machen Leidens- und Einsamkeitserfahrungen in
den Kerkern der Inquisition oder anderer Mächte…. Sie machen
sich unabhängig von den politischen Meinungen ihrer Zeit,
entwerfen eine andere, eine gerechtere Gesellschaft, die sie mit
dem Reich Gottes in Verbindung bringen, und werden alsbald
von den Herrschenden ihres Landes als Aufrührer bekämpft…
oder auch von ihren Kirchen ausgestoßen und als Ketzer
behandelt… Sie waren zu unabhängig, und die Eigenheit ihres
Glaubens und ihre sozialrevolutionäre Energie waren im
Grunde eins.“25
Für eine Mystik im 21. Jahrhundert muss die aktive Mitarbeit im
Blick auf die Bewahrung der Schöpfung, die Suche nach
Gerechtigkeit und die Herstellung von Frieden gleichsam zum
„genetischen Code“ gehören. Der mystische Mensch wird sich
ja entschlossen und demütig als „Erdling“ verstehen. Sein Ort ist
bis auf Weiteres nicht der Himmel, sondern die Erde.26 Damit
sind dogmatische Sätze in Handlungssätze zu transponieren.
Schöpfungsglaube wird zu Schöpfungsverantwortung,
Rechtfertigung zum Trachten nach Recht und Gerechtigkeit,
Frieden mit Gott zum Streben nach Frieden in der Welt - exakt
in den Spuren Jesu von Nazareth. Dies alles ist freilich nicht neu,
sondern beispielsweise im Konziliaren Prozess schon längst,
25 Zink, Dornen, S.167; dort auch konkrete geschichtliche Beispiele. 26 Ich empfehle dazu das sehr lesenswerte Buch von Geiko Müller-Fahrenholz, Heimat Erde.
Christliche Spiritualität unter endzeitlichen Lebensbedingungen“, Gütersloh 2013. Das
missverständliche Attribut „endzeitlich“ wird vom Autor in der Einleitung erläutert.
27
durch die Enzyklika „Laudato si´“ von Papst Franziskus unlängst
zum Memorandum erhoben.
In der aktuellen Weltlage ist es zunehmend wichtig, Anschluss
zu gewinnen an Traditionen der Gewaltlosigkeit und des
Pazifismus. Ein solcher Pazifismus wird nicht mit einfachen
Grundsätzen auskommen, sondern angesichts der
hochkomplexen Krisenherde in der Welt nach „intelligenten“
Antworten suchen müssen, wobei er alle heute verfügbaren
Instrumente der Konfliktanalyse und der gewaltlosen Praxis
aktivieren wird.27
Indem Mystik den platonischen und christlichen Dualismus
überwindet und den Zusammenhang und –klang des Ganzen
denkt und voraussetzt (Holismus), entsteht das Bild der Welt als
vielschichtiger Verbundenheit und als Beziehungswirklichkeit.
Genau darum geht es ja bei den Nachhaltigkeitsthemen heute.
Eine solche sozialkritische, ökologische und politische Mystik ist
in den vergangenen Jahrzehnten verschiedentlich vertreten und
weiter entwickelt worden von Theolog/innen wie Dorothee Sölle,
Johann Baptist Metz, Roger Schütz, Paul M. Zulehner,
Vertreter/innen der (lateinamerikanischen) Befreiungstheologie
sowie jüngst - in beeindruckender Weise - von Geiko Müller-
Fahrenholz28. – Dorothee Sölle betitelt ihr Buch mit „Mystik und
Widerstand“; Frère Roger sprach von „Aktion und
Kontemplation“.
Im letzten Teil möchte ich nun den Vollzug einer Haltung und Praxis,
der ich einstweilen den Hilfsnamen „moderne Mystik“ gebe, in
spiritueller Hinsicht beschreiben.
27 Vgl. zur Gewaltproblematik: René Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheits-
verhängnisses, Freiburg 2009 28 a.a.O., S. 69ff. und 121ff.
28
III.
Mystik als Lebensvollzug des Vertrauens
im Licht der Transzendenz
Der (emeritierte) Marburger Professor für Praktische Theologie,
Gerhard Marcel Martin, hat 2007 auf einem ZIST-Kongress in
Garmisch-Partenkirchen einen inspirierenden Vortrag gehalten mit
dem Titel „Leben im Rhythmus der Seele“.29 Es handelt sich um
höchst originelle Gedanken im Blick auf die Frage, was eigentlich im
Glaubensvollzug psychologisch und spirituell geschieht, was da in uns
abläuft, m.a.W. „was unsere Seele macht, wenn sie glaubt“ (ohne den
Begriff „Seele“ dabei genauer definieren zu müssen). Und dafür
benutzt er ein Modell, wonach sich unser Leben ereignet „im
zweipoligen Kontaktbereich zwischen irdischem Leben und göttlicher
Transzendenz“.
Auch für G. M. Martin gilt: Wir Menschen sind Erdwesen; die
Transzendenz ist uns als solche unzugänglich. Jedoch befindet sich
unsere Seele gerade in dem „Dazwischen“ von Immanenz und
Transzendenz. Dazu benötigen wir kein Weltbild, in dem festgehalten
wird, wie sich Transzendenz und Immanenz zueinander verhalten, ob
sie einander gegenüber stehen oder sich vielleicht vollständig
durchdringen usw. Das alles wissen wir so wenig, wie wir über Gott
Bescheid wissen.
Atheisten freilich bestreiten die Transzendenz, als folge aus unserer
Erkenntnisgrenze, dass die sinnlich erfahrbare oder empirisch
(zumindest potentiell) beschreibbare Wirklichkeit bereits alles sei.
29 Der Vortrag liegt mir als CD vor (2008) - von: Auditorium Netzwerk, hrg. Bernd Ulrich, -
www.auditorium-netzwerk.de / [email protected]
29
Agnostiker lassen die Frage nach der Transzendenz einfach offen.
Mystik rechnet damit, dass das Wirklichkeitsganze nicht nur die
(bereits unendlich erscheinende oder vieldimensionale30)
physikalische Immanenz umfasst, sondern dass die Immanenz noch
einmal umfangen oder durchdrungen wird von einer qualitativ mit
ihr nicht identischen Transzendenz, wofür wir traditionell das Wort
„Gott“ verwenden. Dabei ist klar, dass man auch hier von Projektion
sprechen könnte. Das würde aber für die Bestreitung der
Transzendenz gleichermaßen gelten! In diesem Fall findet nämlich
ebenfalls eine Zuschreibung statt. Jetzt nämlich wird der Immanenz
zugeschrieben, es handele sich bei ihr bereits um das umfassend
Ganze. Jedoch ist in dieser Fragehinsicht der Begriff der Projektion
nicht sehr hilfreich, weil es sich hier nicht um eine bedürfnisgeleitete
Angelegenheit handelt. Es geht allerdings um eine (zutiefst
persönliche) Entscheidung, die keine allgemein gültige Begründung
anführen kann: Vor welche Art von Wirklichkeit sehe ich mich gestellt?
Rechne ich mit einer transzendenz- oder gottfreien
Gesamtwirklichkeit; oder rechne ich damit, dass zum
Wirklichkeitsganzen sowohl die (physikalische) Immanenz als auch
diejenige Dimension gehört, die wir mit der Chiffre Transzendenz oder
Gott bezeichnen.
Im Kontaktbereich zwischen unserer Erdhaftigkeit und der
verborgenen transzendenten Wirklichkeit findet in mystischer
Vorstellung gerade das wirkliche Leben statt, die höchste
Lebendigkeit unserer Seele, unseres inneren Lebens; hier ist die
Energie!
Aber welche Art von Energie?
Nicht im Sinne eines bedürfnisgesteuerten projizierenden Glaubens,
sondern als eine Haltung, die ich wunderschön in Worte gefasst finde
30 Manche Physiker vermuten heute, dass es viel mehr Dimensionen gebe als uns Menschen bisher
bekannt und jemals zugänglich. Schon das sollte zu denken geben.
30
in einem Liedvers des evangelischen Mystikers Gerhardt Teerstegen
(1697-1769). Auch wenn ich heute viele Formulierungen seines Liedes
„Gott ist gegenwärtig“ nicht mehr einfach so nachsprechen könnte,
so hat es der folgende Vers jedoch in sich und eignet sich als Beispiel
für die Grundhaltung einer Mystik, wie sie mir zugänglich und sehr
sinnvoll erscheint. Der Vers lautet:
Du durchdringest alles,
lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
und der Sonne stille halten,
lass mich so, still und froh,
deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen.
EG 165, 6
Mit dieser poetischen Formulierung Tersteegens wird eine
umfassende Daseinshaltung beschrieben und angestrebt, die sich löst
von allem metaphysischen Wissenwollen, die mit ganz wenig
„Theologie“ auskommt, die im Grunde genommen aus einem
Loslassen erwächst, aber zugleich unendlich befreiend, ja geradezu
erlösend ist: Ich nehme der transzendenten Wirklichkeit gegenüber eine
Haltung des Vertrauens ein!
Man muss die ersten drei Worte – „du durchdringest alles“ - nur
einmal meditieren und auf konkrete Lebensfelder beziehen:
das bisherige Leben annehmen: Du durchdringest alles!
das Ineinander und Zugleich von Glauben und Zweifel
annehmen: Du durchdringest alles!
Nicht mehr glauben können: Du durchdringest alles!
31
Krankheit, Altwerden und Sterben annehmen: Du durchdringest
alles!
Die Schönheit der Welt und das Glück der Welt auskosten: Du
durchdringest alles!
Ohnmacht und Scheitern zulassen: Du durchdringest alles!
Der Liedvers zielt darauf, in allen Bezügen die transzendente
Wirklichkeit, die wir Gott nennen, wirken zu lassen – in der
Vorstellung, dass wir es dabei mit einer Wirklichkeit des Lichtes, der
Wärme, des Lebens zu tun haben. Lebensvollzug im Licht der
Transzendenz heißt, „deine Strahlen fassen und dich wirken lassen“.
Man könnte dies wiederum als eine Projektion bezeichnen. Ich
spreche aber lieber von Imagination. Imagination ist die Suche nach
Bildern, die tief genug reichen, um an die Tiefenschichten der
menschlichen Urangst wie der menschlichen Sehnsucht zu reichen. Und
es zeigt sich, dass die Bilder, in denen wir uns verankern, unser Leben
höchst real beeinflussen und prägen.
Was wir brauchen, ist das Gewahrsein oder zumindest das Rechnen
mit einer
Wirklichkeit, die nicht an den Grenzen unserer Sinne, an den Grenzen
der Empirie Halt macht.31
Dieses spirituelle Leben verläuft allerdings nicht geradlinig und mit
gleicher Strömungsgeschwindigkeit. Und ob es jemals einen „Aufstieg
der Seele“ gibt und eine “Verschmelzung“ mit dem Göttlichen, wie
viele Mystiker sie suchen, ist auch fraglich.
31 „Was heißt denn ‚Jenseits‘? Wenn ich einem Goldfisch ein Gedicht von Hölderlin vorlese, so darf
ich sicher sein, dass es für ihn jenseitig bleibt… Es dringt nicht bis zu ihm durch… Jedes Wesen
dieser Erde hat seine eigene Umwelt, und jedes dürfte wohl die seine für die einzige halten, die es
wirklich gibt… Aber hinter jeder Grenze der Sinne des einen oder des anderen setzt sich die
Wirklichkeit fort… und keiner Grenze irgendeiner Sinneswahrnehmung sollte man glauben, dass sie
das Ende der Welt markiere“ (Zink, Dornen 340).
32
Gerhard Marcel Martin hat diese Dynamik religionspsychologisch
betrachtet anhand der Metapher der „Jahreszeiten der Seele“ (= der
Gottes- oder Transzendenzbeziehung). Ich nehme seine
Assoziationen auf, nehme aber eigenen Beispiele und Konkretionen
hinzu.
Frühling:
Der Frühling der glaubenden Seele zeigt sich im Jubel, im Jubilieren
ohne Verstand und ohne Worte (Augustinus), in der Ekstase, im Tanz.
Frühling der Seele, das sind religionsphänomenologisch und
religionspsychologisch alle Arten von Geist- oder Pfingsterfahrungen
mit teilweise extremen und merkwürdigen Begleiterscheinungen wie
etwa bei den gott-trunkenen, tanzenden Sufis oder Chassiden oder
wie in der Gemeinde von Korinth, die Paulus dann regelrecht zur
Verantwortung rufen muss.
Das Jubilieren der Seele heißt für G. M. Martin: „Das Herz möchte
gebären, was sich mit Worten nicht sagen lässt“.
Wenn es das gibt, dann ist eine gewisse Toleranz nötig und geboten
gegenüber Individuen und religiösen Gruppen, die gerade in ihrer
Jubelphase sind. Verliebten gegenüber bemüht man sich ja auch um
Toleranz. Für mich bedeutet das zum Beispiel auch, mir klar zu
machen, dass die derzeit zur Mode gewordenen und von mir oft
kritisierten charismatischen Anbetungsgottesdienste genau in diesen
Zusammenhang gehören. Peinlich und destruktiv wird es immer dort,
wo der Frühling zum „ewigen Frühling“ gemacht oder erklärt wird.
Sommer:
Was könnte im Sinne der „Jahreszeiten der Seele“ im zweipoligen
Kontaktbereich zwischen irdischer Existenz und göttlicher
Transzendenz mit der Metapher des Sommers in den Blick treten?
33
Sommer könnte das stille Einvernehmen zwischen Gott und Mensch
sein, die Zeit, in der der Glaube das Selbstverständlichste von der
Welt ist. Zwischen Gott und Mensch ereignet sich nichts
Dramatisches, weder als Begegnung noch als Verlust. Viele Menschen
befinden sich in ihrem spirituellen Sommer mit Gott wie in einer
vertrauten Wohngemeinschaft, vielleicht auch wie in einer stabilen
Ehe. Es gibt nichts Grundsätzliches zu diskutieren, jeder hat seinen
Platz und seine Aufgabe. Gott gilt als elementar anwesend, auch
wenn man ihn nicht dauernd benötigen oder herbeirufen muss.
Aber so wie „der Frühling seinen Stimmbruch kennt“ (G. M. Martin)
und das Jubilieren seine Zeit hat, so hat auch der Sommer seine Zeit.
Wir kommen damit zu der viel schwierigeren Jahreszeit der Seele
(oder des Glaubens), vielleicht aber auch zu der mit dem größten
Gewicht:
Herbst:
Gott und Mensch bringen vielleicht gemeinsam die Früchte ein, aber
sie ziehen sich auch voneinander zurück. Das ist natürlich erneut
gänzlich metaphorisch gesprochen. Aber manche Glaubenden
erleben den Herbst genau so: Man hat Glaubensphasen hinter sich,
in die man zwar jetzt nicht mehr zurückfindet; aber sie waren gut,
reich, schön, lebendig, vielleicht auch ein wenig naiv oder allzu
idealistisch; vielleicht hat man für Gott Opfer gebracht und sogar
versucht, ein wenig die Welt zu retten. Herbst kann in diesem Sinne
durchaus Zeit der Dankbarkeit sein: „In wie viel Not hat nicht der
gnädige Gott über dir Flügel gebreitet!“ Aber Herbst lässt zugleich
den Winter ahnen. Herbst und Winter der Seele: Man kann nicht
mehr so glauben wie vorher, nicht mehr so selbstverständlich; und so
jubeln wie einst erst recht nicht! Es ist, als hätte Gott sich
irgendwohin zurückgezogen. Man selbst meidet vielleicht die
bekannten religiösen Veranstaltungen, weil sie einem nichts mehr
34
sagen oder sogar ungenießbar erscheinen. Und das Gebet gelingt
allenfalls als stilles Schweigen vor Gott.
Winter:
Dem Herbst der Seele folgt der Wintereinbruch: Wo ist Gott? Gibt es
ihn überhaupt? Sich allein gelassen fühlen, Sterbensängste…
irritierende Fremdheitsgefühle gegenüber dem einst so vertrauten
Glauben und Christentum.
Erstarrung, Seelenfrost, Glaubensverlust. Wie rettet man seine Seele?
Allerdings kann sich im Winter das Unerwartete einstellen: Jenseits
alles ehemals so selbstverständlichen (und doch vielleicht auch nur
nachgeahmten) Glaubens, jenseits aller ehemals so überzeugenden
(aber vielleicht auch nur vorgetäuschten) Antworten, jenseits von
Glaubenserosion oder befürchtetem Kältetod der Seele kann es zu
Erfahrungen kommen, die das Gottesjubilieren im Seelenfrühling
nicht gekannt noch geahnt hat. Es kann zu einem tiefen
„Beieinander“ von irdischem Leben und göttlichem
Transzendenzbereich kommen, zu einer seltsam beflügelnden neuen
spirituellen Lebendigkeit.
Blüh auf, gefror’ner Christ!
Der Mai steht vor der Tür.
Du bleibest ewig tot,
blühst du nicht jetzt und hier.
Angelus Silesius
Was ereignet sich da? Vielleicht kommt es zu einer unvergleichlichen
Freiheit und Leichtigkeit der Seele. Irgendwie hat man in Sachen
Glauben „verloren“ -
(s. o. zu den erkenntniskrischen Einsichten); das heißt aber, dass jetzt
das Spiel beginnen kann. Sich gelöst haben, um gelöst zu sein. Kann
35
man sogar im Einüben von Vertrauen im Licht der Transzendenz
dahin gelangen, selbst das Sterben nicht zu ernst nehmen,oder greift
man damit zu den Sternen? Ernst Jandl dichtet (Gedichte an die
Kindheit):
„Dass alle Menschen etwa eine einzige Seele möchten sein,
die reicht, so lang sie leben, in ihre Körper hinein,
und schnappt, sobald sie sterben, dann irgendwie zurück,
in diesen Seelenleib, in dieses unbeschreibliche Glück –
das wollt ich gerne hoffen.“
Man sieht dem Tiger ein letztes Mal in die Augen, der Vorhang öffnet
sich, und man wird gewahr, auf einer Berghöhe zu stehen, mit
weitem Blick über das Land.
Güte kann einziehen, Humor und vielleicht ein bisschen Leicht-Sinn.
Gut schlafen kann man. Und, so lange es geht, wird man jetzt vor
allem die Hände und alle Sinne benutzen. Die Hände: um Kohl zu
ernten, Kartoffeln zu schälen, mit Kindern im Sand zu spielen. Und
die Sinne: Sich an einen Baum lehnen, als sei er mein Bruder, den
Wind spüren, den Nebel unten im Tal betrachten, Muße feiern.
Und vielleicht auch dies: Der nachkommenden Generation wenig
Ratschläge erteilen, aber sich für verantwortliche Weichenstellungen
zugunsten einer enkelfreundlichen Welt bis zuletzt einsetzen.
Leben im Kontaktbereich zwischen irdischem Dasein und
transzendenter Wirklichkeit:
Freiheit und Leichtigkeit halten Einzug.
Das Ende alles Dogmatischen ist gekommen.
Der Glaube wandert fröhlich, weil mit leichtem Gepäck.
Gott wird nicht mehr „gewusst“ und besessen, sondern geahnt und
geliebt.
Aus der spirituellen Kargheit sprießen Blumen.
36
Auf fettem Boden kann kein guter Wein entstehen. Und die
Bergfichten, die alleine für den Geigenbau geeignet sind, wachsen in
vegetationsschwachen Gebirgsregionen.
Radikale Mystik bejaht die Kargheit des Bodens, weil es um guten
Wein und erlesenen Klang geht, spirituell.
Zu fragen bleibt:
Wie lebt man das im eigenen Inneren?
Welche Gemeinschaften bilden sich dafür?
Wie lässt sich das nach außen kommunizieren?
Es leuchten dir
der Himmelslichter Zier.
Ich sein dein Sternlein – hier
und dort zu funkeln.
Nun kehr ich ein.
Herr, rede du allein
beim tiefsten Stillesein
zu mir im Dunkeln. Gerhardt Teerstegen
________________________________________________________________
Nümbrecht, 5. November 2016
www.vorlaender-lebensWEISE.de