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Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in
der sozialen Arbeit mit Menschen mit
sogenannter geistiger Behinderung
Wie lässt sich die professionelle Beziehung in der sozialen Arbeit
mit Menschen mit geistiger Behinderung bewusst gestalten?
Bachelorarbeit
Vorgelegt von
Jeannette Völker
Studiengang Soziale Arbeit
urn:nbn:de:gbv:519-thesis 2016 – 0440-6
Hochschule Neubrandenburg
Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung
1. Betreuer: Prof. Dr. Anke Kampmeier
2. Betreuer: Prof. Dr. Werner Freigang
Abstrakt
Zwischenmenschliche Beziehungen, ihre Bedeutung und ausgewählte As-
pekte, mit denen sie bewusst gestaltet werden können, sind die Kernpunkte
dieser Arbeit.
Die Auseinandersetzung mit dem komplexen Begriff der geistigen Behinde-
rung erweitert zielführend den Blick auf eine ethische Grundhaltung.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Beziehungen im professionel-
len Kontext durch systemtheoretische Grundsätze und Haltungen des Sozi-
alarbeiters, durch Beachtung der Phänomene zwischenmenschlicher Kom-
munikation und Sensibilisierung in Bezug auf psychotherapeutische Grund-
sätze, bewusst positiv und entwicklungsfördernd gestaltet werden können.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung................................................................................................................... 1
1 Aspekte zum Begriff der Beziehung ................................................................. 4
1.1 Die professionelle Arbeitsbeziehung .................................................................... 4
1.2 Pädagogischer Ansatz in der professionellen Arbeitsbeziehung .......................... 5
2 Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung ........................................ 7
2.1 Der Begriff der geistigen Behinderung ................................................................. 7
2.2 Geistige Behinderung und die Klassifikationen .................................................... 9
2.3 Kritische Anmerkung zu den Klassifizierungen ................................................... 14
3 Aspekte der Gestaltung von Beziehung ......................................................... 16
3.1 Beziehungsgestaltung nach Carl Rogers ........................................................... 16
3.2 Kommunikation als Gestaltungsmittel für Beziehungen ..................................... 21
3.2.1 Axiome der Kommunikation ......................................................................... 22
3.2.2 Störmomente der Kommunikation ............................................................... 27
3.2.3 Nonverbale Kommunikation ......................................................................... 31
3.3 Grundprinzipien und Haltungen in der Systemtheorie ........................................ 33
4 Bedeutung der Beziehungsgestaltung für die Soziale Arbeit mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung an einem Fallbeispiel ........ 37
4.1 Falldarstellung aus systemtheoretischer Perspektive ......................................... 37
4.2 Empathie, Kongruenz und Akzeptanz in der Praxis ........................................... 39
4.3 Kommunikationsaspekte in der Praxis ............................................................... 40
5 Zusammenfassung und Ausblick ................................................................... 42
6 Quellenverzeichnis ........................................................................................... 44
1
Einleitung Soziale Arbeit ist nach der Definition des IFSW1 global, eine praxisorientierte
und gleichzeitig wissenschaftliche Disziplin. Sie ist sowohl zielorientiert, als
auch ergebnisorientiert und beinhaltet ethische Grundhaltungen und Prinzi-
pien. Soziale Arbeit fördert soziale Entwicklung, sozialen Wandel und den
sozialen Zusammenhalt der Menschen, möchte sie stärken und befreien. Sie
berücksichtigt in ihrer Profession die Gleichheit und Würde aller Menschen,
unter der Beachtung der Menschenrechte und der Achtung vor der Vielfalt,
und richtet sich an die komplexen Beziehungen zwischen Menschen und ih-
rer Umwelt (URL1: Deutscher Berufsverband für Sozial- und Heilberufe
2016). Die Betrachtung der zwischenmenschlichen Beziehung in der Sozia-
len Arbeit kann dabei kaum überschätzt werden, denn sie bildet nach Lüssi2
die Grundlage für die soziale Arbeit. Soziale Arbeit ist demnach in ihrem Kern
auch Beziehungsarbeit, denn ohne eine tragfähige Beziehung ist sie nicht
möglich.
Was Beziehung im professionellen Kontext ist, welche Bedeutung der Bezie-
hungsaspekt in der Arbeit mit Menschen mit einer sogenannten geistigen
Behinderung erhält, und wie Sozialarbeiter diese bewusst gestalten können,
wird in dieser Arbeit herausgestellt werden.
Dazu wird zunächst im ersten Teil die professionelle Beziehung in Abgren-
zung einer Beziehung im privatrechtlichen Kontext dargestellt. Um sich mit
Beziehung in der sozialen Arbeit auseinanderzusetzen, ist es erforderlich,
abzubilden was eine solche ausmacht und welche Merkmale hier zu finden
sind. Da der Beziehungsaspekt nicht losgelöst betrachtet werden kann, wird
der Blick auf das pädagogische Handeln gerichtet und auch dieser Begriff,
unter Berücksichtigung des komplexen Phänomens Beziehung, näher be-
stimmt.
1 IFSW – International Federation of social workers.
2 Peter Lüssi – Schweizer Sozialarbeiter, Hochschullehrer und Begründer der systemischen Sozial-arbeit.
2
Im zweiten Teil dieser Arbeit werden unterschiedliche Definitionen und Klas-
sifikationsformen für den Begriff geistige Behinderung beschrieben. Zum ei-
nen um aufzuzeigen, wie komplex der Begriff ist und zum anderen um her-
auszuarbeiten, aus welchen Betrachtungsweisen heraus sich der Begriff und
die unterschiedlichen Klassifikationsformen kritisch betrachten lassen.
Anhand der Theorie von Carl Rogers werden bedeutende Aspekte für die
Beziehungsgestaltung im Hauptteil dieser Arbeit beschrieben. Es sind Aspek-
te, die Sozialarbeiter in ihrer Tätigkeit verinnerlichen sollten, wenn sie die
Beziehung zum Klienten bewusst positiv und entwicklungsfördernd gestalten
möchten. Die Ausführungen von Kongruenz, Empathie, Wertschätzung, posi-
tiver Zuwendung und bedingungsfreies Akzeptieren unter der Berücksichti-
gung der Wahrnehmungswelt des Klienten bilden hierfür Grundlagen. Als
weitere Basis für die Gestaltung von Beziehungen wird die Kommunikation
nach Paul Watzlawick beschrieben. Es ist unmöglich nicht zu kommunizie-
ren, so der erste Grundsatz in der Theorie von Watzlawick. Neben der akti-
ven Sprache gibt es weitere Aspekte, die eine Beziehung zum Menschen
beeinflussen können. So ist es wichtig für den Sozialarbeiter den Inhalts- und
Beziehungsaspekt von Nachrichten, die Interpunktion von Ereignisfolgen, die
Inhalte von digitaler und analoger Sprache und die symmetrischen und kom-
plementären Wechselwirkungen in der Kommunikation zu beachten. Stör-
momente in der Kommunikation lassen sich oftmals nicht vermeiden, sie
dann jedoch zu erkennen und zu deuten, sollte ebenfalls Bestandteil der So-
zialen Arbeit sein. Die Grundprinzipien und therapeutischen Grundhaltungen
der Systemtheorie nach Sigrid Haselmann heben weitere Aspekte für eine
positive Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen hervor und
werden das dritte Kapitel abschließen.
Um die Besonderheiten der Beziehungsgestaltung für die Soziale Arbeit mit
Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung praxisnah darzu-
stellen, werden im vierten Kapitel die Theorien des Hauptteils anhand eines
Fallbeispiels nochmals verdeutlicht.
Im fünften Kapitel werden die Erkenntnisse dieser Arbeit und abschließend
die Herausforderungen, eine Beziehung im professionellen Kontext zu ge-
3
stalten, zusammengefasst sowie gewonnene Handlungsempfehlungen für
Sozialarbeiter daraus abgeleitet.
Der folgende Text wurde aufgrund der besseren Lesbarkeit im maskulinen
Genus verfasst, wobei jedoch – sofern diese nicht ausdrücklich gekenn-
zeichnet wurden – allzeit beide Geschlechter gemeint sind.
4
1 Aspekte zum Begriff der Beziehung Ein Blick auf die professionelle Arbeitsbeziehung zeigt im ersten Teil dieser
Arbeit die Bedeutsamkeit der Wahrnehmung unterschiedlicher Beziehungs-
ebenen in der sozialen Arbeit auf. Dazu soll zunächst herausgearbeitet wer-
den, was professionelle Arbeitsbeziehung genau bedeutet, welchen Ansatz
diese Beziehungsform verfolgt, wie sie sich unterscheidet von einer Bezie-
hung aus dem privaten Kontext und welche Rolle der pädagogische Ansatz
hierbei spielt.
1.1 Die professionelle Arbeitsbeziehung Nach Susan Arnold kennzeichnet sich die professionelle Arbeitsbeziehung im
Kontext der Sozialen Arbeit zunächst dadurch, dass sich ein professionell
Tätiger (im folgenden Text der Sozialarbeiter) und der Adressat (im folgen-
den Text der Klient) begegnen. Demnach ist sie also eine Form der zwi-
schenmenschlichen Begegnung und gleichzeitig eine Art der zwischen-
menschlichen Beziehung, die zwischen einem Sozialarbeiter und dem Klien-
ten zustande kommt. Nach Susan Arnold besteht bei Beiden eine Vorprä-
gung in einer ganz bestimmten Weise. Sie haben bestimmte Vorstellungen
voneinander und ebenso Erwartungen aneinander. Unter anderem unter-
scheidet sich eine professionelle von einer alltäglichen Beziehung durch
eben diese zugeschriebenen Rollen und Erwartungen (vgl. Arnold 2009,
S. 27). In unterschiedlichen sozialen Tätigkeitsfeldern finden sich jedoch
auch Ähnlichkeiten, wie beispielsweise:
Ungleichgewicht durch die Unterschiede in Bezug auf Machtressour-
cen und Kompetenzen
Abhängigkeit der Interaktionspartner voneinander
Bestand der Arbeitsbeziehung über einen bestimmten Zeitraum
Relevanz der Beziehung für beide Interaktionspartner
formal festgelegtes Rollenverhältnis
(vgl. Schweer 1996, zit. nach Arnold 2009, S. 27 f.).
5
In der sozialen Arbeit spielt der norm- und zielbezogene Ansatz eine beson-
ders große Rolle. Bei der Begegnung von Sozialarbeiter und Klient liegen
dabei zunächst recht unterschiedliche Interessenlagen vor. Aus der Sicht des
Sozialarbeiters sind die Ziele des Klienten mit Schwerpunkt auf normative
Aspekte zu betrachten und durch eine personelle Beeinflussung zu realisie-
ren (vgl. Schweer 1996, zit. nach Arnold 2009, S. 28). Eine solche Beziehung
im pädagogischen Umfeld lässt es nicht zu, dass diese, beispielsweise bei
Unzufriedenheit, beendet werden kann. Auch eine unfreiwillige Beziehung
muss weitergeführt werden (ebd.). Dies zeigt eine differenzierte Darstellung
zu einer zwischenmenschlichen Beziehung im rein privatrechtlichen Kontext,
bei der die Entscheidung über Weiterbestehen oder aber Beendigung jedem
Partner zusteht. Die ziel- und normbezogene Arbeitsweise und auch die un-
terschiedlichen Interessenlagen von Sozialarbeiter und Klient in Bezug zur
professionellen Begegnung bedürfen einer besonderen Beachtung in der
Reflexion der sozialen Arbeit und ihren Beziehungen.
Im Gegensatz dazu lässt sich der phasenhafte Verlauf in zwischenmenschli-
chen Beziehungen auf die professionelle Arbeitsbeziehung übertragen. So
durchlaufen Sozialarbeiter und Klient die einzelnen Phasen wie folgt: Phase
des Beziehungsaufbaus, Phase der Auseinandersetzung mit einem gemein-
samen Thema und Phase der Ablösung (vgl. Arnold 2009, S. 28). Ein Aspekt
zur Gestaltung von Beziehungen ist die Kommunikation, welche im Kapitel
3.3 noch genauer beleuchtet wird, sowie die Interaktion. Das aufeinander
bezogene und sich gleichzeitig beeinflussende Handeln von Personen wird
von Ursula Piontkowski3 als Interaktion beschrieben und ist mit Blick auf den
pädagogischen Kontext Gegenstand des nun folgenden Kapitels (ebd.).
1.2 Pädagogischer Ansatz in der professionellen Arbeitsbeziehung Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik als Beruf –
Grundformen pädagogischen Handelns“ den pädagogischen Ansatz profes-
sioneller Beziehungen.
3 Ursula Piontkowski - Professorin für Sozialpsychologie.
6
Um pädagogisches Handeln genauer zu betrachten, muss man sich zu-
nächst der Frage stellen, was Handeln im Allgemeinen ist. Nach Giesecke4
ist Handeln vor allem auf die Gestaltung der Wirklichkeit gerichtet, bewusst
und willentlich und hat für die Zielerreichung festgelegte Motive. Wenn sich
Handeln nun auf die Veränderungen von menschlichen Verhältnissen, Be-
dingungen oder auch Beziehungen bezieht, spricht man nach Giesecke von
sozialem Handeln. Soziales Handeln steht dabei in einer Wechselseitigkeit
zu anderen Personen. Für das Durchsetzen persönlicher Ziele in Bezug auf
das eigene Handeln sollte sich der Sozialarbeiter bewusst sein, dass sein
Gegenüber frei ist, über sein eigenes Handeln zu entscheiden (vgl. Giesecke
2000, S. 21). Es gibt im Bereich des sozialen Handelns also immer die Frei-
heit anders zu handeln, als man es tatsächlich tut. Pädagogisches Handeln
gehört nach Giesecke zu sozialem Handeln. Daraus ergibt sich für zielorien-
tiertes pädagogisches Handeln ein Wechselspiel mit dem sogenannten „Ge-
gen-Handeln“. Der Kern pädagogischen Handelns liegt, nach Annahme von
Giesecke, darin, sich als Sozialarbeiter einer bestimmten Situation und dem
Klienten gegenüber angemessenen zu verhalten und dabei aus mehreren
Konstruktionen eine Handlungsmöglichkeit als Reaktion auf das Verhalten
und Handeln des Klienten abzuleiten (vgl. Giesecke 2000, S. 21).
Das Ziel pädagogischen Handelns ist es, Kinder oder auch Erwachsene in
ihrer Entwicklung positiv zu fördern, dabei schädliche Einflüsse von ihnen
fern zu halten und somit Bildung und Erziehung zu ermöglichen (vgl. Giese-
cke 2000, S. 22). Pädagogisches Handeln ist demnach eine Form von Lern-
begleitung und kann sich auf unterschiedliche Lern- oder auch Lebensinhalte
beziehen, die dem Bewusstsein des Menschen zugänglich sind (ebd.).
Giesecke, wie auch Arnold stellen mit Blick auf die professionelle Arbeitsbe-
ziehung fest, dass sowohl Sozialarbeiter und Klient oder Pädagoge und Ler-
nender, sich gegenseitig nicht nach persönlichen Gesichtspunkten auswäh-
len können.
4 Hermann Giesecke - Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik.
7
Die zwischenmenschliche Beziehung innerhalb pädagogischen Handelns
dient einem bestimmten Zweck: dem Lernen. Nach Giesecke ist sie ein emo-
tional distanziertes und kulturell geformtes Beziehungskonstrukt, welches
von jedem eingegangen werden kann, der den Lernzweck anerkennt (vgl.
Giesecke 2000, S. 116). Lernen wird nach Giesecke, neben der Vermittlung
von Wissen, auch als Austausch von Erfahrungen zwischen Lernenden und
Lehrenden beschrieben. Individuelle Erfahrungen, die als subjektiv sinnvoll
und gleichrangig verstanden werden führen zum Respekt voreinander. Pä-
dagogisches Handeln mit Blick auf die individuellen Erfahrungen ist also
auch ein geleichberechtigter Umgang von Pädagogen und Lernenden im
Lernprozess (vgl. Giesecke 2000, S. 119).
2 Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung sind in erster Linie
Menschen. Der Begriff der geistigen Behinderung bereitet häufig noch große
Schwierigkeiten. Während eine körperliche Behinderung eine einzelne beein-
trächtigte Funktion beschreibt, erstreckt sich eine sogenannte geistige Be-
hinderung auf den ganzen Menschen. Gerade in der deutschen Sprache hat
der Begriff Geist eine vielseitige Bedeutung. Die Zuschreibungen finden sich
von Gespenst über Verstand bis hin zum Weltgeist (vgl. Speck 2012, S. 45).
Doch was bedeutet nun geistig behindert?
2.1 Der Begriff der geistigen Behinderung Die Be- bzw. Zuschreibung geistige Behinderung steht für einen unklaren,
weit gefächerten Begriff, der dennoch überreichlich genutzt wird. Eine Viel-
zahl von Autoren beschäftigte sich mit dem Terminus der geistigen Behinde-
rung, von denen einige im folgenden Text dargestellt werden.
So findet sich zunächst einmal in dem Wortlaut des Sozialgesetzbuches IX, §
2, Abs. 1 folgende Definition von Behinderung:
„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit
oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und da-
8
her ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind
von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ (SGB
IX § 2, Abs.1). In dem Gesetzestext des Sozialgesetzbuches wird Behinde-
rung beschrieben, dem eine Normierung im Bereich der körperlichen, geisti-
gen und seelischen Fähigkeiten zu Grunde gelegt und eine Abweichung von
der festgelegten Norm über einen dazu festgelegten Zeitraum festgestellt
wird.
Im Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention vom 13. Dezember 2006 fin-
det sich der Begriff der Behinderung nicht als isoliertes Phänomen wieder.
Nicht die Behinderung steht hier als Merkmal einer Person im Mittelpunkt,
sondern der Mensch innerhalb der Gesellschaft: „Zu den Menschen mit Be-
hinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geisti-
ge oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit
verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten
Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ (URL2: Institut für Menschen-
rechte 2016). In dem Definitionsbegehren der UN-
Behindertenrechtskonvention finden wir eine Aussage über einen Zeitraum
und über die körperliche, geistige und seelische Form von Beeinträchtigung.
Darüber hinaus wird hier die Teilhabe an der Gesellschaft als Recht von
Menschen mit Behinderungen in die Definition mit eingebracht.
Nach Grossman definiert sich die geistige Behinderung mit der Verlangsa-
mung und Beschränkung der kognitiven Entwicklung und Lernfähigkeit. Die-
se gehen mit Schwierigkeiten im sozialen und lebenspraktischen Anpas-
sungsverhalten einher und sind in der Regel bereits im Entwicklungsalter zu
beobachten (vgl. Grossman zit. nach Strasser5 2001, S.11).
In den Ausführungen von Otto Speck6 findet man zunächst die Rückführung
zur öffentlichen Nutzung des Begriffs. Der Begriff der geistigen Behinderung
wurde erstmalig offiziell 1958 im Zusammenhang mit der Gründung des Ver-
eins „das geistig behinderte Kind“ verwendet. Der Fachausdruck der geisti-
gen Behinderung steht für ein komplexes, verschiedene Aspekte und Dimen- 5 Urs Strasser – Dr. phil. - Rektor der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. 6 Otto Speck – Professor für Sonderpädagogik.
9
sionen umfassendes Konstrukt (vgl. Speck, 2007, S. 136). Mit der Komplexi-
tät ist dabei die Zusammensetzung verschiedener Bestandteile und Kompo-
nenten und ihre Vernetzung in jedem einzelnen Menschen gemeint (vgl.
Speck 2012, S. 53). So wie jeder Mensch mit seinen Eigenschaften einzigar-
tig, eben ein Individuum ist, so ist auch jede geistige Behinderung auf unter-
schiedliche Weise und vor allem individuell ausgeprägt. Nach Speck versucht
man den Ausdruck der geistigen Behinderung im pädagogischen Arbeitsall-
tag zu vermeiden, da er defizitbezogen und stigmatisierend ist. Doch auch
die Begriffe „Anders-sein“ implizieren eine Provokation und Stigmatisierung,
so Speck. Wenn ich einen Menschen als anders betrachte, setze ich auch
hier wieder eine Norm an. Anders als Was? Oder anders als Wer? Diese
Fragen bleiben in Bezug auf die Begriffsklärung oder den Versuch einer Be-
schreibung von geistiger Behinderung offen (vgl. Speck 2012, S. 53).
Um den Begriff der geistigen Behinderung aus unterschiedlichen Betrach-
tungsweisen zu beleuchten, gibt es neben der Beschreibung von geistiger
Behinderung aus psychiatrisch-nihilistischer, aus heilpädagogisch-
defizitorientierter, aus entwicklungspsychologischer und IQ-bezogener
Sichtweise unterschiedliche Klassifikationsformen (vgl. Theunissen 2016,
S. 11).
2.2 Geistige Behinderung und die Klassifikationen Geistige Behinderung ist mehr als nur ein Begriff, welcher versucht die indi-
viduellen Eigenschaften eines Menschen in Bezug auf seine kognitiven Leis-
tungen zu beschreiben. Zu den unterschiedlichen Beschreibungen der geisti-
gen Behinderung eines Menschen gibt es unterschiedliche Klassifikations-
formen, von denen im folgenden Kapitel drei Ausgewählte dargestellt wer-
den.
2.2.1 Klassifikation nach ICD – 10
ICD – 10 ist die Abkürzung der Weltgesundheitsorganisation für: International
Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. In deut-
scher Sprache: die internationale statistische Klassifikation von Krankheiten
10
und verwandten Gesundheitsproblemen in der zehnten Revision. Das Ver-
fahren dient der Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und sta-
tionären Versorgung von Menschen (URL3: Deutsches Institut für Medizini-
sche Dokumentation und Information 2016).
Das Klassifikationsmodell von geistiger Behinderung nach ICD – 10 geht von
einer Störung der Intelligenz aus und findet sich im Klassifikationskatalog
unter F70 bis F79. Die Definition von Intelligenz kann dabei sehr unterschied-
lich sein. Aus rein medizinischer Sicht ist Intelligenz die Gesamtheit kogniti-
ver Fähig- und Fertigkeiten einer Person. Bei einer angeborenen oder auch
erworbenen Reduktion kognitiver Fähigkeiten spricht man von einer Intellin-
genzminderung (vgl. Preuß 2010, S 102).
Intelligenzstörung nach ICD – 10 beschreibt einen Zustand von verzögerter
oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, die allein oder
zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftre-
ten können. Dabei sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode ma-
nifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache,
motorische und soziale Fähigkeiten besonders beeinträchtigt (URL4: Deut-
sches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2016).
Intelligenz und damit auch der Schweregrad einer Intelligenzstörung wird mit
Hilfe standardisierter Testverfahren gemessen, von erfahrenen Diagnostikern
ausgewertet und mit einem Intelligenzquotienten beziffert (vgl. Theunissen7
2016, S.18). Geistige Behinderungen werden nach ICD – 10 wie folgt klassi-
fiziert:
o F70.- Leichte Intelligenzminderung (IQ 50/55 – 70/75)
o F71.- Mittelgradige Intelligenzminderung (IQ 35/40 – 50/55)
o F72.- Schwere Intelligenzminderung (IQ 15/20 – 35/40)
o F73.- Schwerste Intelligenzminderung (IQ <15/20) (ebd.).
7 Georg Theunissen – Professor für Heilpädagogik.
11
Der Vollständigkeit halber seien folgende Klassifizierungen nach dem ICD –
10 noch erwähnt:
o F74.- Dissoziierte Intelligenz
o F78.- Andere Intelligenzminderung
o F79.- Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung
(URL4: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information
2016).
Die Klassifizierung nach ICD – 10 ist weniger am Menschen und seinen Fä-
higkeiten, sondern an den Defiziten orientiert. Sie hilft zur Orientierung und
Klärung von Einschränkungen, um für die betreffende Person insbesondere
medizinische Maßnahmen, Therapien und Förderungen unter anderem auch
über den Regelkatalog der gesetzlichen Krankenkassen in die Wege zu lei-
ten (vgl. Theunissen 2016, S. 17). Gleichzeitig schafft eine Klassifizierung in
Form von ICD – 10 eine gravierende Stigmatisierung von Menschen mit einer
sogenannten geistigen Behinderung, da hier ausschließlich die Intelligenz,
dass heißt also die geistigen Fähigkeiten der Person, berücksichtigt werden
und die Ergebnisse ohnehin von situativen, soziokulturellen und auch sprach-
lichen Bedingungen beeinflusst werden (vgl. Speck 2012, S. 53).
2.2.2 Behinderungsmodell nach ICF
ICF ist die Abkürzung für International Classification of Functioning, Disability
and Health und die deutsche Übersetzung lautet Internationale Klassifikation
der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (URL5: Deutsches Insti-
tut für Medizinische Dokumentation und Information 2005).
Durch die Verabschiedung der ICF im Mai 2001 vertritt die WHO ein Ver-
ständnis von menschlicher Behinderung, das über die bisherigen drei Blick-
winkel von individueller Schädigung, Beeinträchtigung und gesellschaftlicher
Benachteiligung hinaus geht (vgl. Theunissen 2016, S. 33). Die Wechselwir-
kungen von Bereichen wie Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten, Par-
12
tizipation und Kontextfaktoren werden dabei genauer betrachtet (vgl. Theu-
nissen 2016, S. 34).
Mit dem zentralen Bereich der physiologischen und psychischen Körperfunk-
tionen und auch Körperstrukturen gehen physisch biologische Beeinträchti-
gungen einer Person, in Bezug auf ihre körperlichen und mentalen Funktio-
nen hervor (ebd.). Die Beschreibungen der Aktivitäten einer Person geben
Aufschluss über die Funktionsfähigkeiten einer Person, in Bezug auf den Be-
reich der Alltagsbewältigung und der sozialen Kommunikation (ebd.). Gleich-
zeitig werfen sie Fragen danach auf, welche Unterstützungen notwendig
sind, um die Aktivitäten dieser Person zu optimieren. Die Partizipation aus
dem ICF-Modell beschäftigt sich mit den Möglichkeiten der Teilhabe einer
Person in den unterschiedlichsten Lebensbereichen und der Frage, inwieweit
Teilhabe durch die Wechselwirkung von biologischer Schädigung, Aktivitäts-
einschränkungen oder auch Umwelt- und personenbezogenen Kontextfakto-
ren beeinträchtig ist (ebd.). Die Kontextfaktoren beziehen sich auf die soziale
und materielle Umwelt, auf unterschiedliche Systeme (z.B. soziale Dienste),
unterschiedliche Lebensbereiche und auf personenbezogene Daten (ebd.).
Die Wechselwirkungen zwischen dem gesundheitlichen Problem einer Per-
son und den oben genannten Kontextfaktoren sind in folgender Abbildung
der ICF dargestellt.
Abbildung1: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF
Quelle: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2016
13
Die Abbildung zeigt, dass die Wechselwirkungen in zwei Richtungen beste-
hen, wobei anzumerken ist, dass die Wechselwirkungen nicht im direkten
Zusammenhang zu sehen sind. Eine Störung oder Schädigung in einem der
Kontextbereiche kann das gesundheitliche Problem beeinflussen, so wie das
gesundheitliche Problem Einfluss auf die einzelnen Kontextbereiche hat. Für
die Erhebung der Daten werden zunächst die Kontextbereiche einzeln be-
trachtet und erst dann kausale Zusammenhänge und Rückschlüsse unter-
sucht (URL5: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Infor-
mation 2016).
Das Behinderungsmodell nach ICF klassifiziert keine Personen, sondern be-
schreibt Situationen und das Zusammenwirken bio-psychosozialer Faktoren.
Behinderung wird als eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit gesehen,
um Lebenssituationen zu meistern und am gesellschaftlichen Leben teilzu-
haben (vgl. Theunissen 2016, S. 35).
2.2.3 Klassifikation nach DSM – 5
The diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM – 5) ist in
seiner fünften Revision neben der ICD – 10 ein weltweit anerkanntes System
zur Klassifizierung von psychischen Störungen. Das DSM-5 ist defizitär ori-
entiert und unterscheidet nach drei Kriterien der Diagnostik:
o Defizite der intellektuellen Funktionsfähigkeit
o Defizite in der adaptiven Funktionsfähigkeit
o Defizite in der kognitiven Hirnleistungsfähigkeit
(vgl. Theunissen 2016, S. 41).
Mit einem klinischen Assessment und einem Intelligenztest werden die Defi-
zite der intellektuellen Funktionsfähigkeit einer Person, soziale Einflussfakto-
ren wie Muttersprache und soziokultureller Hintergrund, und zusätzliche
kommunikative, motorische und sensorische Beeinträchtigungen der Person
diagnostiziert. Intellektuelle Funktionsfähigkeit meint vor allem logisches,
14
problemlösendes und abstraktes Denken, Planen, Urteilen, experimentelles
und akademisches Lernen und Lernen aus Beobachtung und Erfahrung
(ebd.).
Die Defizite in der adaptierten Funktionsfähigkeit beziehen sich auf Beein-
trächtigungen des konzeptionellen Bereiches (sprachliche Fähigkeiten, Kom-
petenzen im Bereich Lesen, Schreiben, Rechnen, Urteilsfähigkeit, Wissen
und Gedächtnisleistung), des sozialen Bereiches (u.a. Empathie, Kommuni-
kation, Bildung und Pflege von Freundschaften) und des alltagspraktischen
Bereiches (Körperpflege, Arbeitsverhalten, Freizeitgestaltung etc.) (ebd.).
Eine geistige Behinderung – intellectually disability – ist nicht auf eine be-
stimmte Altersgrenze hin festgelegt. Die beschriebenen Symptome müssen
jedoch bis zum 18. Lebensjahr entstanden sein, da dies die Abgrenzung zur
Hirnleistungsstörung – neurocognitive disorder – darstellt. (ebd.).
Neben der Defizitorientierung geht die Klassifikation psychischer Erkrankun-
gen nach DSM – 5 davon aus, dass alle behinderten Menschen mit einem
bestimmten Grad der Behinderung vergleichbare Interessen und Bedürfnisse
haben, einen gleichen Entwicklungsstand von psychischen Funktionen auf-
weisen und daher auch einen identischen Unterstützungsbedarf haben. Per-
sonen werden in Kategorien oder Schweregraden ihrer Einschränkung von
leicht, mäßig, schwer und schwerst eingestuft und nicht als Individuen, son-
dern als zu einer Gruppe gehörend wahrgenommen (vgl. Theunissen 2016,
S. 42).
2.3 Kritische Anmerkung zu den Klassifizierungen Nach Speck ist die Formulierung geistig behindert negativ besetzt, da sie
konkret auf ein Defizit einer Person hinweist, ein festgestelltes Handicap her-
aushebt und damit stigmatisierend für Menschen mit besonderen Bedarfen
ist. Spricht man von Menschen mit einer geistigen Behinderung könnte man
den Eindruck gewinnen alles an diesen Menschen sei defizitär (vgl. Speck
2012, S. 52). Behinderung wird nicht als Eigenschaft einer Person, sondern
als Merkmal dargestellt. Nicht der Mensch innerhalb einer Gruppe oder der
Gesellschaft steht im Blickfeld, sondern seine Besonderheit. Diese Form des
15
Fokus´ erschwert den Blick auf die Entwicklungschancen, Ressourcen, Be-
dürfnisse und Fähigkeiten einer Person. Auch die Interessen, die Würde und
vor allem der individuelle Wert der Person für die Gemeinschaft werden mög-
licherweise durch den reduzierten Blick nicht wahrgenommen (ebd.).
Um Menschen mit einer geistigen Behinderung sozial in die Gesellschaft zu
integrieren, ist man bemüht die genannten Begrifflichkeiten zu meiden vgl.
Speck 2012, S. 53). Der Versuch die Stigmatisierung durch die Verwendung
alternativer Begriffe zu vermeiden, erweist sich jedoch als äußerst schwierig.
Jeder Austausch beinhaltet wieder neue Stigmatisierungen, da es den Men-
schen mit seinen Merkmalen als andersartig darstellt (ebd.). Es ist wichtig in
der sozialen Arbeit mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung,
den Menschen zu allererst als Menschen zu sehen. Einen Menschen mit
gleichen Rechten und seinem Anspruch, so zu leben, wie er es möchte. Es
ist die Pflicht der Gesellschaft keine Sonderformen und Exklusionen zu
schaffen, sondern dafür zu sorgen, dass jeder einzelne Mensch seinen Platz
in der Gesellschaft und nicht am Rand eben jener findet.
Die Klassifizierungen von Menschen mit einer geistigen Behinderung stellen
in jeder einzelnen Form ebenfalls eine Diskriminierung dar. Sie bieten nach
Strasser zwar eine grobe Orientierung über Möglichkeiten und Grenzen, über
Betreuungs- und Förderungsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft und
stellen dabei gleichzeitig Gruppenbildungen und Kategorisierungen dar.
Nach Strasser sind sie institutionell bedingte Konstruktionen, aber keine Na-
turgegebenheiten. Sie werden nicht dem Menschen als Person, seinen indi-
viduellen Eigenschaften, Merkmalen oder Bedürfnissen gerecht (vgl. Strasser
2001, S. 19).
Für Menschen mit einer geistigen Behinderung einen nicht-stigmatisierenden
Begriff zu finden, benötigt, neben der gesellschaftlichen Akzeptanz, auch die
erforderliche Zeit sich an gesellschaftliche Veränderungen zu gewöhnen.
16
3 Aspekte der Gestaltung von Beziehung Zwischenmenschliche Beziehung besteht aus so viel mehr als aus reinen
Begrifflichkeiten. Neben der Erkenntnis, dass es unterschiedliche Formen
gibt, liegt ihre bewusste Gestaltung im Fokus der nun folgenden Kapitel.
3.1 Beziehungsgestaltung nach Carl Rogers Beschäftigt man sich mit der Gestaltung von Beziehungen, so kommt man
nicht umhin sich mit der Theorie von Carl Rogers8 auseinanderzusetzen. In
seinem Buch „Therapeut und Klient – Grundlagen der Gesprächspsychothe-
rapie“ beschäftigt er sich unter anderem mit dem Thema der zwischen-
menschlichen Beziehung. Als Berater und Psychotherapeut hat er mit unter-
schiedlichen Berufsgruppen gearbeitet, deren Tätigkeit auch auf der Bezie-
hung zum Menschen basiert. So hat Rogers die Arbeit von und mit Psycho-
logen, Psychotherapeuten, Seelsorgern, Lehrern und Sozialarbeitern durch
langjährige Beobachtungen und empirische Studien wissenschaftlich beglei-
tet und als Ergebnis die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehung
als wichtigstes Element für den Erfolg von Entwicklung bestimmt (vgl. Rogers
1983, S. 211).
Kongruenz, Empathie, Wertschätzung, positive Zuwendung, bedingungsfrei-
es Akzeptieren und die Wahrnehmungswelt des Klienten wurden von Rogers
aus der Sicht des Psychotherapeuten beschrieben und werden im folgenden
Text auf die Arbeit des Sozialarbeiters übertragen.
Kongruenz
Ein Aspekt für eine positive Entwicklung oder auch Weiterentwicklung wird
durch Rogers mit der Kongruenz beschrieben. Hierbei ist die Übereinstim-
mung des Sozialarbeiters mit sich selbst gemeint und könnte mit dem Begriff
der Echtheit benannt werden. Ist der Sozialarbeiter echt und ohne Fassade,
so Rogers, lebt er offen seine Gefühle und Einstellungen. Die Gefühle die ihn
in diesem Augenblick bewegen, sind ihm bewusst und zugänglich. Anzumer- 8 Carl Rogers – US-amerikanischer Psychologe und Psychotherapeut.
17
ken ist, dass hier die im zwischenmenschlichen Kontext auftretenden Gefüh-
le beschrieben sind. Die Gefühle, die der Sozialarbeiter aus einer privaten
Situation heraus empfindet, finden an dieser Stelle keine Beachtung (vgl.
Rogers 1983, S. 213).
Ist der Moment in der Situation zwischen den Interaktionspartnern angemes-
sen, so sollten diese Empfindungen auch benannt werden. Rogers´ Hypo-
these lautet hierzu, wenn der Sozialarbeiter zeigt was er im Moment des
Kontaktes mit dem Klienten wirklich fühlt und lebt, so wirkt er auf diesen kon-
gruent. Er begibt sich in diesem Moment in eine unmittelbare Begegnung mit
seinem Klienten indem er ihm von Person zu Person begegnet. Dies bedeu-
tet, dass der Sozialarbeiter ganz und gar bei sich selbst ist und sich nicht
verleugnet. Dieser Zustand kann nicht absolut erreicht werden, doch je mehr
der Sozialarbeiter in der Lage ist, auf seine ganz persönliche Gefühlswelt zu
achten, sich auf sie einzulassen und sie zu akzeptieren, um so größer ist
seine Übereinstimmung mit sich selbst (ebd.).
Nun stellt sich die Frage ob es förderlich ist, kongruent zu sein, wenn bei-
spielsweise negative Gefühle, wie Ärger, Langeweile oder Ablehnung ge-
genüber dem Klienten vorherrschen. In einer Situation mit solchen Gefühlen
rät Rogers, auch hier mit sich selbst in Kontakt und echt zu bleiben und nicht
eine Fassade mit positiven Gefühlen zu errichten, wenn der Sozialarbeiter so
nicht empfindet. Nach Rogers liegt hierin eine Chance für eine vertiefte Be-
ziehung. Indem der Sozialarbeiter echt vor seinen Klienten tritt, wirklich und
unvollkommen, erhalten beide die Möglichkeit sich von Mensch zu Mensch
zu begegnen (vgl. Rogers 1983, S. 214). Wenn das, was sich in dem Sozial-
arbeiter abspielt und was für die Beziehung von Bedeutung ist, für den Klien-
ten klar durchschaubar und transparent ist, dann sind die Voraussetzungen
für eine bedeutungsvolle Beziehung, in der beide dazulernen und sich entwi-
ckeln, gegeben (vgl. Rogers 1983, S. 215).
Hans Thiersch9 hat sich ebenfalls in seinem Buch „Schwierige Balance –
Über Grenzen, Gefühle und berufsbiografische Erfahrungen“ mit dem Thema
9 Hans Thiersch – Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik.
18
der Echtheit des Pädagogen befasst. Als entscheidendes Moment für das
Gelingen des pädagogischen Umgangs benennt Thiersch hier ebenfalls die
Authentizität. Thiersch legt dar, dass der zu handelnde Pädagoge in seiner
fachlichen Haltung, in seinem Interesse am Werden und in seiner Balance
von Nähe und Distanz, in seinen inneren Konflikten von Vertrauen10, Hoff-
nung, Enttäuschung, Entscheidung und Kämpfen glaubwürdig bleiben sollte
(vgl. Thiersch 2009, S. 131).
Empathie
Der zweite Aspekt für eine wachstumsfördernde Beziehung besteht nach der
Ansicht von Rogers im einfühlenden Verstehen, in der Empathie. Das einfüh-
lende Verstehen bezieht sich hierbei auf die Welt des Klienten. Der Sozialar-
beiter sollte in der Lage sein, das Wesentliche von dem, was er verstanden
hat, mitzuteilen. Er sollte fähig sein, die Welt des Klienten so nachzufühlen,
als wäre es die eigene, ohne sich damit zu identifizieren. Die verwirrenden
Gefühle von Ängstlichkeit, Wut und/ oder Unsicherheit des Klienten gilt es
vom Sozialarbeiter aufzuspüren, ohne sich mit den eigenen Gefühlen von
Ärger, Angst oder Unsicherheit zu verstricken (vgl. Rogers 1983, S. 216).
Ist die Gefühlswelt des Klienten dem Sozialarbeiter deutlich erkennbar und
kann er sich darin frei „bewegen“, weil er die Gefühle des Klienten nicht mit
seinen eigenen vermischt, so kann er sein Verständnis hierfür mitteilen und
die Bedeutungsinhalte im Erleben des Klienten, deren dieser sich meist nicht
bewusst ist, klar ansprechen. Dieses empfindsame Einfühlen ist für die Be-
ziehungsgestaltung von Bedeutung, da es einem Menschen ermöglicht, sich
selbst nahezukommen und zu lernen, sich zu wandeln und zu entwickeln
(ebd.).
10 Nähe und Distanz, aber vor allem Vertrauen in der sozialen Arbeit sind im Praxisalltag allgegenwär-tig. Auch diese drei Aspekte bestimmen das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit mit Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung und werden in den einzelnen Berufsgruppen viel disku-tiert. Auf Grund der Begrenzung dieser Arbeit, können diese Aspekte nicht weiter ausgeführt wer-den, was jedoch keinen geringeren Wert für die soziale Arbeit kennzeichnen bzw. bedeuten soll!
19
Genaues Verstehen ist besonders wichtig, aber die Bereitschaft, die Ge-
fühlswelt des Klienten verstehen zu wollen, ist schon hilfreich für den Aufbau
von Beziehungen. Hat der Sozialarbeiter es mit einem verwirrten, ausdrucks-
unfähigen oder auch abwegigen Menschen zu tun, so kann es nützlich sein,
wenn er zumindest bemüht ist, zu verstehen, was den Klienten bewegt.
Durch diese Bemühungen des Verstehens erfährt der Klient von dem Sozial-
arbeiter Wertschätzung. Es vermittelt dem Klienten das Gefühl, dass seine
Ansichten und Gefühle es wert sind, verstanden zu werden (vgl. Rogers
1983, S. 217).
Wertschätzung, positive Zuwendung und bedingungsfreies Akzeptieren
Als dritten Aspekt für die zwischenmenschliche Beziehung beschreibt Rogers
die Art und Weise der Haltung des Sozialarbeiters. Je intensiver er seinen
Klienten und auch den seelischen Vorgängen des Klienten positiv zuge-
wandt, warmherzig und akzeptierend begegnet, um so eher tritt eine Weiter-
entwicklung ein. Durch diese Haltung wird deutlich, dass der Klient mit seiner
gesamten Gefühlswelt als Persönlichkeit wertgeschätzt wird. In dieser von
Rogers beschriebenen Wertschätzung liegt der Vergleich mit Eltern, die ihre
Kinder als Persönlichkeiten bedingungslos annehmen und Gefühle für ihr
Kind empfinden, ungeachtet des augenblicklichen Verhaltens ihrer Kinder.
Übertragen auf die Wertschätzung des Sozialarbeiters gegenüber seinen
Klienten bedeutet dies, dass der Sozialarbeiter sich um seine Klienten als
Menschen voller Möglichkeiten sorgt, ohne dabei besitzergreifend zu wirken
und ihm gleichzeitig alle Gefühle, die in ihm in diesem Augenblick vorherr-
schen, wie Feindseligkeit und Zärtlichkeit, Auflehnung und Fügsamkeit,
Selbstvertrauen und Selbstentwertung gestattet. Diese Art der positiven Zu-
wendung beschreibt Rogers mit dem Gefühl der Liebe, nicht im romanti-
schen, sondern im theologischen Sinne des Wortes, eine Form von Zunei-
gung, die Kraft hat und nicht fordert. Die Achtung des Klienten als eigenstän-
diges Individuum, ohne von ihm Besitz zu ergreifen, wird von Rogers als po-
sitive Zuwendung oder auch Wertschätzung beschrieben (vgl. Rogers 1983,
S. 218).
20
Direkt an die Hypothese der positiven Zuwendung schließt sich die ver-
suchsweise Darstellung Rogers´ des Bedingungsfreien Akzeptierens des
Klienten an. Je bedingungsfreier die positive Zuwendung zum Klienten und
seiner Gefühlswelt ist, umso wirkungsvoller oder auch belastbarer ist die Be-
ziehung zwischen Sozialarbeiter und Klienten. In der Theorie von Rogers
nimmt der Sozialarbeiter seinen Klienten ganz umfassend, ohne Vorausset-
zungen oder gar Bedingungen wahr, schätzt ihn und wendet sich ihm wohl-
wollend zu. Dabei sieht er den Klienten als Menschen in seiner Ganzheit und
bringt ihm seine bedingungsfreie Zuwendung, ohne Einschränkungen und
ohne Bewertungen, entgegen. Er urteilt weder über den Klienten selbst, sei-
ner Gefühlswelt oder sein Tun. Durch diese Form der Begegnung zwischen
Sozialarbeiter und Klienten ist, nach der Annahme von Rogers, der Beginn
einer konstruktiven Veränderung und die Weiterentwicklung des Klienten
sehr wahrscheinlich (vgl. Rogers 1983, S. 219).
Die Hypothesen der positiven Zuwendung und des bedingungsfreien Akzep-
tierens, sind von Rogers abgeleitet von Beobachtungen zwischen Eltern und
Kind. Falls ein Kind glücklicherweise bei den eigenen Eltern erwünscht ist
und seine Eltern das eigene Kind genauso lieben wie es ist, wächst es mit
gesundem Selbstvertrauen heran und wird selbstbewusst. Wenn die Eltern
ihr Kind nur mögen, wenn es ihren Vorstellungen entspricht, es lediglich ak-
zeptiert wird, wenn es „lieb“ ist und keine Umstände macht, so wächst das
Kind mit Selbstzweifeln oder auch Minderwertigkeitsgefühlen auf. Die Be-
obachtungen von Eltern-Kind-Beziehungen und Eltern-Kind-Interaktionen
haben Rogers veranlasst, eben genau diese Beobachtungen auf die Bezie-
hung und Interaktion zwischen Sozialarbeiter und Klienten zu übertragen
(vgl. Rogers 1983, S. 219-220).
Wahrnehmungswelt des Klienten
Die Wahrnehmungswelt des Klienten ist nach Rogers eine Hypothese,
gleichsam eine Bedingung, die sich auf den Klienten bezieht, während die
vorangegangenen Hypothesen auf der Seite des Sozialarbeiters lagen. Alle
Hypothesen zielen auf beiden Seiten darauf ab, die Voraussetzungen zum
21
konstruktiven Wachsen einer Beziehung zwischen Sozialarbeiter und Klien-
ten zu schaffen und somit die Weiterentwicklung beider anzuregen (vgl. Ro-
gers 1983, S. 220).
Wenn die zuvor beschriebenen Bedingungen dem Klienten nicht mitgeteilt
und von ihm nicht wahr- und aufgenommen werden, fehlen sie in seiner Welt
der Wahrnehmung und können daher nicht wirksam werden (ebd.). Nach
Rogers sollte der Klient ein Mindestmaß an Kongruenz, Wertschätzung, posi-
tiver Zuwendung und einfühlendem Verstehen des Sozialarbeiters wahrneh-
men können. Ein Sozialarbeiter muss nicht nur ausschließlich feinfühlig da-
rauf achten, was in ihm selbst und in dem Klienten vorgeht, sondern auch
was der Klient von ihm wahrnimmt. Dem Sozialarbeiter muss bewusst sein,
dass selbst bei bester Absicht der Klient von ihm Einfühlungsvermögen als
mangelnde Anteilnahme, bedingungsfreie Zuwendung als Gleichgültigkeit,
Warmherzigkeit als bedrohliches Naherücken und wirkliche Gefühle als un-
echte Gefühle wahrnehmen könnte. Er sollte deshalb ständig bemüht sein,
sich genau so zu verhalten, damit der Klient das was zwischen ihm und dem
Sozialarbeiter auf der Beziehungsebene geschieht, klar durchschauen und
zweifelsfrei verstehen kann (ebd.).
Wenngleich diese von Rogers benannten Bedingungen leicht zu erfassen
sind und für den einen oder anderen in der alltäglichen Arbeit eine Selbstver-
ständlichkeit darstellen, so zeigt sich doch, dass sich die Summe aller Bedin-
gungen in der Umsetzung als eine komplexe Angelegenheit erweist (vgl. Ro-
gers 1983, S. 221).
3.2 Kommunikation als Gestaltungsmittel für Beziehungen Kommunikation und Interaktion bilden im Wesentlichen eine Grundlage für
zwischenmenschliche Beziehungen. Vereinfacht ausgedrückt ist Kommuni-
kation der zwischenmenschliche Austausch von Gedanken und Informatio-
nen mithilfe von sprachlichen oder nicht sprachlichen Mitteln, wie Mimik und
Gestik. Paul Watzlawik hat fünf Axiome zur Kommunikation aufgestellt, die
für die Gestaltung von Beziehungen hilfreich sein können.
22
3.2.1 Axiome der Kommunikation Die Grundsätze der Kommunikation nach Paul Watzlawik11 sind die Unmög-
lichkeit nicht zu kommunizieren, der Inhalts- und Beziehungsaspekt der
Kommunikation, die Interpunktion von Ereignisfolgen, die digitale und analo-
ge Kommunikation sowie die symmetrische und komplementäre Interaktion.
Aus diesen fünf Grundsätzen der Kommunikation lassen sich Aspekte für die
Soziale Arbeit mit Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung
ableiten.
Die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren
Kommunikation beschreibt mehr als die allgemeine Bezeichnung für Informa-
tionsweitergabe und besteht aus viel mehr als aus dem Austausch von Wor-
ten. Kommunikation wird darüber hinaus bestimmt durch Körperhaltung und
Körpersprache, durch die Ausdrucksbewegungen während des Sprechens,
durch den Tonfall von Worten, durch die Schnelligkeit oder auch die Lang-
samkeit in der Sprache, durch Pausen, durch Lachen oder auch Seufzen,
also durch die paralinguistischen Phänomene innerhalb eines bestimmten
Zusammenhangs (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 51). Kommuni-
kation ist demnach ein Verhalten jeder Art mit der Eigenschaft, dass man
sich nicht nicht verhalten kann. Folglich ist alles Verhalten innerhalb einer
zwischenmenschlichen Situation aussagekräftig, hat Mitteilungscharakter
und ist somit Kommunikation (ebd.). Man kann demnach nicht nicht kommu-
nizieren. Jedes Handeln oder Nichthandeln, jedes sprechen, schweigen oder
andere Formen der Verneinung, jede Vermeidung von Kommunikation teilt
dem Empfänger etwas mit und wird somit als Kommunikation verstanden
(vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 52). Diese Art der Kommunikation
beeinflusst mein Gegenüber oder auch andere und auch sie können nicht
nicht reagieren und nicht nicht kommunizieren. Jede Form der Kommunikati-
on bedeutet eine Art Stellungnahme und beschreibt die jeweilige Definition
11 Paul Watzlawick - österreichisch-amerikanischer Kommunikationswissenschaftler, Psychothera-peut, Soziologe, Philosoph und Autor.
23
zwischen den Kommunizierenden (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000,
S. 53).
Der Grundsatz von Paul Watzlawick bedeutet für den Sozialarbeiter, dass er
nicht nur auf die Wahl seiner Worte und seines Sprachbildes achten sollte,
sondern insbesondere auf seine Körpersprache, seine Körperhaltung und
paralinguistischen Phänomene, da jedes nicht gesprochene Wort wirkt.
Inhalts- und Beziehungsaspekte der Kommunikation
Der Inhalt einer Mitteilung, ungeachtet dessen ob wahr oder falsch, gültig
oder ungültig, oder auch unentscheidbar, ist erst einmal eine Information.
Kommunikation hat also einen Inhaltsaspekt (vgl. Watzla-
wick/Beavin/Jackson 2000, S. 53). Gleichzeitig enthält jede Mitteilung einen
Hinweis darauf, wie ihr Sender sie vom Empfänger verstanden haben möch-
te. Damit definiert die Mitteilung, wie der Sender die Beziehung zwischen
sich und dem Empfänger sieht. Auf diese Weise wird die Mitteilung zur per-
sönlichen Stellungnahme (ebd.). Dies beschreibt den Beziehungsaspekt ei-
ner Kommunikation und zeigt auf, dass gleiche Inhalte von verschiedenen
Kommunikationspartnern unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet wer-
den können (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 54).
Beziehungen werden durch Sender und Empfänger selten bewusst und aus-
drücklich definiert. Im Gegensatz dazu rückt deren Interpretation, bei einer
spontanen und von Watzlawick als gesund bezeichnete Beziehung, in den
Hintergrund. Bei konfliktreichen oder hier auch als krank bezeichneten Be-
ziehungen verliert der Inhaltsaspekt fast völlig an Bedeutung, während um
die Definition von Beziehung jedoch wechselseitig gerungen wird (vgl. Watz-
lawick/Beavin/Jackson 2000, S. 55).
In der zwischenmenschlichen Kommunikation besteht eine Relation zwi-
schen dem Inhalts- und dem Beziehungsaspekt derart, dass der Inhaltsas-
pekt die Informationen gibt und der Beziehungsaspekt eröffnet, wie diese
Informationen aufzufassen sind. Beide Aspekte sind miteinander verwoben
und bestimmen sich gegenseitig. Hinsichtlich der Metakommunikation liegt
24
der Fokus vorrangig auf der Bestimmung des Beziehungsaspektes für den
Inhaltsaspekt (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 56).
In der sozialen Arbeit wird also die Festlegung und Benennung der einzelnen
Rollen bedeutsam, um die Beziehung, in der Sozialarbeiter und Klient zuei-
nanderstehen, zu definieren. Der Sozialarbeiter sollte sich bewusstmachen,
dass seine Nachrichten nicht ausschließlich Informationscharakter haben,
sondern die Interpretation der Informationen eng mit der jeweiligen Bezie-
hung zueinander verwoben ist.
Interpunktion von Ereignisfolgen
Den Aspekt der Interpunktion von Ereignisfolgen entnimmt Watzlawick aus
den Überlegungen von Bateson und Jackson12 in Analogie zu Whorf13 und
berücksichtigt dabei konstruktivistische Annahmen. Jedes Ereignis ist gleich-
zeitig Reiz, Reaktion und Verstärkung in einer triadischen Abfolge. Ein be-
stimmtes Verhalten einer Person ist ein Reiz, dem das Verhalten einer ande-
ren Person als Reaktion folgt, welches wiederum das Verhalten der ersten
Person verstärkt. Diese Form der Interaktion ist eine Kette von Triadenglie-
dern, bei dem jedes einzelne Glied die Abfolge oder auch Ereignisfolge von
Reiz, Reaktion und Verstärkung beinhaltet. Bei der Interpunktion spricht eine
Person einem Ereignis eine persönliche Bedeutung zu und sieht dies gleich-
zeitig als Anlass für weitere Ereignisse (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson
2000, S.57).
Die Interpunktion organisiert Verhalten und ist daher ein wesentlicher Be-
standteil menschlicher Beziehungen. Die Abweichungen in den Ansichtswei-
sen zu den Interpunktionen sind oftmals Ursache von Beziehungskonflikten,
da nicht von jedem Interaktionspartner jede Triade komplett wahrgenommen
und interpretiert wird. Gemeinsame Erlebnisse können deshalb von einzel-
nen Personen unterschiedlich wahrgenommen werden und können bei den
12 Don D. Jackson - war ein US-amerikanischer Psychiater und Psychotherapeut.
13 Benjamin Whorf - war ein US-amerikanischer Linguist.
25
Beteiligten Zweifel aufkommen lassen, dass es sich um das gleiche Erlebnis
handelt (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S.58-59).
Digitale und analoge Kommunikation
In der zwischenmenschlichen Kommunikation gibt es die digitale und die
analoge Sprache mit denen Objekte dargestellt werden können. Gegenstän-
de oder auch Objekte werden anhand einer Zeichnung, einer Analogie, aus-
gedrückt und durch einen Namen, ein Bezeichnungswort bestimmt (vgl.
Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 62).
Digitale Kommunikation bedeutet, dass Namen Worte sind, deren Verbin-
dung zu dem jeweiligen Gegenstand willkürlich und das Übereinkommen
semantisch für die Relation zwischen Wort und Gegenstand ist. Darüber hin-
aus gibt es keinen weiteren Beziehungsaspekt in der digitalen Kommunikati-
on, wohl jedoch den Inhaltsaspekt. Es gibt keinen erforderlichen Grund wa-
rum der Baum Baum genannt wird. Die Bezeichnung Baum ist rein zufällig
oder auch willkürlich entstanden. Es gibt lediglich ein semantisches Überein-
kommen zwischen Wort und Objekt. Außerhalb dieses Objektes gibt es kei-
nerlei weitere Verbindung. (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 62).
In der analogen Kommunikation finden wir nicht die reine Bezeichnung eines
Objektes, sondern darüber hinaus einen Beziehungsaspekt des Wortes oder
der Nachricht. Nicht allein das Wort hat als Bezeichnung eines Objektes in
der analogen Kommunikation Bestand, sondern die Bedeutung, die bei-
spielsweise von Vorfahren übernommen wurde und in der Kommunikation
mitschwingt (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 62).
Jede Form der menschlichen Kommunikation enthält einen Inhalts- und ei-
nen Beziehungsaspekt und bedient sich digitaler oder analoger Arten und
Weisen, welcher nicht nebeneinander und/oder nacheinander folgen, son-
dern sich beide gegenseitig im Kommunikationsprozess ergänzen (vgl. Watz-
lawick/Beavin/Jackson 2000, S. 64). Analoge Kommunikation besitzt eine
semantische Stärke und eine Schwäche für die logische Syntax, die für
Kommunikation erforderlich ist. Digitale Kommunikation bringt die erforderli-
26
che, vielseitige logische Syntax mit, jedoch ist die Semantik im Bereich der
Beziehung unzureichend (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 68).
In der Sozialen Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung sollte
der Sozialarbeiter hier auf zwei Ebenen besonderes Augenmerk legen. Er
muss bedenken, dass seine Worte nicht nur eine Bezeichnung für etwas
sind, sondern davon begleitet werden wie bestimmte Dinge gesagt werden.
Der Körperausdruck, die Mimik und Gestik begleiten die reinen Aussagen
und können von den Klienten mehrdeutig aufgenommen und interpretiert
werden. Analoge und digitale Kommunikation sollten deshalb, insbesondere
in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung, konformgehen
und das Verhalten des Sozialarbeiters mit dem von ihm Gesagten überein-
stimmen. Für die Deutung von Kommunikation eines Menschen mit einer
geistigen Behinderung bedarf es dem Feingefühl des Sozialarbeiters auch
Mitteilungen mit einer Doppelbedeutung, wie zum Beispiel Tränen vor Rüh-
rung oder Trauer, zu erfassen und in ihrem Sinn durch das Abprüfen digitaler
und analoger Zusammenhänge zu beurteilen.
Symmetrische und komplementäre Interaktion
Die symmetrische und komplementäre Interaktion stellen nach Watzlawick
den fünften Grundsatz für zwischenmenschliche Kommunikation dar und
stehen für Beziehungsformen, die entweder auf Gleichheit oder auf Un-
gleichheit beruhen. Spricht man von einer symmetrischen Interaktion, ist das
Verhalten zweier Personen spiegelbildlich und ihre Interaktion daher sym-
metrisch. Es ist gleichgültig, worin das Verhalten besteht, da sich beide Per-
sonen in Härte und Güte, Stärke und Schwäche ebenbürtig begegnen kön-
nen (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 69). In der komplementären
Interaktion dagegen ergänzen sich die Verhaltensweisen zweier Personen
einander. Diese Interaktionen basieren auf sich gegenseitig ergänzende Un-
terschiedlichkeiten (ebd.). Man unterscheidet die primäre und die sekundäre
Position von Personen in der komplementären Interaktion, welche jedoch
keiner Wertigkeit von stark/schwach oder gut/ schlecht unterliegen. Komple-
27
mentäre Interaktionen beruhen auf gesellschaftlichen oder kulturellen Kon-
texten (ebd.).
Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder komplementär,
wenn die Beziehung der Kommunikationspartner auf Unterschiedlichkeit be-
ruht oder symmetrisch, wenn sie auf Gleichheit beruht (vgl. Watzla-
wick/Beavin/Jackson 2000, S. 70).
Die symmetrische Form der Kommunikation kann für den Aufbau und die
Gestaltung von Beziehung zu Menschen mit sogenannten geistigen Behinde-
rungen vorteilhaft sein. Eine gewinnbringende Ergänzung dazu ist eine wert-
schätzende und respektierende Haltung gegenüber Menschen ganz allge-
mein, ohne aufgrund von Krankheiten und/oder Behinderungen zu differen-
zieren. Ein Menschenbild, welches von dem Menschen als eigenständiges
und selbstbestimmtes Wesen ausgeht, vervollständigt das Profil des Sozial-
arbeiters.
3.2.2 Störmomente der Kommunikation Zu jedem von Watzlawick beschriebenen Axiom gibt es nachweislich auch
mögliche Störmomente oder auch Pathologien, die sich unter bestimmten
Umständen herausbilden können. So sind einzelne Verhaltensweisen nicht
ausschließlich den intrapsychischen Prozessen einer Person zuzuschreiben,
sondern möglicherweise eine Folge von auftretenden Störformen in der zwi-
schenmenschlichen Kommunikation.
Unmöglichkeit nicht zu kommunizieren
Im vorangegangenen Kapitel wurde beschrieben, dass es unmöglich ist,
nicht zu kommunizieren. Und doch gibt es zu diesem Axiom Störmomente,
wenn beispielsweise zwei Personen aufeinandertreffen und einer von beiden
kommunizieren möchte, der andere jedoch nicht. Um nicht kommunizieren zu
müssen, hat man die Möglichkeit der Abweisung, der Annahme oder der
Entwertung des Gesprächspartners (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000,
S. 73).
28
Eine Person, die kein Interesse an einem Gespräch hat, macht dem Ge-
sprächspartner dies durch Abweisung deutlich. Das erfordert Mut und wird
möglicherweise unangenehmes Schweigen zur Folge haben. Die Herstellung
einer Beziehung wird dadurch nicht vermieden, ob sie demnach förderlich
oder zweckdienlich ist, bleibt fraglich. Annahme ist der Moment, in dem eine
Person, mitunter von negativen Gefühlen begleitet, kein Gespräch möchte,
jedoch dem Ansinnen letztlich nachgibt. Als dritte Möglichkeit könnte der Ge-
sprächsversuch einer Person durch die Entwertung eigener oder anderer
Aussagen gestoppt werden. Wenn eine Person einem Gespräch weiterhin
ausweichen möchte, kann sie Schläfrigkeit, Taubheit oder aber weitere Un-
fähigkeiten vortäuschen (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 73 ff.).
Inhalts- und Beziehungsebene
Von einer gelingenden Kommunikation kann man ausgehen, wenn sich beide
Gesprächspartner über den Inhalt ihrer Kommunikation und außerdem über
die Definition ihrer Beziehung einig sind (vgl. Watzlawick/ Beavin/Jackson
2000, S. 81). Störend für die Gestaltung von Beziehungen ist es, wenn sich
beide Gesprächspartner weder auf der Inhaltsebene noch auf der Ebene der
Beziehung einig sind (ebd.). Darüber hinaus gibt es noch abgestufte Formen
für Störmomente. So ist es möglich, dass sich zwei Personen über den Inhalt
ihres Gespräches uneinig, aber völlig klar in der Beziehungsebene sind. Es
kann auch sein, dass sich beide Partner auf der Inhaltsebene einig sind, aber
die Stufe der Beziehung absolut kontrovers betrachtet wird. Wenn eine Per-
son sich gezwungen fühlt, die eigenen Wahrnehmungen auf der Inhaltsebe-
ne anzuzweifeln, um damit die Beziehungsebene nicht zu gefährden, ist dies
wenig hilfreich für eine gelingende Kommunikation. Meinungsverschiedenhei-
ten zwischen Gesprächspartnern zählen ebenfalls zu den Störformen inner-
halb der Inhalts- und Beziehungsebene (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson
2000, S. 82).
Die Formen der Kommunikationsstörung im Bereich der Inhalts- und Bezie-
hungsebene sind häufig in der sozialen Arbeit mit Menschen mit einer soge-
nannten geistigen Behinderung zu finden. In einer bestimmten Art und Weise
29
besteht eine gefühlte Abhängigkeit des Klienten von dem Sozialarbeiter. So
ist das Bedürfnis nach Anerkennung und emotionaler Nähe bei Klienten mög-
licherweise so hoch, dass eigene Vorstellungen zum Inhalt bestimmter The-
matiken oder Denkweisen zurückgestellt werden, um die Beziehung zur Be-
zugsperson nicht zu gefährden.
Interpunktion von Ereignisfolgen
In der Betrachtung der Störmomente auf der Ebene der Interpunktion von
Ereignisfolgen geht Watzlawick davon aus, dass bei 10000 exterozeptiven
und propriozeptiven Sinneswahrnehmungen des Menschen pro Sekunde, die
Gefahr einer Überschwemmung mit unwesentlichen Informationen besteht.
Damit dies nicht geschieht, müssen die vielen Wahrnehmungen drastisch
nach wesentlichen und unwesentlichen Informationen gefiltert werden (vgl.
Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 92). Was nun als wesentlich oder auch
unwesentlich eingeschätzt wird, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Die
Kriterien dafür liegen in jedem Einzelnen unterbewusst verborgen. Die Kon-
flikte aus der Interpunktion von Ereignisfolgen können dadurch entstehen,
dass jeder Mensch von seiner subjektiv erlebten Wirklichkeit überzeugt ist.
Alles was von dieser subjektiv empfundenen Wirklichkeit abweicht, wird als
störend empfunden. So finden sich in den Störformen der Interpunktion von
Ereignisfolgen die Uneinigkeit zweier Gesprächspartner über Ursache und
Wirkung eines Konfliktes und auch die sogenannte selbsterfüllende Prophe-
zeiung in Bezug auf nicht gelingende Kommunikation wieder (vgl. Watzla-
wick/Beavin/Jackson 2000, S. 93).
Übersetzungen zwischen digitaler und analoger Kommunikation
In der analogen Kommunikation fehlen nach Watzlawick Verbindungsele-
mente, mit denen sich die Wortstruktur und der Satzbau der digitalen Spra-
che ausrichten. Werden analoge Mitteilungen in die digitale Sprache über-
setzt, so müssen diese benannten Elemente vom Übersetzer eingefügt wer-
den (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 96).
30
Analoges Gesprächsmaterial ist oftmals stark gegensätzlich und ermöglicht
daher oft miteinander unvereinbare Digitalisierungen. Es ist nicht nur für den
Sender schwierig, digitale Übersetzungen für die anlogen Mitteilungen zu
finden. Sender wie auch Empfänger können dazu neigen, sich genau jene
Digitalisierungen für sich zu wählen, die für sie selbst eine individuelle Be-
deutung haben, aber nicht unbedingt für den Kommunikationspartner. Ein
mitgebrachtes Geschenk ist beispielsweise eine analoge Mitteilung. Wie der
Beschenkte dieses Geschenk annimmt oder auch versteht, hängt von der
Beziehung zum Geber ab (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 97).
Ein weiteres Störmoment könnte darin liegen, dass Analogiekommunikatio-
nen gleichzeitig Beziehungsapelle sind. Ein Gesprächspartner kann durch
sein Verhalten Gefühle vorschlagen, aber ob die andere Person diese als
positiv oder aber negativ annimmt kann nicht vorherbestimmt werden. Wäh-
rend eine Person beispielsweise durch eine drohende Haltung anzudeuten
vermag „Ich werde dich angreifen!“, so ist es bildlich kaum darzustellen, dass
man eben nicht angreifen möchte. Eine aus der Tierwelt abgeleitete Logik
wäre eine Absichtshandlung darzustellen, ohne sie tatsächlich auszuführen.
Eine Person demonstriert seinem Gegenüber die körperliche Überlegenheit
in der drohenden Haltung, ohne tatsächlich zu verletzen oder bedrohend zu
handeln (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 98).
Störungen in symmetrischen und komplementären Interaktionen
Symmetrie und Komplementarität beziehen sich auf zwei grundlegende For-
men, in die sich alle zwischenmenschlichen Kommunikationen einteilen las-
sen. In Beziehungen wirken beide Kategorien abwechselnd und in Partner-
beziehungen auf verschiedenen Gebieten. Beide Formen können sich ge-
genseitig stabilisieren, wenn in einer von beiden eine Störung auftritt. Somit
ist es einerseits wünschenswert, gleichzeitig aber auch unerlässlich, sich in
bestimmten Belangen komplementär und in anderen symmetrisch zu verhal-
ten (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 103).
31
Störungen in symmetrischen Beziehungen treten auf, sobald sie ihre Stabili-
tät verlieren. Sie sind ein mehr oder minder offener Kampf, der in der Verwer-
fung der Selbstdefinition des Partners besteht. In einer stabilen symmetri-
schen Beziehung akzeptieren sich beide Partner so wie sie sind, respektie-
ren sich gegenseitig und setzen ihr Vertrauen in den Respekt des Anderen.
Hier findet sich eine gegenseitige Bestätigung der Ich-und-Du-Definition (vgl.
Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 104). Störungen in den komplementä-
ren Beziehungen führen zur Entwertung des Partners. Der Partner muss die
komplementäre Rolle einnehmen, um eine Selbstdefinition des Partners auf-
recht erhalten zu können (ebd.). Vergleichbar mit der Unabdingbarkeit der
Weiterentwicklung einer Mutter-Kind-Beziehung im Laufe der Zeit, ist die
Weiterentwicklung jeder Beziehungsform erforderlich. Ist diese Weiterent-
wicklung stark beeinträchtigt, so ist auch die weitere Entwicklung der Interak-
tionspartner gefährdet. Der Wechsel von einer symmetrischen in eine kom-
plementäre Beziehungsform und umgekehrt sind wichtige homöostatische
Mechanismen, da sich beide Formen gegenseitig stabilisieren (vgl. Watzla-
wick/Beavin/Jackson 2000, S. 105).
3.2.3 Nonverbale Kommunikation Wie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben, lässt sich an dieser Stel-
le noch einmal zusammenfassen, dass die menschliche Kommunikation an-
hand von Sprache und mit Hilfe nicht-sprachlicher Zeichen und Symbole er-
folgt. Die differenzierte Darstellung der nonverbalen Kommunikation ist an
dieser Stellte bedeutsam, da sie ein wichtiger Bestandteil der zwischen-
menschlichen Kommunikation bei Menschen mit einer geistigen Behinderung
ist.
Kommunikation durch Blickverhalten, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und
Körperbewegung, Berührung, räumliche Distanz zur anderen Person und
nonverbale vokale Signale sind die wichtigsten Formen der nonverbalen
Kommunikation (vgl. Thomas14 1991, S. 62). Nonverbale vokale Signale wie
stimmliche Merkmale, Pausen, Betonungen oder paralinguistische Äußerun- 14 Alexander Thomas - deutscher Hochschullehrer mit dem Forschungsschwerpunkt interkulturelle Psychologie.
32
gen begleiten dabei sprachlich vermittelte Informationen (ebd.). Die Kommu-
nikation durch Körperhaltung und Körperbewegung dient dazu, die treffende
Art und Weise von sprachlichen Mitteilungen zu erhöhen, die Beziehungs-
qualität zwischen Interaktionspartnern zu definieren oder auch sprachlich
vermittelte Informationen durch bestimmte Gesten zu ersetzen (vgl. Thomas
1991, S. 63).
In der Kommunikation mit Menschen mit geistiger Behinderung gibt es noch
drei weitere nonverbale Möglichkeiten der Kontaktgestaltung, den olfaktori-
schen, den gustatorischen und den zuvor kurz erwähnten taktilen Kanal, die
hier zur Vollständigkeit der Betrachtung nonverbaler Kommunikationskanäle
genannt werden sollen (vgl. Senckel15 2000, S. 337).
Nonverbale Sprache vermittelt Gefühlsbotschaften und Nachrichten oder
Wünsche zur Gestaltung von Beziehungen, und erklärt so die Sachinformati-
onen einer Nachricht. Die nonverbalen Zeichen sind oft komplex sowie sich
die Gefühls- und Beziehungszustände als komplex darstellen. Bei der Inter-
pretation nonverbaler Signale muss die äußere Situation mit beachtet wer-
den. Nonverbale Signale werden meist nicht bewusst wahrgenommen, da sie
häufig so klein oder auch unscheinbar sind und erst bei nachhaltiger Analyse
sichtbar werden. Nonverbale Zeichen werden somit unbewusst wahrgenom-
men und beantwortet (vgl. Senckel 2000, S. 338).
In den Ausführungen zum Thema Kommunikation wurde dargestellt, dass
Kommunikation mehr als der Austausch von Sprache ist. Es sind Worte,
Sprachbilder und begleitend, neben Mimik und Gestik, die Haltung von Per-
sonen, die in jeder Form der Kommunikation zu finden sind. In der Arbeit mit
Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung gilt es, sich einer
gemeinsamen Sprache bewusst zu werden. Indem der Sozialarbeiter die
Grundregeln zur Kommunikation kennt, hat er die Chance die Kommunikati-
on bewusst zu gestalten. Mit dem Bewusstsein, dass man nicht nicht kom-
munizieren kann und dem Wissen, dass in jeder Mitteilung neben dem In-
haltsaspekt auch ein Stück Beziehung mitschwingt, sollte der Sozialarbeiter 15 Barbara Senckel - Dozentin an der Fachhochschule für Heilerziehungspflege/Heilpädagogik der Diakonie Stetten in Waiblingen.
33
sensibel sein für die möglichen Störmomente und Störformen in Kommunika-
tionsprozessen.
3.3 Grundprinzipien und Haltungen in der Systemtheorie Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Aspekte, um Beziehungen zwi-
schen Sozialarbeiter und Klienten bewusst zu gestalten, sollte zudem die
Systemtheorie mit in den Blick genommen werden.
Lüssi16 beschreibt die Systemtheorie als eine Theorie mit einem Konzept des
gedanklichen Begreifens. Es bedeutet die Wirklichkeit, aus einer bestimmten
Perspektive heraus zu sehen, weg von den Eigenschaften einzelner Perso-
nen und hin zur Betrachtung von Korrelationen miteinander kommunizieren-
der und interagierender Personen. Das System steht dabei für miteinander in
Wechselwirkung stehende Personen, die Beziehungen der Personen unter-
einander und auch die Beziehung der Personen zum System selbst (vgl.
Lüssi 1991, S. 56).
Nach Sigrid Haselmann17 gehören zum Grundkonzept der systemischen
Theorie die Zirkularität, die Kommunikation und die System-Umwelt-
Grenzen. Die Zirkularität beschreibt, wie sich Phänomene wechselwirksam
beeinflussen. Das Verhalten einer Person innerhalb eines Systems verur-
sacht und bewirkt das Verhalten einer anderen Person und umgekehrt. Wei-
terhin wird in der Systemtheorie die zirkuläre Kommunikation unter dem In-
halts- und dem Beziehungsaspekt betrachtet. Was sagen einzelne System-
mitglieder zueinander und was denken sie über das Gesagte? Die System-
Umwelt-Grenzen beschreiben innerhalb der Systemtheorie wer oder was zu
einem System gehört und wer oder was nicht zu einem System gehört (vgl.
Haselmann 2009, S. 159). Die Grundprinzipien und die therapeutische
16 Peter Lüssi - Schweizer Sozialarbeiter, emeritierter Hochschullehrer und Begründer des Begriffs Systemische Sozialarbeit.
17 Sigrid Haselmann – Professorin für Psychologie, psychologische Psychotherapeutin.
34
Grundhaltung der Systemtheorie beinhalten wesentliche Aspekte für eine
gelingende Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen.
Achtung vor der Selbstorganisation der einzelnen Systemmitglieder
Das Prinzip der Achtung vor der Selbstorganisation einzelner Systemmitglie-
der, auch beschrieben als Neutralität, beinhaltet die Achtung vor den Lebens-
und Sichtweisen der Klienten ohne dabei die Sichtweisen des Sozialarbeiters
dem Klienten aufzudrängen (vgl. Haselmann 2009, S. 173). Die Neutralität
bezieht sich, nach Annahme von Sigrid Haselmann, hier auf drei unterschied-
liche Ebenen. Auf der ersten Ebene bedeutet Neutralität, die einzelnen Per-
sonen des Systems mit ihren Verhaltens- und Beziehungsmustern, ihren An-
sichten und Erklärungen, ihren Lebensentwürfen, ihren Lebens- und Ände-
rungswünschen neutral zur Kenntnis zu nehmen. Der Sozialarbeiter ergreift
nicht Partei für einzelne Personen und bewahrt zu einzelnen Systemmitglie-
dern eine innere Distanz. Als zweite Ebene sollte er gegenüber den Ideen
der Systemmitglieder neutral bleiben. Das bedeutet auch keine Werthaltun-
gen oder Problemerklärungen offensichtlich zu bevorzugen und widersprüch-
lichen Ansichten zu Problemlagen offen gegenüber zu stehen. Im dritten As-
pekt bezüglich der Neutralität der Systemtheorie betrachtet der Sozialarbeiter
die Lösungsvorschläge der Systemmitglieder neutral und sieht Symptome als
kreative Lösungsversuche an, ohne sich dabei für eine Position zwischen
Veränderung oder auch Nicht-Veränderung zu stellen (vgl. Haselmann 2009,
S. 174).
Ressourcenorientierung
Alle Klienten verfügen über Selbsthilfekonzepte, die ihnen vielleicht momen-
tan nicht bewusst sind, sich jedoch in ihnen befinden. Sie müssen nicht wirk-
lich etwas neu lernen oder fehlendes bekommen, so die Annahme der Res-
sourcenorientierung der Systemtheorie. Die Grundlagen, welche sie zur
Problembewältigung, zur Entwicklung oder für angestrebte Veränderungen
benötigen, liegen im Klienten selbst. Dem Sozialarbeiter kommt hierbei die
35
Aufgabe zu, diese möglicherweise verborgenen Fähigkeiten und Ressourcen
der Klienten ausfindig zu machen und sie (wieder) zu aktivieren (vgl. Hasel-
mann 2009, S. 174).
Lösungsorientierung
Anstatt zeitintensiv Probleme zu erkunden und zu beschreiben, sollte der
Schwerpunkt der sozialen Arbeit auf der Suche nach sogenannten Ausnah-
men von Problemen liegen. Was gelingt dem Klienten schon gut und was ist
in diesen Situationen hilfreich? Den Fokus auf die Entfaltung von Lösungs-
ideen zu legen, hilft dabei, sich nicht zu lange mit Problemen zu beschäftigen
(vgl. Haselmann 2009, S. 174).
Klientenorientierung
Die Orientierung am Klienten bedeutet, ihm genau das anzubieten, was er
sozusagen möchte und in dem jeweiligen Moment braucht. Es ist nicht von
Bedeutung was aus der Sicht des Sozialarbeiters hilfreich oder nötig für die
betreffende Person ist. Diese Form der Klientenorientierung oder auch Auf-
tragsorientierung ist wichtig in der Arbeit mit Klienten, die entweder unmoti-
viert oder unschlüssig in Bezug auf eigene Wünsche und Vorstellungen sind.
Hier sollte gemeinsam gezielt herausgearbeitet werden, wer, was, von wem,
bis wann und wozu erwartet (vgl. Haselmann 2009, S. 175).
Möglichkeitsraum vergrößern
Das Ziel der Systemtheorie ist es, die Denk-, Verhaltens- und Handlungs-
möglichkeiten der Klienten möglichst zu vergrößern. Sie dazu anzuregen,
bisher Ungedachtes zudenken, Unausprobiertes auszuprobieren und Verän-
derungen oder auch Neuerungen mit einzubringen, ist ein weiteres Hand-
lungsprinzip aus der systemtheoretischen Sicht. Damit Klienten ihren eige-
36
nen Möglichkeitsraum vergrößern, sollen sie dazu befähigt werden, selbst-
wirksam zu agieren (vgl. Haselmann 2009, S. 175).
Die Grundprinzipien und therapeutische Haltungen aus der systemtheoreti-
schen Perspektive ergänzen die bisherigen Ausführungen über die Möglich-
keiten des Sozialarbeiters, Beziehungen bewusst zu gestalten. Wurden vor-
her aus der Sicht von Rogers die Haltungen des Sozialarbeiters gegenüber
dem einzelnen Klienten und die Aspekte zur Kommunikation zwischen Per-
sonen nach Watzlawick beschrieben, so erweitert die Systemtheorie den
Blick auf das gesamte System in dem ein Klient sich bewegt. Jeder Mensch,
jede Person, ob mit oder ohne Behinderung, ob intelligenzgemindert oder
intelligenzgesteigert, bewegt sich innerhalb von Systemen, die es zu respek-
tieren gilt. Nicht das Verhalten einer einzelnen Person wird fokussiert, son-
dern der systemische Kontext, in dem das Verhalten auftritt. Die Beziehung
zwischen Sozialarbeiter und Klient hat Auswirkungen auf weitere Wechsel-
wirkungen und Verbindungen innerhalb des Systems des Klienten.
Den Ansatz der Achtung vor der Selbstorganisation des Klienten gilt es,
gleichsam auf die soziale Arbeit mit Menschen mit einer Intelligenzminderung
zu übertragen. Auch hier sollte der Sozialarbeiter den Lebensentwürfen und
Lösungsvorschlägen für geplante Veränderungen oder Problembewälti-
gungsideen offen, wertungsfrei und achtend gegenüberstehen. Die Soziale
Arbeit kann und soll ebenfalls auf die Wünsche und Bedürfnisse der Men-
schen mit Behinderung fokussiert sein. Darüber hinaus sollte die Suche nach
Ressourcen, die Orientierung an der Lösung von Situationen, mit dem Ziel
persönliche Möglichkeitsräume zu vergrößern, auf die Arbeit mit Menschen
mit geistigen Beeinträchtigungen übertragen werden.
37
4 Bedeutung der Beziehungsgestaltung für die soziale Arbeit mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung an einem Fall-beispiel
In den vorangegangenen Kapiteln wurden einzelne Aspekte anhand ausge-
wählter Theorien zur Gestaltung von Beziehung und die Notwendigkeit der
Einnahme einer respektierenden Grundhaltung des Sozialarbeiters ausführ-
lich beschrieben. Diese werden nun in diesem Kapitel praxisnah veranschau-
licht. Anhand der Reflexion eines Fallbeispiels sollen die Bedeutung der sys-
temischen Haltung und die Notwendigkeit und die Möglichkeiten von Bezie-
hungsgestaltung aufgezeigt werden.
4.1 Falldarstellung aus systemtheoretischer Perspektive Alexander ist vierundzwanzig Jahre jung und hat eine geistige Behinderung
von sechzig Prozent. Die geistige Behinderung wurde mit Hilfe eines Intelli-
genztests nach einem stationären Aufenthalt in einer Klinik für Nervenheil-
kunde diagnostiziert. Analog der Klassifikationsform nach ICD-10, wie im Ka-
pitel 2.2.1 beschrieben, würde man hier von einer leichten geistigen Behinde-
rung (F.70) sprechen. Alexander ist aus dem Elternhaus ausgezogen und
möchte in einer Wohngemeinschaft Alltagskompetenzen trainieren, um spä-
ter seine eigene Wohnung zu beziehen. Die Übermittlung der Diagnose der
geistigen Behinderung ist für den Sozialarbeiter, der Alexander im Alltag be-
gleiten wird, bedingt aussagekräftig. Die Bezeichnung der geistigen Behinde-
rung beschreibt nicht, was Alexander für eine Person ist, welche Eigenschaf-
ten, Wünsche und Bedürfnisse er hat oder aber welche Unterstützung er be-
nötigt, um seine Wünsche zu verwirklichen. Um ein umfassendes Bild auf-
zeigen zu können, werden in der Falldarstellung Grundsätze der Systemthe-
orie herangezogen.
Beim Einzug in die Wohngemeinschaft stellte Alexander fest, dass er grund-
sätzlich zu wenig Geld für sich zur Verfügung hat. Daher versucht er, im An-
schluss der Auszahlung des wöchentlich festgelegten Wirtschaftsgeldes, den
geringen Betrag in der Spielothek durch Glücksspiele zu erhöhen. Das Risi-
ko, dass am Ende des Tages möglicherweise noch weniger oder vielleicht
sogar kein Geld für den Erwerb von Lebensmitteln zur Verfügung steht,
38
nimmt er dafür scheinbar in Kauf. Der Sozialarbeiter könnte nun auf dieses
geschilderte Problem ausführlich eingehen, es erkunden und ausführlich be-
schreiben. Hilfreicher ist es jedoch, den Blick auf die Entwicklung von Lö-
sungsideen und auf die Ausnahmen für dieses Verhalten und Handeln zu
lenken. Aus systemtheoretischer Perspektive sollte der Fokus auf Situationen
liegen, in denen es Alexander gelingt, trotz geringer Geldbeträge für sich zu
sorgen und ausreichend Lebensmittel für sich einzukaufen. Der Schwerpunkt
der alltäglichen Begleitung von Alexander sollte es sein, zu sehen welche
Ziele er erreichen möchte und welche Unterstützung er dabei benötigt.
Möglicherweise sieht der Sozialarbeiter die Gefahr, dass der Klient am Mo-
natsende kein Geld mehr zur Verfügung hat, da er viele Geldbeträge in der
Spielothek „verspielt“. Er könnte Alexander ausführlich darüber belehren,
dass es sinnvoller wäre zu sparen oder einfach nicht in die Spielothek zu ge-
hen. Doch das entspricht weder dessen Interessen, noch hilft es bei der Er-
reichung seiner Ziele. Sich an Alexander zu orientieren bedeutet nach der
Systemtheorie auch, sich seinen Bedürfnissen und Zielen anzunehmen und
ihn durch alternative Ideen zu unterstützen, um diese Ziele zu erreichen.
Alexander fällt es schwer, die Tatsache anzunehmen, dass er einen festge-
legten Geldbetrag in der Woche, für den Kauf von Lebensmitteln und persön-
lichen Bedarfen, zur Verfügung hat. Er sucht nach Möglichkeiten, diesen
Geldbetrag zu erhöhen. Dabei greift er auf die ihm bekannte Methode, das
Geld in Automaten der Spielothek zu investieren, zurück. Der Sozialarbeiter
hat nun die Aufgabe sich auf die Suche zu begeben, über welche Selbsthilfe-
strategien Alexander verfügt. Wie schafft er es sich mit Lebensmitteln zu ver-
sorgen, obwohl er den Großteil des Geldes in Spielotheken lässt? Offensicht-
lich ist Alexander dazu in der Lage, zu überblicken, wie viel Geld er für wel-
che Lebensmittel braucht, welcher Supermarkt seinen Bedürfnissen genügt
und wie viel Lebensmittel er bis zur nächsten Geldauszahlung benötigt.
Orientiert an dem Ziel des Klienten, mehr Geld zur Verfügung zu haben, gilt
es als Sozialarbeiter, diesen anzuleiten mehr Handlungsmöglichkeiten zu
erlangen. Attraktive Veränderungen oder auch gewinnbringende Alternativen
zur Geldanlage in der Spielothek sollen hierbei gemeinsam bedacht werden.
39
Sich mit Alexander auf die Suche nach Möglichkeiten für sein selbstbestimm-
tes Leben zu begeben, ist beispielhaft eine Methode und Haltung der Sys-
temtheorie nach Sigrid Haselmann und gleichzeitig als Handlungsgrundlage
für die soziale Arbeit zu verstehen. Alexander innerhalb seines Systems zu
betrachten, dieses System zu respektieren und seine Lebensentwürfe
gleichsam zu achten, ermöglichen dem Sozialarbeiter eine Beziehung zu ihm
aufzubauen.
4.2 Empathie, Kongruenz und Akzeptanz in der Praxis Für Alexander ist das Bedürfnis in die Spielhalle zu gehen, um mehr Geld zu
gewinnen, allgegenwärtig. An manchen Tagen scheint es für ihn eine uner-
klärbare Not zu sein, noch mehr Geld besitzen zu wollen. Das Gefühl, wel-
ches er bei einem Gewinn erlebt, ist für den Sozialarbeiter kaum nachvoll-
ziehbar. Auch wenn der Sozialarbeiter eben diese Gefühle aus eigenen Er-
fahrungen heraus nicht nachvollziehen kann, ist es hilfreich wenigstens zu
versuchen, sie zu verstehen. Was ist das für ein Gefühl, welches Alexander
antreibt oder auch später begleitet? Welche Not fühlt er möglicherweise täg-
lich, wenn er den Weg in die Spielothek geht? Welche Auswirkungen hat die-
ses Verhalten auf die Systemmitglieder, wie zum Beispiel auf Freunde oder
Familie? Der Versuch, sich in die Gedanken– und Gefühlswelt von Alexander
einzufühlen, vermittelt ihm das Gefühl, dass er es wert ist verstanden zu
werden. Ein Gespür dafür zu entwickeln, welche Gefühle ihn im Alltag und
bei dem Gedanken an die Spielothek begleiten, diese Gefühle mit ihm zu
thematisieren, können es Alexander ermöglichen, sich seiner Gefühlswelt
und den Zusammenhängen zwischen Gefühl und Verhalten bewusst zu wer-
den.
Der Sozialarbeiter begleitet Alexander innerhalb der Wohngemeinschaft im
Alltag. Sie verbringen täglich einige Zeit mit unterschiedlichen Tätigkeiten im
hauswirtschaftlichen Bereich, wie beispielsweise kochen von Mahlzeiten oder
Wohnraumreinigung. Der Sozialarbeiter nimmt Alexander an verschiedenen
Tagen zu unterschiedlichen Zeiten wahr. Was fühlt der Sozialarbeiter, wenn
er ihn im Alltag begleitet? Wie geht es dem Sozialarbeiter, wenn er bemerkt,
dass Alexander „schon wieder“ das restliche Wochenbudget in der Spielhalle
40
verspielt hat? Sind ihm seine Gefühle wie Ärger oder Enttäuschung bewusst?
Und wenn sie ihm bewusst sind, findet der Sozialarbeiter einen Weg diese
Gefühle Alexander nachvollziehbar mitzuteilen? In dem Moment, in dem sich
der Sozialarbeiter mit seinen Gefühlen, die im unmittelbaren Zusammenhang
mit Alexander und seinem Verhalten stehen, auseinandersetzt und diese
dann auch mitteilt, wirkt der Sozialarbeiter für sich selbst und auf Alexander
glaubwürdig und echt.
Wenn der Sozialarbeiter nun seine Gefühle wahrgenommen, benannt hat
und darüber mit Alexander im Austausch gewesen ist, so ändert es mögli-
cherweise noch nichts an dem getroffenen Lebensentwurf von Alexander.
Möglicherweise gibt es abweichende Sichtweisen des Sozialarbeiters oder
des persönlichen Netzwerkes von Alexander zu dem Versuch, über die Spie-
lothek zu mehr Geld zu kommen, die jedoch an dieser Stelle keinen Platz
finden. Für den Aufbau und die positive Gestaltung von Beziehungen ist es
hilfreich, Alexander und seinen Lösungsversuch zunächst wert zu schätzen
und bedingungs- wie wertungsfrei anzunehmen.
4.3 Kommunikationsaspekte in der Praxis Der Aspekt der Sprache findet sich in der Begleitung von Alexander im Alltag
innerhalb der Wohngemeinschaft auf unterschiedlichen Ebenen wieder. Um
miteinander ins Gespräch zu kommen, muss der Sozialarbeiter zunächst ei-
ne gemeinsame Sprache mit Alexander finden. Das gilt für den Betreuungs-
alltag, wie für die Planung des Unterstützungsprozesses.
Auf die Situation, dass Alexander in der Spielothek seinen Geldbetrag erhö-
hen möchte, lassen sich die einzelnen Axiome zur Kommunikation nach Paul
Watzlawick übertragen. Wenn Alexander dem Sozialarbeiter mitteilt, dass er
direkt nach der Geldauszahlung in die Spielothek gehen wird und der Sozial-
arbeiter daraufhin antwortet, so muss ihm bewusst sein, dass Alexander
auch durch seine Körperhaltung und Körpersprache etwas mitgeteilt wird.
Jede Betonung der einzelnen Wörter oder auch jede Pause zwischen den
Wörtern wirken zusammen als Stellungnahme zu den Themen Umgang mit
Geld und Spielothek. Angenommen der Sozialarbeiter antwortet mit dem
Satz: „Ok Alexander, wenn Du jetzt in die Spielothek gehst, dann sehen wir
41
uns morgen wieder.“, kann je nach Betonung usw. unterschiedlich von Ale-
xander wahrgenommen werden. Der Inhaltsaspekt ist, dass Alexander jetzt
in die Spielothek geht und er den Sozialarbeiter am nächsten Tag wieder
trifft. Alexander könnte die Nachricht aber auch als Drohung verstehen
„Wenn Du jetzt gehst, gehe ich und heute unterstütze ich dich nicht weiter!“
Je nachdem wie sich die Beziehung zwischen Alexander und dem Sozialar-
beiter definiert, wird die Nachricht entsprechend interpretiert.
Betrachtet man die Interpunktion von Ereignisfolgen, lassen sich die Reiz-
Reaktionsabläufe wie folgt beschreiben. Aus der Sicht von Alexander geht er
in die Spielothek, weil er findet, dass er zu wenig Geld ausgezahlt bekommt.
Er ist zudem davon überzeugt, dass er nach dem Glücksspiel mehr Geld zur
Verfügung hat. Aus der Sicht des Sozialarbeiters hat Alexander möglicher-
weise so wenig Geld, weil er so häufig in die Spielothek geht. Diese unter-
schiedlichen Betrachtungsweisen zum Thema Geld beinhalten Konfliktpoten-
zial. Der Sozialarbeiter sollte sich dessen bewusst sein und sich und seine
Beziehung zu Alexander dahingehend reflektieren. Ihm muss klar sein, dass
beide Interaktionspartner nur einzelne Aspekte des Reiz-Reaktions-
Schemas, in Bezug auf Geld und Spielothek, wahrnehmen.
Abschließend kann gesagt werden, dass anhand einer einzelnen Situation
aus dem Praxisalltag die Systemtheorie, die Aspekte gelingender Bezie-
hungsgestaltung und die Grundsätze der Kommunikation analysiert wurden.
Das Fallbeispiel Alexander, der selbst gewählte Umgang mit dem ihm zur
Verfügung stehenden Geld, stellt lediglich einen Ausschnitt aus dem Alltag
dar. Die Analyse dieser einzelnen Situation beschreibt weder den ganzheitli-
chen Umfang der Sozialen Arbeit noch den vielschichtigen Kern der Bezie-
hungsgestaltung. Es zeigt jedoch, dass es Aspekte gibt, die es dem Sozial-
arbeiter ermöglichen, die Beziehung zu Alexander bewusst zu gestalten. Um
eine Veränderung der Situation, eine Entwicklung und Stärkung der Alltags-
bewältigung von Alexander zu erreichen, sollte der Sozialarbeiter zunächst
bemüht sein, eine Beziehung zu ihm aufzubauen und diese bewusst zu ge-
stalten.
42
5 Zusammenfassung und Ausblick Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung im Kontext der sozialen Arbeit mit
Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung war Untersu-
chungsgegenstand dieser Arbeit. Unter der Fragestellung wie Sozialarbeiter
die Beziehung bewusst gestalten können, wurden ausgewählte Theorien
eingehender betrachtet.
Um ein Verständnis für die professionelle Arbeitsbeziehung zu bekommen,
wurden Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten in Bezug zu Beziehungen im
rein privatrechtlichen Kontext herausgearbeitet. Diesem Verständnis folgend,
wurde der pädagogische Ansatz innerhalb der professionellen Arbeitsbezie-
hung dargestellt. Mit Blick auf die soziale Arbeit mit Menschen mit einer so-
genannten geistigen Behinderung wurde deutlich, dass diese von sozialer
Gerechtigkeit und Achtung der Individualität und Vielfalt geleitet ist. Sie hat
den Anspruch Stigmatisierung zu vermeiden, Entwicklung zu fördern und den
sozialen Zusammenhalt von Menschen innerhalb der Gesellschaft zu stärken
(URL: Deutscher Berufsverband für Sozial- und Heilberufe 2016).
Neben dem Verständnis, was der Begriff geistige Behinderung beinhaltet,
kommt man zu dem Schluss, dass eine tragfähige Beziehung zwischen So-
zialarbeiter und Klient notwendig ist. Dabei wurden in dieser Arbeit, ausge-
hend von der Begriffsklärung, über dessen kritische Betrachtungsweise, bis
hin zu den vielfältigen Aspekten für die Beziehungsgestaltung, in der Analyse
berücksichtigt. Die Gestaltung eben jener Beziehungen ist nicht der komple-
xe Inhalt sozialer Arbeit, bildet jedoch eine solide Grundlage für die Tätigkeit
im sozialen Handlungsfeld. Folgt man der Annahme, dass ohne Beziehungs-
gestaltung die soziale Arbeit mit Menschen mit einer sogenannten geistigen
Behinderung erschwert ist, könnte man die ausgewählten Aspekte zur Ge-
staltung als ausgesuchte Handlungsanregungen verstehen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Sozialarbeiter, bei Beachtung
der in Kapitel 3 aufgeführten Theorien, in der Lage ist, die Bedingungen für
eine tragfähige Beziehung zu schaffen. Dazu muss er sie bewusst gestalten
und es bedarf einer respektierenden und wertschätzenden Haltung gegen-
über dem Klienten, sowie eines einfühlenden Verständnisses seitens des
43
Sozialarbeiters. Durch die bewusste Wahrnehmung der Emotionen, welche
in Beiden vorherrschen, werden sie gleichzeitig anerkannt und bekommen so
den notwendigen Stellenwert in der professionellen Arbeit. Die Auseinander-
setzung mit dem Phänomen der zwischenmenschlichen Kommunikation
kann dabei hilfreich sein, sich als Sozialarbeiter der Komplexität bewusst zu
werden und so die Prozesse innerhalb des pädagogischen Handelns wahr-
zunehmen und zu deuten.
Die Abhandlung der Theorien in Verbindung mit dem ausgewählten Fallbei-
spiel führen zu dem Schluss, dass eine tragfähige Beziehung die Basis für
eine gelingende soziale Arbeit bilden und diese tragfähige Arbeitsbeziehung
vom Sozialarbeiter bewusst gestaltet werden kann.
Die Betrachtung weiterer Aspekte, wie beispielsweise von Nähe und Distanz
im Kontext der sozialen Arbeit, sowie Vertrauen als Konstrukt können für die
Erkenntnisse des Sozialarbeiters in Bezug auf die bewusste Gestaltung zwi-
schenmenschlicher Beziehungen hilfreich sein. Berufsbiografischen Aspekte,
beschrieben von Hans Thiersch, und auch Grenzen für die Beziehungsge-
staltung nach Burkhard Müller, können zur Ergänzung und umfassenderen
Sichtweise in Bezug auf pädagogische Handlungsfelder herangezogen wer-
den. Diese im letzten Abschnitt benannten Aspekte konnten innerhalb dieser
Arbeit nicht weiter berücksichtigt werden.
44
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46
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Warnemünde, 21.07.2016
Jeannette Völker