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Michael Neubrand Das Haus der Vierecke - Aspekte beim Finden mathematischer Begriffe Summary: The socalled "Haus der Vierecke" is crmaidar ad as an el ernerrtar-v example for certain patterns of concept finding in mathematics. In this respect, the following aspects are discussed: (a) Generalizations should fill the gaps in the system of the concepts. (b) Generalizations are not unique. (c) The introduction of new definitions displacp-s some preceding concepts. (d) By analogy, further concepts be found. 1. Einleitung - Literaturübersicht - Intention Elementare Stoffe aufzuzeigen, deren Behandlung es - über die rein sachliche Information hinausgehend - möglich macht, ein (relativ) unverzerrtes Bild (eines Ausschnitts) der Ma- thematik und des Gewinnens mathematischen Wissens zu entwer- fen, gehört mit zu den Aufgaben der Mathematikdidaktik. Das "Haus der v i er ecke v, wie W. Breidenbach [3] das die Anordnung der einzelnen Vierecksarten zeigende Hasse- Diagramm nennt, kann ein Beispiel für einen solchen Stoff sein, der über sich hinausweisend gewisse Charakteristika mathematischer Vorge- hensweise aufschließt. 1) Beim Aufbau des Hauses der Vierecke geht es bekanntlich darum, sich einen Überblick über die verschiedenen Typen von Vier- ecken zu verschaffen und insbesondere die gegenseitige Über- lappung der einzelnen Begriffe anschaulich darzustellen. Da- bei ist zunächst gar nicht beabsichtigt, weiteren mathemati- schen Stoff zu behandeln, vielmehr sollen die im vorangegange- nen Unterricht erworbenen Kenntnisse über Vierecke in einer zusammenfassenden Übersicht gesammelt und so die allgemeinen Lernziele "Drdnen" und "Klassifizieren" beachtet werden. In diesem Sinne findet sich das Haus der Vierecke als Wiederho- lung und Abschluß der Viereckslehre in den meisten Schulbü- chern (i.a. für das 8. 5chulj.). 1) Das "Haus der Dreiecke" (ebenfalls in [3J) ist zu einfach für diesen Zweck.

Das Haus der Vierecke — Aspekte beim Finden mathematischer Begriffe

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Michael Neubrand

Das Haus der Vierecke -Aspekte beim Finden mathematischer Begriffe

Summary: The socalled "Haus der Vierecke" is crmai dar ad as an el ernerrtar-vexample for certain patterns of concept finding in mathematics. In thisrespect, the following aspects are discussed: (a) Generalizations shouldfill the gaps in the system of the concepts. (b) Generalizations are notunique. (c) The introduction of new definitions displacp-s some precedingconcepts. (d) By analogy, further concepts ~ay be found.

1. Einleitung - Literaturübersicht - Intention

Elementare Stoffe aufzuzeigen, deren Behandlung es - über

die rein sachliche Information hinausgehend - möglich macht,

ein (relativ) unverzerrtes Bild (eines Ausschnitts) der Ma­

thematik und des Gewinnens mathematischen Wissens zu entwer­

fen, gehört mit zu den Aufgaben der Mathematikdidaktik. Das

"Haus der v i e r e c k e v, wie W. Breidenbach [3] das die Anordnung

der einzelnen Vierecksarten zeigende Hasse- Diagramm nennt,

kann ein Beispiel für einen solchen Stoff sein, der über sich

hinausweisend gewisse Charakteristika mathematischer Vorge­

hensweise aufschließt. 1)

Beim Aufbau des Hauses der Vierecke geht es bekanntlich darum,

sich einen Überblick über die verschiedenen Typen von Vier­

ecken zu verschaffen und insbesondere die gegenseitige Über­

lappung der einzelnen Begriffe anschaulich darzustellen. Da­

bei ist zunächst gar nicht beabsichtigt, weiteren mathemati­

schen Stoff zu behandeln, vielmehr sollen die im vorangegange­

nen Unterricht erworbenen Kenntnisse über Vierecke in einer

zusammenfassenden Übersicht gesammelt und so die allgemeinen

Lernziele "Drdnen" und "Klassifizieren" beachtet werden. In

diesem Sinne findet sich das Haus der Vierecke als Wiederho­

lung und Abschluß der Viereckslehre in den meisten Schulbü­

chern (i.a. für das 8. 5chulj.).

1) Das "Haus der Dreiecke" (ebenfalls in [3J) ist zu einfach für diesenZweck.

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Selbstverständ,lich variieren dabei - je nach Konzept des

Unterrichtswerkes bzw. nach den vom Autor gesetzten Schwer­

punkten - sowohl die Kriterien, nach denen geordnet wird,

wie auch die gewählten bildlichen Darstellungen. So kann

man etwa die Vierecke nach der Zahl der notwendigen Bestim­

mungsstücke schichtenweise anordnen (z.B. 1) in [1J, [10J),

nach vorgegebenen Eigenschaften sortieren Cz v ß , in ['13), [17]),

oder auch unter gruppentheoretischem Aspekt die Symmetrien

als Ordnungsprinzip hervorheben (z.B. in [8J, [17]). Als bild­

liche Darstellungen werden Euler-Venn-Diagramme (z.B. in [4],

[7J, [8], [13], [16]) - dann aber meist nur durch aufwendige

Farbgebung übersichtlich zu gestalten - oder auch Hasse- Dia­

gramme (z.B. in [1J, [4], [13J, [16]), sowie Baumdiagramme (z.B.

in [13J, [17]) gewählt. Die einzelnen Mengen von Vierecken wer­

den mit passenden Buchstabensymbolen (z , B. in [4J, [16J), meist

aber mittels Piktogrammen gekennzeichnet. Ein konkreter Unter­

richtsvorschlag zum Thema "Haus der Vierecke" findet sich in

der Methodik von Palzkill und Schwirtz [11].

In der didaktischen "Hintergrundsliteratur" wird vorwiegend

das Problem diskutiert, welche der verschiedenen möglichen

Anordnungen der Vierecke denn nun die geeignetste sei. So

stellt schon Pugehl ~2J 2) eine Systematik der Vierecke auf,

auf die Gottschalk [9] mit dem Vorschlag, das Ankreisviereck

an die Stelle des schrägen Drachens 3) zu setzen (weil es

sich "ganz ungezwungen" ergebe), antwortet. Ohne Bezug auf

diese Arbei ten fordert erneut Zirkel [18J mit der Begründung

dann bestehender metrischer Dualität, das Ankreisviereck zu

verwenden, worauf Ehringhaus [6J wieder auf den schiefen3),

Dücker [SJ auf den schrägen Drachen zurückkommen. In einer

Reihe von Arbeiten (z.B. [2J, [14J) wird in diesem Zusammenhang

1) Es werden jeweils typische Vertreter aus der Schulbuchliteratur genannt.Die angegebenen Schulbücher decken in etwa die methodische Spannweitezu diesem Thema ab.

2) Den Hinweis auf die Literaturstellen (9J und [12J verdanke ich den Refe­renten des JMD.

3) Definition im Text.

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Haus der Vierecke 39

der "Beitrag der Gruppentheorie" (Bau er s f e Lrf ) zur Systemati­

sierung der Vierecke hervorgehoben 1). Dücker [5J, Zirkel [18Jund insbesondere Schupp [14J arbeiten heraus, daß es auf die

Unabhängigkeit der 4 ausgewählten Sonder eigenschaften der Vier­

ecke ankomme 2), mittels derer dann eine vollständige Syste­

matik von 24 Viereckstypen aufgestellt wird. Allen diesen Ar­

beiten ist gemeinsam, daß großer Wert auf das systematische

Durchhalten des - aus welchen Gründen auch immer - einmal ge­

wählten Ordnungsgesichtspunktes gelegt wird 3). Bei Thiesemann

[15J wird dies sogar explizit als Lernziel (Aufweisen des

"idealen Ordnungscharakters" der Mathematik) genannt.

Demgegenüber soll im folgenden gezeigt werden, daß der Aufbau

des Hauses der Vierecke nicht nur als Abschluß der Vierecks-

lehre und nicht nur unter dem Lernziel "systematisches Ordnen"

gesehen werden kann. Vielmehr trägt - hier wie allgemein in

der Mathematik - das Ordnen bereits bekannter Begriffe und

Sätze in sich schon den heim zur Weiterentwicklung der bisheri­

gen henntnisse. So wird sich die Notwendigkeit ergeben, neue

Begriffe zu erzeugen, um verbleibende Lücken zu schließen (~),

und die dabei mögliche Vielfalt (~) zeigt, daß auch mathema­

tische Definitionen Gegenstand einer Abwägung sein können.

Sodann wird der Versuch, weitere Begriffe in das bisherige

Begriffsgefüge einzubringen, die bestehende Anordnung stören

und Umbauten des Hauses der Vierecke erfordern(~). Die nun

erreichte größere Typenvielfalt wird dann aber zu einem neuen

Gesichtspunkt bei der Abwägung der geeignetsten Verallgemeine­

rung führen (~). Insgesamt soll also am Beispiel des Hauses der

Vierecke ein (kleines) Abbild mathematischer Tätigkeit über­

haupt entstehen.

1) Freilich liefert der Graph des Untergruppenverbandes der Quadratgruppenicht ohne weiteres eine Systematik der Vierecke. Entweder muß anschlie­ßend doch nach mengentheoretischen Gesichtspunkten umgeordnet werden(Bauersfeld [2J, S. 275), oder es entsteht eine etwas gekünstelte Syste­matik, die gleiche Typen mehrmals aufzählt (Schupp [14J, S. 73).

2) Womit die Nähe der Fragestellung zu Grundaufgaben der hombinatorik unter­strichen wird.

3) Daneben betonen - für unsere Absicht weniger von Bedeutung - z.B. [5J und[1J die Möglichkeit der Schulung des "funktionalen DenkIOns" (F. hlein).

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2. Begriffe werden erzeugt, um bestehende Lücken aufzufüllen

Michael Neubrand

Bei einer ersten Aufzählung der Vier­

eckstypen (stets ist an nicht überschla­

gene, ebene Vierecke gedacht) werden

wohl zunächst quadrat, Rechteck, Paral­

lelogramm, Trapez und Drachenviereck

genannt. Eine vorläufige Übersicht lie­

fert daher das nebenstehende Diagramm1 )

(in naheliegender Veranschaulichung

Das Drachenviereck steht hier recht einsam und beziehungslos

da. Das ändert sich etwas, wenn man den Begriff der Raute

hinzunimmt (vgl. Dia­

gramm). Das Schema wird

zwar nun reichhaltiger,

aber eE stellen sich

Fragen neuer Art: Das

bestehende Begriffsnetz

ist erst dann befriedi-

gend, wenn es offenbar

gleichberechtigte Typen

von Vierecken auch an

gleichberechtigten Stel­

len zeigt. Raute und

Rechteck scheinen von

dieser Art zu sein; es

entsprechen sich 4 glei­

che Seiten / 4 gleiche

Winkel, bzw. es sind je­

weils 2 Spiegel achsen

vorhanden. Aber doch

1) Im folgenden werden der gröBeren Übersichtlichkeit wegen nur Hasse­Diagramme und keine anderen Veranschaulichungen verwendet.

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Haus der Vierecke 41

bevorzugt das bisherige Diagramm die Raute. Diese kommt n§mlich

als Unter klasse zweier Typen vor, das Rechteck aber nur als

Sonderfall des Parallelogramms. Man möchte also einen Begriff

finden, der die Lücke * füllt. Es paßt das gleichschenklige

(achsensymmetrische) Trapez. In der Tat sind gleichschenklige

Trapeze, die zugleich Parallelogramme sind, sogar Rechtecke,

wie das Diagramm vorschreibt.

Zusammen mit der jetzt auftretenden Teilmengenbeziehung gleich­

schenklige Trapeze C Trapeze hat man nun ein Diagramm des Typs

aufgebaut, das deutlich die jetzt noch verbleibende Unregel­

m§ßigkeit in der Begriffsstruktur erkennen l§ßt. Es fehlt

ein Viereckstyp, der als gemeinsamer Oberbegriff von Parallelo­

gramm und Drachen angesehen werden kann und der mit dem Trapez

nur den Spezialfall des Parallelogramms gemeinsam hat.

Eine mögliche Argumentation zur Auffindung dieses Begriffes

könnte so sein: Das Parallelogramm ist durch gegenseitiges

Halbieren der bei den Diagonalen gekenn-

zeichnet; beim Drachen wird durch den

Diagonalenschnittpunkt nur eine Diago­

nale halbiert, aber die Diagonalen ste­

hen zus§tzlich noch senkrecht aufeinan­

der. Eine Verallgemeinerung beider Ty­

pen w§re also ein Viereck mit der Ei­

genschaft, daß der Diagonalenschnitt­

punkt eine Diagonale halbiert (vgl.

Skizze). Es entsteht der sog. "schr§ge

Drachen", der invariant gegenüber der

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affinen Abbildung "Schr~gspiegelung" ist. 1)

Damit ist das Haus der Vierecke, wie es von Breidenbach [3J

angegeben und sich in dieser Art z.B. auch in [5J, [15J, [11J,[14J bzw. in den Schulbüchern [4J, [10J findet, vo Ll s t änd i q

aufgebaut:

Die Erfindung und Einführung des neuen Begriffs "schr~ger

Drachen" diente also zun~chst nur dazu, ein bereits begonnenes

Begriffsgeb~ude zu vervollst~ndigen und abzurunden. Das gleiche

Bestreben erforderte zuvor schon die Einfügung des gleichschenk­

ligen Trapezes. Das ist ein Verfahren, das allgemein in der

Mathematik zur Auffindung weiterer Begriffe verwendet wird 2).

Hat man dann einmal den allgemeineren Begriff, dann kamman

daran gehen, ihn n~her zu untersuchen. Im vorliegenden Fall etwa

regt der schr~ge Drachen zum Studium von Schr~gspiegelungen

und allgemeiner zur Betrachtung von Achsenaffinit~ten an.

1) Daher wählen wir hier lieber die Bezeichnung "schräger" Drachen und habendann den Ausdruck "schiefer" Drachen für den Abschnitt 3. frei.

2) Oft deuten Vorsilben wie "quasi-", "pseudo-", u.ä, darauf hin.

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Haus der Vierecke

Daß der schräge Drachen nur zum Zwecke der Füllung einer Lücke

eingeführt werden mußte, erwähnt zwar Breidenbach in seiner

Methodik [3J. Von den zitierten Schulbüchern wird aber nur bei

Andelfinger [1J und Breidenbach [4J dieses Problem explizit

gestellt. Ansonsten läßt man entweder das unregelmäßige Dia­

gramm ohne schrägen Drachen stehen (in [16J), oder verzichtet

sowohl auf schräge Drachen, wie auch auf das Trapez (in [13J,

bzw. auch in [8J aus abbildungsgeometrischen Gründen), oder

teilt den Begriff "schräger Drachen" ohne Motivation mit (in

[11J, [17J).

3. Verallgemeinerungen sind nicht eindeutig festgelegt

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Daß mathematischen Begriffsbildungen etwas Unverrückbares, Un­

abänderliches, nur von der Sache Diktiertes eigen sei, ist ein

häufig anzutreffendes Mißverständnis. Tatsächlich gibt es in

der Elementarmathematik wohl nur selten Gelegenheit, das Gegen­

teil zu zeigen. Das Haus der Vierecke bietet auch hierfür ein

Beispiel an.

Die vorhin mit dem Begriff schräger Drachen beseitigte Unregel­

mäßigkeit im bis dahin bestehenden Begriffsgefüge könnte man

ebenso mit folgender

Überlegung beheben: Ein

Parallelogramm zeichnet

sich durch zwei Paare

gegenüberliegender glei­

cher Winkel aus, ein

Drachenviereck hat ein

Paar gegenüberliegender

gleicher Winkel und noch

zusätzliche Eigenschaf­

ten. Somit umfaßt die

Menge der Vierecke mit

einem Paar gegenüberlie­

gender gleicher Winkel

sowohl Parallelogramme

wie auch Drachen. Wir

nennen diesen Viereckstyp "schiefen Drachen" (vgl. Skizze).

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44 Michael Neubrand

Der schiefe Drachen paßt genauso gut wie der schräge Drachen

vorhin in das Haus der Vierecke. Denn ein schiefer Drachen, der

auch Trapez ist, ist notwendig ein Parallelogramm. Den schiefen

Drachen verwenden die didaktischen Arbeiten [5] und [12J sowie

das Schulbuch [7J.

Verallgemeinerungen sind also - und auch dies tritt allgemein in

der Mathematik auf - keineswegs eindeutig durch die Lücke be­

stimmt, die sie füllen sollen 1). Man muß also abwägen, welcher

Begriff passender, sich besser ins Konzept einfügend ist.

Mit welchen Argumenten kann man eine solche Frage angehen?

Eine erste Lösung für dieses Problem könnte im vorliegenden Fall

etwa so aussehen: Der schräge Drachen ist zu bevorzugen, weil

dann die gleichberechtigte Stellung zum Trapez deutlicher hervor­

tritt. Beide Viereckstypen sind nämlich invariant gegenüber

einer Schrägspiegelung. Und das ganze Haus ist dann stockwerk­

weise nach abbildungsgeometrischen Gesichtspunkten aufgebaut.

Eine andere Antwort könnte sein: Man bevorzuge den schiefen

Drachen. Dann ist für den linken Teil des Hauses das möglichst

lange Beibehalten von Winkelgleichheit, für den rechten Teil das

Beibehalten von Seitenparallelität charakteristisch, und das

Parallelogramm nimmt die ihm gebührende MittlersteIle ein. Diese

Antwort bringt den neuen Gedanken der Beachtung der Dualität

Seite / Winkel ins Spiel, worauf wir noch zurückkommen.

Es kommt an dieser Stelle gar nicht auf eine Entscheidung an,

sondern darauf, aufzuzeigen, daß nun übergeordnete Gesichts­

punkte (z.B. Abbildungsgeometrie, metrische Dualität) ins Spiel

kommen. Das Ordnen der Vierecke fordert also zum Weiterbau der

Theorie heraus: Abermals ein Abbild mathematischer Arbeit im

allgemeinen.

In keinem der zitierten Schulbücher bzw. Methodiken wird dieser

Punkt jedoch genannt. Sogar bei Andelfinger [1J, wo das Füllen

der Lücke im Begriffssystem ausführlich problematisiert wird,

1) Man könnte dies geradezu als (eine) treibende Kraft der Entwicklung mathe­matischen Wissens betrachten: Im Laufe der Zeit schälen sich unter denverschiedenen Verallgemeinerungen die geeignetsten heraus und werden"kanonisiert" .

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Hausder Vierecke 45

suggerieren die anschließenden Hinweise, daß es eben doch eine

eindeutig bestimmte Lösung gebe. An anderen Stellen (z.B. in

[5J, [14], [18J, nicht jedoch in Schulbüchern) wird die Möglich­

keit anderer Lösungen zwar erwähnt, jedoch nicht zum Thema

gemacht.

4. Weitere Begriffe stören das bisherige Begriffsnetz

Auf ein zur in 2. besprochenen Erzeugung von Begriffen komple­

mentäres Phänomen stößt man, wenn man versucht, in dem Haus der

Vierecke noch weitere Viereckstvpen unterzubringen. Z.B. hat

man noch das Sehnenviereck und Tangentenviereck zu berücksich­

tigen (Wir beschränken die Betrachtungen nun auf konvexe Vier­

ec k e ) •

Zunächst soll das Sehnenviereck in seinen Beziehungen zu den an­

deren Vierecksarten dargestellt werden. Offenbar haben Quadrate,

Rechtecke und gleichschenklige Trapeze stets einen Umkreis, so

daß sich die Einordnung des Sehnenvierecks in den rechten Teil

des Hauses anbietet:

Die Drachenvierecke (schräge, schiefe und gerade) passen nun

aber nicht mehr ohne weiteres in das Schema. Denn unter ihnen

gibt es solche mit und solche ohne Umkreis, die nur durch zu­

sätzliche Bedingungen auseinanderzuhalten sind (z.B. 2 gegen­

überliegende rechte Winkel im geraden bzw. auch beim schiefen

Drachen) :

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",..----<,

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I

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-..-... ~ ",....... --_lf~·.,-...... -----

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I '\I -,II\\\

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Ein Hasse- Diagramm, in dem alle bei Berücksichtigung auch der

Drachenvierecke nunmehr auftretenden Unter fälle eingezeichnet

wären, würde sehr unübersichtlich werden. Da die nun entstehen­

den Begriffe, z.B. "rechtwinkliger Drachen", von geringerem geo­

metrischen Interesse sind, wäre ein solches Diagramm im Geome­

trieunterricht wenig sinnvoll (es sei denn, es kommt gerade auf

die vollständige Aufzählung aller möglichen Unter fälle an, was

wohl wieder eher der Kombinatorik zuzurechnen ist; vgl. z.B.

[1J) .

Das Auftauchen eines neuen Begriffs machte es also erforderlich,

andere Begriffe aus der Betrachtung auszuschließen. Das Sehnen­

viereck hat schräge, schiefe und gerade Drachenvierecke ver­

drängt; das Haus wurde "umgebaut".

Ähnliches geschieht beim Einfügen des Tangentenvierecks. Gerade

Drachenvierecke haben jedenfalls einen Inkreis. Die Trapeze aber

werden durch das Einschieben des Tangentenvierecks verdrängt.

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Haus derVierecke

Denn unter diesen gibt es Fälle mit und ohne Inkreis:

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"'-"",,=,,"--'---,\\\\\\\

1--__~_O:::;"_.L ..l , : \I ~ \1 .L ~

FDr den "Anbau" kommt also der linke Teil des Hauses in Frage:

Diesem Diagramm zufolge gilt der Satz, daß ein schräger Drachen

(bzw. auch ein schiefer Drachen) mit Inkreis ein gerader Drachen

ist. Dieser Satz ist zu beweisen, um zu verifizieren, daß es

sich tatsächlich um ein korrektes Hasse- Diagramm handelt. Das

BemDhen um eine Systematik (hier der Vierecke, aber auch allge­

mein) kann also mathematische Sätze hervorbringen.

Auch das Phänomen der gegenseitigen Verdrängung von Begriffen

findet man allgemein in der Mathematik. Begriffszusammenhänge

haben immer lokalen Charakter. Die gegenseitigen Abhängigkeiten

werden unDberschaubar, wenn zu viele und zu fremde Begriffe

miteinander in Beziehung gesetzt werden 1).

1) Man denke etwa an die Vielzahl von Beispielen und Gegenbeispielen, die esbei Kombination von Eigenschaften topologischer Räume gibt.

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48 Michael Neubrand

In manchen Schulbüchern (z.B. in [10J; in [1] jedoch nur als An­

satz, der anschließend vervollständigt wird) werden Tangenten­

viereck und Sehnen viereck in der ersten Zeile des Hauses der

Vierecke zusammen angebracht. Es muß aber darauf hingewiesen

werden, daß dann aus den erwähnten Gründen kein Hasse- Diagramm

mehr besteht. Aus dem alle Fälle berücksichtigenden großen

(hier nicht aufgestellten) Hasse- Diagramm können also nur die

dann getrennt zu lesenden obigen beiden Diagramme herausgezogen

werden.

5. Begriffe werden nach Analogien erzeugt

Die obigen beiden getrennt liegenden Hasse- Diagramme, die das

Sehnenviereck bzw. das Tangentenviereck enthalten, zeigen immer­

hin noch soviel Zusammenhalt, daß sie in den beiden untersten

Zeilen vollständig, in der mittleren Zeile teilweise überein­

stimmen. Die jeweiligen zweiten Zeilen von oben kann man also

als sich entsprechend betrachten. Bezeichnet man wie üblich die

Seiten bzw. Winkel der Reihe nach mit a,b,c,d bzw.~,ß,y,6, hat

man für die Viereckstypen dieser zweiten Zeile bekanntlich fol­

gende Charakterisierungen:

( 1 ) a + c b + d für das Tangentenviereck,

( 2) 0< + eS (J + r für das Trapez,

(3) cc + r ß + d für das Sehnenviereck.

Für schräge und schiefe Drachen fehlen aber Charakterisierungen

dieses Typs. Durch die in der obigen Reihe (rein formal) noch

fehlende Gleichung

(4) a + d = b + c

wird also ein neuer Viereckstyp beschrieben. Es ist das Ankreis­

viereck, das von Gottschalk [9] bzw. Zirkel (18] zur Aufnahme

in das Haus der Vierecke empfohlen wird, allerdings in kein

Schulbuch übernommen zu sein scheint:

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Haus der Vierecke 49

Parallelogramme erfüllen ebenfalls (4), der Ankreis ist aber

dabei "'eigentlich' gar nicht zu sehen", wie Zirkel [18Jsich

ausdrückt. Bei der Einordnung des Ankreisvierecks an Stelle des

schrägen bzw. schiefen Drachens ergeben sich wiederum als Frucht

der Ordnungsbemühungen Sätze, deren Gültigkeit nachzuprüfen ist

(etwa: Ein Viereck mit An- und Inkreis ist ein gerades Drachen­

viereck). Wichtiger als die Tatsache, daß nunmehr eine dritte

Möglichkeit zur Füllung der Lücke aus Abschnitt 2. gefunden wur­

de, ist das Prinzip, das das Ankreisviereck geliefert hat. Die

Gleichungskette (1), (2), (3) wurde unter Beachtung der Ent­

sprechung Seite / Winkel zu (4) fortgesetzt. Ein solches Ver­

allgemeinern durch Analogie ist allerdings erst möglich, wenn

genug "Ausgangsmaterial", hier zusätzlich die Begriffe Sehnen­

bzw. Tangentenviereck, vorhanden ist. Auch ein neuer übergeord­

neter Gesichtpunkt ist auf diese Weise entstanden, die Dualität

Seite / Winkel (vgl. hierzu die Hinweise bei Zirkel (18J).

Literatur

[4J

[5J

[6J

[7]

B. Andelfinger (Hrsg.), Mathematik M-8. Herder, Freiburg 1978.

H. Bauersfeld, Ein Beitrag der Gruppentheorie zur Systematisierunggeometrischer Figuren. MNU ~ (1961/62), 274-278.

W. Breidenbach, Raumlehre in der Volksschule. Schroedel, Hannover 1964(7. Auflage).

W. Breidenbach (Hrsg.), Mathematik, 8. Schuljahr (Neubearbeitung).Westermann, Braunschweig 1978.

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P. Ehringhaus, Alle Neun! Vierecke. Prax. Math• .§. (1964), 148-149.

M. Ernst, Einführung in die Geometrie auf abbildungsgeometrischer Grund­lage, Teil 1. Ehrenwirth, München 1971.

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50 Michael Neubrand

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[10] Th. Lambacher, u. W. Schweizer, (Hrsg.), Geometrie 1. Klett,Stuttgart 1958.

[11J L. Palzkill u. W. Schwirtz, Die Raumlehrestunde. Henn, Ratingen 1971.

[12J F. Pugehl, Die Behandlung der Viereckslehre. ZmnU 48 (1917), 49-50und 95-105.

[13J J. Schönbeck u. H.~ (Hrsg.), Plus 8. Schöningh, Paderborn 1977.

[14J H.~, Geometrie in der Sekundarstufe I. Beltz, Weinheim 1971.

[15J F. Thiesemann, Zur Systematik der Vierecke. Prax. Math. 5 (1954),285-288. -

[15J W. Traeger, K.-H. Unger u.a., Mathematisches Arbeitsbuch für das 8.Schuljahr. Diesterweg, Frankfurt a.M. 1974.

[17) H. Winter, u. Th. Ziegler (Hrsg.), Neue Mathematik, 8. Schuljahr.Schroedel, Hannover 1972.

[18J W. Zirkel, Das Ankreisviereck. Prax. Math. 1 (1953), 129-132.

Dr. Michael NeubrandSeminar für Mathematik und ihre DidaktikUniversität SonnRömerstraße 164

D- 5300 Bonn 1