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Michael Neubrand
Das Haus der Vierecke -Aspekte beim Finden mathematischer Begriffe
Summary: The socalled "Haus der Vierecke" is crmai dar ad as an el ernerrtar-vexample for certain patterns of concept finding in mathematics. In thisrespect, the following aspects are discussed: (a) Generalizations shouldfill the gaps in the system of the concepts. (b) Generalizations are notunique. (c) The introduction of new definitions displacp-s some precedingconcepts. (d) By analogy, further concepts ~ay be found.
1. Einleitung - Literaturübersicht - Intention
Elementare Stoffe aufzuzeigen, deren Behandlung es - über
die rein sachliche Information hinausgehend - möglich macht,
ein (relativ) unverzerrtes Bild (eines Ausschnitts) der Ma
thematik und des Gewinnens mathematischen Wissens zu entwer
fen, gehört mit zu den Aufgaben der Mathematikdidaktik. Das
"Haus der v i e r e c k e v, wie W. Breidenbach [3] das die Anordnung
der einzelnen Vierecksarten zeigende Hasse- Diagramm nennt,
kann ein Beispiel für einen solchen Stoff sein, der über sich
hinausweisend gewisse Charakteristika mathematischer Vorge
hensweise aufschließt. 1)
Beim Aufbau des Hauses der Vierecke geht es bekanntlich darum,
sich einen Überblick über die verschiedenen Typen von Vier
ecken zu verschaffen und insbesondere die gegenseitige Über
lappung der einzelnen Begriffe anschaulich darzustellen. Da
bei ist zunächst gar nicht beabsichtigt, weiteren mathemati
schen Stoff zu behandeln, vielmehr sollen die im vorangegange
nen Unterricht erworbenen Kenntnisse über Vierecke in einer
zusammenfassenden Übersicht gesammelt und so die allgemeinen
Lernziele "Drdnen" und "Klassifizieren" beachtet werden. In
diesem Sinne findet sich das Haus der Vierecke als Wiederho
lung und Abschluß der Viereckslehre in den meisten Schulbü
chern (i.a. für das 8. 5chulj.).
1) Das "Haus der Dreiecke" (ebenfalls in [3J) ist zu einfach für diesenZweck.
38 Michael Neubrand
Selbstverständ,lich variieren dabei - je nach Konzept des
Unterrichtswerkes bzw. nach den vom Autor gesetzten Schwer
punkten - sowohl die Kriterien, nach denen geordnet wird,
wie auch die gewählten bildlichen Darstellungen. So kann
man etwa die Vierecke nach der Zahl der notwendigen Bestim
mungsstücke schichtenweise anordnen (z.B. 1) in [1J, [10J),
nach vorgegebenen Eigenschaften sortieren Cz v ß , in ['13), [17]),
oder auch unter gruppentheoretischem Aspekt die Symmetrien
als Ordnungsprinzip hervorheben (z.B. in [8J, [17]). Als bild
liche Darstellungen werden Euler-Venn-Diagramme (z.B. in [4],
[7J, [8], [13], [16]) - dann aber meist nur durch aufwendige
Farbgebung übersichtlich zu gestalten - oder auch Hasse- Dia
gramme (z.B. in [1J, [4], [13J, [16]), sowie Baumdiagramme (z.B.
in [13J, [17]) gewählt. Die einzelnen Mengen von Vierecken wer
den mit passenden Buchstabensymbolen (z , B. in [4J, [16J), meist
aber mittels Piktogrammen gekennzeichnet. Ein konkreter Unter
richtsvorschlag zum Thema "Haus der Vierecke" findet sich in
der Methodik von Palzkill und Schwirtz [11].
In der didaktischen "Hintergrundsliteratur" wird vorwiegend
das Problem diskutiert, welche der verschiedenen möglichen
Anordnungen der Vierecke denn nun die geeignetste sei. So
stellt schon Pugehl ~2J 2) eine Systematik der Vierecke auf,
auf die Gottschalk [9] mit dem Vorschlag, das Ankreisviereck
an die Stelle des schrägen Drachens 3) zu setzen (weil es
sich "ganz ungezwungen" ergebe), antwortet. Ohne Bezug auf
diese Arbei ten fordert erneut Zirkel [18J mit der Begründung
dann bestehender metrischer Dualität, das Ankreisviereck zu
verwenden, worauf Ehringhaus [6J wieder auf den schiefen3),
Dücker [SJ auf den schrägen Drachen zurückkommen. In einer
Reihe von Arbeiten (z.B. [2J, [14J) wird in diesem Zusammenhang
1) Es werden jeweils typische Vertreter aus der Schulbuchliteratur genannt.Die angegebenen Schulbücher decken in etwa die methodische Spannweitezu diesem Thema ab.
2) Den Hinweis auf die Literaturstellen (9J und [12J verdanke ich den Referenten des JMD.
3) Definition im Text.
Haus der Vierecke 39
der "Beitrag der Gruppentheorie" (Bau er s f e Lrf ) zur Systemati
sierung der Vierecke hervorgehoben 1). Dücker [5J, Zirkel [18Jund insbesondere Schupp [14J arbeiten heraus, daß es auf die
Unabhängigkeit der 4 ausgewählten Sonder eigenschaften der Vier
ecke ankomme 2), mittels derer dann eine vollständige Syste
matik von 24 Viereckstypen aufgestellt wird. Allen diesen Ar
beiten ist gemeinsam, daß großer Wert auf das systematische
Durchhalten des - aus welchen Gründen auch immer - einmal ge
wählten Ordnungsgesichtspunktes gelegt wird 3). Bei Thiesemann
[15J wird dies sogar explizit als Lernziel (Aufweisen des
"idealen Ordnungscharakters" der Mathematik) genannt.
Demgegenüber soll im folgenden gezeigt werden, daß der Aufbau
des Hauses der Vierecke nicht nur als Abschluß der Vierecks-
lehre und nicht nur unter dem Lernziel "systematisches Ordnen"
gesehen werden kann. Vielmehr trägt - hier wie allgemein in
der Mathematik - das Ordnen bereits bekannter Begriffe und
Sätze in sich schon den heim zur Weiterentwicklung der bisheri
gen henntnisse. So wird sich die Notwendigkeit ergeben, neue
Begriffe zu erzeugen, um verbleibende Lücken zu schließen (~),
und die dabei mögliche Vielfalt (~) zeigt, daß auch mathema
tische Definitionen Gegenstand einer Abwägung sein können.
Sodann wird der Versuch, weitere Begriffe in das bisherige
Begriffsgefüge einzubringen, die bestehende Anordnung stören
und Umbauten des Hauses der Vierecke erfordern(~). Die nun
erreichte größere Typenvielfalt wird dann aber zu einem neuen
Gesichtspunkt bei der Abwägung der geeignetsten Verallgemeine
rung führen (~). Insgesamt soll also am Beispiel des Hauses der
Vierecke ein (kleines) Abbild mathematischer Tätigkeit über
haupt entstehen.
1) Freilich liefert der Graph des Untergruppenverbandes der Quadratgruppenicht ohne weiteres eine Systematik der Vierecke. Entweder muß anschließend doch nach mengentheoretischen Gesichtspunkten umgeordnet werden(Bauersfeld [2J, S. 275), oder es entsteht eine etwas gekünstelte Systematik, die gleiche Typen mehrmals aufzählt (Schupp [14J, S. 73).
2) Womit die Nähe der Fragestellung zu Grundaufgaben der hombinatorik unterstrichen wird.
3) Daneben betonen - für unsere Absicht weniger von Bedeutung - z.B. [5J und[1J die Möglichkeit der Schulung des "funktionalen DenkIOns" (F. hlein).
40
2. Begriffe werden erzeugt, um bestehende Lücken aufzufüllen
Michael Neubrand
Bei einer ersten Aufzählung der Vier
eckstypen (stets ist an nicht überschla
gene, ebene Vierecke gedacht) werden
wohl zunächst quadrat, Rechteck, Paral
lelogramm, Trapez und Drachenviereck
genannt. Eine vorläufige Übersicht lie
fert daher das nebenstehende Diagramm1 )
(in naheliegender Veranschaulichung
Das Drachenviereck steht hier recht einsam und beziehungslos
da. Das ändert sich etwas, wenn man den Begriff der Raute
hinzunimmt (vgl. Dia
gramm). Das Schema wird
zwar nun reichhaltiger,
aber eE stellen sich
Fragen neuer Art: Das
bestehende Begriffsnetz
ist erst dann befriedi-
gend, wenn es offenbar
gleichberechtigte Typen
von Vierecken auch an
gleichberechtigten Stel
len zeigt. Raute und
Rechteck scheinen von
dieser Art zu sein; es
entsprechen sich 4 glei
che Seiten / 4 gleiche
Winkel, bzw. es sind je
weils 2 Spiegel achsen
vorhanden. Aber doch
1) Im folgenden werden der gröBeren Übersichtlichkeit wegen nur HasseDiagramme und keine anderen Veranschaulichungen verwendet.
Haus der Vierecke 41
bevorzugt das bisherige Diagramm die Raute. Diese kommt n§mlich
als Unter klasse zweier Typen vor, das Rechteck aber nur als
Sonderfall des Parallelogramms. Man möchte also einen Begriff
finden, der die Lücke * füllt. Es paßt das gleichschenklige
(achsensymmetrische) Trapez. In der Tat sind gleichschenklige
Trapeze, die zugleich Parallelogramme sind, sogar Rechtecke,
wie das Diagramm vorschreibt.
Zusammen mit der jetzt auftretenden Teilmengenbeziehung gleich
schenklige Trapeze C Trapeze hat man nun ein Diagramm des Typs
aufgebaut, das deutlich die jetzt noch verbleibende Unregel
m§ßigkeit in der Begriffsstruktur erkennen l§ßt. Es fehlt
ein Viereckstyp, der als gemeinsamer Oberbegriff von Parallelo
gramm und Drachen angesehen werden kann und der mit dem Trapez
nur den Spezialfall des Parallelogramms gemeinsam hat.
Eine mögliche Argumentation zur Auffindung dieses Begriffes
könnte so sein: Das Parallelogramm ist durch gegenseitiges
Halbieren der bei den Diagonalen gekenn-
zeichnet; beim Drachen wird durch den
Diagonalenschnittpunkt nur eine Diago
nale halbiert, aber die Diagonalen ste
hen zus§tzlich noch senkrecht aufeinan
der. Eine Verallgemeinerung beider Ty
pen w§re also ein Viereck mit der Ei
genschaft, daß der Diagonalenschnitt
punkt eine Diagonale halbiert (vgl.
Skizze). Es entsteht der sog. "schr§ge
Drachen", der invariant gegenüber der
42 Michael Neubrand
affinen Abbildung "Schr~gspiegelung" ist. 1)
Damit ist das Haus der Vierecke, wie es von Breidenbach [3J
angegeben und sich in dieser Art z.B. auch in [5J, [15J, [11J,[14J bzw. in den Schulbüchern [4J, [10J findet, vo Ll s t änd i q
aufgebaut:
Die Erfindung und Einführung des neuen Begriffs "schr~ger
Drachen" diente also zun~chst nur dazu, ein bereits begonnenes
Begriffsgeb~ude zu vervollst~ndigen und abzurunden. Das gleiche
Bestreben erforderte zuvor schon die Einfügung des gleichschenk
ligen Trapezes. Das ist ein Verfahren, das allgemein in der
Mathematik zur Auffindung weiterer Begriffe verwendet wird 2).
Hat man dann einmal den allgemeineren Begriff, dann kamman
daran gehen, ihn n~her zu untersuchen. Im vorliegenden Fall etwa
regt der schr~ge Drachen zum Studium von Schr~gspiegelungen
und allgemeiner zur Betrachtung von Achsenaffinit~ten an.
1) Daher wählen wir hier lieber die Bezeichnung "schräger" Drachen und habendann den Ausdruck "schiefer" Drachen für den Abschnitt 3. frei.
2) Oft deuten Vorsilben wie "quasi-", "pseudo-", u.ä, darauf hin.
Haus der Vierecke
Daß der schräge Drachen nur zum Zwecke der Füllung einer Lücke
eingeführt werden mußte, erwähnt zwar Breidenbach in seiner
Methodik [3J. Von den zitierten Schulbüchern wird aber nur bei
Andelfinger [1J und Breidenbach [4J dieses Problem explizit
gestellt. Ansonsten läßt man entweder das unregelmäßige Dia
gramm ohne schrägen Drachen stehen (in [16J), oder verzichtet
sowohl auf schräge Drachen, wie auch auf das Trapez (in [13J,
bzw. auch in [8J aus abbildungsgeometrischen Gründen), oder
teilt den Begriff "schräger Drachen" ohne Motivation mit (in
[11J, [17J).
3. Verallgemeinerungen sind nicht eindeutig festgelegt
43
Daß mathematischen Begriffsbildungen etwas Unverrückbares, Un
abänderliches, nur von der Sache Diktiertes eigen sei, ist ein
häufig anzutreffendes Mißverständnis. Tatsächlich gibt es in
der Elementarmathematik wohl nur selten Gelegenheit, das Gegen
teil zu zeigen. Das Haus der Vierecke bietet auch hierfür ein
Beispiel an.
Die vorhin mit dem Begriff schräger Drachen beseitigte Unregel
mäßigkeit im bis dahin bestehenden Begriffsgefüge könnte man
ebenso mit folgender
Überlegung beheben: Ein
Parallelogramm zeichnet
sich durch zwei Paare
gegenüberliegender glei
cher Winkel aus, ein
Drachenviereck hat ein
Paar gegenüberliegender
gleicher Winkel und noch
zusätzliche Eigenschaf
ten. Somit umfaßt die
Menge der Vierecke mit
einem Paar gegenüberlie
gender gleicher Winkel
sowohl Parallelogramme
wie auch Drachen. Wir
nennen diesen Viereckstyp "schiefen Drachen" (vgl. Skizze).
44 Michael Neubrand
Der schiefe Drachen paßt genauso gut wie der schräge Drachen
vorhin in das Haus der Vierecke. Denn ein schiefer Drachen, der
auch Trapez ist, ist notwendig ein Parallelogramm. Den schiefen
Drachen verwenden die didaktischen Arbeiten [5] und [12J sowie
das Schulbuch [7J.
Verallgemeinerungen sind also - und auch dies tritt allgemein in
der Mathematik auf - keineswegs eindeutig durch die Lücke be
stimmt, die sie füllen sollen 1). Man muß also abwägen, welcher
Begriff passender, sich besser ins Konzept einfügend ist.
Mit welchen Argumenten kann man eine solche Frage angehen?
Eine erste Lösung für dieses Problem könnte im vorliegenden Fall
etwa so aussehen: Der schräge Drachen ist zu bevorzugen, weil
dann die gleichberechtigte Stellung zum Trapez deutlicher hervor
tritt. Beide Viereckstypen sind nämlich invariant gegenüber
einer Schrägspiegelung. Und das ganze Haus ist dann stockwerk
weise nach abbildungsgeometrischen Gesichtspunkten aufgebaut.
Eine andere Antwort könnte sein: Man bevorzuge den schiefen
Drachen. Dann ist für den linken Teil des Hauses das möglichst
lange Beibehalten von Winkelgleichheit, für den rechten Teil das
Beibehalten von Seitenparallelität charakteristisch, und das
Parallelogramm nimmt die ihm gebührende MittlersteIle ein. Diese
Antwort bringt den neuen Gedanken der Beachtung der Dualität
Seite / Winkel ins Spiel, worauf wir noch zurückkommen.
Es kommt an dieser Stelle gar nicht auf eine Entscheidung an,
sondern darauf, aufzuzeigen, daß nun übergeordnete Gesichts
punkte (z.B. Abbildungsgeometrie, metrische Dualität) ins Spiel
kommen. Das Ordnen der Vierecke fordert also zum Weiterbau der
Theorie heraus: Abermals ein Abbild mathematischer Arbeit im
allgemeinen.
In keinem der zitierten Schulbücher bzw. Methodiken wird dieser
Punkt jedoch genannt. Sogar bei Andelfinger [1J, wo das Füllen
der Lücke im Begriffssystem ausführlich problematisiert wird,
1) Man könnte dies geradezu als (eine) treibende Kraft der Entwicklung mathematischen Wissens betrachten: Im Laufe der Zeit schälen sich unter denverschiedenen Verallgemeinerungen die geeignetsten heraus und werden"kanonisiert" .
Hausder Vierecke 45
suggerieren die anschließenden Hinweise, daß es eben doch eine
eindeutig bestimmte Lösung gebe. An anderen Stellen (z.B. in
[5J, [14], [18J, nicht jedoch in Schulbüchern) wird die Möglich
keit anderer Lösungen zwar erwähnt, jedoch nicht zum Thema
gemacht.
4. Weitere Begriffe stören das bisherige Begriffsnetz
Auf ein zur in 2. besprochenen Erzeugung von Begriffen komple
mentäres Phänomen stößt man, wenn man versucht, in dem Haus der
Vierecke noch weitere Viereckstvpen unterzubringen. Z.B. hat
man noch das Sehnenviereck und Tangentenviereck zu berücksich
tigen (Wir beschränken die Betrachtungen nun auf konvexe Vier
ec k e ) •
Zunächst soll das Sehnenviereck in seinen Beziehungen zu den an
deren Vierecksarten dargestellt werden. Offenbar haben Quadrate,
Rechtecke und gleichschenklige Trapeze stets einen Umkreis, so
daß sich die Einordnung des Sehnenvierecks in den rechten Teil
des Hauses anbietet:
Die Drachenvierecke (schräge, schiefe und gerade) passen nun
aber nicht mehr ohne weiteres in das Schema. Denn unter ihnen
gibt es solche mit und solche ohne Umkreis, die nur durch zu
sätzliche Bedingungen auseinanderzuhalten sind (z.B. 2 gegen
überliegende rechte Winkel im geraden bzw. auch beim schiefen
Drachen) :
46 Michael Neubrand
",..----<,
-,\
\\II
I
\ I\ //
-..-... ~ ",....... --_lf~·.,-...... -----
.------ .......,. ......
/~J-----~/ '\
I '\I -,II\\\
-,<,
'- .,-""'---_ ......
Ein Hasse- Diagramm, in dem alle bei Berücksichtigung auch der
Drachenvierecke nunmehr auftretenden Unter fälle eingezeichnet
wären, würde sehr unübersichtlich werden. Da die nun entstehen
den Begriffe, z.B. "rechtwinkliger Drachen", von geringerem geo
metrischen Interesse sind, wäre ein solches Diagramm im Geome
trieunterricht wenig sinnvoll (es sei denn, es kommt gerade auf
die vollständige Aufzählung aller möglichen Unter fälle an, was
wohl wieder eher der Kombinatorik zuzurechnen ist; vgl. z.B.
[1J) .
Das Auftauchen eines neuen Begriffs machte es also erforderlich,
andere Begriffe aus der Betrachtung auszuschließen. Das Sehnen
viereck hat schräge, schiefe und gerade Drachenvierecke ver
drängt; das Haus wurde "umgebaut".
Ähnliches geschieht beim Einfügen des Tangentenvierecks. Gerade
Drachenvierecke haben jedenfalls einen Inkreis. Die Trapeze aber
werden durch das Einschieben des Tangentenvierecks verdrängt.
Haus derVierecke
Denn unter diesen gibt es Fälle mit und ohne Inkreis:
47
"'-"",,=,,"--'---,\\\\\\\
1--__~_O:::;"_.L ..l , : \I ~ \1 .L ~
FDr den "Anbau" kommt also der linke Teil des Hauses in Frage:
Diesem Diagramm zufolge gilt der Satz, daß ein schräger Drachen
(bzw. auch ein schiefer Drachen) mit Inkreis ein gerader Drachen
ist. Dieser Satz ist zu beweisen, um zu verifizieren, daß es
sich tatsächlich um ein korrektes Hasse- Diagramm handelt. Das
BemDhen um eine Systematik (hier der Vierecke, aber auch allge
mein) kann also mathematische Sätze hervorbringen.
Auch das Phänomen der gegenseitigen Verdrängung von Begriffen
findet man allgemein in der Mathematik. Begriffszusammenhänge
haben immer lokalen Charakter. Die gegenseitigen Abhängigkeiten
werden unDberschaubar, wenn zu viele und zu fremde Begriffe
miteinander in Beziehung gesetzt werden 1).
1) Man denke etwa an die Vielzahl von Beispielen und Gegenbeispielen, die esbei Kombination von Eigenschaften topologischer Räume gibt.
48 Michael Neubrand
In manchen Schulbüchern (z.B. in [10J; in [1] jedoch nur als An
satz, der anschließend vervollständigt wird) werden Tangenten
viereck und Sehnen viereck in der ersten Zeile des Hauses der
Vierecke zusammen angebracht. Es muß aber darauf hingewiesen
werden, daß dann aus den erwähnten Gründen kein Hasse- Diagramm
mehr besteht. Aus dem alle Fälle berücksichtigenden großen
(hier nicht aufgestellten) Hasse- Diagramm können also nur die
dann getrennt zu lesenden obigen beiden Diagramme herausgezogen
werden.
5. Begriffe werden nach Analogien erzeugt
Die obigen beiden getrennt liegenden Hasse- Diagramme, die das
Sehnenviereck bzw. das Tangentenviereck enthalten, zeigen immer
hin noch soviel Zusammenhalt, daß sie in den beiden untersten
Zeilen vollständig, in der mittleren Zeile teilweise überein
stimmen. Die jeweiligen zweiten Zeilen von oben kann man also
als sich entsprechend betrachten. Bezeichnet man wie üblich die
Seiten bzw. Winkel der Reihe nach mit a,b,c,d bzw.~,ß,y,6, hat
man für die Viereckstypen dieser zweiten Zeile bekanntlich fol
gende Charakterisierungen:
( 1 ) a + c b + d für das Tangentenviereck,
( 2) 0< + eS (J + r für das Trapez,
(3) cc + r ß + d für das Sehnenviereck.
Für schräge und schiefe Drachen fehlen aber Charakterisierungen
dieses Typs. Durch die in der obigen Reihe (rein formal) noch
fehlende Gleichung
(4) a + d = b + c
wird also ein neuer Viereckstyp beschrieben. Es ist das Ankreis
viereck, das von Gottschalk [9] bzw. Zirkel (18] zur Aufnahme
in das Haus der Vierecke empfohlen wird, allerdings in kein
Schulbuch übernommen zu sein scheint:
Haus der Vierecke 49
Parallelogramme erfüllen ebenfalls (4), der Ankreis ist aber
dabei "'eigentlich' gar nicht zu sehen", wie Zirkel [18Jsich
ausdrückt. Bei der Einordnung des Ankreisvierecks an Stelle des
schrägen bzw. schiefen Drachens ergeben sich wiederum als Frucht
der Ordnungsbemühungen Sätze, deren Gültigkeit nachzuprüfen ist
(etwa: Ein Viereck mit An- und Inkreis ist ein gerades Drachen
viereck). Wichtiger als die Tatsache, daß nunmehr eine dritte
Möglichkeit zur Füllung der Lücke aus Abschnitt 2. gefunden wur
de, ist das Prinzip, das das Ankreisviereck geliefert hat. Die
Gleichungskette (1), (2), (3) wurde unter Beachtung der Ent
sprechung Seite / Winkel zu (4) fortgesetzt. Ein solches Ver
allgemeinern durch Analogie ist allerdings erst möglich, wenn
genug "Ausgangsmaterial", hier zusätzlich die Begriffe Sehnen
bzw. Tangentenviereck, vorhanden ist. Auch ein neuer übergeord
neter Gesichtpunkt ist auf diese Weise entstanden, die Dualität
Seite / Winkel (vgl. hierzu die Hinweise bei Zirkel (18J).
Literatur
[4J
[5J
[6J
[7]
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50 Michael Neubrand
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Dr. Michael NeubrandSeminar für Mathematik und ihre DidaktikUniversität SonnRömerstraße 164
D- 5300 Bonn 1