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1 1 Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Verschlusssache Nur für den Dienstgebrauch Über das sichere Herkunftsland Bosnien-Herzegowina Autor und Regie: Rainer Schwochow Redaktion: Karin Beindorff Produktion: Dlf/Eigenproduktion 2017 Erstsendung: Dienstag, 30.05. 2017, 19.15 Uhr Autor Frank Arnold Sprecher 1 Joachim Schönfeld Übersetzerin 1: Melina Cathlen Gawlich Übersetzerin 2: Larisa Nadja Schulz-Berlinhoff Übersetzerin 3: Begzada Anja Antonowicz Übersetzer 1: Dervo Sejdic Axel Wandtke Übersetzer 2: Ernad Maximilian Held Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar

Das Feature Verschlusssache Nur für den Dienstgebrauch ... · Der Frankfurter Rechtsanwalt für Ausländerrecht Dr. Reinhard Marx schreibt in einem Aufsatz: Sprecher 1 ... die wiederum

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Page 1: Das Feature Verschlusssache Nur für den Dienstgebrauch ... · Der Frankfurter Rechtsanwalt für Ausländerrecht Dr. Reinhard Marx schreibt in einem Aufsatz: Sprecher 1 ... die wiederum

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch Über das sichere Herkunftsland Bosnien-Herzegowina

Autor und Regie: Rainer Schwochow Redaktion: Karin Beindorff Produktion: Dlf/Eigenproduktion 2017 Erstsendung: Dienstag, 30.05. 2017, 19.15 Uhr

Autor Frank Arnold Sprecher 1 Joachim Schönfeld Übersetzerin 1: Melina Cathlen Gawlich Übersetzerin 2: Larisa Nadja Schulz-Berlinhoff Übersetzerin 3: Begzada Anja Antonowicz Übersetzer 1: Dervo Sejdic Axel Wandtke Übersetzer 2: Ernad Maximilian Held

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

© - unkorrigiertes Exemplar

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Autor

Im Herbst 2016 finde ich in meinem Briefkasten einen Umschlag. Der Absender ist

anonym.

Musik

Ansage:

„Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“

Über das sichere Herkunftsland Bosnien-Herzegowina

Ein Feature von Rainer Schwochow

Autor

Wer hat es mir zugeschickt? Und vor allem – weshalb? Will mich jemand

aufmerksam machen auf ein Thema, das ihm auf den Nägeln brennt?

Diese Fragen gehen mir durch den Kopf, als ich das Papier lese.

Sprecher 1

Auswärtiges Amt.

Bericht im Hinblick auf die Einstufung von Bosnien und Herzegowina als sicheres

Herkunftsland.

Autor

Ich bin kein Spezialist für „Sichere Herkunftsländer.“ Gut, ich war zweimal in Bosnien

und habe die Geschichte einer Flüchtlingsfamilie recherchiert. Und ich war in

Afghanistan. Kurz nach meiner Rückkehr begann die Debatte darüber, ob das Land

am Hindukusch ‚teilweise als sicher‘ gelten könne. Was ich nun lese fällt deshalb auf

fruchtbaren Boden. Nach einer kurzen Suche im Internet finde ich denselben Bericht

des Auswärtigen Amtes - diesmal in einer jedem zugänglichen Variante. Im

Gegensatz zu dem mir zugeschickten Papier sind hier allerdings viele Stellen hinter

einem schwarzen Balken verborgen. So wie diese:

Sprecher 1

Punkt 2, Absatz 1. Asylrelevante Tatsachen: Staatliche Repressionen

Das weiterhin vorhandene Misstrauen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen

spiegelt sich, je nach örtlicher ethnischer Konstellation, auch im Verhältnis der

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Staatsgewalt zu den Bürgern wieder. Dies kann im Verwaltungsalltag, insbesondere

auf Ebene der Gemeinden, zu gezielten Benachteiligungen bei Beschäftigung führen.

Dazu zählen z.B. die Besetzung von Stellen im Verwaltungsbereich nach ethnischen

Kriterien.

Autor

Offenbar soll die Öffentlichkeit nicht erfahren, was das Auswärtige Amt über den

Balkanstaat weiß. Ein Grund mehr, mich damit zu befassen. Zuerst finde ich eine

Stellungnahme des UNHCR – das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen – vom

Februar 2014:

Sprecher 1

„Zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Einstufung weiterer Staaten als

sichere Herkunftsstaaten“

Die deutsche Rechtslage genügt nicht europarechtlichen Vorgaben. Hinsichtlich der

Einordnung der genannten Staaten (Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien)

als sicher - bestehen aus Sicht von UNHCR zumindest Zweifel.

Autor

Im Juli 2014 trat Innenminister Thomas de Maiziere ans Rednerpult im Deutschen

Bundestag.

O-Ton De Maiziere

Die Anhörung im Deutschen Bundestag hat unsere Einschätzung bestätigt, dass

diese drei Staaten als sichere Herkunftsstaaten angesehen werden können. Dort

drohen weder Verfolgung, noch Folter, noch unmenschliche Behandlung. Das gilt

auch in Bezug auf die Volksgruppe der Sinti und Roma.

Sprecher 1

Bericht des Auswärtigen Amtes zur Einstufung von Bosnien und Herzegowina als

sicheres Herkunftsland. Zusammenfassung: Angehörige der Roma sind in vielen

Belangen nach wie vor gesellschaftlich benachteiligt.

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Autor

Ich suche Kontakt zu Roma aus Bosnien, die in Deutschland leben. Doch keiner

möchte etwas über seine Geschichte und seine Erfahrungen in ein Mikrofon

sprechen. Selbst wer kein laufendes Asylverfahren hat, scheint verängstigt. Kurz

entschlossen besteige ich im Januar 2017 das Flugzeug nach Sarajevo. Im Gepäck

das ungeschwärzte Dokument und ein paar Kontaktadressen.

O-Ton Melina

Übersetzerin 1

Ich bin natürlich keine typische Roma, oder besser gesagt, so, wie man sich in

Bosnien die Roma vorstellt. Die verbreitete Vorstellung ist, dass Roma nicht in die

Schule gehen, dass Romafrauen sehr jung heiraten. Aber ich bin zum Gymnasium

gegangen, habe studiert, also ich bin wirklich nicht typisch.

Autor

Visoko, eine halbe Autostunde von Sarajevo entfernt.

Melina Halilovic wollte mich unbedingt in einem Cafè treffen. In ihrem Büro sei es zu

eng, zu voll, zu ungemütlich.

O-Ton Melina

Übersetzerin 1

Generell ist es in Bosnien sehr schwer für Roma, weil sie überall diskriminiert

werden. Das beginnt mit Schimpfworten in der Schule. Du bist ein Zigeuner, du lebst

in einem Zigeunerhaus, du bist schmutzig und ähnliches. Das war für mich sehr

schwer, weil ich gar nicht so war. Als Kind von 8 oder 9 Jahren willst du sein wie alle

anderen, du willst spielen mit den anderen. Aber stattdessen musst du dir diese

Schimpfworte anhören. Heute arbeite ich mit Kindern, die immer noch die gleichen

Probleme haben. Aber die Diskriminierung kommt nicht nur von den andern Kindern,

sondern auch von den Lehrern.

Autor

Diskriminierung ist eines der Wörter, das ich in den folgenden Tagen andauernd

hören werde. Und ich stelle dann immer die gleiche Frage: Was bedeutet das genau

im Alltag?

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O-Ton Melina

Übersetzerin 1

Lehrer richten eine extra Klasse für Romakinder ein. Das funktioniert ganz einfach:

Die Kinder von armen Leuten und Roma kommen in die eine Klasse, und die Kinder

von Eltern, die Geld haben oder was zu sagen, kommen in eine andere. Und

außerdem gibt es die sogenannte positive Diskriminierung. Die Lehrer sagen: Gut,

ich gebe dir eine bessere Note, damit du in die nächste Klasse kommst. Dann kommt

das Kind in die nächste Klasse, vielleicht sogar auf die höhere Schule. Und so kann

es passieren, dass dort ein Kind sitzt, das nicht richtig lesen und schreiben kann.

Autor

Zu Hause hatte ich Berichte über Asylverfahren gelesen. Immer wieder wurde vor

Gericht darüber gestritten, ob bloße Diskriminierung für eine Anerkennung als

Flüchtling ausreicht. Der Frankfurter Rechtsanwalt für Ausländerrecht Dr. Reinhard

Marx schreibt in einem Aufsatz:

Sprecher 1

Als Fluchtgrund werden ernsthafte Verletzungen der Menschenrechte anerkannt.

Das kann bei systematischer Diskriminierung der Fall sein.

O-Ton Melina

Übersetzerin 1

Natürlich ist das nicht nur die Schuld der Schule, sondern auch die der Eltern. Viele

Romaeltern respektieren die Schule nicht und schicken ihre Kinder einfach nicht hin.

In Bosnien gibt es auch Gesetze, dass die Kinder in die Schule gehen müssen. Und

eigentlich müssten die Eltern auch Strafe zahlen, wenn sie ihre Kinder nicht

schicken. Aber die Polizei möchte wegen solcher Dinge keinen Ärger haben. Das

interessiert sie einfach nicht. Sie finden es unwichtig.

Sprecher 1

Analyse des Auswärtigen Amtes, Punkt 2, Absatz 1.3: Asylrelevante Tatsachen

Roma können – auch im Vergleich zu Angehörigen anderer Minderheiten – in

verschiedenen Bereichen nicht auf ausreichende Unterstützung staatlicher Stellen

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hoffen.

Autor

Es gäbe noch vieles vom Gespräch mit Melina zu berichten. Über ihren Verein „Be

my friend“, der Romakindern und Romafrauen im Alltag hilft. Der Fördergelder aus

dem Ausland locker machte für die Frauen; die wiederum mit dem Geld eine eigene

Kuh kauften, aus der Milch Käse erzeugen und diesen auf den Markt verkaufen.

Kurzum: die Frauen konnten die absolute Abhängigkeit von ihren Männern beenden.

Das alles erzählt viel über den Alltag von Roma in Bosnien. Aber Antworten auf

meine Fragen sind das eher nicht.

O-Ton Melina

Übersetzerin 1

Manche Leute sagen, es ist doch gar nicht so schlimm hier, die Menschen sollen hier

bleiben. Aber ich bin Realistin, ich sage, wer sein Glück im Ausland finden kann, dem

sage ich, versuch dein Glück.

Autor

Im vergangenen Jahr haben 60 bis 80.000 junge Menschen Bosnien verlassen. Sie

glauben nicht mehr an eine Verbesserung ihrer Lebensumstände durch die Politik,

an Gerechtigkeit, sie glauben nicht mehr daran, dass die EU in ihrem Land etwas

zum Besseren bewegen wird.

Ehe ich mich von Melina verabschiede, stelle ich eine letzte Frage:

Ob sie mir eines der typischen Romaviertel zeigen könne?

O-Ton/Atmo Melina

Autor

Adam hat seine Kindheit als Flüchtling in Deutschland verbracht. Jetzt begleitet er

mich im Auftrag von Melina zur Romasiedlung. Am Stadtrand verlassen wir die

Hauptstraße. Der Weg führt den Berg hinauf. Je höher wir fahren, desto tiefer werden

die Löcher.

Wir passieren einen Berg aus Schrott, hoch wie ein Wohnhaus. Rostige Stahlträger,

Fahrradrahmen, Eisenrohre, Drähte. Wir parken. Als wir aussteigen, versinken wir im

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Schneematsch. Zwei Kinder kommen neugierig heran, bleiben in sicherem Abstand

stehen, beobachten den Eindringling. Müssten sie jetzt nicht in der Schule sein,

denke ich.

Ein paar Meter weiter tauchen hinter der geöffneten Motorhaube eines Autos zwei

Männerköpfe auf, nehmen uns ins Visier. Adam geht auf die Männer zu, ich

verstecke mein Mikrofon, sehe mich um.

Atmo Stimmen

Autor

Wie ein verendetes Tier liegt ein VW-Transporter umgekippt auf der Seite. Ein Mann

mittleren Alters schlägt mit einem gewaltigen Vorschlaghammer auf die Bodenplatte

ein. Auf der anderen Seite des Wegs stapeln sich Kühlschränke, Stühle, Fernseher,

Getränkedosen, Plastiksäcke, Spielzeug. Alles wird zerlegt und auf verwertbare

Bestandteile untersucht. Was übrig bleibt, landet auf dem meterhohen Haufen von

Müll. Dazwischen spielen Kinder. Fünf Häuser mit halbhohen Mauern aus Stein,

unverputzt. Darüber Konstruktionen aus roh zusammengenagelten Brettern. Obenauf

Plastikplatten als Dachersatz. Große, aufgelegte Steine dienen als Befestigung. Wie

viele Menschen mögen hier leben? Fünfundzwanzig? Dreißig? Mehr? Eine

Sperrholzbude, abgedeckt mit wehender Plastikfolie: die einzige Toilette für die

kleine Siedlung. Als ich das Mikrofon aus der Tasche hole, verschwinden alle

Bewohner so schnell, als sei ich eine Bedrohung.

Atmo Frau

Autor

In der Tür eines der Häuser erscheint eine Frau. Die schwarzen Haare akkurat zu

einem Zopf gewunden, dicke Watteweste, auf dem Arm ein Junge, zwei Jahre mag

er sein. Sie winkt mich heran. Ein Blick zu Adam, der nickt mir zu. Während er bei

den Männern bleibt, gehe ich unsicher die wenigen Schritte zu der Frau. Sie redet

auf mich ein. Ihre Worte verstehe ich nicht, aber ihre Geste lädt mich ins Haus ein.

Musik

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Autor

Auf Strümpfen betreten wir einen Vorraum, eng wie eine Höhle. Ein Kocher, zwei

Flammen, gespeist aus einer rostzerfressenen Gasflasche. Ein Kühlschrank, rostig

auch er. Die Frau öffnet die Tür. Der Inhalt ist übersichtlich: eine Colaflasche, ein

Brot, Milch. Sie zeigt auf sich, dann zieht sie mit der Hand einen Kreis. Das ist für alle

hier, will sie mir wohl sagen. Das angrenzende Zimmer, vielleicht drei mal vier Meter

groß, hat keine Tür. Ein jahrzehntealtes Buffet, eine durchgelegene Couch, ein

Fernseher. Auf dem Fußboden ein verschlissener Teppich. Hier schlafen alle

zusammen, zeigt sie mir mit ihren Händen, Eltern, Großeltern, fünf Kinder. Dann

deutet sie auf ein Foto an der Wand. Ein Mann, vier Kinder, sie selbst auf einem

Spielplatz. „Njemačka“, sagt sie. „Tri puta“. Und noch einmal: „Njemačka“, und zeigt

auf sich. „Njemačka dobro.“ Ich ahne, was sie meint. Dreimal waren sie in

Deutschland. Nun sind sie wieder hier.

Neben dem Zimmer eine Kammer. Es ist unmöglich, hineinzugehen. Der Raum ist

Ablageplatz für Stoffreste, Kleider, Decken, Tüll, Bettzeug. Ein wirrer Haufen,

mannshoch. „Njemačka dobro“, Deutschland gut, sagt sie noch einmal und greift

nach meinem Arm.

Atmosphäre Stimmen, außen

Autor

Schweigend verlasse ich das Haus. „Hast Du genug gesehen?“, ruft Adam. Ich nicke.

Was soll ich auch sagen? Ein Gruß zum Abschied, plötzlich sind die Gesichter nicht

mehr abweisend. Oder bilde ich mir das nur ein? Wortlos besteigen wir das Auto.

„Das waren die, zu denen wir Kontakt haben“, sagt Adam drinnen. „ Es gibt Viertel, in

die gehen auch wir nicht hinein.“

Musik

Autor

Armut allein ist kein Grund für Asyl nach deutschem Recht. Doch dass Menschen

solchem Elend entkommen wollen, das versteht jeder. Und wenn sie dann nach

abgelehntem Asylantrag zurückkehren müssen und es ihnen noch schlechter geht

als zuvor? Und wenn das in auffallender Weise eine Minderheit im Land betrifft?

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Sprecher 1

Bericht des Auswärtigen Amtes, Punkt 2, Absatz 1.3., Asylrelevante Tatsachen

Besonders problematisch sind Fragen der Aussiedlung und Unterkunft. Als

Rückkehrer leben Roma häufig in provisorischen Siedlungen mit unzureichenden

Versorgungsverhältnissen und mangelnder Hygiene. Nach Erkenntnissen der

Botschaft werden Roma oftmals bei der Förderung durch staatliche Stellen

schlechter behandelt als andere Rückkehrer.

Stadtatmosphäre Tuzla

O-Ton Larisa (bosnisch)

Übersetzerin 2

Die meisten Roma leben in einem speziellen Romadorf. Es gibt ein Programm, das

den Roma hilft, Häuser zu finden oder Gebäude, in denen sie leben können. Aber die

meisten Besitzer wollen keine Roma in ihren Häusern haben bzw. sie wollen sie nicht

mal in der Nähe.

Autor

Tuzla, eine der größten Industriestädte im Norden des Landes. Larisa Kovacevic

finde ich in einem kleinen Büro gleich hinter dem Stadtzentrum. Wer ihr Büro

aufsucht, kommt vorbei an einem ausgebrannten Hochhaus. Vor drei Jahren

stürmten aufgebrachte Bürger das Verwaltungszentrum der Stadt und setzten es in

Brand. Es war der erste Ausbruch offener Gewalt nach dem Krieg. Viele Menschen

setzten große Hoffnungen in den sozialen Aufstand.

Atmo Proteste

Autor

Den Arbeitern der Stadt wurden ein paar Zugeständnisse gemacht, grundsätzlich

blieb alles wie es war. Für die Roma sowieso.

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O-Ton Larisa (bosnisch)

Übersetzerin 2

Die meisten Roma ernähren sich mit Schrottsammeln, da sagen die anderen

Menschen: Die stinken oder sie könnten eine Krankheit bekommen und deshalb

wollen sie sie einfach nicht in der Nähe haben.

Autor

Das Telefon klingelt. Larisa nutzt die Unterbrechung nach dem Gespräch, um heißen

Tee und ein Video über die Arbeit ihrer NGO zu holen. „Bessere Zukunft für

Romafrauen“, so heißt die Organisation.

O-Ton Larisa (bosnisch)

Übersetzerin 2

Es gibt viele Probleme. Die Roma leben im Durchschnitt kürzer als der restliche Teil

der Bevölkerung. Sie bekommen Krankheiten und sterben daran einfach, weil sie

nichts über diese Krankheiten und die Behandlungsmöglichkeiten wissen. Die

meisten Roma haben ja keine Krankenversicherung. Viele Ärzte verlangen, dass sie

sie sofort bezahlen. Eigentlich können sie auch ohne Krankenversicherung zum Arzt

gehen, aber wenn sie eine Operation brauchen oder wenn sie im Krankenhaus

bleiben müssen, da geht gar nichts mehr.

Autor

Kannst Du mir ein konkretes Beispiel erzählen, frage ich sie. „Kennen Sie nicht den

Film von Danis Tanovic?“ Sie meint den Film, der unter dem Titel „Aus dem Leben

eines Schrottsammlers“ bei der Berlinale den Silbernen Bären gewann. Er erzählt die

Geschichte eines Romapaares. Die Frau hatte eine Fehlgeburt. Für die

anschließende Behandlung sollte sie fast 1000 bosnische Mark bezahlen. Weil sie

das nicht konnte, wurde sie weggeschickt. Erst mit der Versicherungskarte der

Schwägerin wurde sie in einem anderen Krankenhaus behandelt. Nur durch einen

Betrug wurde ihr Leben gerettet.

O-Ton Larisa (bosnisch)

Übersetzerin 2

Das Problem mit der Krankenversicherung entsteht auf sehr einfachem Weg: Wenn

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du arbeitslos wirst, dann hast du nur ein paar Tage Zeit, dich auf dem Amt zu

melden. Die meisten Roma aber melden sich nicht in dieser Zeit, und dann fällt die

Krankenversicherung weg. Darum kümmern wir uns, das ist eine unserer Aufgaben.

Aber wir können eben nur in Einzelfällen helfen. Das System können wir nicht

ändern.

Autor

Während Larisa erzählt, ändert sich ständig ihre Tonlage. Eben noch klingt sie müde

und resigniert, dann wieder sprüht sie vor Elan, springt auf, holt Unterlagen heran,

zeigt mir die Infobroschüre ihrer Organisation, berichtet von Erfolgen. Das Auf und

Ab gehört zu ihrem Alltag. Wie die Frage ihrer Finanzierung. Sie erhalten kein Geld

von der Stadt oder vom Staat, dafür Mittel von Care International und anderen

ausländischen Hilfsorganisationen.

Ein Gedanke kommt mir in den Sinn, den ich kaum auszusprechen wage:

Unterstützen diese Hilfsgelder den bosnischen Staat in seiner Ignoranz gegenüber

den Problemen der Roma, weil sich ja andere darum kümmern?

O-Ton Larisa (bosnisch)

Übersetzerin 2

Die Probleme beginnen schon damit, dass die Roma eine andere Hautfarbe haben.

Sie bekommen deshalb keine Arbeit, sie können nicht überall wohnen, weil sie keiner

dort haben will. Also es ist ein Gefühl der Unsicherheit im ganzen Alltagsleben,

sobald sie sich außerhalb ihrer eigenen Viertel bewegen. Es gibt für sie nur wenige

Arbeitsmöglichkeiten, außer eben das Sammeln von Schrott. Selbst wenn sie einen

Schulabschluss haben, es ist sehr schwer für sie, überhaupt eine Arbeit zu finden.

Schon gar nicht irgendwelche Stellen in öffentlichen Einrichtungen. Es ist einfach ein

Riesenproblem, dass man den meisten sofort ansieht, dass sie Roma sind. Dann ist

sofort die Diskriminierung da.

O-Ton Begzada

Übersetzerin 3

Ich hatte zwei Brüder, beide leben nicht mehr. Mein jüngerer Bruder ist an einer

Krankheit gestorben, als er noch ein Kind war. Der andere, der ältere, ist umgebracht

worden.

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Autor

In Bijeljina, etwa 70 Kilometer nordöstlich von Tuzla, lebt Begzada Jovanovic.

O-Ton Begzada

Übersetzerin 3

Wir haben nie die genauen Umstände erfahren. Als mein Vater nach einem Jahr zur

Polizei ging, haben sie ihm gesagt, die Ermittlungen sind schon lange eingestellt.

Autor

Hatte die Polizei kein Interesse daran, den Mord aufzuklären, weil der Bruder ein

Rom war? Wer will das beweisen?

Wenn ein Flüchtling in Deutschland solche Geschichten erzählt, was denken die

Entscheider dann? Alles ausgedacht? Oder: Ein Einzelfall, der ja nicht den

Asylsuchenden selbst betrifft?

O-Ton Begzada

Übersetzerin 3

Es gab den Verdacht, dass derjenige ihn umgebracht hat, der ihn gefunden hat. Die

Polizei ist in sein Haus gegangen und hat alles durchsucht. Sie haben nichts

gefunden. Damit war der Fall für sie erledigt.

Autor

Mehr möchte Begzada darüber nicht erzählen. Wem würde es nützen, Vermutungen

anzustellen? So sei das hier in Bosnien. Die Behörden seien korrupt, darunter leiden

alle. Und die Roma eben mehr. Begzada wechselt schnell das Thema, weg von der

eigenen Geschichte, hin zur allgemeinen Lebenssituation der Roma.

Sie erzählen alle das Gleiche, denke ich. Warum nur vermeidet sie die konkreten

Beispiele? Hat sie Angst, jemanden zu beschuldigen? Könnte das Folgen für sie

selbst, für ihre Hilfs-Organisation haben? Sie scheint die Frage nicht zu verstehen.

Vielleicht will sie auch nicht verstehen.

Larisa in Tuzla immerhin hatte auf meine Frage geantwortet, wenn auch sehr vage.

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O-Ton Larisa

Übersetzerin 2

Wir können fühlen, dass wir nicht sicher sind. Weil die Menschen hier immer noch

Negatives über die Minderheiten denken, über andere Religionen und so, und das ist

hier das größte Problem. Deshalb fühlen wir uns nicht sicher, nicht nur die Roma,

auch andere. Man kann das nur fühlen, das kann man nicht mit Tatsachen belegen.

Autor

Ich fahre zurück nach Sarajevo. Dort bin ich mit Dervo Sejdic verabredet. Er ist in

Bosnien eine Institution. Der Vater der Romabewegung gewissermaßen.

O-Ton Dervo Sejdic

Übersetzer 1

Dieser Staat ist - die meiste Zeit sagte ich - es ist ein Frankensteinstaat. Weil wir 13

Kantone, 13 Verfassungen, 13 Regierungen haben, wir haben so eine große

Administration. Wer kann das bezahlen? Niemand. Das ist der Grund, weshalb

Bosnien und Herzegowina die Kredite nur für die Bezahlung der Administration

verwendet. Nicht für die Entwicklung der Wirtschaft oder aller anderen Dinge. Warum

gehen die jungen Leute aus Bosnien weg? Sie beenden die Schule und dann finden

sie keine Arbeit. Sie können sich nicht regulär um einen Job bewerben. Weil wir

haben kriminelle bosnische Bosse in den Unternehmen.

Autor

Wir treffen uns im UNITIC-Business Center. Jene zwei Wolkenkratzer, die Mitte der

80er-Jahre errichtet wurden. Momo und Uzeir hießen sie im Volksmund, nach zwei

Figuren aus einer Comedy-Show im Radio. Der eine ein Bosniake, der andere Serbe.

Zu dieser Zeit, im alten Jugoslawien, lebten Serben, Kroaten, Bosniaken und all die

anderen Völker noch friedlich zusammen. Zusammen auch mit der Minderheit der

Roma. „Das war die beste Zeit für uns.“, sagt Dervo im einem Mix aus Englisch und

Bosnisch.

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O-Ton Dervo Sejdic

Übersetzer 1

Bosnien ist kriminell und korrupt im gesamten Staatsapparat. Das ist das größte

Problem. Du hast Kriminelle und Korrupte in der Administration, in der Polizei, jeder

ist korrupt. Auch in den Medien ist vieles korrupt. Viele aus der Polizei, aus dem

Staatsapparat, aus den Unternehmen müssten ins Gefängnis wegen krimineller

Machenschaften. Und welche Folgen hat das? Natürlich, jeder denkt, dass das

Leben außerhalb von Bosnien besser ist als hier.

Autor

Dervo benötigt eine Zigarettenpause. Er schiebt das Mikrofon beiseite und erzählt ein

wenig über sich: Über seine Kindheit ohne Ängste und Ausgrenzung, in Visoko, der

kleinen Stadt nahe Sarajevo; über seine Arbeit als Polizist in Sarajevo vor und nach

dem Krieg, die eine gute Arbeit gewesen sei, ohne Diskriminierung, ohne Korruption.

Zumindest bis nach dem Krieg. Über seine Frau, die den Krieg nicht überlebte; über

seine Kinder, die er nach dem Tod der Mutter nach Deutschland und Holland

brachte, damit sie in Sicherheit aufwachsen könnten.

O-Ton Dervo Sejdic (bosnisch)

Übersetzer 1

Die Situation ist in ganz Bosnien schlecht, Schule, medizinische Versorgung, für alle

drei offiziellen Bevölkerungsgruppen, aber die Situation für die Roma ist dann immer

noch ein Stückchen schlechter. Die Stadt hat gerade ihre Unternehmen privatisiert.

Das, was früher städtisch war und jetzt privatisiert wurde, hat ein Krimineller

übernommen. Diese Firma beschäftigt keine Roma. Die Arbeitsplätze in dieser Firma

bekommen nur Familienangehörige vom Direktor.

Autor

Mehr als 10 Jahre ist es her. Damals reichte Dervo Sejdic seine Klage beim

Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein. Er wollte die eigene

Regierung zwingen, die Verfassung innerhalb eines Jahres zu ändern. Was dort mit

Zustimmung der Unterzeichnerstaaten des Friedensvertrages festgelegt war, wollte

Dervo nicht länger hinnehmen. Das Dokument von Dayton trägt auch die Unterschrift

Deutschlands.

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O-Ton Dervo Sejdic

Übersetzer 1

Die grundlegendste Form der Diskriminierung besteht darin, dass für das

Präsidentenamt nur Bosnier, Kroaten oder Serben kandidieren können. Keine andere

Nationalität. Im Parlament von Bosnien ist die gleiche Situation. Nur Serben, Bosnier

oder Kroaten kannst du wählen. Keine anderen Nationalitäten.

Autor

Dervo blieb nicht allein mit seiner Klage. Jacob Finci schloss sich für die jüdische

Bevölkerung an. Auch sie eine Minderheit, kleiner als die Roma zwar, aber die

Verfassung schränkte ihre passiven Wahlrechte auf gleiche Weise ein. Der Spruch

des Gerichtes wurde als Sejdic-Finci Urteil bekannt.

O-Ton Dervo Sejdic

Übersetzer 1

Die haben bestätigt, dass Bosnien diskriminierende Gesetze hat und Bosnien muss

das verändern. Aber seitdem ist kaum etwas passiert. Das einzige war, dass ich ein

bisschen Öffentlichkeit in den Medien bekommen habe. Das ganze Urteil von

Straßburg hat nichts gebracht. Vielleicht ist es sogar schlimmer geworden. Wenn die

Roma danach ins Rathaus gegangen sind, weil sie irgendeine Sache für sich klären

wollten, wegen Wohnung oder so, dann haben sie dort gesagt: Geh zu deinem

Dervo. Sejdic hat einen Prozess angestrengt, dann soll er dir helfen.

O-Ton Kraske

Ja, das mit den Minderheiten - ich meine, da muss man natürlich auch sagen, da

haben die Schöpfer von Dayton auch leider - nennen wir‘s mal so - Mist gebaut.

Autor

Marion Kraske, die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo, treffe ich in ihrem

Büro.

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O-Ton Kraske

Das heißt, das ganze System Dayton ist ja diskriminatorisch. Das haben wir ja jetzt

durch inzwischen drei Gerichtsurteile seitens des europäischen Gerichtshofes für

Menschenrechte dokumentiert, das ist ja nicht nur Sejdic-Finci, sind ja noch zwei

andere dazugekommen.

Autor

Schon als Kind fuhr sie mehrfach nach Bosnien. Zu der Zeit war das Land noch ein

Teil von Jugoslawien. Ihre Tante lebte dort, war verheiratet mit einem Serben.

Später, als Journalistin, beschrieb sie die politische Entwicklung in dem kleinen

Balkan-Land. „Wollen wir zuerst ohne Mikrofon sprechen?“, fragt sie. „Dann kann ich

schärfer formulieren.“ Doch die Vorsichtsmaßname dauert nur wenige Minuten.

O-Ton Kraske

Es kann nicht sein, dass das Land aufgeteilt wird nur unter drei Ethnogruppen. Und

da müssen wir auch wegkommen, müssen eigentlich diese Aufsplittung, die müssen

wir beenden. Weil die richtet Schaden an, und die führt auch dazu, dass das Land

sich eigentlich als normaler Staat nicht weiterentwickeln kann.

Autor

Marion Kraske springt auf und läuft zu ihrem Schreibtisch. Sie sucht nach Papieren

über die aktuelle Lage in Bosnien. Redet aus der Entfernung mal mit mir, mal mit

ihrer Sekretärin. Im Kopf versuche ich, meine bisherigen Gespräche zu resümieren.

Da sind die Verletzungen von Menschenrechten, die Benachteiligungen von

Minderheiten. Sie alle sind im Einzelfall schwer nachzuweisen, solange die

Betroffenen darüber nicht reden wollen. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite

ist da ein Staat, der beim genauen Hinsehen nicht viel mehr ist als eine Fassade.

O-Ton Kraske

Wir haben jetzt 21 Jahre nach Ende des Krieges, also seit dem Friedensschluss von

Dayton, und man sieht, dass das Land in gewisser Weise backsliding ist, also sich

nicht nach vorn entwickelt, sondern wieder zurück entwickelt. Wenn man sieht, dass

die politische Elite, wenn wir sie denn mal so nennen wollen, es nicht geschafft hat,

für wesentliche Bereiche dieses Landes z.B. Ministerien zu schaffen. Also

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wesentliche Aufgaben eines Staates werden hier gar nicht übernommen. Wir müssen

festhalten, dass die politische Elite hier ganz andere Dinge betreibt, nämlich den

Nationalismus betreibt, um eine Separation, eine Segregation des Landes aufrecht

zu erhalten oder noch weiter zu vertiefen, sie benutzen diesen Nationalismus 21

Jahre nach Kriegsende immer noch, um die Bevölkerung gezielt zu teilen…

Sprecher 1

Bericht des Auswärtigen Amtes, Punkt 2, Absatz 2, Asylrelevante Tatsachen:

Besonders in wenig entwickelten ländlichen Gebieten kann es zu gesellschaftlicher

Diskriminierung gemischt-ethnischer Ehepaare und Familien kommen.

O-Ton Ernad (bosnisch)

Übersetzer 2

Ich lebe mit einer christlich-orthodoxen Frau. Ich selber bin Moslem. Vor drei Jahren

haben wir geheiratet. Für meine Freunde war meine Entscheidung sehr sonderbar.

Denn das Problem in Bosnien ist, dass die Leute zuerst gucken, was die anderen

sagen werden.

Autor

Ernad Matej lebte bis vor wenigen Jahren in Goražde, einer kleinen Stadt 50

Kilometer südlich von Sarajevo. Er ist in die Hauptstadt gezogen, weil er dem

„Problem“ entkommen wollte, wie er es immer wieder nennt.

O-Ton Ernad (bosnisch)

Übersetzer 2

Ihre Familie nämlich hat unsere Mischehe und mich nicht akzeptiert. Und weil dort

alle so denken, hat meine Frau keine Arbeit gefunden. Sie ist Psychologin. Und in

Bosnien haben wir kaum gut ausgebildete Psychologen.

Autor

Ernad hat seinen 5-jährigen Sohn zum Gespräch mitgebracht. Er wollte ihm „das

Problem“ ersparen. Auch deshalb sei er weggegangen aus Goražde. Denn in

Bosnien gehört jeder Mensch zu einer Minderheit, der nicht im Mehrheitsgebiet lebt.

Sarajevo sei da eine Ausnahme.

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O-Ton Ernad (bosnisch)

Übersetzer 2

Nach dem Krieg war ich der erste in Goražde, der eine Mischehe mit einer anderen

Nationalität eingegangen ist. Ich war während des Krieges in der Stadt, war Soldat in

der bosnischen Armee. Ich kämpfte zusammen mit Serben, mit Orthodoxen. Aber ich

habe nie gesehen, dass es ein Problem gab, mit anderen Nationalitäten Kontakt zu

haben, egal, welcher Religion sie angehörten.

O-Ton Kraske

Das hat es immer hier gegeben, diese binationalen Ehen. Das war ja eigentlich das,

was Jugoslawien ausgemacht hat. Und dass das nicht mehr möglich sein soll, das

hat wirklich mit dieser politischen künstlichen Aufheizung seitens der politischen

Eliten zu tun.

O-Ton Ernad (bosnisch)

Übersetzer 2

In den kleinen Städten hast du das Problem. Das sind ethnisch reine Städte. Die

jungen Leute dort haben nie mit Menschen einer anderen Ethnie Kontakt gehabt.

Zum Beispiel Rogatica in Ostbosnien, dort haben Jugendliche einen Text

geschrieben darüber, was sie über Gleichaltrige der anderen Nationalitäten denken.

Einer schrieb, dass er 18 Jahre alt ist und noch nie einen Gleichaltrigen von einer

anderen Nationalität getroffen hat. Es gibt in Rogatica einfach keine Moslems in der

Schule. Die Moslems sind während des Krieges alle von dort weggegangen. Ein paar

wenige sind zurückgekommen, aber das sind fast nur Alte. Das ist der einfache

Grund, weshalb diese Menschen keine Kontakte mit andern Nationalitäten haben,

keine Freundschaften. Natürlich auch, weil die Eltern denken, dass solche Kontakte

nicht gut sind.

O-Ton Kraske

Egal, um welches Thema es geht, es wird immer ethnopolitisch aufgeheizt. Es ist gar

nicht möglich, nur über die Schaffung von Jobs zu sprechen, ohne dass nicht

irgendeine Partei wieder versucht, das entlang dieser ethnopolitischen Trennlinien

auszudeuten.

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O-Ton Ernad (bosnisch)

Übersetzer 2

In den kleineren Städten ist nicht nur das Problem der Nationalität größer, dort ist

auch der Einfluss der Politik deutlicher sichtbar. Die Politik entscheidet, wer einen

Job bekommt. Wenn du nicht in der richtigen Partei bist, dann bekommst du keine

Arbeit. Das ist so. Im öffentlichen Sektor bestimmt die Politik.

O-Ton Kraske

Insgesamt haben wir hier das Phänomen eines gekaperten Staates. Sämtliche

Ressourcenzugänge sind verteilt. Die politischen Parteien sehen zu, dass sie die

Posten nach Proporz in irgendeiner Form verteilen. Hier werden Cousinen, Cousins

oder auch Ehefrauen bedacht. Herr Izetbegovic hat z.B. ohne Ausschreibung - seine

Frau in die Klinikleitung eines Hospitals hier gebracht, d.h. insgesamt das staatliche

System wird benutzt als Selbstbedienungsladen, als Selbstbereicherungsladen für –

ja, die eigenen Familien, für die Parteiangehörigen, und eben für Freunde und

Bekannte.

Autor

Wonach habe ich gesucht in Bosnien? Nach Belegen dafür, dass Deutschland die

Augen vor systematischen Menschenrechtsverletzungen in diesem Land verschließt?

Belege dafür, dass der Bericht des Auswärtigen Amtes beweist, dass man es besser

weiß? Dafür, dass die Einstufung Bosniens als sicheres Herkunftsland nichts als ein

Vorwand ist, um Flüchtlinge los zu werden?

Was habe ich gefunden? Menschen, die diskriminiert werden, die unter elenden

Bedingungen leben. Menschen in Hilfsorganisationen, die in Einzelfällen wichtige

Arbeit leisten. Die aber auch vorsichtig sind und deshalb gern im Allgemeinen

bleiben. Vielleicht wollen sie einfach das Wenige, was sie besitzen, nicht verlieren?

O-Ton Kraske

Die NGO-Leute, das ist halt nen bisschen das Dilemma, die sagen, wir sind NGOs,

und wir wollen nicht part of the game sein, weil die natürlich alle dieses schmutzige

Politikgeschäft ablehnen. So. Aber dann sag ich immer: Ja, Leute, ihr werdet es aber

dann auch nicht ändern können. Die sind alle sehr stark auf Projektgelder aus, aber

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es fehlt das strategische Konzept dahinter, was will ich denn eigentlich politisch

erreichen? Eigentlich natürlich nen politischen Change, aber das will keiner von

denen, weil die verdienen hier drei- oder viermal mehr als normale Leute, und für die

ist das natürlich mit der Projektarbeit fein.

Autor

Zurück in Deutschland habe ich mehr Fragen als Antworten.

Ich habe Menschen getroffen, die keinen Ausweg sehen aus der allgegenwärtigen

Arbeitslosigkeit, der Korruption, der Macht einer scheinbar unangreifbaren Elite, die

die politischen Ämter fest in ihren Händen hält. Setzen sie alle Hoffnung darauf, dass

die Europäische Union und allen voran Deutschland die Misere im Land beenden

hilft?

O-Ton Hellbach

Also einen Masterplan in diesem Sinne gibt es nicht. Ich meine, wir haben es mit

souveränen Ländern zu tun, denen wir nicht vorschreiben können, was genau sie tun

sollen.

Autor

„Sprechen sie in Berlin mit Martin Hellbach.“, hatte mir Marion Kraske in Sarajevo

gesagt. Er war einige Jahre als deutscher Botschafter in Bosnien. Jetzt ist er im

Auswärtigen Amt zuständig für die Länder des westlichen Balkan.

O-Ton Hellbach

Was ich immer versucht habe den Menschen zu vermitteln ist: Deutschland und die

Europäischen Unionen stehen zu dem in Thessaloniki im Jahr 2003 gegebenen

Versprechen. Es gibt eine Perspektive auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union

für die Länder des westlichen Balkan.

Autor

Martin Hellbach ist ein vorsichtiger Mann. Das zugesagte einstündige Gespräch

möchte er zu großen Teilen lieber ohne Mikrofon führen. „Sie können ja doch nur

wenig für ihre Sendung verwenden“, ist seine Begründung. Für die Frage nach dem

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sicheren Herkunftsland sei das Innenressort zuständig. Ins Mikrofon spricht er lieber

über das große Ganze. Irgendwie kommt mir das sehr vertraut vor.

O-Ton Hellbach

Voraussetzung dafür ist eine Annäherung an die Standards der EU, das setzt

Transformation voraus. Die EU kann Anreize setzen, und kann - was sie auch tut -

diese Transformation massiv mit finanziellen Mitteln und mit Expertise unterstützen.

Sie kann diesen Ländern diesen Prozess aber nicht völlig abnehmen.

O-Ton Brand

Ich hab immer mehr den Eindruck, dass die politische Klasse in Bosnien und

Herzegowina viel über Europa und Reformagenda redet, aber sehr an eigene

Interessen denkt. Und damit auch viel für Bosnien und Europa verspielt.

Autor

Es gibt nicht viele Vertreter der Parteien in Deutschland, die sich auskennen mit dem

Westbalkan allgemein und Bosnien Herzegowina im Besonderen. Das Mitglied der

Linkspartei in der Parlamentariergruppe für Bosnien Herzegowina lässt mir

ausrichten, dass er selbst nie im Land gewesen sei und wenig sagen könne.

Immerhin finden sich bei den großen Parteien Abgeordnete, die sich auskennen. Von

der CDU ist das Michael Brand.

O-Ton Brand

Gleichzeitig muss ich auch sagen, dass Deutschland und Europa sich viel stärker

engagieren müssen, auch viel konsequenter sein müssen, denn wir erleben ja

gerade so etwas wie einen Stellvertreterkonflikt in Bosnien-Herzegowina, so wie es

seit Jahrhunderten war, dass große Mächte versuchen, Politik zu machen auf dem

Rücken des Landes.

Autor

Michael Brand hat nach dem Krieg ein Jahr in Sarajevo studiert. Seitdem reist er

immer wieder in das Land, privat und als Politiker.

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O-Ton Brand

Auf Grund der Unfähigkeit der politischen Klasse in Bosnien Herzegowina, dazu

haben wir beigetragen, weil wir den Bosniern mit der Dayton Verfassung eine

Verfassung an die Hand gegeben haben, man muss sagen, ihnen an die Füße

gegossen haben, und es ist schwierig, wenn man sagt, pass auf: Lauf mal und ich

betonier die Füße dabei. Und deswegen brauchen wir auch Änderungen bei der

Daytonverfassung.

O-Ton Juratovic

Man hat, als man das Dayton-Abkommen gemacht hat, ein bisschen vielleicht der

Naivität verfallen, zu glauben, dass irgendwann sich die vernünftigen Kräfte vor Ort,

die friedenstiftende, die Zivilgesellschaft usw., dass die sich durchsetzen, und dass

sie dann tatsächlich einen Staat aufbauen, eine bürgerliche Gesellschaft, so wie wir

sie hier haben. Also das aufgebaut ist auf Werte, und Menschenrechte usw. Das ist

nicht passiert.

Autor

Josip Juratovic war sehr erfreut über meine Anfrage für ein Gespräch. Er, der

gebürtige Jugoslawe, nach heutigem Recht Kroate, sitzt für die SPD im Bundestag.

Natürlich ist der Westbalkan sein Thema.

O-Ton Juratovic

Wenn sie in Bosnien und Herzegowina aus einer Mischehe kommen, ganz gleich,

welcher Art, ich rede noch gar nicht von Juden und von Roma, aus einer Mischehe,

haben sie kein Recht. Und für mich ist das rassistisch.

O-Ton Brand

Wir haben kein Land in der europäischen Union, in Europa, wo ein Jude nicht

Staatspräsident werden kann. In Deutschland würde man eine solche Verfassung

rassistisch nennen. Das ist ein Ergebnis dieser Dayton-Verfassung. Und deswegen

müssen wir an die Grundkonstruktion ran: Dayton verändern und gleichzeitig müssen

wir die klaren Signale setzen an die Nationalisten wie Herrn Dodik in Bosnien

Herzegowina, dass wir es nicht akzeptieren werden, wenn Grenzen auf dem Balkan

im Jahr 2017 wieder neu gezogen werden sollen. Das führt zu einem Krieg, denn die

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Forderung ist ja da. Und die Ankündigung, dass man die serbischen Gebiete in

Bosnien von Serbien, Montenegro, Kosovo, miteinander vereinigen will.

Autor

Trotz allem hat der Christdemokrat Michael Brand genau wie Sozialdemokrat Josip

Juratovic für die Einstufung Bosniens als sicheres Herkunftsland gestimmt. Weil es

keine systematische Verfolgung gebe, sagen beide.

O-Ton Juratovic

Was unter die Räder geraten ist, das ist die Demokratie, so wie wir sie verstehen. Ich

bin ja im Widerstand gegen die Kommunisten gewesen. Und ich dachte, in meinem

Leben es gibt nichts Schlimmeres als Diktatur. Es gibt noch etwas, was viel

Schlimmer ist. Das ist die Anarchie. Man hat - und da müssen wir von Europa

handeln - man hat schlicht und einfach - Freiheit, hohes Gut, hoher Wert der

demokratischen Gesellschaft - hat man Freiheit zu Anarchie umgewandelt. Hat man

Freiheit zum Recht des Stärkeren umgewandelt. Und alle tolerieren das.

Autor

Offenbar sind die Probleme des Landes bekannt in Deutschland.

Nur, was folgt daraus?

O-Ton Brand

Wir haben die im Stich gelassen während des Krieges, die letzten 20 Jahre ziemlich

ideenlos und auch lustlos das Thema angefasst, Hauptsache, es brennt nichts

Heißes an. Aber so ist kein Frieden zu machen.

Autor

„Bosnien ist ein souveränes Land“, sagte Martin Hellbach im Auswärtigen Amt.

Ein souveränes Land, in dem noch immer der sogenannte Hohe Repräsentant im

Namen der Vereinten Nationen die Einhaltung des Abkommens von Dayton

überwacht. Theoretisch. In der Praxis sind ihm seit Jahren die Hände gebunden. Weil

Deutschland und die Europäische Union dies so beschlossen haben.

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O-Ton Hellbach

Man wendet sich an die Internationale Gemeinschaft und sagt, macht mir bitte

Hoffnung. Wir müssen gelegentlich auch sagen, dass Entwicklung in diesen Ländern

kann nur aus diesen Ländern heraus geschehen. Wir können diese Entwicklung nicht

ersetzen.

Autor

Ob Michael Hellbach, der Balkan-Experte aus dem Auswärtigen Amt, jemals mit

Dervo Sejdic gesprochen hat? Ich weiß es nicht.

O-Ton Dervo Sejdic (bosnisch-englisch-Mix)

Übersetzer 1

Bosnien hat letztes Jahr seinen Antrag auf Beitritt abgegeben für die EU. Die EU hat

ein Dokument mit 3.000 Fragen zurückgegeben, was wir auf diesem Weg in die

Gemeinschaft alles machen müssen.

Wieviel Jahre hatten unsere Politiker Zeit, diese Fragen zu klären? Ich glaube nicht,

dass sie überhaupt positive Antworten auf die Fragen der EU geben wollen. Wenn

Bosnien und Herzegowina Mitglied in der EU würde, dann müssten sie die deren

ökonomische und soziale Regeln übernehmen. Und dann kämen die politisch

Verantwortlichen alle ins Gefängnis. Deshalb wollen sie nicht in die Europäische

Union. Ich bin kein Optimist.

Musik

Absage:

„Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“

Über das sichere Herkunftsland Bosnien-Herzegowina

Ein Feature von Rainer Schwochow

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2017.

Es sprachen: Frank Arnold, Cathlen Gawlich, Nadja Schulz-Berlinghoff, Anja

Antonowicz, Axel Wandtke, Maximilian Held und Joachim Schönfeld

Regie und Produktion: Rainer Schwochow

Redaktion: Karin Beindorff