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Kasuistik Sie werden zu einem 10-jährigen Mädchen gerufen, das seit dem Vortag über Abdominalschmerzen und Übelkeit mit einmaligem Erbrechen klagt. Die Symptomatik habe sich nur langsam entwickelt. Seit wenigen Stunden erhebliche Schmerzzunahme. Der klinische Befund zeigt eine »facies abdominalis« (. Abb. 23.1), der Bauch ist diffus druckdolent mit Peri- tonismus (Abwehrspannung), fehlender Darmperistaltik. Die Beine können nur gebeugt gehalten werden. Nach Anlage eines venösen Zuganges erfolgt die Infusion von 700 ml Sterofundin über die Zeit des schonenden Transportes, zur Analgesie werden 3 mg Morphin (1:10 verdünnt), appliziert, mit denen sich die Schmerzen unterdrücken lassen. Der Abdominalstatus wird exakt dokumentiert. Nach Klinikaufnahme und Komplettierung der Diagnos- tik wird die Patientin notfallmäßig laparotomiert, die Diagnose einer perforierten Appendizitis mit diffuser Peritonitis bestätigt sich. Die akuten gastrointestinalen Notfälle lassen sich nur zu einem kleinen Teil dem streng definierten Krankheits- bild des »akuten Abdomens« mit den klassischen Leitsym- ptomen zuordnen: Schmerz, Abwehrspannung der Bauchdecken und Schock. Weitaus häufiger handelt es sich um entzündliche Erkran- kungen der Abdominalorgane (akute Appendizitis, Cho- lezystitis, Divertikulitis, Pankreatitis, Adnexitis), Gallen- und Ureterkoliken und insbesondere akute Blutungen aus Ösophagus, Magen oder Darm. : 5 5 5 Häufigkeit akuter gastrointestinaler Notfälle (in abnehmender Häufigkeit) Akute Appendizitis (<40 Jahre) Cholezystitis einschl. Gallenkolik (>40 Jahre) Obere GI-Blutung (Magen > Ösophagusvarizen) Ileus, inkarzerierte Hernie Akute Hohlorganperforation (Magen/Duodenum > Kolon) Akute Pankreatitis, Divertikulitis Urolithiasis, akuter Harnverhalt Gynäkologische Erkrankungen (Adnexitis, extrau- terine Gravidität) Mesenteriale Durchblutungsstörungen Sontiges: Pseudoperitonitis diabetica C 1 -Esteraseinhibitormangel Milzinfarkt Akute intermittierende Porphyrie Aortenaneurysmaruptur 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 Differenzialdiagnostisch ist darüber hinaus auch an thora- kale (z. B. Pneumothorax), retroperitoneale (Aortenaneu- rysma) und gynäkologische Notfälle zu denken. Der Notarzt hat zunächst die Aufgabe, anhand der Leit- symptome (Bauchschmerz, Hämatemesis/peranaler Blut- abgang, Stuhlverhalt) und des klinischen Befundes (z. B. Abwehrspannung, bretthartes Abdomen, Änderungen der Peristaltik) eine Arbeitsdiagnose, evtl. auch nur Gruppen- diagnose zu stellen, die Notfallversorgung und dann ggf. die Klinikeinweisung mit dem geeigneten Transportmittel durchzuführen. Im Einzelfall wird er auch z. B. bei einer Nieren-/Gallenkolik oder einer Gastroenteritis den Pati- enten therapieren und zuhause belassen können – mit der Auflage, am nächsten Tag den Hausarzt aufzusuchen. Als große Herausforderung erweisen sich dabei der Zeitdruck, die begrenzten diagnostischen und therapeu- Gastrointestinale Notfälle, akutes Abdomen E. Dirks, J. Nothwang 23

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246 Kapitel 23 · Gastrointestinale Notfälle, akutes Abdomen

Kasuistik Sie werden zu einem 10-jährigen Mädchen gerufen, das seit dem Vortag über Abdominalschmerzen und Übelkeit mit einmaligem Erbrechen klagt. Die Symptomatik habe sich nur langsam entwickelt. Seit wenigen Stunden erhebliche Schmerzzunahme.Der klinische Befund zeigt eine »facies abdominalis « (. Abb. 23.1), der Bauch ist diff us druckdolent mit Peri-tonismus (Abwehrspannung), fehlender Darmperistaltik. Die Beine können nur gebeugt gehalten werden.Nach Anlage eines venösen Zuganges erfolgt die Infusion von 700 ml Sterofundin über die Zeit des schonenden Transportes, zur Analgesie werden 3 mg Morphin (1:10 verdünnt), appliziert, mit denen sich die Schmerzen unterdrücken lassen. Der Abdominalstatus wird exakt dokumentiert.Nach Klinikaufnahme und Komplettierung der Diagnos-tik wird die Patientin notfallmäßig laparotomiert, die Diagnose einer perforierten Appendizitis mit diff user Peritonitis bestätigt sich.

Die akuten gastrointestinalen Notfälle lassen sich nur zu einem kleinen Teil dem streng defi nierten Krankheits-bild des »akuten Abdomen s« mit den klassischen Leitsym-ptomen zuordnen:

Schmerz,Abwehrspannung der Bauchdecken undSchock .

Weitaus häufi ger handelt es sich um entzündliche Erkran-kungen der Abdominalorgane (akute Appendizitis, Cho-lezystitis , Divertikulitis , Pankreatitis , Adnexitis ), Gallen- und Ureterkoliken und insbesondere akute Blutungen aus Ösophagus, Magen oder Darm.

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Häufi gkeit akuter gastrointestinaler Notfälle (in abnehmender Häufi gkeit)

Akute Appendizitis (<40 Jahre)Cholezystitis einschl. Gallenkolik (>40 Jahre)Obere GI-Blutung (Magen > Ösophagusvarizen)Ileus, inkarzerierte Hernie Akute Hohlorganperforation (Magen/Duodenum > Kolon)Akute Pankreatitis, DivertikulitisUrolithiasis , akuter HarnverhaltGynäkologische Erkrankungen (Adnexitis, extrau-terine Gravidität)Mesenteriale DurchblutungsstörungenSontiges:

Pseudoperitonitis diabeticaC1-EsteraseinhibitormangelMilzinfarktAkute intermittierende PorphyrieAortenaneurysmaruptur

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Diff erenzialdiagnostisch ist darüber hinaus auch an thora-kale (z. B. Pneumothorax ), retroperitoneale (Aortenaneu-rysma ) und gynäkologische Notfälle zu denken.

Der Notarzt hat zunächst die Aufgabe, anhand der Leit-symptome (Bauchschmerz, Hämatemesis/peranaler Blut-abgang, Stuhlverhalt) und des klinischen Befundes (z. B. Abwehrspannung, bretthartes Abdomen, Änderungen der Peristaltik) eine Arbeitsdiagnose, evtl. auch nur Gruppen-diagnose zu stellen, die Notfallversorgung und dann ggf. die Klinikeinweisung mit dem geeigneten Transportmittel durchzuführen. Im Einzelfall wird er auch z. B. bei einer Nieren-/Gallenkolik oder einer Gastroenteritis den Pati-enten therapieren und zuhause belassen können – mit der Aufl age, am nächsten Tag den Hausarzt aufzusuchen.

Als große Herausforderung erweisen sich dabei der Zeitdruck, die begrenzten diagnostischen und therapeu-

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tischen Möglichkeiten sowie das riesige Spektrum an möglichen Krankheitsbildern bei sehr ähnlicher Sympto-matik.

In der Notaufnahme der Klinik muss umgehend die weitere Diagnostik zur Diff erenzierung der Notarztdia-gnose erfolgen, wobei Labor, EKG, Sonographie, Rönt-gen-Th orax und Abdomenübersicht, evtl. CT und Endo-skopie mit charakteristischen Befunden wegweisend sind. Parallel hierzu müssen die therapeutischen Maßnahmen, insbesondere bei vitaler Bedrohung des Patienten weiter-geführt bzw. begonnen werden (Schockbehandlung, Not-fallendoskopie zur Blutstillung, explorative Laparotomie).

Jedes unklare Abdomen gehört in die Klinik.

Wenn auch bei ca. 40% v. a. junger Patienten mit akutem Bauchschmerz trotz umfangreicher Diagnostik nur die Diagnose »unspezifi sche Abdominalbeschwerden« ge-stellt werden kann, so fehlen dem Notarzt sensitive Me-thoden, um die potenziell lebensbedrohlichen Erkran-kungen zu selektieren.

Defi nitionDie Diagnose des akuten Abdomens stellt keine um-schriebene Erkrankung des Abdomens dar.

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Das akute Abdomen beschreibt ein durch Leitsymptome defi niertes Krankheitsbild, das sich in einer typischen, einheitlichen Reaktionsweise am Abdomen äußert, wo-bei die Genese nicht zwangsläufi g abdominal-organischer Natur sein muss. Deshalb entspricht das akute Abdomen einer Alarmdiagnose, deren Akutizität vom Notarzt ein-gegrenzt werden muss.

PathophysiologieDer viszerale Schmerz entsteht initial durch Dehnung von Hohlorganen, Kontraktionen glatter Muskulatur, ent-zündlich-ödematöse Schwellung von Organen, Tumorin-fi ltration des viszeralen Peritoneums, also durch Irrita-tion des viszeralen Peritoneums. Die Schmerzqualität ist dumpf, bohrend, kolikartig oder brennend, die Lokalisati-on gelingt nur diff us nach Regionen, der Patient zeigt das Areal mit der fl achen Hand relativ unscharf, akzessorische vegetative Symptome sind häufi g, z. B. Übelkeit und Er-brechen, Blässe, Schweißausbruch, Unruhe.

Der somatoparietale Schmerz dagegen ist von hellem Charakter (schneidend, stechend) und umschrieben, gut lokalisierbar, der Patient zeigt mit dem Finger exakt auf den Schmerzpunkt, adäquater Reiz ist die Irritation des parietalen Peritoneums.

Ein typisches Beispiel für die klassische Abfolge von viszeralem ⇒ parietalem Schmerz ist die akute Appendi-zitis : initial besteht ein diff us lokalisierter periumbilical angegebener uncharakteristischer viszeraler Schmerz, der mit zunehmender Entzündung des Wurmfortsatzes durch einen somatoparietalen umschriebenen hellen Schmerz im rechten Unterbauch (McBurney ) abgelöst wird. Die gleiche Abfolge des Schmerzes zeigt z. B. auch die aku-te Cholezystitis, wobei diese noch den charakteristischen fortgeleiteten Schmerz in die rechte Schulter/Skapula auf-weist.

DiagnostikSofortdiagnostikDie Arbeitsdiagnose des Notarztes erwächst im Wesent-lichen aus der Krankheitsvorgeschichte des Patienten, der gezielt erhobenen aktuellen Anamnese sowie dem kli-nischen Befund unter besonderer Beachtung der Leitsym-ptome und vegetativer Begleitsymptome (Übelkeit, Erbre-chen, Fieber, kalter/warmer Schweiß u. a.).

Abb. 23.1. Facies abdominalis bei perforierter Appendizitis. .

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Sofortdiagnostik

AnamneseKlinischer Befund (Kardinalsymptome? Vegetative Begleitsymptome?)

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Besonders hinweisen muss man darauf, dass bei jeder Oberbauchsymptomatik ein akuter Hinterwandinfarkt durch 12-Kanal-EKG ausgeschlossen werden sollte.

Leitsymptome des akuten AbdomensAkuter BauchschmerzBretthartes Abdomen, Abwehrspannung als Zei-chen der PeritonitisHämatemesis , Teerstuhl , Blutstuhl als Zeichen der oberen/unteren GI-Blutung Änderungen der Peristaltik/Stuhl- und Windver-haltSchock

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Erweiterte DiagnostikAnamnese

Schon aus der Krankheitsvorgeschichte des Patienten las-sen sich wertvolle Hinweise für die Diff erenzialdiagnose der abdominalen Problematik ableiten, wobei jede Vorer-krankung ein Hinweis auf eine Komplikation, ein Erkran-kungsrezidiv oder eine Folgeerkrankung sein kann (. Ta-belle 23.1).

Bei der Situationsanamnese kommt insbesondere ei-ner genauen Charakterisierung der akuten Schmerzsym-ptomatik besondere Bedeutung zu, und zwar nach:

Schmerztyp,Schmerzcharakter,Schmerzbeginn und Verlauf,Schmerzlokalisation und -ausstrahlung,funktionellen Zusammenhängen.

Schmerzanamnese

Beim Schmerztyp unterscheiden wir den viszeralen Schmerz vom somatischen, parietalen Schmerz (. Tabel-le 23.2).

Die Schmerzlokalisation des viszeralen Schmerzes zeigt die folgende Verteilung der Areale:

Epigastrium /Oberbauch: Magen, Duodenum, Gallen-blase Leber, Pankreas (Herz, Pleura!),

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Tabelle 23.1. Diff erenzialdiagnostische Hinweise aus der Anamnese. .

Erkrankung Hinweis auf

Jede Vorerkrankung Komplikation dieser Erkrankung

Vorausgegangene Laparotomien Bridenileus

Nieren-/Gallensteine Kolik, Cholecystitis

Absolute Arrhythmie Apoplex, mesenteriale Durchblutungsstörung

Kardiale Erkrankung Myokardinfarkt

Ulkusleiden Magen/Duodenumblutung oder -perforation

Lebererkrankung, Zirrhose Ösophagusvarizenblutung

Gynäkologische Erkrankungen, Mensis Extrauteringravidität, mögliche Schwangerschaft

Alkoholismus Ösophagusvarizenblutung, akute Pankreatitis

Diabetes mellitus Pseudoperitonitis diabetica

Auslandsreise Gastrointestinale Infektion

Medikamentenanamnese Zugrundeliegende Erkrankung

Medikamentöse Nebenwirkung

NSAR, Aspirin5 Magen-/Darmulzera

Marcumar5 Blutungsneigung

Laxantien/Obstipation5 Stenosierender Darmprozess

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Mittelbauch: Dünndarmpaket, Appendix, rechter Ko-lon,Unterbauch: Colon transversum, linkes Hemikolon, Rektum, Urogenitalorgane.

Eine genauere Lokalisation des Schmerzes im Abdomen ist in der Regel durch eine somatoparietale Komponen-te bedingt.

Weiteren Aufschluss kann darüber hinaus die Schmerzfortleitung in bestimmte Dermatome , sog. Head-Zonen bringen:

linke Schulter: Pankreas, Milz, linkes Zwerchfell,rechte Schulter/Scapula: Galle/rechtes Zwerchfell/Le-ber,gürtelförmig in den Rücken: Pankreas.

Der zeitliche Ablauf von Schmerzbeginn und -entwick-lung gibt ebenfalls entscheidende Hinweise auf Ursache und insbesondere Aktivität des vorliegenden Krankheits-bildes:

Schlagartiger Maximalschmerz (evtl. mit Schock):Perforation eines Hohlorgans,Ruptur im Abdomen/kleinen Becken,Pneumothorax,Aortenaneurysmaruptur,Mesenterialarterienembolie/-infarkt.

Schweres Schmerzbild, schnell zunehmend:Perforation, Strangulationen,Pankreatitis, akute und schwere Entzündungen,Myokardinfarkt,Koliken von Hohlorganen.

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Langsamer Schmerzbeginn innert Stunden:Entzündungen im Abdomen,Ulcus ventriculi oder duodeni,Dünndarm-, Dickdarmileus,mesenteriale Durchblutungsstörung, auch venös.

So weist der perakute, schlagartig einsetzende Maxi-malschmerz auf eine Hohlorganperforation, akute Darmi-schämie (Embolie, absolute Arrhythmie?), Aortenaneu-rysmaruptur, Pneumothorax oder Ruptur einer Extraute-ringravidität hin, dazu kommen meist Schocksymptoma-tik und brettharter Bauch. Nicht selten verleitet ein darauf folgendes beschwerdearmes Intervall von unter Umstän-den mehreren Stunden den hinzukommenden Arzt dazu, nicht sofort diese größte aller Katastrophen anzunehmen.

Entzündliche Erkrankungen des Abdomens ent-wickeln sich je nach Schwere des Prozesses schnell mit schwerem Schmerzbild (akute Pankreatitis, Peritonitis, akute Cholezystitis) oder auch zögerlicher wie z. B. Ap-pendizitis oder (Peri)divertikulitis. Zunächst sehr blande Verläufe können unter Umständen mesenteriale Durch-blutungsstörungen, hochsitzender Dünndarmileus und der Obturationsileus des Kolons aufweisen.

Diff erenzialdiagnostische HinweiseDiff erenzialdiagnostische Hinweise lassen sich auch aus funktionellen Zusammenhängen erhalten: die Hohlor-gankolik bessert sich akut nach Gabe von Butylscopo-lamin, der Ulkusschmerz nach Applikation von Wär-me, wogegen eine abdominale Entzündungsproblematik durch die Wärmefl asche eher schlechter wird.

5––––

Tabelle 23.2. Schmerzcharakteristik . .

Viszeraler Schmerz Somatoparietaler Schmerz

Vermittlung über Viszerosensible Fasern in sympatischen Nerven (Ganglion coeliacum)

Spinalnerven (segmental)

Ursprung Viszerales Peritoneum Parietales Peritoneum

Schmerzqualität Diff us, dumpf, Koliken Lokalisiert, scharf umschrieben, schneidend, stechend

Zeitpunkt Anfangsschmerz Folgeschmerz

Intensität Gleichbleibend Zunehmend

Verschlimmerung In Ruhe Husten, mechanische Irritation

Besserung Teilweise Bewegung Durch Schonhaltung

Vegetative Begleitsymptome Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbruch, Unruhe

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Bei den Begleitsymptomen sind Fieber (Entzündung, Malignom), Stuhlverhalt (Paralyse, Dickdarmileus), Mi-serere (Dünndarmileus), Synkopen, Bewusstseinstrübung (Exsikose, Blutung) sowie Anurie (akuter Harnverhalt) di-agnoseweisend.

SymptomatikNach Wertung von Anamnese und Begleitumständen wird der Kranke gezielt untersucht. Die sorgfältige Inspek-tion erkennt neben dem Allgemeinzustand, Lage und evtl.

Schonhaltung, Blutspuren, Fazies abdominalis, Ikterus oder Blässe, Leberhautzeichen, Dyspnoe, Unruhe, oder z. B. Darmsteifungen durch die Bauchdecken, ein stark gewölbtes Abdomen oder Schockzeichen (Stenose/Ileus; . Abb. 23.2).

Die Palpation des Abdomens beginnt an der Stelle der geringsten Schmerzen, wo der Bauch weich ist, und nähert sich behutsam dem Punctum maximum des Schmerzes. Bretthartes Abdomen, Peritonismus , Abwehrspannung , Loslassschmerz , Murphy-Zeichen (schmerzhaft tastbare Gallenblase) oder Courvoisier-Zeichen (schmerzlos pral-lelastisch tastbare Gallenblase), tastbare Resistenz (Tu-mor), Aszites, der klassische »Gummibauch« der Pankre-atitis oder der pulsierende Mittelbauchtumor des Aorten-aneurysmas sind typische Palpationsbefunde.

Nicht vergessen sollte man die gezielte Untersuchung von Narben auf Bruchlücken sowie der Leisten (Hernie?). Spätestens in der Notaufnahme erfolgt die rektale Unter-suchung (Blut? Teerstuhl? Douglasschmerz? Resistenz?).

Die Auskultation der Darmgeräusche über allen 4 Qua-dranten, mindestens 1 Minute lang, gibt wesentliche Hin-weise, insbesondere auch auf die besonders gravierenden Notfälle: »Totenstille« im Abdomen. Bei einigen Erkran-kungen des akuten Abdomens können Veränderungen der Peristaltik auskultiert werden (. Tabelle 23.3).

Abb. 23.2a,b. Aufgetriebenes Abdomen durch einen paralytischen Ileus bei perforiertem Magenulkus: a klinisches Bild; b Röntgenbe-fund.

.

Tabelle 23.3. Veränderungen der Peristaltik. .

Befund Erkrankungen

Hyperperistaltik Gastroenteritis

Diarrhö

Hyperperistaltik im Wechsel mit Stille

Darmunwegsamkeit, z. B.:

Bridenileus5Tumor5Inkarzerierte Hernie5

Klingendes, hochgestelltes metallisches Geräusch

Überblähung

Pressstrahlgeräusch Partielles Hindernis

Stenose

»Totenstille« Paralytischer Ileus

Peritonitis

Vaskulärer Prozess

Fortgeschrittenes Stadium jedes Abdominalprozesses

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Das Tasten des arteriellen Pulses gibt bei absoluter Ar-rhythmie den Hinweis auf ein vaskuläres intestinales Er-eignis oder bei Fehlen des Leistenpulses den Hinweis auf ein Aortenaneurysma.

Gastrointestinale Blutungen Gastrointestinale (GI) Blutungen stammen zu etwa 90% aus dem oberen und nur etwa in 10% aus dem unteren Gastrointestinaltrakt. Die unterschiedlichen Befunde lassen die Herkunft und Intensität der Blutung abschät-zen. Anamnese und klinischer Befund ergeben häufi g die Verdachtsdiagnose Ulkus oder Leberzirrhose (. Tabel-le 23.4). Die Blässe der Konjunktiven (alte Blutung) bzw. Zeichen des Volumenmangels (frische Blutung) gebieten den schnellen Transport in eine Klinik mit Notfallendo-skopie.

Biliäre Notfälle Bei den biliären Notfällen lassen sich Gallenblasen - und Gallengangskolik klar von der akuten Cholecystitis (»aku-te Galle«) diff erenzieren:

Die klassische Kolik ist mit Punctum maximum im rechten Oberbauch lokalisiert mit Ausstrahlung in die rechte Schulter/Schulterblatt, dauert mindestens 15 min bis maximal 5 Stunden und rezidiviert in unregelmäßigen Abständen. Vegetative Symptome wie Unruhe, Übelkeit und Erbrechen sind häufi g, nach Gabe von Butylscopola-min (Buscopan) meist prompte Besserung.

Hinweise auf eine Gallengangskolik geben Ikterus, Zu-stand nach Cholecystektomie, acholischer Stuhl, bierbrau-ner Urin und Fieber/Schüttelfrost als Zeichen der Cholan-gitis.

Die akute Cholecystitis (»akute Galle«) ist neben möglichen Koliken durch einen lokalen umschriebenen Schmerz um den rechten Oberbauch unter dem Rippen-bogen mit lokaler Abwehrspannung und Peritonismus charakterisiert.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Notarzt in der Regel in der Lage, eine Arbeitsdiagnose zu stellen und die Dringlichkeit des abdominalen Notfalls einzuschätzen: klassisches aku-tes Abdomen, gastrointestinale Blutung mit/ohne Schock, akute entzündliche Problematik oder Hohlorgankolik, Gastroenteritis etc. um danach die erweiterten therapeu-tischen Maßnahmen am Einsatzort, Transportmittel und Transportziel und sowie über eine Notarztbegleitung zu entscheiden.

Notarztbegleitung ist bei jedem schweren abdominalen Notfall indiziert.

TherapieSoforttherapie

Soforttherapie

Vitalfunktionen sichernPeripherer Zugang, VolumengabeSymptomatika bei Übelkeit und Erbrechen; Spas-molytika bei KolikenWirksame AnalgesieLagerung: Unterpolsterung der Kniegelenke (Ent-spannung des M. ileopsoas)

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Tabelle 23.4. Klinische Befunde bei GI-Blutungen. .

Befund Hinweisend auf

Hämatemesis Ursprung oberhalb Treitz-Bandes

Frischrotes Blut, Koagel5 Frische, aktive Blutung5Kaff eesatz5 Ältere, stattgehabte Blutung5

Teerstuhl Konsistenz entspricht der Blutungsaktivität

Fest5 Geringer Blutverlust, z. B. <50–200 ml/24 h5Flüssig5 Hoher Blutverlust>500 ml/24 h5

Blutstuhl Heftigste aktive obere gastrointestinale Blutung

Arterielle Ulkusblutung, Ösophagusvarizenblutung

Blutung aus distalem Kolon oder Rektum

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Bei einer sorgfältigen Übergabe des Patienten in der Not-aufnahme der Klinik an die weiterbehandelnden Kollegen ist die Gefahr des Verschleierns einer Schmerzsymptoma-tik durch Analgesie irrelevant gegenüber dem Nutzen für den Patienten. Die detaillierte Befunddokumentation ist allerdings obligat.

Eine suffi ziente präklinische Analgesie ist notwendig.Der Patient bleibt bis zum Abschluss der Primärdiagnos-tik nüchtern.

Immer ist ein peripherer venöser Zugang zu legen. Bei Verdacht auf akute intestinale Blutung 2 großlumige pe-riphere Zugänge. Flüssigkeit wird als Vollelektrolytlösung, bei Blutung und Schocksymptomatik zusätzlich als Plas-maexpander, z. B. HAES substituiert.

Koliken lindert Butylscopolamin (Buscopan) evtl. er-gänzt durch Novaminsulfon (Novalgin), Übelkeit und Er-brechen Metoclopramid (Paspertin) oder Haloperidol.

Der Schmerz kann je nach Stärke mit Novaminsul-fon (Novalgin),Pethidin (Dolantin), Kontinuaschmerzen auch durch Morphin gelindert werden. Wegen der Ge-fahr der Druckerhöhung des Sphincter Oddi soll Mor-phin bei Verdacht auf Gallenkoliken oder Pankreatitis auf jeden Fall erst nach Butylscopolamintherapie einge-setzt werden.

Bei Dyspnoe oder Abfall der O2-Sättigung muss na-sale O2-Gabe erfolgen. Im Einzelfall wird die Indikati-on zu Intubation und Beatmung gestellt werden, hierbei ist das Aspirationsrisiko bei nichtnüchternen Patienten zu berücksichtigen. Eine »Ileuseinleitung« ist unabding-bar. Der Oberkörper sollte zur Intubation erhöht gelagert werden, ein funktionsfähiges, großvolumiges Absauggerät muss bereitstehen.

Im Einzelfall kann die Anlage einer Magensonde oder bei Harnverhalt eines Blasenkatheters erhebliche Entla-stung bringen. Nicht zu empfehlen ist eine Magenson-de bei Verdacht auf eine Ösophagusvarizenblutung . Sinn-voll wäre in dieser Situation die frühzeitige i.v.-Gabe von 1–2 mg Terlipressin in Kombination mit 2 Hüben Nitro-spray , da hierdurch eine verbesserte Blutstillungsrate und ein verbessertes Überleben resultieren.

Erweiterte TherapieGroße Verantwortung kommt dem Notarzt in der Wei-chenstellung für die schnelle und gezielte klinische Ver-sorgung bei der Einweisung in eine geeignete Zielklinik zu, da Verzögerungen hier die Prognose des Patienten erheb-

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lich verschlechtern können. Vorinformation der Klinik per Telefon oder Funk bei vitalbedrohlichen Notfällen ist selbstverständlich.

Voraussetzungen der Zielklink in Abhängigkeit vom Befund:

akutes Abdomen: Abdominalchirurgie, bei Frauen zusätzlich Gynäkologie,gastrointestinale Blutung: leistungsfähige Endoskopie,unklares Abdomen, zur Diagnostik: innere Medizin, bei Frauen zusätzlich GynäkologieAortenaneurysmaruptur, vaskuläre Komplikationen: Gefäßchirurgie.

Zusätzlich muss der Notarzt entscheiden, ob eine Compu-tertomographie, Kernspintomographie, interventionelle Radiologie oder weitere Fachkompetenzen wahrschein-lich erforderlich sein werden und dementsprechend die Zielklinik aussuchen.

KlinikaufnahmeZur Übergabe des Patienten muss der Notarzt den weiter behandelnden Krankenhausarzt prägnant über die »Auf-fi ndesituation«, Untersuchungsbefunde, Arbeitsdiagno-se und die getroff enen therapeutischen Maßnahmen un-terrichten. Für die Einschätzung ist der zeitliche Verlauf der Symptomatik, der Gesamtzustand (Kreislaufsituation: (in)stabil), die Befundkonstellation und die daraus resul-tierende Verdachtsdiagnose wichtig.

Bei Aufnahme wird die Verdachtsdiagnose überprüft und die spezifi sche Th erapie eingeleitet. Hierzu sollten bei gastrointestinalen Notfällen kleines Blutbild, Gerinnung, Elektrolyte, Glukose, Lipase, GPT, Urinstatus und ggfs. Laktat und Blutgase bestimmt werden, bei Blutungen er-folgt immer eine separate Blutabnahme für die Blutgrup-pe und Kreuzblut.

Röntgenaufnahmen von Th orax und Abdomen (evtl. in Linksseitenlage) lassen Pneumothorax, freie Luft und Perforation, Spiegelbildung bei Ileus, Kotfülle, Gallen-steine etc. erkennen (. Abb. 23.3).

Eine wichtige diagnostische Aussage liefert die sofort durchgeführte Sonographie des Abdomens bezüglich ex-trahepatischer Cholestase, Gallenblasenkolik (Infundi-bulumstein), Dünndarmileus mit Pendelperistaltik, Tu-morleiden (Darmkokarde, Lebermetastasen), akute oder chronisch kalzifi zierende Pankreatitis oder gedeckt perfo-riertem Aortenaneurysma (. Abb. 23.4).

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Die Wiederholung des 12-Kanal-EKG sollte nicht verges-sen werden.

Bei jedem Verdacht auf eine gastrointestinale Blutung wird baldmöglichst eine Notfallgastroskopie durchge-führt, wenn auch nur, um eine Blutungsquelle im oberen Gastrointestinaltrakt auszuschließen (. Abb. 23.5, 23.6).

Grundsätzlich ist die diagnostische Aspiration über eine Magensonde nicht ausreichend, da selbst bei einer heft igen postpylorischen Blutung aus einem Duodenalul-

! kus kein Blut im Magen vorhanden sein muss. Die endo-skopische Blutstillung gelingt primär in mehr als 95% der Fälle, defi nitiv in mehr als 80% aller oberen gastrointesti-nalen Blutungen und ist grundsätzlich anzustreben.

Notfallmäßig können darüber hinaus eine orale Kon-trastmittelpassage oder ein Kontrasteinlauf mit wasser-löslichem Kontrastmittel, gynäkologisches Konsil, Abdo-men-CT, Angiographie, Laparoskopie oder direkt die Pro-belaparotomie notwendig sein.

Abb. 23.3. Ulkusperforation : freie Luft unter beiden Zwerchfell-kuppeln. .

Abb. 23.4. Oberbauchsonographie: Solitärstein der Gallenblase, typisches Korrelat einer Gallenkolik. .

Abb. 23.6. Endoskopisches Bild einer Ulkusperforation im Bulbus duodeni. .

Abb. 23.5. Spritzende Forrest-Ia–Blutung aus einem Gefäßstumpf in einem Ulkus im Bulbus duodeni. .

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Notarztbox

Leitsymptome: Schmerz, Abwehrspannung, Hä-matemesis, Teerstuhl, Peristaltik, Stuhl- und Wind-verhalt, SchockGezielte Anamnese (Vorerkrankungen, Schmerz-anamnese)Klinische Untersuchung (Palpation, Perkussion, Auskultation)Vitalparameter, 12-Kanal-EKG, Oxymetrie, rektale TemperaturLagerung: KnierollePeripherer Zugang, evtl. mehrere großlumige Zu-gängeVolumensubstitution mit kristalliner Lösung, ggf. PlasmaexpanderSuffi ziente Analgesie, Spasmolytikumevtl. Sauerstoff 4–6 l/min nasal oder Intubation/BeatmungZielklinik: Notfallendoskopie, Allgemeinchirurgie und bei Frauen Gynäkologie

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