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Geister-Roulett
Er kannte ihre Ängste und Träume. Er spielte mit den Schicksalen der Menschen und wußte von ihrer Angst vor dem Alter. Darauf baute er seinen Plan. Er schloß mit dem Teufel einen Pakt und versprach den Menschen das, was ihnen sonst niemand geben konnte. Jugend und Schönheit. Keiner durchschaute dieses Blendwerk des Satans. In Scharen kamen sie zu ihm. Und er lud sie ein zum Geister-Roulett ...
- Dieser Roman erschien in der John-Sinclair-Erstdruckreihe als Band 13 -
»Rien ne va plus - nichts geht mehr«, sagte der Croupier mit tonloser Stimme.
Mit einer tausendmal geübten Bewegung ließ er die Kugel aus der Hand schnellen, gab ihr dadurch
den nötigen Drall und verfolgte mit dem teilnahmslosen Blick eines Profis, wie sie an der Seite der
Roulettschüssel entlangdriftete.
Der Tisch war voll besetzt. Frauen und
Männer starrten mit hungrigen Blicken
auf die kleine Elfenbeinkugel.
Es ging um Geld - um viel Geld. Und um mehr ...
Die Einsätze waren hoch. Sehr hoch sogar. Wer hier spielte, musste Geld haben.
Gichtkrumme Finger krallten sich um die Kanten des mit grünem Tuch bespannten Roulettisches.
Grell angemalte Lippen waren fest aufeinandergepresst. Dicke Schminke überdeckte die tiefen Falten
in der Haut mancher Frau.
Es waren ältere Menschen, die hier spielten.
Warten, bis die Kugel ausgerollt war. Für manche eine zu kurze Zeit. Für die meisten jedoch
wurden die Sekunden zu Ewigkeiten.
Gepresstes Atmen. Luftholen. Der Geruch von Schweiß und teurem Parfüm. Aufgeregtes, nervöses
Husten. Das hastige, gierige Ziehen an den Zigaretten. In dicken Schwaden dampfte der Rauch unter
den strahlenden Kristallüstern.
Das war Casino-Atmosphäre. Der ewige Nervenkitzel.
Gewinnen oder verlieren!
Die Kugel rollte, war aber schon wesentlich langsamer geworden. Sie kippte bereits ab, berührte die
Kanten eines Nummernfachs, sprang weiter und blieb liegen.
Aufstöhnen - Erleichterung, Enttäuschung.
Mit dem Rateau zeigte der Croupier die Nummer an.
»Sechsunddreißig«, sagte er. »Nummer sechsunddreißig ... «
»Gewonnen! « kicherte eine Frau. »Ich habe gewonnen. « Sie rieb sich begeistert die faltigen
Hände. Die Frau hatte Plain gesetzt. Sie bekam das 35fache ihres Einsatzes ausgezahlt.
Sie hatte einen 100-Pfund-Chip gesetzt.
Die Chips häuften sich bei ihr. Lässig warf sie dem neben ihr sitzenden Croupier einen hohen Jeton
zu.
»Danke für die Angestellten, Madam. Ich glaube, Sie haben heute das große Glück! «
»Wirklich das große?« Die Stimme der Frau klang gepresst. Ihr Atem ging schnell.
»Kann schon sein ...«
Die Frau griff nach den Filterlosen, steckte sich ein Stäbchen zwischen die Lippen. Feuer gab sie
sich selbst.
»Machen Sie Ihr Spiel, Ladies and Gentlemen. « Die kühle Stimme des Croupiers unterbrach die
Gedanken der Frau.
Die Frau ließ den Rauch durch die Nasenlöcher ausströmen. Ihr Blick huschte über den Tisch. Jetons
wurden zielsicher auf die Felder geworfen. Scheine raschelten. Geld wechselte seinen Besitzer.
»Auf Nummer sieben«, sagte die Frau leise. Ihre Stimme zitterte vor unterdrückter Erregung.
Der Croupier sah sie an. Ein schmales Lächeln spaltete seine Lippen. »Es ist möglich, Madam! «
Sie nickte.
Das Spiel lief. Wieder rollte die Kugel. Wieder der gleiche Nervenkitzel, das Gefühl der künstlich
hochgezüchteten Spannung in der morbiden Atmosphäre des Casinos.
Nur das Geräusch der kreisenden Kugel war zu hören. Monoton, gleichmäßig.
Gierige Blicke verfolgten die Kugel.
Nummer sieben. Jemand hatte auf Nummer sieben gesetzt. Ein Wagnis - oder wusste dieser Jemand
Bescheid?
Würde das eintreten, auf das alle hofften?
Die Kugel bekam den Drall nach unten. Die Zentrifugalkraft konnte sie nicht mehr am oberen
Schüsselrand halten. Auch die Croupiers starrten auf die Roulettschüssel.
Die Spannung wuchs, wurde unerträglich. Schweiß perlte auf den Gesichtern der Spieler.
Dann war es soweit.
Die weiße Kugel berührte das Fach, tickte hinein ...
Nummer sieben!
Die Spannung löste sich. Zwei Spieler sprangen auf. Es waren ältere Männer.
»Nein! « stöhnte einer von ihnen. Er riss sich den obersten Knopf seines Smokinghemdes auf. Das
Licht überzog sein Gesicht mit einer leichenblassen Farbe.
Die Frau blieb sitzen.
Die magische Zahl sieben war gekommen.
Das Ereignis stand dicht bevor.
Wie hypnotisiert starrte die Frau auf ihren Jeton. Noch lag er auf dem grünen Filz, noch war alles
normal.
Plötzlich begann sich der Chip zu verändern. Er schrumpfte zusammen. Rauch stieg auf, bewegte
sich träge der Lampe entgegen und reizte zum Husten. Der Qualm hüllte für Sekunden den Jeton ein.
Dann aber zerfaserte er, gab den Blick wieder frei.
Der Jeton war verschwunden.
Auf dem Feld mit der Nummer sieben stand ein Totenkopf!
»Neiiinnn! « Die Frau schrie gequält auf. Obwohl sie das Ereignis herbeigesehnt hatte, spürte sie
doch die Angst die sich auf einmal breit machte.
Aber sie konnte nicht mehr zurück. Jetzt nicht mehr.
Das Spiel war gelaufen.
Sie lehnte sich auf ihren Stuhl zurück. In Sekundenschnelle liefen zurückliegende Ereignisse vor
ihrem geistigen Auge ab. Sie erkannte sich als junges Mädchen, sah die Zeit der ersten Liebe, die
Heirat, den Tod ihres Mannes, das Altwerden. Dieses für sie grausame Schicksal. Jede Sekunde, die
sie noch lebte, brachte sie dem Tod näher. Dem Tod, den sie hasste und überwinden wollte. Dann
hatte sie der Mann angesprochen. Er versprach ihr die ewige Jugend. Sie musste nur auf eine Bedin-
gung eingehen und einem Spielclub beitreten.
Linda Blaine hatte Geld. Mehr als sie ausgeben konnte. Und gespielt hatte sie schon immer. Vor
zwei Jahren war sie dem Club beigetreten und hatte regelmäßig einmal in der Woche an den Abenden
teilgenommen. Und immer hatte sie gewartet. Andere waren vor ihr an der Reihe. Sie hatte auf die
magische Zahl gesetzt.
Niemand wusste, was mit ihnen geschehen war.
Linda Blaine würde es bald erfahren.
Ihre Gedanken zerfaserten. Sie starrte wieder den Schädel an. Er schimmerte gelbweiß, war etwa so
groß wie eine Männerhand, doch in seinen Augen glühte es düster auf. Es war ein unbestimmtes Rot,
nicht zu hell, aber auch nicht dunkel.
Ein Rot, wie die Hölle gezeichnet wurde ...
Die anderen Spieler waren aufgesprungen. Sie drängten sich an der langen Wand des Spielzimmers,
dicht neben der Tür, die ins Ungewisse führte.
Nur Linda Blaine blieb sitzen.
Und die Croupiers!
Auch sie hatten sich verändert. Sie besaßen keine Gesichter mehr, sondern Totenschädel!
Makaber sahen sie aus. Aus den Smokingkragen ragten die hässlichen nackten Schädel, die
bleckenden grinsenden Mäuler mit den fleischlosen Zähnen. Die Rateaus wurden nicht mehr von
Händen gehalten, sondern von skelettierten Fingern. Die Knochen schimmerten ebenso weiß wie die
des Totenschädels.
Der Spielleiter erhob sich von seinem erhöhten Sitz am Kopfende des Spieltisches. Er stieg die
Stufen einer kleinen Leiter hinunter, gab ein Zeichen, und die beiden Croupiers erhoben sich ebenfalls
von ihren Plätzen.
Niemand sprach ein Wort.
Die Gerippe steuerten die Frau an, nahmen sie in die Zange. Jetzt, da es soweit war, bekam Linda
Blaine Angst. Sie wollte davonlaufen, einfach wegrennen, doch die Skelette ließen es nicht zu.
Sie hakten Linda mit ihren Knochenarmen unter, zogen sie kurzerhand vom Stuhl hoch.
Der Spielleiter ging vor. Er schritt auf die verschlossene Tür zu, wartete, bis Linda und die beiden
>Croupiers< dicht hinter ihm waren, und stieß dann die Tür auf.
Schwärze. Undurchdringliche Finsternis.
Linda Blaine und ihre unheimlichen Begleiter verschwanden darin. Die Finsternis saugte sie auf wie
ein Schwamm das Wasser.
Dumpf schlug die Tür zu.
Aus, vorbei!
Linda Blaine wurde von den anderen nicht mehr gesehen ...
In dem kleinen Vorführraum war es dunkel. Ich hatte die Beine auf die Rückenlehne des
Vordersitzes gelegt und sah auf den hellen rechteckigen Fleck der Leinwand.
Neben mir saß Bill Conolly, mein Freund und Kampfgefährte aus alten Zeiten. Er war schuld, dass
ich mir die Bilder ansehen musste. Bill war aufgeregt
zu mir gekommen. Mit einer brandheißen Sache im Ärmel. Behauptete er.
»Was ist es denn nun?« fragte ich.
Nur undeutlich erkannte ich Bills Gesicht. »Wirst du schon sehen«, erwiderte der Reporter.
»Ich platze bald.«
Hinter uns hantierte der Fachmann an seinem Dia-Projektor. Das Gerät schien nicht in Ordnung zu
sein. Ich konnte das aus den Flüchen schließen, die der Knabe ausstieß.
»Soll ich meinen Apparat von zu Hause holen?« erkundigte ich mich spöttisch.
»Nein nicht mehr nötig.«
Im nächsten Moment wurde ein Bild auf die Leinwand geworfen. Es zeigte einen Spielsaal mit nur
einem Rouletttisch.
»Heimlich aufgenommen«, flüsterte Bill Conolly mir zu. »Die anderen Bilder sind ebenfalls unter
Lebensgefahr geknipst worden. «
»Bis jetzt kann ich noch nichts Lebensgefährliches daran entdecken.«
»Warte es ab.«
Das nächste Bild.
Es zeigte den Roulettisch. Diesmal allerdings nur in einem Ausschnitt. Auf dem Feld mit der Zahl
sieben lag ein silbrig schimmernder Jeton.
Hinter uns fuhr der Projektor weiter. Das heißt bis zur Hälfte, dann hakte die Mechanik.
Zehn Sekunden später sah ich das dritte Bild trotzdem auf der Leinwand. Allerdings leicht schräg,
doch das störte mich nicht. Meine zur Schau getragene Schläfrigkeit war einer gewissen Anspannung
gewichen.
Das Bild zeigte abermals die Zahl sieben. Das heißt, sie war gar nicht mehr richtig zu sehen. Auf
dem Feld stand ein Totenschädel mit glühenden Augen. Dicht davor sah ich die Finger einer
skelettierten Hand. Sie ragte aus einer schneeweißen Manschette. Diese wiederum lugte aus dem
Smokingärmel hervor.
»Was sagst du nun?« raunte Bill mir zu.
»Wie sieht das nächste Bild aus?« »Es gibt kein nächstes.«
»Das war's dann wohl mit der Geisterstunde«, sagte hinter uns der Kollege von der technischen
Abteilung.
»Lassen Sie den Projektor eingeschaltet.« Ich stand auf. »Sie können aber gehen, Mr. Aberdeen.«
» Okay. «
Wenig später fiel die Tür hinter ihm zu.
Ich trat dicht an die Leinwand heran. Bill Conolly war mir gefolgt. »Irre, nicht?«
Ich hob die Schultern. »Wenn das Bild eine Fälschung darstellt, ist sie auf jeden Fall gut gemacht.«
Ich blickte mir den Schädel und die Knochenhand genauer an. Meine Zweifel wurden größer, daß dies
eine Fälschung sein sollte. Ich hatte schon sehr oft in meinem abwechslungsreichen Leben Skelette
und Gerippe gesehen. Auch lebende. Dies hier auf dem Bild schien tatsächlich echt zu sein.
Neben der Leinwand befand sich ein Lichtschalter. Ich knipste das Licht an.
»Woher hast du die Aufnahmen?« fragte ich Bill.
Er ging auf meine Frage nicht ein, sondern meinte. »Du bist also davon überzeugt, daß die Bilder
kein Humbug sind. «
Ich nickte.
»Okay, John. Sie kamen gestern Abend mit der Post. Ich wollte dich anrufen, aber du warst nicht
da. Absender ist ein William F. Masters, ein schon älterer Mann. «
»Kennst du ihn?«
»Nein. Aber Sheila. Masters war ein Freund ihres Vaters. Er hat uns hin und wieder besucht, und
wir haben von alten Zeiten gesprochen. Er ist außerdem ein exzellenter Steuerfachmann. «
»Hat er denn gespielt?« wollte ich wissen.
Bill schüttelte den Kopf. »Davon hat
er eigentlich nie gesprochen. Jetzt wo du fragst, fällt es mir auch auf.«
»Dann weißt du also nicht, wo sich
dieses Casino befindet?«
»Nein.«
»Aber wir könnten Masters fragen?« »Das schon.«
»Hast du seine Adresse?«
»Die weiß ich sogar auswendig.«
»Ist doch immerhin etwas. Wo wohnt
er? «
»Außerhalb Londons. In der Nähe von Hornsey hat er sein Landhaus. Wir waren einmal da. Aber ich
will vorher anrufen, damit er auch zu Hause ist, wenn wir eintrudeln.«
»Tu das. «
Wir verließen den Vorführraum. Die Dias steckte Bill Conolly ein. Mit dem Lift fuhren wir hoch in
mein Büro.
Bevor Bill zum Telefonhörer griff, fragte ich grinsend. »Sag mal, mein Lieber, was hält eigentlich
die gute Sheila von deinen neuerlichen Aktivitäten?«
Bill verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Begeistert ist sie nicht. Das kannst du
dir ja vorstellen.«
Ich lachte. Schließlich kannte ich Bills Frau. Jetzt, da sie in Umständen war, wehrte sie sich noch
mehr dagegen, daß sich ihr Mann in einem neuen Fall engagierte. Aber Bill war nicht der Typ, der
sich einfach auf die faule Haut legte. Er musste Action haben. Da waren er und ich verwandte
Naturen.
»Willst du Suko mitnehmen?« fragte er noch.
Ich schüttelte den Kopf. »Der ist heute anderweitig beschäftigt. Nimmt seine Harley auseinander. Er
wollte schon immer mal sehen, ob er sie auch wieder zusammenbauen kann. Vielleicht behält
er einige Schrauben übrig. Das weiß man ja nie.«
Bill lachte- und wählte Masters' Nummer. Ich verkürzte mir die Wartezeit mit einer Zigarette.
Bill bekam Masters rasch an die Strippe. Als er schon nach wenigen Worten den Hörer auflegte,
strahlte er. »Wir können«, erklärte er mir und rieb sich voller Tatendrang die Hände.
Über den Rand des Glases hinweg sah William F. Masters die ihm gegenübersitzende Frau an.
Frau? Nein, das war eigentlich nicht der richtige Ausdruck für diese außergewöhnliche hübsche
Person.
Sie war eigentlich noch ein Mädchen. Das Alter lag so um die Zwanzig. Korkenzieherartig fielen die
rotblonden Locken auf den Schulterstoff der duftigen Bluse. Der dunkle knielange Rock war aus
feinstem Material, und auch das Bolero-Jäckchen aus Wildleder war nicht gerade billig. Die Nägel der
langen Finger glänzten matt. Die Augenbrauen hatte das Mädchen ein wenig getönt. Es stand ihr
jedoch ausgezeichnet.
Jedes Männerherz hätte sicherlich beim Anblick dieses Geschöpfs einen Sprung überschlagen.
Sie prostete Masters zu. »Auf dein Wohl, William«, sagte sie und benetzte nur die vollen roten
Lippen.
Masters leerte das Glas mit einem Zug. Trotz der siebzig Jahre sah er noch gut aus mit seinem vollen
schneeweißen Haar, der gebräunten Haut und der kräftigen hervorspringenden Nase, die seinem
Gesicht einen gewissen männlichen Zug gab. Er trug einen Pfeffer-undSalz-Anzug und ein dazu
passendes Baumwollhemd. Die Krawatte war ordnungsgemäß gebunden, wie es ich für einen
Gentleman gehörte.
»Ich kann es immer noch nicht fassen«, murmelte Masters und setzte sein
Glas ab. »Sie sind... du bist Linda Blaine? «
»Ja, mein Lieber.«
»Aber wieso denn? Wie ist es möglich? Jugend und Schönheit, man kann sie doch nicht kaufen! «
»0 doch, Will. Man kann ...«
»Es sei denn ...« Masters stockte, als hätte er Angst, schon zu viel gesagt zu haben.
»Sprich dich aus.« In Linda Blaines Augen begann es zu schillern.
Masters lächelte verlegen. »Ich dachte da an die alten Geschichten und Fabeln. Du weißt ja selbst,
was dort geschrieben steht.
Linda hob die wohlgerundeten Schultern. »Keine Ahnung, Will. Erzähle es mir. Bitte. «
»Man sagt, dass einem nur der Teufel die Jugend und Schönheit zurückgeben kann, man aber selbst
dafür seine Seele verkaufen muss. So steht es doch geschrieben. «
»Und so ist es auch!« erwiderte Linda Blaine hart.
Masters stellte den Sektkelch wieder zurück. »Habe ich deinen letzten Satz eben richtig verstanden?«
»Ich denke schon.«
Tief saugte Masters den Atem ein. »Dann hast du. .. also du willst damit sagen, dass du ... «
»Ja, Will, ich habe meine Seele dem Satan verkauft. Was ist schon dabei? Jugend und Schönheit
haben Vorrang.«
Flüsternd kamen Masters' nächste Worte. »Was schon dabei ist, dem Satan seine Seele zu verkaufen?
Ja, glaubst du denn, er tut etwas umsonst? Irgendwann wird er dir dafür die Rechnung präsentierten,
und diese wird schlimm sein. Glaub' es mir. «
»Mein lieber William, das ist Altweibergewäsch. Aber vielleicht hast du sogar recht damit. Der
Teufel verlangt etwas. Auch von mir.«
»Und das wäre?«
»Ich muss ihm meine Loyalität beweisen. Ich muss zu ihm halten, verstehst du? Seine Feinde muss
ich ihm vom Hals schaffen. Feinde als auch Verräter. Rate mal, aus welchem Grunde ich dich be-
sucht habe, mein lieber William?«
Masters quälte sich ein Lächeln ab. »Warum, meine Güte? Wir waren alte Freunde. «
»Du hast es bemerkt. Waren alte Freunde. Wir sind es nicht mehr, Will. Im Gegenteil. Du hast uns
verraten. Du hast heimlich Aufnahmen geschossen. Gib es zu!«
Masters sprang auf. »Woher weißt du das?«
Der Teufel sieht alles. Und Asmodis hat es nicht so gern, wenn man ihm ins Handwerk pfuscht. Er
hat große Pläne mit der Welt. Jedes Hindernis, das sich ihm dabei in den Weg stellt, wird zerquetscht
wie eine Laus. Und du bist schon drin im Räderwerk der Hölle, William F. Masters.« Auch Linda
Blaine stand auf. »Wem hast du die Aufnahmen gegeben? Sag es mir!«
»Keinem. Ich ...«
Mit zwei Schritten überwand Linda Blaine die Distanz zu dem Mann. »Du bist ein schlechter
Lügner. Ein sehr schlechter sogar.« Sie packte zu und schüttelte den alten Mann durch.
Abwehrend riss Masters seine Arme vor das Gesicht, doch gegen die Kräfte der jungen Frau kam er
nicht an. Zwei harte Schläge trafen sein Gesicht. Der Fingerring der Frau riss Masters die Wange auf.
Er fiel in einen Sessel.
Blitzschnell packte Linda Blaine eine leere Whiskykaraffe. Ein Schlag reichte. Mit einer Platzwunde
am Kopf blieb William F. Masters bewusstlos liegen.
Das Teufelsweib lachte. »Das hast du nun davon«, flüsterte sie. »Du wolltest es nicht anders. Aber
ich kriege noch raus, wem du die Bilder gegeben hast. Darauf kannst du dich verlassen.«
Nach diesen Worten entfachte die Frau eine fieberhafte Aktivität. Sie zerrte den Bewusstlosen vom
Sessel und
schleifte ihn zu einem der hohen Fenster. Dort ließ sie ihn zu Boden gleiten.
Ein rascher Rundblick, und ein zufriedenes Grinsen zuckte über das Gesicht der Frau.
Sie hatte die langen Stores gesehen, die das Fenster einrahmten. Zu diesen Stores gehörten auch
Kordeln, damit man die Vorhänge leichter zuziehen konnte.
Ruckartig riss Linda Blaine die Kordeln ab. Sie prüfte noch einmal die Festigkeit und nickte dann
zufrieden.
Ihrem teuflischen Mordplan stand nun nichts mehr im Wege. Masters musste sterben. Er war ein
Verräter.
Mit einer Kordel fesselte sie dem Bewusstlosen die Hände, dann umschnürte sie ihm auch die Füße.
Dann nahm sie noch eine Kordel in die Hand. Und nun umspielte ein satanisches Lächeln ihre
Lippen. Die Schönheit des Gesichts hatte sich zur Maske verwandelt. Sie war zu einer grässlichen
Grimasse geworden.
Wie ein alter Henkersknecht, so routiniert knüpfte Linda Blaine die Schlinge. Gelassen prüfte sie den
Knoten. Es war alles klar.
Beste Arbeit ... Sie warf einen Blick auf den Bewusstlosen. Der Schlag war nicht sehr fest gewesen.
William F. Masters hatte eine gute Kondition. Er musste eigentlich gleich erwachen.
Linda Blaine öffnete das Fenster. Beide Flügel zog sie auf. Frische Frühlingsluft strömte in das
Zimmer und vertrieb den muffigen Geruch der alten Möbel.
Linda Blaine kletterte auf die Fensterbank. Sie hatte hinter der Leiste mehrere stabile Haken
entdeckt, die in die feste Decke eingeschossen waren.
Die Haken hielten schon was aus.
Auch einen Gehenkten ...
Linda legte das eine Ende der Kordel um den Haken und wand einen Doppelknoten. Sie ruckte ein
paar Mal daran, prüfte die Festigkeit. Er saß richtig.
Masters erwachte in diesem Augenblick. Rechtzeitig hörte Linda sein Stöhnen.
Rasch war sie beim ihm und zerrte ihn hoch. Der Blick des Mannes war glasig. Linda merkte, dass es
ein Fehler war, dem Mann die Füße zu fesseln. Sie löste die Knoten wieder.
»Hoch mit dir. Los! «
Masters begriff gar nicht. »Mein Kopf! « ächzte er. »Himmel, mein Kopf. Ich...«
»Steh auf!« kreischte das Weib wild. »Los, verdammt. Und dann auf die Fensterbank.
Als der Mann nicht sofort gehorchte, trieb Linda ihn mit Schlägen auf das Fenster zu. Sie umfasste
seine Hüften und hob den schweren Mann hoch. Erstaunlich die Kraft, die in ihr steckte.
Masters wurde überrumpelt. Er fand auch nicht die Kraft, sich zu wehren. Er stand plötzlich auf der
Bank, hielt sich noch am Fensterkreuz fest und bekam kaum mit, wie ihm die Frau die Schlinge über
den Kopf streifte. Sie hatte sich dafür auf die Zehenspitzen stellen müssen.
Als er es merkte, war es bereits zu spät. »Nein! « gurgelte er. »Nicht ... «
Linda zog die Schlinge so fest, dass
Masters gerade noch sprechen konnte. Und das war wichtig.
Hasserfüllt stieß sie die Fragen hervor. »Wer hat die Fotos? Rede, sonst stoße ich dich von der
Fensterbank! «
Der Wind spielte mit dem Haar des Mannes, zerzauste es. Masters sah die beiden dicken Ulmen vor
dem Fenster. Die Äste trugen schon die ersten kleinen Blätter. Die Natur hatte die Kälte des Winters
abgeschüttelt, erwachte zu neuem Leben.
Und er sollte sterben!
Erste schüchterne Sonnenstrahlen fielen in das parkartige Gelände des Gartens. Vögel zwitscherten.
Die Stare waren bereits zurückgekehrt .. .
»Rede, verdammt! «
William Masters sog gierig die Luft ein. »Conolly«, würgte er. »Es war Bill Conolly ... «
»Danke!« Das Wort klang höhnisch. Wie ein Abschied.
Beide Hände legte Linda Blaine gegen den Rücken des Mannes. Dann gab sie William Masters einen
Stoss ...
»Wenn die Eier werden billiger, wenn die Mädchen werden williger, wenn dem Knaben juckt ...«
»Hör auf«, unterbrach ich meinen Freund Bill, »denk daran, du bist verheiratet. «
Bill spielte den Zerknirschten. »Du gönnst mir auch gar nichts. «
»Doch. Aber mit deinen schmutzigen Gedichten verdirbst du mir noch den Charakter.
»Was gibt es daran zu verderben?«
Ich lachte. »Das sagst du. Aber was sagt ein Gesunder?«
Wir vertrieben uns die Fahrt zu unserem Ziel mit Flachserei. Über London und der näheren
Umgebung spannte sich wirklich ein strahlender Frühlingshimmel. Ein paar leichte weiße Wolken
trieben unter dem Blau des Firmaments. Der Wind blies aus südlicher Richtung, brachte Wärme mit
und ließ die Quecksilbersäule des Thermometers hochschnellen.
Wir erreichten den Ort über eine der nördlichen Ausfallstrassen. Hornsey lebte im Schatten des
Molochs London, hatte sich trotzdem seine ländliche Idylle bewahrt. Vielleicht rührte es daher, dass
Hornsey eine reine Wohnstadt war. Fast jeder pendelte zu seinem Arbeitsplatz in der City.
Die Strassen waren sauber. Wir sahen
meist Frauen, die, beladen mit Einkaufskörben, in die Geschäfte gingen.
Bei einem Polizisten erkundigte ich mich nach William F. Masters' Adresse.
»Das ist außerhalb, Sir«, erklärte mir der Beamte, dessen Uniform sich über dem Bauch spannte.
»Sie müssen durch den Ort fahren und sich rechts halten. Nach etwa einer Meile zweigen zwei
Strassen ab ... «
Er beschrieb mir den Weg ziemlich umständlich. Dafür jedoch zweimal. Bill schrieb
sicherheitshalber mit.
Wir bedankten uns bei dem freundlichen Polizisten und fanden tatsächlich den richtigen Weg.
»Wer sagt's denn!« rief Bill. »Macht sich doch bezahlt, dass ich mal bei den Pfadfindern gewesen
bin.«
»Fragt sich nur, welche Pfade du da gesucht hast. «
»Die besten, John. Die besten.«
Der Weg entpuppte sich als eine Chaussee. Wie mit dem Lineal gerichtet wuchsen die Bäume.
Weideland ringsum. Ein paar hundert Yards vor uns ein Waldgebiet.
In das mussten wir einbiegen.
Bald wurde aus dem Wald ein kleiner Park. Gepflegte Wege führten zu einem hochherrschaftlichen
Haus. Ein sattgrünes Rasenrondell befand sich vor dem Haus. Der Weg teilte sich und führte um das
Rondell herum auf das Haus zu.
Wir nahmen den linken. Unter den Reifen spritzte Kies weg. Ich konzentrierte mich auf die Fahrerei.
Bill Conolly hatte es besser. Er konnte seine Blicke an der Hausfassade hochgleiten lassen.
Plötzlich schrie er auf. »Verdammt! John, am Haus. Mensch, gib Gas, John! «
Der Bentley sprang vor. Ich riss ihn in die Kurve, sah ebenfalls hoch zum Haus, und mir stockte der
Atem.
Auf der Fensterbank stand ein älterer
Mann. Mit einer Schlinge um den Hals. Sein Gesicht war verzerrt. Er musste
jeden Augenblick springen ... Ich stoppte.
Synchron flitzten wir aus meinem Bentley.
Der Mann bekam einen Stoss. Ich sah es genau, konnte jedoch nicht erkennen, wer ihm diesen Stoss
versetzt hatte. Wie in Zeitlupe liefen die nächsten Ereignisse vor unseren Augen ab.
Ich hörte noch, wie Bill Conolly rief: »Das ist Will Masters! «, dann wurde der Bedauernswerte von
der Fensterbank gestoßen.
Er fiel.
Das Seil straffte sich.
Ein Ruck - und ...
Ich presste die Lippen zusammen. Es war ein schreckliches Bild. Masters war nicht sofort tot. Er
kämpfte noch. Helfen konnten wir ihm nicht, wir waren zu weit weg, aber wir konnten unter Um-
ständen seinen Mörder fassen.
Ich war als erster an der Tür. Über eine Treppe musste ich hinauflaufen. Längst lag die Beretta in
meiner Hand. Sie war zwar mit geweihten Silberkugeln geladen, aber die waren nicht nur für Dämo-
nen tödlich. Auf Menschen haben sie die gleiche Wirkung wie Stahlmantelgeschosse.
Die Haustür war nicht verschlossen. Bill und ich erreichten eine Art Halle. Sie war vollgestopft mit
alten englischen Bauernmöbeln. Eine breite Treppe führte in die oberen Etagen.
Ich war schneller als mein Freund. Im Laufen rief ich: »Bleib du hier. Ich sehe oben nach.«
Dort erwartete mich ein breiter Gang, von dem mehrere Türen abzweigten. Ich hatte mir die
ungefähre Lage des Fensters gemerkt, erwischte auch die richtige Tür, riss sie auf und stürmte in den
dahinterliegenden Raum.
Die Beretta beschrieb einen Halbkreis. Der Raum war leer. Von dem Mörder
keine Spur. Ich sah das jetzt straffgespannte Seil unterhalb des Fenstersims verschwinden. Den Toten
konnte ich nicht sehen. Er hing zu weit nach unten.
Trotzdem hetzte ich zum Fenster und zog den Erhängten hoch ins Zimmer. Die Arbeit kostete mich
viel Kraft, da die Leiche doch ihr Gewicht hatte.
Es war nichts mehr zu machen. William F. Masters lebte nicht mehr. In Bruchteilen von Sekunden
schossen mir die Gedanken und Vermutungen durch den Kopf.
Die Fotos, die Bill mir gezeigt hatte, waren doch kein Schwindel. Etwas steckte hinter der Sache.
Ein, Verbrechen? Von Dämonen inszeniert? von normalen Menschen?
Ich war fest entschlossen, dies herauszufinden.
Rasch, aber gründlich durchsuchte ich das Zimmer. Ich fand keinen Hinweis auf den oder die Täter.
War der Mörder noch im Haus? Oder hatte er die Flucht ergriffen? Den Vordereingang hatte er
sicherlich nicht genommen, dann hätten Bill und ich etwas bemerkt.
Also einen anderen Weg.
Ich lief hinaus in den Gang. wollte mich an die Durchsuchung der anderen Zimmer machen.
Da hörte ich den Schrei und noch in der gleichen Minute einen dumpfen Fall. Bill!
Ich raste die Treppe hinunter. Nahm drei Stufen auf einmal, und die letzten sechs Stufen sprang ich
mit einem Satz.
Hart kam ich auf, blieb aber auf den Beinen. Sah mit einem Blick, was geschehen war.
Bill Conolly lag am Boden. Er stöhnte und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Ich rannte zu
ihm, hielt mich sekundenlang bei ihm auf.
»Draußen ... nach draußen! « flüsterte Bill.
»Bist du okay?«
»Ja,«
Ich hetzte zu der Tür, riss sie auf und stürmte die Treppe hinunter.
Verlassen lag die Parkanlage vor mir. Nach Bills Schrei und meinem Auftauchen hier waren nicht
einmal dreißig Sekunden vergangen. Wäre der Mörder nach vorn geflohen, hätte ich ihn sehen
müssen. Blieb nur die zweite Möglichkeit.
Er war zur Rückseite gelaufen.
Ich sprintete an der Hauswand entlang, und dann hörte ich das Röhren eines Motors.
Eines Sportwagenmotors!
Hinter dem Haus.
Ich flitzte um die Ecke, sah einen grünen MG, der soeben gestartet wurde und dessen Hinterreifen
mir den Dreck entgegenschleuderten.
Ich schoss, zielte auf die Reifen, fehlte aber.
Der MG wurde in eine scharfe Linkskurve herumgerissen, schoss dann in einen kleinen Weg hinein
und war aus meinem Blickfeld verschwunden.
Ich hatte nicht einmal den Fahrer erkannt, jedoch das Nummernschild. Oder wenigstens einen Teil
davon.
Die Zahlen blieben in meinem Gedächtnis haften.
Der Fluch, den ich ausstieß, war nicht druckreif. Natürlich hätte ich zu meinem Wagen laufen und
die Verfolgung aufnehmen können, ließ es jedoch bleiben, da die Chancen an sich sehr schlecht
standen. Der grüne Flitzer hatte einen zu großen Vorsprung.
Statt dessen lief ich zurück ins Haus.
Bill Conolly hockte in einem Ledersessel mit hoher Rückenlehne. Gequält grinsend blickte er mir
entgegen.
Ehe ich eine Frage stellen konnte, sagte er: »Du kannst mir noch einen Schlag über den Schädel
geben für meine Dusseligkeit, aber ich habe nichts gesehen.« Er deutete erst auf eine am Boden
liegende zerbrochene Vase und dann zur Treppe. »Der Kerl muss die Vase von der Treppe her
geworfen ha-
ben. Mich traf das Ding genau am Kopf. Der Typ hat Zielwasser getrunken, das kann ich dir sagen.«
»Also keine Beschreibung.« Bill schüttelte den Kopf.
Zum zweitenmal unterdrückte ich einen Fluch.
»Und jetzt?« fragte mein Freund. Er schielte auf eine noch volle Whiskykaraffe. Sie stand auf einem
kleinen Beistelltisch.
Ich verstand den Wink und schüttete ihm zwei Fingerbreit ein.
»Zum Glück habe ich die Autonummer. Wenigstens einen Teil davon. Der Wagen ist übrigens ein
grüner MG. «
Bill nahm einen Schluck. »Müsste doch nicht schwer sein, den Halter des Wagens
herauszubekommen. «
»Ist es auch nicht.« Ich war schon auf dem Weg zum Telefon.
»Wen willst du anrufen?« fragte Bill.
Ich grinste. »Du scheinst wirklich etwas mehr abbekommen zu haben, als du verträgst. Die
Mordkommission natürlich.
»Cheerio«, sagte Bill. »Auf dich, du großer Geisterjäger.«
Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Mein Brötchengeber, Scotland Yard, gehört zwar zu den ältesten Polizeiorganisationen der Welt, ist
aber mit den Errungenschaften der modernsten Technik ausgestattet.
Als Sammelbegriff möchte ich hier nur das Wort Computer nennen. Außerdem sind die
Verbindungen des Yards weltweit gespannt, besonders im Zuge der Terroristenbekämpfung sind
Lücken im System aufgefüllt worden.
In Zusammenarbeit mit dem Straßenverkehrsamt bekam ich bald die vollständige Nummer des
MG's. Und natürlich auch den Namen des Fahrzeughalters. Oder vielmehr dessen Fahrzeughalterin.
Sie hieß Lina Blaine und wohnte in Chelsea. Da ihr verstorbener Mann zu den wichtigsten
Persönlichkeiten gehört hatte, war auch über ihn und seine Frau ein Dossier angelegt worden.
Linda Blaine zählte genau siebzig Jahre.
Ich fasste mir an den Kopf. Eine siebzigjährige Mörderin? Kaum vorstellbar. Außerdem fuhren
solche Damen in der Regel keine MG's. Die ließen sich vielmehr fahren und machten Londons
Taxiunternehmer reich.
Ich jedoch musste jeder kleinen Spur nachgehen. Vielleicht hatte diese Linda Blaine den Wagen an
eine Verwandte oder Bekannte verliehen. Möglich war alles.
Der Mordkommission hatte ich mit Erklärungen gedient, ohne ihren Leiter direkt in den Fall
einzuweihen. Er hatte so viele Informationen bekommen, wie er brauchte.
Bill war nach Hause gefahren. Ich wollte ihn nach meinem Besuch bei Linda Blaine anrufen.
Glenda Perkins, meine Sekretärin, kam und brachte mir eine Tasse Kaffee.
Auch der schwarzhaarigen Glenda merkte man an, dass der Frühling nicht mehr weit war. Sie trug
einen dünnen Pullover. Deutlich malte sich ihre atemberaubende Anatomie darunter ab. Ihr Rock
schwang um die gutgewachsenen Beine wie eine Glocke.
Glenda war in mich verliebt. Und das gab sie auch offen zu. Sie hatte zwar nie ein Wort gesagt, aber
Blicke und Gesten reichten auch so.
Als sie mir den Kaffee hinstellte, roch ich ihr Parfüm.
»Ist der Duft neu?«
»Dass Sie so etwas bemerken.«
»Wer könnte Sie übersehen ... « »Aber, Mr. Sinclair.« Sie richtete sich
auf und strahlte mich an. Dabei zog sie
den Pullover über ihren Rockgürtel, und
die Sachen, die sich unter ihrem dünnen BH spannten, wurden noch stärker herausgestellt.
Ich wollte es nicht noch mehr auf die Spitze treiben und sagte deshalb: »Vielen Dank für den
Kaffee.«
»Gern geschehen.« Glenda schwebte aus dem Raum.
Linda Blaine wohnte nahe der King's Road, in einer wenig befahrenen Seitenstrasse. Ich kannte die
Gegend, hatte schon öfter dort zu tun gehabt.
Superintendent Powell brauchte ich über meinen kleinen Ausflug nicht zu informieren. Mein
Vorgesetzter war in einer Besprechung. Worum es ging, wusste ich nicht. der theoretische Kram
interessierte mich ohnehin nicht.
Ich trank die Tasse leer, ging noch einmal die Akte durch und gönnte mir auch eine Zigarette.
Glenda sagte ich, wo ich hinfahren wollte. Sie wünschte mir noch viel Erfolg.
Mehr schlecht als recht quälte ich mich durch den Londoner Nachmittagsverkehr. Über die Victoria
Street erreichte ich die King's Road und fuhr die Einkaufsstrasse entlang in Richtung Süden. Hinter
dem Sloane Square musste ich links abbiegen und fand mich in einer der stillen Seitenstrassen wieder.
Die Häuser hier stammten noch aus der Jahrhundertwende. Die meisten von ihnen waren im Innern
renoviert worden, und auch an den äußeren Fassaden hatten sich Umweltschützer mit bunter Farbe
verdokumentiert.
Ich kurvte noch durch einige Strassen und fand dann die angegebene Adresse.
Das Haus hatte nur ein Stockwerk, dafür aber einen breiten Vorgarten. Er wurde in der Mitte von
einem Weg geteilt, der zur Haustür führte.
Ich schellte.
Die Sonnenstrahlen trafen meinen Rücken, wärmten mich und die Kleidung. Ich musste noch einmal
klingeln, ehe die Tür geöffnet wurde.
Eine ältere Frau sah mich an.
In Sekundenschnelle nahm ich ihr Bild in mich auf.
Die Frau hatte ein faltiges Gesicht, Runzeln und Ruchen in der Haut, einen schmallippigen, an den
Winkeln herabhängenden Mund. Ihr dünnes weißes Haar lag wie ein Kokon auf dem Kopf. Vor ihrer
Brust baumelte eine Brille. Sie hing an einer blitzenden Kette, wurde jetzt von faltigen, gichtkrummen
Fingern hochgenommen und vor die Augen gesetzt. Die Frau trug ein blaugraues Kleid, einen
schmalen Gürtel und dunkle Schuhe mit Blockabsätzen.
»Sie wünschen, Sir?«
Ich knipste mein Sonntagslächeln an. »Spreche ich mit Mrs. Blaine?« »Ja. «
»Mein Name ist John Sinclair. Ich komme von Scotland Yard.«
»Polizei?«
Mein Lächeln behielt ich bei. »Es ist nichts Schlimmes, Mrs. Blaine. Ich habe nur ein paar Fragen.«
»Ja dann ...« Sie zögerte noch, und ich musste ihr erst meinen Ausweis zeigen, bevor sie mich ins
Haus bat.
In der Wohnung roch es muffig. Ich durfte im Living-room Platz nehmen. Dunkle Möbel, ein
Highboard, das die gesamte Länge einer Wand einnahm, mit Bildern darauf, die immer nur ein Ge-
sicht zeigten. Das Gesicht eines schnauzbärtigen weißhaarigen Mannes.
Ich musste wohl die Bilder länger betrachtet haben, denn die Frau sagte: »Das ist mein verstorbener
Mann.«
Bald wäre mir ein »Ich weiß« herausgerutscht, denn ich kannte Blaine von unserem Aktenfoto.
Linda Blaine nahm mir gegenüber Platz. Nur ein runder Tisch trennte uns. Auf der Platte lag ein
selbstgehäkeltes Deckchen. Darauf stand eine leere grüne Blumenvase.
Abermals erschien es mir unmöglich, diese Frau als Mörderin einzustufen. Fast kamen mir meine
folgenden Fragen schon überflüssig vor.
»Haben Sie einen Wagen, Mrs. Blaine?
Die Frau sah mich erstaunt an. »Was soll ich haben?«
»Ein Auto. Genauer gesagt, einen grünen MG. Das ist ein Sportwagen. «
Jetzt fing Mrs. Blaine an zu lachen. »Sie sind gut, Herr Oberinspektor. Eine Frau in meinem Alter.
Ich bin siebzig, und da führt man normalerweise kein Auto mehr. Also diese Frage finde ich ehrlich
gesagt komisch. Wie sind Sie nur darauf gekommen?«
»Weil eine Linda Blaine als Halterin des MG's in der Kartei steht.«
Ja, das verstehe ich auch nicht. Vielleicht ist es eine Verwechslung.<,
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Mrs. Blaine. In dieser Kartei stehen auch all Ihre Daten. Oder haben
Sie den Wagen verschenkt und ihn nicht umgemeldet?«
»Ich habe ihn nie besessen!« Die Antwort klang schroff. »Haben Sie sonst noch Fragen, junger
Mann?«
»Ja. Wo waren Sie in der Zeit von zwölf Uhr mittags bis gegen vierzehn Uhr? «
»Soll das ein Verhör sein?«
»Nein, Mrs. Blaine. Zu einem Verhör hätte ich Sie zu mir ins Büro bestellt. Ich möchte nur, dass Sie
mir einige Fragen beantworten. Sehr wichtige Fragen, denn es geht um Mord. «
»Wer ist denn ermordet worden?«
Ihre Augen weiteten sich hinter den Brillengläsern.
»Ein gewisser William F. Masters. Kannten Sie ihn?«
»Nein! «
Die Antwort kam verdammt schnell. Manch einer hätte erst noch überlegt, und ich fragte mich, ob
diese Person mich nicht an der Nase herumführen wollte.
»Sie haben mir immer noch nicht meine Frage beantwortet«, sagte ich.
»Gut junger Mann. Wenn Sie darauf bestehen. Ich war zur fraglichen Zeit hier in diesem Raum.
Reicht Ihnen das?«
»Haben Sie Zeugen?«
»Nein. Mich besucht niemand. Sie müssen mir schon glauben, Herr Oberinspektor.
Die Frau wollte mich leimen, das spürte ich. Sie verbarg irgend etwas. Aber was? Deckte sie
jemanden?
»Haben Sie sonst noch was auf dem Herzen, Sir?«
Ich stand auf. »Nein, im Moment nicht. Es kann natürlich sein, dass noch Fragen auftauchen, dann
werde ich mich wieder an Sie wenden. Vielen Dank für Ihre Auskünfte, Mrs. Blaine. «
Ich war schon auf dem Weg zur Tür. Die Frau kam mir nicht nach, ließ mich allein in den Hausflur
gehen.
Ich öffnete die Außentür, tat, als würde ich das Haus verlassen, zog die Tür aber nicht ins Schloss,
sondern legte ein kleines Stückchen Holz zwischen Türblatt und Rahmen. Innerlich betete ich, dass
Mrs. Blaine nichts davon merkte.
Rasch ging ich durch den Vorgarten. Als ich kurz einen Blick über die Schulter warf, sah ich Mrs.
Blaine am Fenster stehen. Mit unbewegtem Gesicht sah sie mir nach.
Der Bentley parkte etwas abseits. Ich entfernte mich einige Schritte vom Haus, fand hinter einem
Baum Deckung und wartete ein paar Minuten ab.
Dann ging ich den gleichen Weg wieder zurück. Rasch und mit ausholenden Schritten. Die
Menschen, die mir begegneten, blickten mich kopfschüttelnd an.
Mrs. Blaine stand nicht mehr hinter der Scheibe. Ungesehen - so glaubte ich - gelangte ich bis an die
Haustür.
Sie war offen. Linda Blaine hatte den Trick nicht bemerkt.
Auf Zehenspitzen schlich ich in den Flur. Der Living-room lag zur rechten Hand. Spaltbreit stand die
Tür offen.
Ich riskierte einen Blick. Hörte eine Stimme.
Die Frau sprach mit sich selbst.
Leider verstand ich nur Bruchstücke.
... dieser Esel... mich zu überlisten ... früher aufstehen ... mieser Bulle ...«
Worte von einer siebzigjährigen Frau. Seltsam. Sehr seltsam sogar.
Ich drückte die Tür weiter auf, konnte die Frau sehen. Sie drehte mir den Rücken zu und trank irgend
etwas.
»Führen Sie immer Selbstgespräche?«
Mrs. Blaine erschrak. Ein kleines Glasgefäß rutschte ihr aus der Hand, fiel auf den Teppich, ging
aber nicht zu Bruch. Linda Blaine selbst kreiselte auf dem Absatz herum.
Ich wollte etwas sagen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich in Linda Blaines Gesicht
sah. .
Sheila, Bill Conollys Frau, war beim Arzt. Anschließend wollte sie noch einen Einkaufsbummel
machen, und wie Bill seine Frau kannte, würde sie sicherlich erst gegen Abend wieder eintreffen. Be-
packt mit Babywäsche und Umstandskleidern.
Bill sollte in ungefähr fünf Monaten Vater werden. Auf die Feier freute er sich jetzt schon. Das gab
ein Fest, dass die Bude nur so wackeln würde. Seinem Freund John hatte er den Befehl erteilt, eine
Woche Urlaub zu nehmen.
Mit all diesen Gedanken beschäftigte sich der Reporter, als er seinem Bungalow zustrebte.
Bill Conolly besaß ein prächtiges Haus im Londoner Süden. Geld genug hatte Sheila mit in die Ehe
gebracht. Sie hatte mehrere Firmen geerbt, das Management jedoch in die Hände zuverlässiger Ex-
perten gelegt und war nun schon einige Jahre mit Bill Conolly verheiratet.
Bill arbeitete für die größten Illustrierten der Welt als freier Reporter. Seine
Berichte und Artikel waren sensationell, und man riss sich darum. Den letzten Artikel über die
Himalaya-Reise mit all ihren Aufregungen und Abenteuern verkaufte Bill in Fortsetzungen an ein
amerikanisches Wochenmagazin.
Die letzten Wochen waren auch für den Reporter Bill Conolly ziemlich aufregend gewesen. Mit
Schrecken noch dachte er an das Abenteuer in dem kleinen Ort Orlington, als sein Freund, John
Sinclair lebendig begraben wurde. Er und Suko hatten damals wirklich keine Chance mehr gesehen.
Zum Glück war alles noch einmal gut ausgegangen.
Aber das Böse schlief nicht. Manifestiert war es in Asmodis, dem Höllenfürsten, und dessen erstem
Diener, dem Schwarzen Tod. Wo dieser grauenhafte Dämon auftauchte, verbreitete er Angst und
Schrecken. Bill hatte ihn in Orlington selbst zu Gesicht bekommen, aber besiegt hatten sie ihn nicht.
Bill Conolly verringerte die Geschwindigkeit des roten Porsche, als er in die Strasse einbog, in der
auch sein Haus lag. Hin und wieder erblickte er sein Gesicht im Innenspiegel. Dort, wo die Vase ihn
getroffen hatte, klebte ein großes Pflaster. Bill suchte jetzt schon nach einer guten Ausrede, wie er
Sheila seine Verletzung erklären konnte.
Doch zuvor wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt. Fast genau vor dem
Eingangstor parkte ein schwarzer Wagen.
Es war ein Kastenwagen, Marke Mercedes. Hell blinkte der silberne Stern auf dem schwarzen Lack.
Soviel Bill erkennen konnte, saß niemand im Führerhaus. Da der Wagen jedoch so nah an seinem
Grundstück stand, hatte der Reporter das unbestimmte Gefühl, dass der Besuch des Fahrers ihm galt.
Als er seinen Porsche an den Fahrbahnrand rollen ließ, traten aus der
Deckung des Mercedes zwei schwarzgekleidete Männer hervor.
Wie Sargträger! dachte Bill.
Beide trugen sie schwarze Anzüge. Auf ihren Köpfen saßen dunkle Melonen. Darunter schimmerten
bleiche Gesichter. Die Männer waren hoch aufgeschossen, standen gerade wie Ladestöcke und
blickten in den roten Porsche.
Die meinen also doch dich!
Er schätzte die Typen trotz ihres etwas unheimlichen Aussehens als nicht sehr gefährlich ein. Dazu
waren sie ihm nicht kräftig genug. Und ein Mann wie Bill wusste sich seiner Haut schon zu wehren,
wenn es hart auf hart ging.
Er stieg aus.
Nach einem Schritt musste er stoppen. Die beiden versperrten ihm den Weg.
»Mr. Conolly?« fragte der linke der Knaben.
»Ja.« Bill ließ seine Blicke an den Männern vorbeigleiten. Auf den Bürgersteigen befand sich kein
Mensch. Etwa hundert Yards weiter fuhr soeben ein Wagen aus der Garage.
»Sie wollen zu mir? Was kann ich für Sie tun?«
Die Männer lächelten. Doch das Lächeln erreichte die Augen nicht. Es war, als verschöbe sich bei
ihnen eine Gummimaske.
»Wir möchten Sie bitten, mit uns zu kommen. «
»Und wohin?« fragte Bill lauernd.
»Das werden Sie schon merken. Machen Sie keinen Unsinn. Es lohnt sich nicht. «
Bill schürzte verächtlich die Lippen. »Ich habe noch nie ungebetene Einladungen angenommen«,
erwiderte er. »Und ich denke auch jetzt nicht daran, es zu tun. Lassen Sie mich bitte durch. «
»Dann müssen wir eben zu anderen
* Siehe John Sinclair Band 62 (2. Auflage): »Lebendig begraben«
Mitteln greifen«, wurde Bill entgegengehalten.
Die Kerle griffen zu.
Doch da kamen sie bei Bill Conolly an die richtige Adresse. Er war auf einen Angriff vorbereitet.
Mit beiden Fäusten schlug er zu und traf die Typen an der Brust.
Sie flogen zur Seite, fielen aber nicht, sondern hatten sich erstaunlich schnell gefangen.
Dann kamen ihre Schläge.
Bill stöhnte. Diese Typen hatten Fäuste wie Schmiedehämmer. Spielend durchbrachen sie Bills
Deckung.
Dann sah der Reporter eine Faust riesengroß vor seinen Augen auftauchen. Er wollte noch den Kopf
zur Seite drehen; er schaffte es nicht mehr.
Der Hammer detonierte an seinem Kinnwinkel. Bill wurde bis gegen die Grundstücksmauer
geschleudert und brach dort zusammen. Bewusstlos blieb er liegen.
Die Männer schnappten sich den Reporter. Schweigend verstauten sie ihn auf der Ladefläche ihres
Wagens. Ihr nächstes Ziel war ein Haus in Chelsea. Sie wollten einer gewissen Mrs. Linda Blaine
einen Besuch abstatten ...
Das Gesicht sah wirklich grauenvoll aus. Es war dabei, sich auf schreckliche Weise zu verändern.
Die faltige Haut fiel von den Knochen wie alter, zerschlissener Stoff. Ein blanker, hässlicher
Totenschädel kam zum Vorschein. Das gleiche geschah mit den Händen. Auch dort löste sich die
Haut, wurden skelettierte Finger sichtbar.
Diese Verwandlung geschah in Sekunden, in einer Zeitspanne, in der ich die Frau wie einen Geist
anstarrte.
Aber es war noch nicht Schluss.
Eine weitere Überraschung stand mir bevor.
Eine neue jugendliche Haut bildete
sich. Zuerst war sie nur ein winziger Fleck auf der Stirn, dann jedoch breitete sie sich auf der linken
Gesichtshälfte weiter nach unten aus, bedeckte einen Teil der Nase, dann die Wange, die Kinnhälfte.
Auch ein Stück der Unterund Oberlippe bildete sich zurück, doch nur - und das war das Schreckliche
- auf der linken Körperhälfte. Die rechte blieb skelettiert.
Ebenso der rechte Arm, während der linke sich mit der pfirsichfarbenen Haut eines jungen
Mädchens überzog. Linda Blaine streckte den rechten skelettierten Arm aus. Ihr knochiger
Zeigefinger wies auf mich. Der Mund öffnete sich.
»Du bist schuld!« schrie sie mich an. »Nur du allein. Wärst du nicht gekommen, hätte ich den Trank
der Jugend zu mir nehmen können. Jetzt ist es vorbei. «
Ich wusste, was sie meinte. Die kleine Flasche, die zu Boden gefallen war, musste diesen Trank
enthalten haben. Jetzt versickerte die Flüssigkeit im Teppich.
Unwiderruflich ...
Sie stand vor mir und zitterte. Ich hatte den Anblick mittlerweile verdaut und musste eingestehen,
dass die linke Gesichtshälfte die eines wunderschönen jungen Mädchens war. Sogar das weiße Haar
hatte sich verändert. In rotblonden Locken fiel es bis auf die Schulter und streichelte den Stoff des
Kleides.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte ich. »Geben Sie mir eine Erklärung, Mrs. Blaine. «
Sie lachte hart auf. »Die können Sie haben, Polizist. Aber viel wird Sie Ihnen auch nicht nützen, da
ich Sie töten werde. Ich habe den Trank der ewigen Jugend bekommen. Nur er macht für mich das
Leben noch lebenswert. Wenn ich ihn einnehme, kann ich meine Jugend zurückgewinnen. Das ist das
Geheimnis.
Mir wurde so einiges klar. »Dann fahren Sie also doch den Sportwagen«, vermutete ich.
»Natürlich. Aber nicht in meiner Eigenschaft als alte Frau, sondern als junges Mädchen. Ich habe all
die Chancen zurückbekommen, die ich vor langen Jahren hatte. Aber jetzt ist es vorbei. Und daran bist
du schuld, Polizist. «
»Sie können sich doch einen neuen Trank holen. «
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht so einfach. Ich muss eine bestimmte Zeit mit ihm
auskommen, erst dann wird Asmodis entscheiden, ob ich würdig genug bin, abermals den Trank der
Jugend einnehmen zu dürfen. «
Sie sprach noch weiter, aber ich hörte gar nicht hin. Der Name Asmodis war gefallen. Asmodis, auch
Satan oder Teufel genannt, war der oberste Höllenfürst. Er regierte in der Unterwelt. Er war neben
dem Schwarzen Tod mein schlimmster Feind. Es war fast unmöglich, Asmodis oder auch seinen
ersten Diener zu besiegen. Man konnte ihnen nur Teilniederlagen bereiten.
Aber in welch ein teuflisches Spiel hatte sich der Höllenfürst diesmal wieder eingekauft. Ich ahnte,
dass ich erst einen kleinen Stein dieses grausamen Mosaiks in der Hand hielt.
»Wo haben Sie Asmodis getroffen?« unterbrach ich ihren Redeschwall.
Sie breitete die Arme aus. Beim linken rutschte der Ärmel des Kleides hoch und gab einen Teil des
skelettierten Arms frei. »Der Teufel ist überall. Man muss ihn nur zu finden wissen«, antwortete sie
mir allgemein.
»Dann führen Sie mich zu ihm! « verlangte ich.
Sie lachte wieder. »Nein, ich werde dich nicht zu ihm führen. Wenn er was von dir will, dann holt er
dich. Er nimmt sich alles, verstehst du. Aber ich - ich nehme dir dein Leben, Polizist. Grosses wird
geschehen. Vieles ist im Umbruch. Ich bin nicht die einzige, die den Trank der Jugend bekommen hat.
Es gibt viele, die so sind wie ich. Nur weiß es niemand.
Und du wirst dein Wissen nicht mehr verwerten können. «
Linda Blaine war siegessicher. Daran war auch nichts auszusetzen, nur kannte sie mich noch nicht.
Man nannte mich den Geisterjäger, und dieser Name kam nicht von ungefähr. Ich hatte schon mit
zahlreichen Geschöpfen der Hölle gekämpft und sie letzten Endes auch besiegt. Es waren mächtige
Dämonen und unheimliche Gegner darunter, wie zum Beispiel Doktor Tod, dem ich meine
sichelförmige Narbe auf der rechten Wange verdankte.
»Machen Sie sich nicht unglücklich, Mrs. Blaine«, rief ich. »Sie werden verlieren. Wir könnten uns
zusammentun und gemeinsam gegen Asmodis kämpfen. Vielleicht kann ich Sie noch vor dem
Schlimmsten bewahren. «
Sie fauchte mich regelrecht an. Das Auge in ihrer linken Gesichtshälfte schien zu glühen. Hass
strömte mir entgegen. Ich fühlte ihn fast körperlich, und über meinen Rücken rann eine Gänsehaut.
Nein, diese Kreatur war nicht zu bekehren. Sie war nur noch zu besiegen!
In ihr steckte eine höllische Kraft. Das bewies sie mir, als sie mit einem einzigen Hieb ihrer rechten
Klaue den Tisch, der uns trennte, zur Seite fegte. Das schwere Möbel kippte um, prallte gegen eine
kleine Kommode und brachte sie zu Fall.
Ich ließ meine Beretta stecken, wollte versuchen, die Frau mit den bloßen Fäusten zu überwältigen.
Sie war das Bindeglied zwischen mir und Asmodis, sie wusste, was der Höllenfürst noch alles
vorhatte. Ich musste sie am Leben lassen, wollte ich sie aushorchen.
Ihre gekrümmten Finger wollten meinen Hals umklammern. Ich schlug die Hände weg, packte aber
gleichzeitig zu,
wandte einen Judogriff an und schmetterte Linda Blaine mit einem Hüftschwung zu Boden.
Sie brüllte, kam aber sofort wieder auf die Füße. Blitzschnell ergriff sie eine schwere Vase.
Mir fiel Bills Abenteuer ein. Mein Schädel sollte keine Bekanntschaft mit einer Vase machen.
Ich zog den Kopf ein.
Linda Blaine konnte den Wurf nicht mehr korrigieren. Das Gefäß wischte über meinem Kopf
hinweg, prallte gegen die Wand und zersplitterte dort zu tausend Scherben.
Linda Blaine stieß einen Fluch aus. »Höllenfeuer!« schrie sie. »Es soll dich und deinen verdammten
Kadaver verbrennen!«
Den Gefallen tat ihr das Höllenfeuer nicht. Außerdem war sie noch nicht Dämon genug, um mich
mit schwarzmagischen Formeln besiegen zu können. Sie musste weiterhin zu weltlichen Waffen
greifen oder sich auf ihre körperlichen Kräfte verlassen.
Ein Stuhl kam ihr gelegen. Sie packte ihn und schwang ihn über ihren Kopf.
Das Sitzmöbel hätte mir sicherlich den Schädel und noch einiges mehr zertrümmert, doch da hielt
ich schon mein geweihtes silbernes Kreuz in der Hand. Rasch und geschickt hatte ich es über meinen
Kopf gestreift.
Linda Blaines Angriffsschwung verpuffte. Der Anblick des geweihten Kreuzes hatte sie geschockt.
Sie blieb stehen wie von einer unsichtbaren Wand gestoppt. Der zum Schlag hochgehobene Stuhl
rutschte ihr aus den Händen und polterte zu Boden.
Beide Arme riss sie schützend vor ihr Gesicht. »Nein! « schrie sie. »Tu es weg! Nimm es weg,
verdammt! «
Ich schüttelte den Kopf, ging weiter auf die Frau zu.
Linda Blaine, die vom Satan Besessene, musste zurückweichen. Die linke normale Gesichtshälfte
war schmerzentstellt, das Auge rollte in der Höhle. Ich konnte das Weiße sehen.
Die andere Gesichtshälfte blieb weiterhin starr und ausdruckslos.
Eine Wand hielt sie auf.
»Sie werden mir die Fragen beantworten«, sagte ich hart. »Oder die Macht des Kreuzes wird Sie
vernichten!«
Ihr Atem ging hastig. Die ausgestreckten Arme sanken herab. Mit dem Rücken an der Wand rutschte
sie dem Fußboden entgegen.
Ich machte keinerlei Anstalten, sie aufzuhalten.
»Das Kreuz! « gurgelte sie, »nimm es weg. Weg damit ... «
Ich kannte kein Mitleid, durfte es nicht kennen, wenn ich weiteres Unheil verhüten wollte. Mir war
klar geworden, dass sich in aller Stille etwas abgespielt hatte, dessen Tragweite noch gar nicht zu
übersehen war.
Linda Blaine hatte mit dem Versprechen auf ewige Jugend schon viele geködert. Ältere Personen,
die auch Geld besaßen. Viel Geld sogar. Und Geld bedeutet Macht. Menschen mit Geld saßen an den
Schalthebeln zur Macht. Wenn Asmodis sie in den Klauen hatte, ihnen das versprach, was sie mit
ihrem Geld sieht nicht kaufen konnten, nämlich die Jugend, dann sah es sehr böse aus.
Meine Gedankenkette zerbrach, und ich konzentrierte mich wieder auf Linda Blaine.
Ich Blick war zu Boden gerichtet. Sie konnte den Anblick des Kreuzes nicht ertragen. Zu sehr hatte
sich Asmodis' Geist schon in ihr manifestiert.
»Wo hast du Asmodis kennengelernt?!« schrie ich. »Wo?« Ich ließ das Kreuz dicht vor ihrem
Gesicht pendeln, wollte ihren Kopf herumdrehen, damit sie gezwungen war, das christliche Symbol
anzusehen.
Ein schleifendes Geräusch hinter meinem Rücken warnte mich.
Aus der hockenden Stellung kreiselte ich herum.
Vor mir standen zwei schwarzgekleidete Männer! «
Bill Conolly hatte das Gefühl, aus einem Whiskyrausch zu erwachen. Hinter seiner Stirn schienen
sich sagenhafte Orgien abzuspielen. Es hämmerte, klopfte und tobte.
Der Reporter blieb erst einmal ruhig liegen, atmete tief durch. Er erlebte diesen Zustand nicht zum
erstenmal, hatte gewissermaßen schon Routine und wusste genau, wie er sich verhalten musste.
Zuerst stellte er fest, dass er gefahren wurde. Die Geräusche verrieten das. Hin und wieder änderte
sich der Straßenbelag. Dann geriet der Mercedes ins Schaukeln, und in Bills Hirn explodierten wieder
tausend Sonnen.
Die Ladefläche war nicht dunkel. Unter der Decke brannte eine Glühbirne. Sie verstreute trübes
Licht, und Bill konnte erkennen, daß er auf einer Bahre festgeschnallt war und sich nicht mehr rühren
konnte.
Lederriemen pressten ihm Arme und Beine hart gegen den Körper. Er konnte nur die Zehen bewegen
und den Kopf drehen.
Er fragte sich, was die Kerle mit ihm vorhatten. Einen Grund für die Entführung konnte er sich nicht
denken. Er war in der letzten Zeit keinem auf die Füße getreten, wenigstens nicht bewusst.
Da fielen ihm die Bilder ein.
Bill hätte sich selbst in den Hintern treten können. Aber wer einen Schlag auf den Kopf bekommt,
dessen Gedächtnis lässt schon mal nach. Das würde sich bald wieder geben.
Bill Conolly blieb erst einmal liegen. Panik überkam ihn nicht, und als die Kopfschmerzen ein wenig
nachließen,
begann er damit, seine Umgebung ins Auge zu fassen.
Die Ladefläche des Kleinlasters war bis auf die im Boden verankerten Schienen der Bahre leer. Nach
draußen konnte Bill keinen Blick werfen, die Scheibe an der Heckklappe war mit schwarzer Farbe
angestrichen worden. Davor hing allerdings ein kleines Metallschild.
Bill hatte Mühe, die Buchstaben zu lesen, doch nach einiger Zeit gelang ihm dies.
VAN CORDTLAND SANATORIUM, las er.
Der Reporter runzelte die Stirn. Er hatte den Namen des Sanatoriums noch nie gehört.
Wahrscheinlich war es eine der zahlreichen Privatkliniken, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem
Boden geschossen waren.
Gehörte der Wagen dazu? Wollte man ihn in das Sanatorium entführen? Sollte er vielleicht als
Versuchskaninchen dienen?
Der Gedanke daran gefiel ihm gar nicht.
Vorsichtig versuchte Bill Conolly, aus der Fesselung herauszurutschen. Er wollte dabei seinen
Körper drehen, doch es gelang ihm nicht. Die Riemen saßen einfach zu fest.
Bill Conolly trat der Schweiß auf die Stirn, sammelte sich zu Tropfen und rann in die dunklen
Augenbrauen. Gedämpft nur drang der Straßenlärm an seine Ohren. An den Geräuschen erkannte Bill
jedoch, dass sie sich noch innerhalb Londons bewegten.
Der Transporter fuhr jetzt langsamer. Die Strecke wurde auch kurvenreicher. Hin und wieder hielt
der Wagen. Ampelstopps.
Dann aber trat der Fahrer ziemlich
fest auf die Bremse. Sekunden später erstarb der Motor.
Türenklappen!
Bill Conolly horchte auf. Kamen sie jetzt, um ihn zu holen? Er rechnete fest damit, dass die hintere
Ladeklappe geöffnet wurde und sie ihn hinaustrugen.
Doch nichts geschah. Alles blieb ruhig.
Das verdammte Warten zerrte an Bill Conollys Nerven. Hinzu kam, dass er nicht wusste, wo er sich
befand. Hatten sie vielleicht das Sanatorium schon erreicht? Drohte ihm bereits eine Einzelzelle?
Womöglich mit Gummiwänden?
Bills grenzenlose Phantasie gaukelte ihm schon die schrecklichsten Bilder vor. Er sah sich bereits
inmitten von Irren, die ihn verfolgten und sein Leben wollten.
Dann hörte er die Schüsse.
Und das war kein Traum. Zweimal hintereinander war draußen geschossen worden. Bill, ein
Waffenexperte, konnte sogar am Klang heraushören, aus welch einer Waffe gefeuert worden war.
Aus einer Beretta!
John besaß diese Pistole.
War er in der Nähe?
Bill Conolly holte tief Luft. Dann schrie er den Namen seines Freundes, so laut er konnte ...
Freundlich waren mir die beiden Typen nicht gesonnen. Da brauchte ich nur einen Blick in die
kalkweißen Gesichter unter den steifen Hüten zu werfen, um zu wissen, was mit ihnen los war.
Hinter mir hörte ich Linda Blaine rasselnd atmen. »Tötet ihn! « keuchte sie dann. »Tötet ihn! Er will
Asmodis verraten. Er hat den Tod verdient.«
Die beiden rührten sich nicht.
Noch nicht ...
Die Pupillen ihrer kohlrabenschwarzen Augen hatten sich verengt. Scharf wurde ich gemustert. Sie
ließen sich
auch nicht von dem Kreuz in meiner rechten Hand beeindrucken.
Waren es Menschen oder Dämonen?
Auf jeden Fall gehörten sie zur anderen Seite, wie mir Linda Blaine durch ihren Ausspruch
verdeutlicht hatte.
»Darf ich fragen, was Sie hier suchen?« wurde ich angesprochen.
Ehe ich antworten konnte, keifte Linda Blaine hinter mir los. »Er ist von der Polizei. Er ist ein Bulle.
Ein Bulle ... «
Sie hetzte die beiden gegen mich auf, und die Kerle reagierten dementsprechend.
Ihre Hände fuhren unter die dunklen Jacketts. Zwei blitzschnelle; traumhaft sichere Bewegungen,
und schon hielten sie Rateaus in den Händen.
Rateaus?
Ich begann zu überlegen. Das waren die Arbeitsgeräte der Croupiers. Sie sammelten damit am
Roulettisch die Jetons ein. Sie beherrschten ihre Instrumente mit artistischer Geschicklichkeit.
Ich bin verdammt nicht langsam, aber die Kerle hielten ihre Rateaus so schnell in den Händen, dass
ich nicht dazu kam, meine Beretta zu ziehen.
Ein rasches Kippen der Stäbe, und schon deuteten die beiden Schaufeln am Ende der Rateaus auf
mich.
Ich ahnte Schreckliches und hechtete kurzerhand zur Seite.
Gerade noch im letzten Moment.
Aus den Rateaus schossen zwei glühende Strahlen, wischten an mir vorbei, standen für Bruchteile
von Sekunden wie Lanzen in der Luft und schnitten ein faustgroßes Loch in einen der Schränke.
Noch im Fallen hatte ich die Beretta gezogen. Ich prallte gegen den Stuhl, den Linda Blaine vorhin
umgestoßen hatte. Instinktiv riss ich die Möbel zum Schutz hoch.
Der nächste todbringende Strahl bohrte sich durch die Sitzfläche. Einfach so, als wäre sie aus Butter.
Ich bekam es mit der Angst zu tun. Meine Nackenhaare stellten sich quer,
während ich mich verzweifelt über den Teppich rollte und irgendwo Deckung suchte.
Linda Blaine feuerte die beiden Todesboten an. »Ja! « schrie sie. »Ja, gleich habt ihr ihn. Macht
schnell. Schnell. «
Hinter dem umgestürzten Tisch fand ich Deckung.
Nicht ein Laut war zu hören, als sich der Strahl durch die Platte bohrte und dicht an meinem Kopf
vorbeistrich.
Die beiden Kerle hatten sich geteilt. Sie wollten mich in die Zange nehmen. Einen sah ich seitlich
von mir an den beiden Fenstern vorbeilaufen. Er wollte mich wohl hinterrücks treffen.
Ich feuerte.
Eine blassrote Mündungsflamme stach aus dem Lauf der Beretta, und das geweihte Silbergeschoss
traf den Unheimlichen in die rechte Schulter.
Er brüllte auf. Sein Gesicht verzerrte sich. Der rechte Arm sank herab, als würde er gar nicht mehr zu
ihm gehören. Dort wo meine Kugel getroffen hatte, war der Stoff zerrissen, ebenso wie das
Muskelfleisch der Schulter.
Doch nicht ein Tropfen Blut trat aus der Wunde.
Ich sah den blanken Knochen schimmern.
Dämon Nummer zwei vergaß seinen Angriff. Ehe ich ein zweites Mal feuern konnte, packte er
seinen Kumpan an der gesunden Schulter und riss ihn zu sich heran.
Dann trat seine höllische Waffe wieder in Aktion. Ich sah es aufblitzen, nahm hastig den Kopf
zurück, und an der Tischplatte vorbei rasierte dieser mörderische Strahl..
Die Sekunden, die ich brauchte, um eine neue Aktion zu starten, nutzten die Todesboten.
Sie rannten auf die Tür zu.
Ich sprang hinter dem Tisch hoch, war
schussbereit, zielte auf die Beine ...
Da jagte mir die Frau in die Schuss
bahn.
»Neiinnn!« brüllte sie. »So nicht.« Sie stürzte sich auf mich, trotz der drohend auf sie gerichteten
Waffe. Wuchtig warf sie sich gegen den Tisch. Der kippte mir entgegen und hätte mich unter sich
begraben, wäre es mir nicht im letzten Moment gelungen, zur Seite zu springen.
Neben mir polterte die Tischkante auf den Wohnzimmerboden. Ich verlor wertvolle Zeit. Bittere
Sekunden, die mir später fehlten. Und das Weib hatte noch nicht genug. Sie zielte mit ihren ge-
spreizten Fingern auf mich, wollte mir die Haut vom Gesicht reißen. In ihrem Blick flammte der Hass.
Sie war kaum mehr zu stoppen.
Ich schlug mit der linken flachen Hand zu. Ihr Kopf wurde nach rechts geschleudert, sie verlor für
wenige Augenblicke die Kontrolle über sich.
Ich reagierte gedankenschnell.
Mit einem gezielten Wurf hatte ich ihr die Kette über den Kopf geschleudert.
Die Angriffswut war gebrochen.
Schreiend ging Linda Blaine in die Knie. Vergeblich versuchte sie, die Kette über ihren Kopf zu
streifen, die Arme wollten ihr einfach nicht mehr gehorchen.
Was weiter mit ihr geschah, das sah ich nicht mehr. So rasch es ging, nahm ich die Verfolgung der
beiden Todesboten auf.
Wie ein Hundert-Yards-Sprinter hetzte ich durch den Vorgarten. Ich sah einen pechschwarzen
Wagen am Straßenrand, einen Mercedes-Kastenwagen. Soeben klappte die Beifahrertür zu.
Ich feuerte auf die Reifen. Zum Glück waren keine Passanten in unmittelbarer Nähe.
Meine Kugeln fehlten. Ich hatte zu überhastet geschossen.
Plötzlich hörte ich einen Schrei. »John! John ...!
Die Stimme! Himmel, das war doch Bill Conolly. Aber wo steckt er?
Mit über den Asphalt radierenden Reifen jagte der Wagen davon. Er schnitt
einem vorbeifahrenden Motorrad den Weg ab und fuhr mit dem Heck schleudernd die Strasse hoch.
Ich hetzte zu meinem Bentley. Als ich ihn erreichte, war der schwarze Wagen verschwunden.
Ich verwarf den Gedanken an eine Verfolgung, da Chelsea ein Stadtteil mit zahlreichen engen
Strassen ist. Der Mercedes hatte einen zu großen Vorsprung. Ich hätte ihn nicht mehr einholen können.
Als ich auf dem Fahrersitz hockte, schnappte ich mir sofort den Hörer des Autotelefons. In den
nächsten Sekunden kurbelte ich eine Großfahndung nach dem Mercedes an. Sagte aber gleich, dass
der Wagen nicht angehalten werden solle, sondern dass man mir Bescheid geben möge. Ich wollte den
schwarzen Todeswagen selbst stoppen.
Als mein Gespräch beendet war, hatten mich zwei Bobbys und eine Menge Passanten eingekreist.
»Das ist ein Terrorist! « schrie eine hysterische Frauenstimme.
Ein Bobby entwand mit die Beretta. »Sie sind festgenommen! « sagte er. »Sie haben ... «
»Gar nichts habe ich!« fuhr ich den Man an. »Sehen Sie sich lieber mal meinen Ausweis an. «
Ich griff in die Tasche und holte meine Sondervollmacht hervor.
Die Bobbys wurden blass. »Irgendwelche Befehle, Sir?«
»Ja. Scheuchen Sie die Neugierigen davon. Und geben sie auf das Funkgerät acht. Ich bin in dem
Haus Nummer achtzehn. «
»Jawohl, Sir.«
Ich nahm mir die Beretta wieder. Mit den Ellenbogen musste ich mir den Weg durch die Gaffer
bahnen. In meinem Innern tobte die Hölle. Ich hatte in den letzten Minuten einiges hinter mich ge-
bracht, und ich hatte die Stimme meines Freundes gehört.
Aber wo befand sich Bill?
Ich konnte mir nur eine Möglichkeit vorstellen. Mein Freund musste sich in dem schwarzen Wagen
befunden haben. Dann hatten die Männer ihn also entführt.
Aber wer waren sie?
Ich wollte Linda Blaine danach fragen, und bei Gott, sie würde mir eine Antwort geben.
So oder so ...
Ich fand Linda Blaine nicht in ihrer Wohnung, sondern im Treppenhaus.
Sie bot ein bedauernswertes Bild. Das Frauenmonster hatte versucht, die Flucht zu ergreifen. Sie war
über den Boden gerobbt, hatte nicht mehr die Kraft aufbringen können zu gehen. Die Macht des
geweihten Kreuzes war zu stark.
Wie ein Tier kroch sie auf die Haustür zu und hob den Kopf, als ich den Flur betrat.
Mit dem Fuß trat ich die Tür zu. Von draußen sollte niemand sehen, was hier im Innern geschah.
Ich bückte mich.
Linda Blaine wollte mich anspeien, doch selbst dazu fehlte ihr die Kraft.
»Faß mich nicht an! « röchelte sie. »Nimm deine dreckigen Pfoten von ...«
Ich packte die Frau am Kragen. »Hoch mit dir, Mörderin. Die Chancen stehen jetzt wieder besser für
mich.«
Ich schleifte sie in den Living-room. Dort sah es aus wie nach einer Schlacht. Die gefährlichen
magischen Strahlen hatten das übrige dazu getan und faustgroße Löcher in die Möbel gebrannt.
Ich hob einen Sessel hoch und ließ die Frau darin Platz nehmen. Nach wie vor baumelte das
geweihte Kreuz vor ihrer Brust.
»Ich nehme es Ihnen ab«, sagte ich. »Aber nur, wenn Sie meine Fragen beantworten. «
Das linke Auge blickte mich an. Ich las darin Angst, Hass, aber auch so etwas wie Hoffnung.
» Nun? «
Das Sprechen bereitete ihr Mühe. »Was ... was willst du wissen?«
»Alles.« Ich beugte mich über sie und nahm ihr das Kreuz ab. »Von Anfang an. «
Sie fing sich wieder. Damit sie nicht auf dumme Gedanken kam, ließ ich das Kreuz vor ihrem Auge
pendeln.
»Wir wollten jung sein«, flüsterte sie. »Alle, die Geld hatten und sich damit vieles kaufen konnten,
aber nicht ihre Jugend. Wir halten uns zu einem Club zusammengeschlossen und immer wieder über
dieses eine Thema gesprochen. William F. Masters gehörte auch dazu. Eines Tages hörten wir von
dem VanCordtland-Sanatorium. Der Leiter, Roger van Cordtland, sollte ein Experte auf dem Gebiet
der Frischzellenkur sein. Er hatte sein Sanatorium erst vor wenigen Monaten eröffnet. Alle unsere
Clubmitglieder beschlossen, dieses Haus aufzusuchen. Es waren nicht wenige. Sechs Wochen sollte
eine Kur dauern. Schon nach einer Woche wurde uns klar, dass das Van-Cordtland-Sanatorium keine
normale Klinik war, sondern dass dort Dinge geschahen, die der einfache Menschenverstand nicht
begreifen konnte. Es war für uns ein völlig neuer Lernprozess. Wir wurden mit Sachen konfrontiert,
von denen die meisten noch nicht einmal etwas gelesen hatten.«
»Was waren das für Dinge?« stellte ich eine Zwischenfrage.
»Teufelsorgien!« Sie spie hervor. »Satansreigen. Und das Todesroulett! «
» Todesroulett? «
Ihr Gesicht verzerrte sich. »Noch besser gesagt, das Totenkopf-Roulett.« Sie kicherte böse.
»Was hat es damit auf sich?« wollte ich wissen.
»Es ist normales Roulett. Man sitzt am
Tisch, spielt und ... « Linda Blaine sprach nicht mehr weiter. Plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht in
namenlosem Schrecken. Weit riss sie den Mund auf. Die rechte Totenkopfhälfte des Gesichts
verschwand. Haut bildete sich zurück. Faltige runzelige Haut.
Die Haut einer alten Frau ...
Linda Blaine streckte mir beide Hände entgegen. »Der Fluch«, gurgelte sie. »Der Fluch des
Asmodis. Er hat mich getroffen. 0 Grauen, ich ... ich kann nicht ... «
Ihre Finger umkrallten meine Handgelenke, drückten zu. Ich wollte noch eine Frage stellen,
unterdrückte sie aber, da ich sah, was mit Linda Blaine los war.
Sie zuckte noch einmal und sank dann in sich zusammen.
Linda Blaine war tot.
Asmodis' Fluch hatte sie mit aller Härte getroffen.
Tief atmete ich ein. Ich schloss die Augenlider der Toten und erhob mich.
Linda Blaine hatte mir wertvolle Informationen gegeben. Ich hatte den Namen von Cordtland gehört
und von dessen Sanatorium erfahren. Die Adresse wusste ich nicht, aber die herauszufinden bedeutete
keine Schwierigkeit.
Draußen empfingen mich die Frühlingssonne und ein Bobby. Letzterer stand vor der Haustür,
salutierte, als er mich sah, und machte Meldung.
»Keine besonderen Vorkommnisse, Sir. Das Funkgerät hat sich nicht gemeldet. Mein Kollege sitzt
noch in Ihrem Wagen. «
Ich bedankte mich bei den hilfreichen Beamten und sorgte telefonisch dafür, dass die Leiche
abgeholt wurde. Linda Blaine sollte obduziert werden.
Dann klemmte ich mich hinter das Steuerrad meines Bentley und nahm Kurs auf das Scotland-Yard-
Building.
Ein Name brannte während der Fahrt in meinem Hirn.
Van Cordtland!
Wieder im Büro, machte ich Suko mobil.
Mein chinesischer Partner wohnte in dem gleichen Apartmenthaus wie ich. Nur eine Tür weiter.
Er meldete sich sofort.
»Hast du deine Harley fertig?« fragte ich.
» Gerade. «
»Wie viele Schrauben hast du übrigbehalten? «
»Keine.«
»Okay, dann halte dich bereit.«
»Geht's wieder rund?«
»Ja. Aber das erzähle ich dir später.« Ich legte auf. Ein weitaus unangenehmeres Telefongespräch
stand mir jetzt bevor. Ich klingelte bei Sheila Conolly an.
Schon an der Stimme erkannte ich, dass bei ihr etwas nicht stimmte.
»John! « rief sie. »Ich wollte dich anrufen. Bill, er ... er ist noch nicht zurückgekehrt. Normalerweise
hinterlässt er immer eine Nachricht, wenn es später wird. Ich war beim Arzt, anschließend einkaufen,
und dann war Bill ... «
»Hör zu, Sheila«, sagte ich und versuchte, meiner Stimme einen optimistischen Klang zu geben. »Es
ist etwas passiert, aber du solltest dir keine Sorgen machen.«
»Was ist mit Bill? «
»Er ist wahrscheinlich entführt worden. «
Erst war es still. Dann hörte ich Sheilas gepressten Atem. »Hängt es mit den Aufnahmen
zusammen?« fragte sie leise.
»Wahrscheinlich ja.« Ich zündete mir eine Zigarette an, aber auch der Rauch konnte das
bedrückende Gefühl nicht vertreiben. Ich fühlte mich hilflos. Was sollte ich Sheila sagen? Dass wir
versagt hatten?
»Wie groß sind die Chancen, ihn wiederzufinden?«
»Sehr groß.«
»Lügst du auch nicht?«
»Nein, Sheila. Mit neunzigprozentiger
Sicherheit wissen wir, wohin Bill entführt worden ist.«
Ich hörte Sheila weinen. Verdammt, mir war auch zum Heulen zumute. Sheila Conolly war in
Umständen, und da konnten schlechte Nachrichten sowie ein Schock ungeahnte Folgen für Kind und
Mutter haben.
»Wir schaffen es schon«, sagte ich. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Nein, John«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, »die habe ich auch nicht.« Die Reaktion
strafte ihre Worte Lügen.
Sheila legte auf. Auch ich ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Hart drückte ich meine
Zigarettenkippe aus. Die Vorwürfe machte ich mir. Andererseits konnte ich nicht ahnen, welch eine
Brisanz hinter den Bildern steckte. Im Moment musste ich die Gefühle einfach ausschalten und mich
auf meine Arbeit konzentrieren.
Ich brauchte Material über das Sanatorium.
Wieder traten unsere Computer in Aktion. In diesen Superhirnen waren jedoch keine Informationen
über van Cordtland gespeichert.
Ich rief einen mir bekannten UniProfessor an, von dem ich wusste, dass er außerdem Leiter einer
Privatklinik war.
Von ihm bekam ich die richtigen Auskünfte.
»Ja, Mr. Sinclair, ich kenne dieses Sanatorium dem Namen nach. Ist so eine Verjüngungsklinik. Sie
wissen ja selbst, dass diese Institute wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.«
»Haben sie zufällig die Anschrift?«
»Ja, habe ich. Bleiben Sie am Apparat. Ich sehe mal nach. « Ich musste genau vier Minuten warten.
»Sind Sie noch da, Mr. Sinclair?« »Natürlich.«
»Das Van-Cordtland-Sanatorium liegt in der Grafschaft Kent. Nördlich von Dover, ziemlich nah an
der Küste. Der nächste kleine Ort in der Nähe heißt
Sandwich.« Er begann zu lachen. »Falls Sie vorhaben, sich liften zu lassen, muss ich Sie warnen. Van
Cordtland behandelt nur Millionäre. Ich schätze, Ihr Beamtengehalt reicht nicht für eine einminütige
Konsultation.«
Ehe er Fragen stellen konnte, bedankte ich mich für die Auskünfte. Grob geschätzt hatte ich ungefähr
hundert Meilen zu fahren. Ein Katzensprung an sich. Aber vor dem Dunkelwerden würde ich nicht
dort eintreffen.
Dann bekam ich den ersten Nackenschlag. Die Nachricht traf ein, dass der schwarze Wagen nicht
gefunden worden war.
Ich war ziemlich sauer. So ein auffälliges Fahrzeug konnte auch in einer Millionenstadt wie London
nicht einfach herumkutschieren, ohne bemerkt zu werden. Aber das schien die Gegenseite auch zu
wissen. Sicherlich hatte sie sich einen Trick einfallen lassen.
Einen Plan legte ich mir nicht zurecht. Ich wollte improvisieren. Bisher war ich mit dieser Methode
immer gut gefahren.
Der Trick war einfach, aber wirkungsvoll.
Die beiden Dämonen verschwanden mit ihrem Kleinlaster in einem bereitstehenden
Möbeltransporter. Über zwei ausgelegte Schienen rollte der Wagen in das Innere des Transporters. Der
Fahrer des Möbeltrucks - ein finster aussehender Typ - schloss rasch die Tür, kletterte in seine
Führerkabine und startete.
Davon merkte Bill Conolly nichts. Er hatte wohl mitbekommen, dass der Wagen eine schiefe Ebene
hochgefahren war, aber wo er jetzt steckte, wusste er nicht.
Zwei Minuten später war Bill Conolly allerdings nicht mehr im Unklaren. Die Ladetür des
Kleinlasters schwang auf. Die beiden Typen, die Bill überwältigt hatten, kletterten in den Wagen.
» Wir stecken in einem Transporter! « wurde Bill erklärt. »Das nur zur Information. Und mach dir
mal keine Hoffnungen. Dich finden sie so leicht nicht. «
Bill hatte sich wieder einigermaßen gefangen und auch den Schock verdaut. Es hatte ihn doch
schwer getroffen, dass sich John Sinclair auf sein Rufen nicht gemeldet hatte. Aber vielleicht war alles
auch nur eine Täuschung gewesen.
Bill sah, dass einer der Kerle verletzt war. Aus der Schulterwunde schimmerte der blanke Knochen.
Trotzdem schien diese Kreatur keinerlei Schmerzen zu verspüren. Sie bewegte sich ebenso sicher und
normal wie ihr Kumpan.
Jetzt stand es für Bill Conolly endgültig fest, dass er es mit Dämonen zu tun hatte.
Der Reporter versuchte es auf die freche Tour.
»Hört mal zu, ihr beiden Komiker, wollt ihr mich nicht losschnallen? Langsam fühle ich mich
unwohl.«
Anstatt eine Antwort zu geben, zogen die beiden Schwarz gekleideten unter ihren Jacken Rateaus
hervor. Schweigend hielten sie die kleinen Schieber dicht vor Bills Gesicht.
Um die beiden Rateaus ansehen zu können, musste Bill schielen. Er verdrehte die Augen und sah,
dass plötzlich zwei rotgelbe Strahlen aus den Rateaus hervorschossen und sich in den Boden des
Transporters bohrten.
»Wenn sie dich treffen, verbrennst du! « machte man Bill seine Lage klar. » Wir stellen hier die
Fragen, und du hast dich nach uns zu richten. Klar?«
Bill würgte sein »Okay« hervor.
»Wer war der Mann in Linda Blaines Haus?« wurde er gefragt. »Los, antworte. Du kanntest ihn. Du
hast sogar seinen Namen gerufen! «
Der Reporter kam ins Schwitzen. Die Schwarz gekleideten hielten weiterhin ihre magischen Waffen
auf ihn gerichtet. Bill war klar, dass sie nicht eine Sekunde zögern würden, davon Gebrauch zu ma-
chen.
»Er ... er heißt John«, antwortete Bill.
»Und wie weiter?«
Tief atmete der Reporter ein.
»Rede! «
Sinclair. John Sinclair! «
Mit einem Fluch auf den Lippen zuckten die beiden Dämonen zurück. »Also doch«, sagte der
Verletzte. »John Sinclair. Wir hatten es geahnt.« In seinen Augen flimmerte es. Sie sprühten vor Hass.
»Asmodis will ihn tot sehen, ebenso wie der Schwarze Tod ...«
»John Sinclair wird euch vernichten«, zischte Bill.
Sie blickten ihn an. »Nein«, erwiderten sie synchron. »Niemals. Wo wir dich hinbringen, hat er keine
Chance. Wenn er nicht kommt, werden wir ihn holen. Das Totenkopf-Roulett wartet schon auf ihn. «
Die Antwort klang sehr bestimmt. Bill hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass John nicht seine
Spur aufnehmen würde. Der Geisterjäger war wie ein Jagdhund. Hatte er einmal Blut gerochen, dann
hielt ihn nichts auf.
Die Schwarz gekleideten ließen Bill Conolly allein. Dumpf fiel die rückseitige Tür wieder zu.
Bill schätzte seine Lage wenig rosig ein. Wie zum Hohn schien ihn das Bild mit der Aufschrift VAN
CORDTLAND SANATORIUM anzustarren. Bill fragte sich - falls John das Sanatorium fand -, ob es
ihm wohl gelingen würde, den Freund zu warnen. Irgendwann mussten sie ihn ja losschnallen.
Die Zehen konnte er noch bewegen. Und er tat dies auch, damit der Blutkreislauf nicht völlig
einschlief.
Auch der Gedanke an seine Frau peinigte ihn. Wie würde Sheila auf sein Verschwinden reagieren?
Sicherlich
machte sie sich große Sorgen, und in ihrem momentanen Zustand war das schlimm.
Bill hätte sich vor Wut in den Hintern beißen können. Wie ein Anfänger hatte er sich überrumpeln
lassen.
Die Zeit verging. Dem Reporter war es nicht möglich, einen Blick auf seine Uhr zu werfen. Seiner
Schätzung nach waren sie schon fast zwei Stunden unterwegs.
Irgendwann wurde Bill schläfrig. Vielleicht machte es die Luft, vielleicht auch das eintönige
Fahrgeräusch. Auf jeden Fall schlief Bill Conolly ein.
Er schreckte hoch, als der Wagen abgebremst wurde.
Stimmen. Das Schlagen einer Tür.
Wieder ruckte der Transporter an. Er fuhr ein Stück bergauf und hielt wieder.
Dann holten sie Bill endgültig. Nicht die beiden Schwarz gekleideten kletterten in den Wagen,
sondern zwei grobschlächtige Typen in grauen Kitteln.
Die Kerle hatten Bürstenhaarschnitte, stupide Gesichter und Hände so groß wie Teller.
Schweigend schnallten sie Bill Conolly los. Der Reporter versuchte, sich aufzurichten, denn durch
das lange Liegen war sein Körper steif geworden. Zwei Männer mussten ihn stützen.
Sie schleiften ihn aus dem Wagen.
Tief saugte Bill Conolly die frische Luft in seine Lungen. Wind fuhr durch sein Haar. Die Luft
schmeckte irgendwie salzig, wie an der Küste. Das Meer schien also nicht weit zu sein.
Erkennen konnte der Reporter nicht viel. Er befand sich auf einem Hof, der von drei Mauern
eingerahmt wurde. Es waren die Rückseiten bungalowähnlicher Häuser. Bill sah vergitterte Fenster.
Auf den blanken Stäben spiegelten sich die letzten Sonnenstrahlen.
Von den Schwarz gekleideten sah er nichts. Dafür stand eine schmale Tür offen, durch die Bill
Conolly in das Innere eines Hauses geführt wurde.
Der Steinboden glänzte wie poliert. Es
roch nach Wachs und Desinfektionsmitteln. Ein unangenehmer Geruch.
Die Aufpasser sprachen kein Wort. Hastig schleiften sie den Reporter vorwärts. Bills Gummisohlen
zogen dicke Streifen über den Boden. Sie erreichten einen kahlen, ziemlich breiten Gang, an dessen
Ende eine Treppe in den Keller führte.
Dort wurde Bill Conolly hinuntergetragen.
Der Keller entpuppte sich als ein großer Raum. Durch mehrere Gitter war er in zahlreiche Zellen
unterteilt. In einen dieser Käfige wurde der Reporter hineingestoßen.
Mit einem harten, metallisch klingenden Laut fiel die Gittertür zu. ein Schlüssel wurde im Schloss
gedreht. Bill war bis gegen die andere Käfigseite geprallt und hatte sich dort gerade noch fangen
können.
Die beiden Aufpasser warfen ihm keinen Blick mehr zu. Schweigend verließen sie den Keller.
Wie ein Tier, dachte Bill. Wie ein Tier haben sie dich hier eingesperrt. Er fragte sich, ob dieser
Raum auch zum Service eines Millionärs-Sanatoriums gehörte.
Bill fügte sich seinem Schicksal. Er blickte sich um, die anderen Käfige waren leer. Er schien der
einzige Gefangene zu sein. An der Steindecke des Kellers brannten zwei Lampen. Ihr Licht war
ziemlich trübe. Bald würden sie ihren Geist aufgeben.
Langsam fühlte sich Bill besser; er spürte, wie das Blut durch seine Adern lief. Jetzt machte sich
Bill daran, die Zelle zu untersuchen.
Die Eisenstäbe waren im Boden verankert. Die bekam er beim besten Willen nicht heraus. Selbst ein
Mann wie Herkules hätte seine Schwierigkeiten gehabt. Die Gitterstäbe standen so eng, dass Bill nicht
hindurchschlüpfen konnte. Ob es ihm passte oder nicht, er musste sich in sein Schicksal ergeben.
Oder auf John Sinclair warten. Schon oft hatte ihn der Geisterjäger aus aussichtslos erscheinenden
Situationen herausgehauen. Bill hoffte, dass John es auch diesmal schaffte. Allerdings wusste er auch,
dass man nicht immer im Leben Glück haben konnte.
Er war wirklich gespannt, was man mit ihm vorhatte. Daß er in diesem Spiel einer der Joker war,
lag auf der Hand. Denn sonst hätten sie ihn längst umgebracht...
»Überlege es dir noch einmal, Mutter. Ich weiß nicht, ob es gut ist, was du tust. Jeder Mensch
altert, und den Prozess sollte man nicht aufhalten. Es ist ein Eingriff in die Schöpfung.«
Die ältere Frau mit den grauen Locken schüttelte den Kopf. »Nein, Rebbie, ich bleibe bei meinem
Entschluss. Du kannst mich nicht davon abbringen. Durch diesen Gewinn bin ich doch in der Lage,
etwas für mich zu tun. Ich habe mein ganzes Leben hart gearbeitet, ich möchte ein kleines Stückchen
Jugend zurückhaben. « Sie breitete Daumen und Zeigefinger aus. »Wirklich nur ein kleines Stück,
Rebbie.
Das Mädchen mit dem Namen Rebbie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das gut geht...«
Mutter und Tochter waren äußerlich sehr unterschiedlich. Rebbie, die Tochter, hatte eine prächtige
Figur, rotes, naturlockiges Haar, grüne Nixenaugen und ein hübsches Gesicht. In ihr schien das
Temperament einer echten Irin zu stecken. Und was unter ihrem Folklorekleid steckte, war auch nicht
von Pappe. Das ließ einem Kenner schon das Herz höherschlagen.
Ihre Mutter war das Gegenteil. Klein,
verhärmt. Das graue Kleid machte sie noch fader, nur in den Augen blitzte ein unbändiger Wille.
Rebbie trank ihr Glas leer. »Dann komm endlich, Mutter, wir sind sowieso schon zu spät.«
»Du willst mich wohl loswerden, wie?« fragte die ältere Frau schelmisch.
»Unsinn. Du weißt doch genau, dass...«
Die weiteren Worte konnte ich nicht mehr verstehen. Rebbie hatte die Stimme gesenkt.
Ich beobachtete die beiden schon eine ganze Weile, und auch Suko, der neben mir am Tisch saß,
waren sie aufgefallen.
Mein Partner und ich hockten in einem kleinen Gasthaus. Es lag in Sandwich und war in der
Umgebung berühmt für seine Hammelkoteletts. Wir hatten jeder eines gegessen und waren nicht ent-
täuscht worden.
Von London aus waren wir in einer Tour durchgefahren. Ich hatte den Bentley gescheucht, und dem
Wagen tat es gut. Ein Plan war mir unterwegs nicht eingefallen, doch jetzt kam mir eine Idee.
Mittelpunkt waren das Mädchen und seine Mutter.
Rebbie hatte mir hin und wieder einen Blick zugeworfen. Gar nicht mal finster, wie ich meinte. Ich
lächelte jedes Mal zurück. Rebbie fasste es wohl falsch auf. Sie hütete sich danach, mich oder Suko
noch einmal anzusehen.
Die ältere Frau wollte in das Sanatorium. Und das genau hatten Suko und ich auch vor.
Die Frage war nur - wie?
Ich beugte mich zu Suko hinüber. » Pass auf. Ich werde die Frauen ansprechen und versuchen, mit
ihnen zusammen in das Sanatorium hineinzugelangen. Es ist die einzige Möglichkeit. «
Ich wusste, wovon ich redete. Wir hatten uns den Bau von außen schon angesehen. Das Sanatorium
lag auf einem Hügel und war von einer hohen Mauer umgeben. Durch den Feldstecher
hatten wir gesehen, dass auf der Mauerkrone ein elektrisch geladener Draht verlief.
»Und was mache ich?« fragte Suko. »Du deckst mir den Rücken.« »Schmeckt mir gar nicht.«
»Noch ist es ja nicht soweit«, beruhigte ich meinen Freund.
Ich warf einen Blick zu den beiden Frauen hinüber. Noch immer flüsterten sie miteinander.
Anscheinend waren sie sich noch nicht schlüssig geworden. Ich rückte den einfachen Holzstuhl zu-
rück, stand auf und machte die drei Schritte auf den Nachbartisch zu. Außer uns vieren befanden sich
noch drei weitere Gäste im Raum. Sie hockten in einer Ecke und spielten Karten. Der Wirt sah ihnen
dabei zu.
Rebbie hob überrascht den Kopf, als ich neben dem Tisch stehenblieb. »Was können wir für sie tun,
Mister?« Ihre Stimme klang nicht gerade freundlich.
Ich stellte mich vor.
»Na und?« meinte Rebbie. »Glauben Sie, das machte die Sache besser?« Sie schien eine richtige
Wildkatze zu sein.
»Rebbie«, mahnte ihre Mutter. »sei doch nicht unfreundlich zu dem Herrn. «
Ich hatte bei älteren Frauen wohl größere Chancen. Wahrscheinlich war ich ein Schwiegersohntyp.
Ich behielt mein Lächeln bei. »Darf ich mich wenigstens setzen?« fragte ich.
Rebbie und ihre Mutter tauschten einen raschen Blick. Ehe Robbie jedoch etwas sagen konnte,
ergriff die Mutter das Wort. »Bitte sehr, Mr. Sinclair. Wir haben zwar nicht mehr viel Zeit, aber Sie
werden sicherlich einen Grund gehabt haben, bei uns um einen Platz zu bitten. «
»Danke.« Ich rückte den Stuhl heran. »Und was den Grund anbetrifft, den habe ich auch.«
»Dann reden Sie«, sagte Rebbie.
»Ich habe vorhin aus Versehen einige Fetzen Ihres Gesprächs mitbekommen«, begann ich.
Weiter kam ich nicht, denn Rebbie schlug mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch. »Das ist unerhört.
Sie haben gelauscht. «
Ich wandte der kleinen Wildkatze mein Gesicht zu. »Nein, Miss Rebbie, ich habe nicht gelauscht.«
»Meinen Namen wissen Sie also auch schon. «
»Sie haben laut genug gesprochen.«
»Dann dürfen Sie auch unseren Nachnamen erfahren. Wir heissen Jones«, sagte die ältere Frau.
»Vielen Dank, Madam.« Ich nickte ihr zu. Der Wirt kam zu unserem Tisch geschlurft. »Möchten Sie
noch etwas trinken?«
Ich bestellte einen Orangensaft. Erst als er gebracht wurde, kam ich zur Sache.
»Wie ich hörte, wollen Sie hoch zur Klinik, Madam.«
»Wüsste nicht, was Sie das angeht«, meinte Rebbie Jones spitz.
Bitte, Rebbie, halte dich da raus«, mahnte die Mutter.
Das rothaarige Girl hob nur die wohlgerundeten Schultern. Ich hatte noch keine Gnade vor ihren
hübschen grünen Nixenaugen gefunden.
Ich ließ mich aber nicht beirren, sondern fuhr fort: »Wenn Sie tatsächlich zur Klinik fahren, könnten
Sie mir einen Gefallen tun und mich mitnehmen.«
Mrs. Jones runzelte die Stirn. »Darf ich den Grund erfahren, Mr. Sinclair?«
»Ich möchte mir die Klinik gern einmal ansehen.«
»Es gibt doch Besuchszeiten«, warf Rebbie ein.
Ich lächelte. »Da bekomme ich aber nicht alles zu sehen.«
Rebbies hübscher Mund bekam einen verkniffenen Zug. »Sie wollen also herumschnüffeln, habe ich
recht?«
»Vielleicht.«
Rebbie ließ sich nicht beirren. »Spielen Sie mit offenen Karten, Mr. Sinclair. Welches Interesse
haben Sie an der Klinik? Bisher habe ich noch nichts Nachteiliges über das Sanatorium gehört. «
Ich hatte mir längst eine Meinung über die beiden Frauen gebildet. eine positive. Aus diesem Grund
beschloss ich, mein Inkognito zu lüften. Ich präsentierte den beiden Damen meinen Ausweis.
Mrs, Jones setzte sich die Brille auf und studierte das Dokument.
Ihre Tochter bekam große Augen. »Polizei?« fragte sie.
Ich nickte und steckte den Ausweis wieder ein.
Mrs. Jones packte hastig ihre Brille ein. »Stimmt mit der Klinik etwas nicht, Mr. Sinclair?«
»Das möchte ich gerade herausfinden.« Ich drehte mich und winkte Suko herbei. Der Chinese setzte
sich zu uns an den Tisch und ich stellte meinen Freund vor.
Mittlerweile war auch Rebbie aufgetaut. Sie bewarf mich nicht mehr mit bösen Blicken, im
Gegenteil, sie lächelte mich an. Ich wurde für die kleine Wildkatze plötzlich interessant. Und ehrlich
gesagt, es war mir angenehm.
Rebbie Jones trank einen Schluck. »Gesetzt den Fall, wir nehmen Sie mit, Mr. Sinclair. Und gesetzt
den Fall, in der Klinik geht es nicht mit rechten Dingen zu, wie Sie sagen. Befindet sich meine Mutter
dann nicht in grosser Gefahr?«
»Sicher. Aber sie wird bald aus der Klinik >entlassen<.«
Rebbie blickte mich verwundert an, und auch ihre Mutter verstand nicht so recht.
»Jetzt ist mir noch mehr unklar«, meinte sie. »Ich soll in die Klinik fahren und dann wieder
verschwinden?«
»Ja. Nehmen Sie irgendeine Ausrede. Sagen Sie einfach, Sie hätten es sich überlegt und würden
vielleicht noch einmal wiederkommen. Mir kommt es darauf an, ungesehen auf das Grundstück zu
gelangen. Das ist alles.«
»Was geht da überhaupt vor?« wollte Rebbie wissen.
»Ich weiß es selbst nicht, Miss. tut mir leid.«
Rebbie und ihre Mutter tauschten einen Blick. »Was meinst du, Mum? Sollen wir zustimmen?«
Mrs. Jones lächelte. »Ja. Ich bin dafür. Jeder Bürger sollte der Polizei helfen. Und wenn wir damit
ein Verbrechen aufdecken oder verhindern können ... «
»Sie sind wunderbar, Mrs. Jones«, lobte ich die alte Dame. »Es müsste mehr Menschen von Ihrer Art
und mit Ihrer Einstellung geben. «
»Was geschieht mit Ihrem Freund?« fragte Rebbie. »Kommt er auch mit?«
»Nein, Suko wird mir den Rücken decken. Ich stehe mit ihm über Sprechfunk in Verbindung. Sie
sehen also, um uns brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. «
»Alte Profis, wie?«
»So ungefähr.« Ich bot Zigaretten an. Rebbie nahm ein Stäbchen. Ich gab ihr Feuer und fragte: »Der
Rover dort vor dem Gasthaus, gehört er Ihnen?«
»Ja.«
»Dann habe ich im Fond noch Platz. Ich werde mich zwischen die Vorder- und Hintersitze legen und
hoffen, dass niemand auf die Idee kommt, einen Blick in den Wagen zu werfen. «
»Wir drücken Ihnen die Daumen«, meinte Rebbie und lächelte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Das
hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass wir einmal der Polizei helfen würden. Was so ein
Lotterielos alles ausmachen kann.«
»Wovon reden Sie?«
»Meine Mutter hat zwei Millionen
Pfund in der Lotterie gewonnen. Haupttreffer. Und da sie sich immer mal eine Schönheitsoperation
leisten wollte, hat sie sich in diesem Sanatorium angemeldet. Das ist die ganze Geschichte.«
Wir leerten die Gläser und tranken dabei auf einen glücklichen Ausgang des Unternehmens. Ich war
sicher, dass den beiden Frauen nichts geschehen würde.
Selten in meinem Leben hatte ich mich so geirrt ... «
Wäre die Situation nicht so makaber gewesen, hätte Bill Conolly vielleicht gelacht. So aber war ihm
mehr nach Heulen zumute.
Er wurde an einen Zoo erinnert. Nur hockten dort die Tiere hinter Gittern. Hier war es umgekehrt.
Der Reporter hatte es sich auf dem Boden bequem gemacht. Seine Aufpasser waren nicht
zurückgekommen, sie ließen ihn schmoren.
Und dies schon seit zwei Stunden.
Hin und wieder flackerten die Glühbirnen. Manchmal setzte sogar eine ganz aus, doch nach einer
gewissen Zeit brannte sie wieder.
Die Stille zerrte am meisten an Bills Nerven. Kein Wassertropfen, kein Knarren - nichts unterbrach
die drückende Monotonie. Die Schläge hatte der Reporter mittlerweile verdaut. Sein Kopf hielt einiges
aus.
Er fragte sich, was man mit ihm vorhatte. Verhungern lassen wollten sie ihn bestimmt nicht. Er
wurde gebraucht, sonst hätten sie ihn schon gekillt. Ein anderer an Bills Stelle hätte vielleicht die
Nerven verloren, nicht so der Reporter. Er befand sich nicht zum erstenmal in einer ausweglos
erscheinenden Situation.
Wenn nur diese verdammten Käfige nicht gewesen wären.
Bill fand noch Zigaretten in seiner Tasche und auch Streichhölzer. Er grinste. Jetzt sah die Welt
schon ganz anders aus. Er klopfte sich ein Stäbchen aus der zerknitterten Packung, zündete es an und
rauchte mit Genuß.
Doch es gelang ihm nicht, den Glimmstengel zu Ende zu rauchen.
Die Kellertür wurde aufgestossen.
Plötzlich füllten Stimmen und Schreie das Gewölbe.
Bill erhob sich und trat die Zigarette aus. Er ging bis dich an das Gitter. Von hier aus konnte er die
Treppe überblicken.
Da kamen sie!
Alte Menschen. Männer und Frauen. Mit erhobenen Armen und zu drohenden Fäusten geballten
Händen.
»Tod!« brüllten die ersten. »Tod dem Verräter! «
Für Bill bestand kein Zweifel, dass er gemeint war.
Die ersten hatten bereits die Treppe hinter sich gelassen. Die anderen drängten und schoben nach.
Keiner konnte schnell genug an den Käfig kommen.
Bill Conolly trat sicherheitshalber zurück.
Dann stand die Meute vor dem Käfig.
Hände umkrallten die Gitterstäbe. Verzerrte Gesichter starrten den Reporter an. Und eins hatten sie
alle gemeinsam.
Den Hass!
Hass, der aus ihren Augen blitzte und Bill entgegenströmte, dass ihn schauderte.
»In die Hölle mit ihm! « schrie ein altes Weib mit faltiger Haut und dicken Krähenfüssen unter den
Augen.
»Der Teufel soll ihn fressen! « brüllte eine andere.
Sie rüttelten an den Gitterstäben. Zwei Männer spien nach dem Reporter, trafen aber nicht.
Ein weisshaariger Greis presste sich hart gegen das Gitter, löste seine Hände von den Stäben und
versuchte, Bill zu packen. Seine Finger erinnerten an Geierklauen.
»Erwürgen! « schrie der Kerl. »Erwürgen werde ich dich. Komm näher. Ich will deinen Hals
zudrücken! «
Die anderen schrieen und tobten. Einige liefen um den Käfig herum, um von der Rückseite her den
Reporter zu packen.
Hastig trat Bill zwei Schritte vor.
Eine Hand streifte ihn an der Schulter, krallte sich dann in den Stoff der Jacke fest.
Bill schlug zu.
Der Kerl, der den Schlag mitbekommen hatte, brüllte auf. Er zog seinen Arm zurück.
Bill Conolly schwitzte. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und sich die Ohren zugehalten.
Er konnte das Geschrei der Meute nicht ertragen.
Aber was waren das für Menschen?
Wahnsinnige? Normale? Vielleicht waren es Dämonen.
Blutunterlaufene Augen starrten Bill an. Frauen und Männer benahmen sich gleich schlimm.
Bill sah teuren wertvollen Schmuck. Goldketten hingen um faltige Hälse. Prächtige Ringe glitzerten
an dürren Fingern.
Und Bill Conolly verstand, warum diese Menschen ihn so haßten. Er wusste nun auch, wer sie
waren.
Die Alten, die sich ihre Hoffnung teuer erkauft hatten. Die diesen van Cordtland für etwas bezahlten,
das er ihnen geben sollte.
Aber was war es?
Bill zermarterte sich das Hirn, während er immer wieder um sich schlug, um den Krallenhänden zu
entgehen.
Alte Menschen in einem Sanatorium. Sie schrieen ihm Sätze ins Gesicht. Anklagen. Er wolle ihre
Hoffnungen zerstören.
Doch welche?
Worauf hoffte ein alter Mensch noch?
Und da hatte Bill Conolly die Lösung. Sie hofften auf Jugend, auf Schönheit, auf...
Stille!
Von einer Sekunde zur anderen verstummten die Schreie. Die Menschen traten von dem Käfig
zurück, wandten ihre blutunterlaufenen Augen der Treppe zu.
Und dort erschien ein Mann.
Wie ein Despot trat er durch die
Kellertür.
Es war Roger van Cordtland!
»Wir sind da!« flüsterte Rebbie Jones vom Beifahrersitz aus. Sie wandte dabei nicht mal den Kopf,
so konnte auch kein zufälliger Beobachter auf mich aufmerksam werden.
Ich lag im Fond, eingeklemmt zwischen Hinter- und Vordersitze. Von Suko hatte ich mich schon
unten im Dorf getrennt. Mein chinesischer Partner wollte versuchen, sich zu Fuß an das Sanatorium
heranzuschleichen.
In der rechten Hand hielt ich das Walkie Talkie. Es hatte eine Reichweite von ungefähr zweieinhalb
Meilen. Nach einer ersten Verständigungsprobe gab ich ihm jetzt einen Lagebericht.
»Wir stehen vor dem Tor.« Ich sprach sehr leise in das Mikrophon.
Verzerrt kam sein >Okay< zurück.
»Melde mich wieder, wenn ich auf dem Gelände bin! « Ich ließ das Gerät in der Innentasche der
Jacke verschwinden.
Mrs. Jones musste aussteigen, und ihre Tochter erklärte mir, was sie machte.
»Sie geht jetzt in ein kleines Wärterhäuschen. «
»Wie sieht das Tor aus?« wollte ich wissen. »Muss es mit der Hand geöffnet werden?«
»Nein. Ich glaube, es lässt sich elektrisch bewegen.
»Okay, beobachten Sie weiter.«
Etwa eine halbe Minute lang geschah nichts. Nur der Motor brummte im Leerlauf.
»Meine Mutter kommt jetzt zurück«, meldete Rebbie.
Mrs. Jones stieg in den Wagen. »Was ist?« fragt Rebbie.
» Wir müssen zu Dr. van Cordtland. « »Und dann?«
Der Rover setzte sich in Bewegung. »Ich weiß nicht. Er soll entscheiden.«
»Wenn wir da mal keinen Fehler gemacht haben.« Die Stimme des Girls klang besorgt.
Und auch ich machte mir meine Gedanken. Mein Optimismus hatte einen Dämpfer bekommen. Ich
hätte die beiden Frauen doch nicht so leichtsinnig in den Fall mit hineinziehen sollen.
»Wir fahren jetzt auf den Parkplatz«, erklärte mir Rebbie. »Er liegt direkt neben dem größten
Bungalow.«
»Ist van Cordtland schon zu sehen?« flüsterte ich.
»Nein, niemand ...«
»Verdammt. Das gefällt mir nicht.« »Denken Sie, mir?«
Mrs. Jones begann zu lachen. »Kinder, ihr seht Gespenster. Regt euch doch nicht auf. Es wird schon
alles ...«
Sie stockte.
Dafür stieß Rebbie einen erstickt klingenden Schrei aus.
»Was ist los?« zischte ich.
Rebbie schrie »Fahr wieder, Mutter. Fahr um Himmels willen! «
Zu spät.
Plötzlich wurden die beiden vorderen Türen des Rovers aufgerissen. Der Wagen machte einen
Bocksprung wie eine Ziege, dann war der Motor abgewürgt.
»Verdammt, lassen Sie mich! « schrie Rebbie. »Sind Sie wahnsinnig, Sie Dreckskerl?«
Rebbie verstummte. Genau wie ihre Mutter wurde sie aus dem Wagen gezerrt. Durch den Spalt
zwischen Rückenlehne und Beifahrertür konnte ich
sehen, wie die beiden Frauen von grobschlächtigen Kerlen weggeschafft wurden. Rebbie wehrte sich
noch, ihre Mutter nicht.
Meine Mission oder mein Plan war gescheitert. Glasklar erkannte ich dies. Ich musste den Frauen
zu Hilfe kommen, das war ich ihnen schuldig.
Doch ehe ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, warf sich ein bulliger Mann hinter das
Steuer. Hart knallte er beide Vordertüren zu.
Der Zündschlüssel steckte noch. Der neue Fahrer brauchte ihn nur herumzudrehen.
Sanft fuhr der Rover an. Mit mir als blindem Passagier, denn mich hatte der Kerl noch nicht
gesehen.
Er lenkte den Rover in eine Kurve. Für mich wurde es Zeit, etwas zu unternehmen.
Unendlich vorsichtig richtete ich mich auf. Als ich auf den Knien hockte, wurde ich noch von der
hohen Rückenlehne des Rovers gedeckt. Unhörbar zog ich die Beretta aus der Halfter.
Dann drückte ich die Mündung dem Typ in den Nacken.
»Und jetzt fahr ruhig weiter«, befahl ich. »Tu so, als wäre nichts. Und was du am Hals spürst ist die
Mündung einer Pistole. Ich brauche nur den Finger krummzumachen, und du bist gewesen.
Verstanden?«
Der Typ brummte irgend etwas, vielleicht eine Zustimmung.
Es war mittlerweile dunkel geworden. Zusätzlich hatte der Fahrer noch die Scheinwerfer gelöscht.
Ich blickte an der Schulter des Kerls vorbei. Der Typ ließ den Rover auf einen mit Kies bestreuten
Platz rollen, der an der Vorderseite von einem Gebüschgürtel begrenzt wurde. Fast fuhr er mit der
breiten Schnauze in die Sträucher.
Der Motor erstarb. Es wurde still.
»Aussteigen! « befahl ich flüsternd. »Und denk daran, keine Dummheiten, mein Freund! «
Er öffnete die Fahrertür, und ich kletterte durch die Hintertür aus dem Wagen. Während dieser
Aktion war die Mündung der Beretta immer auf seinen Nacken gerichtet.
In solchen Dingen war ich ein Profi.
Wir befanden uns ein ziemliches Stück von den Bungalowblocks entfernt. An der westlichen Grenze
des Grundstücks. Trotz der Dunkelheit glaubte ich, jenseits des Gebüschgürtels die Umrisse der Mauer
schimmern zu sehen.
Der Kerl ließ die Fahrertür ins Schloss schnappen. Ich blickte ihn mir genau an. Er wandte mir jetzt
das Gesicht zu, und ich sah die kleinen tückischen Augen, den fast kahlgeschorenen Kopf und die
tellergrossen Hände. Der Kerl hatte bestimmt nicht weniger Kraft als Suko, und mir wurde trotz der
Waffe ganz anders. Ich hatte noch nicht gewonnen.
Breitbeinig baute ich mich vor ihm auf. Hielt den rechten Arm mit der Beretta ausgestreckt. Die
Mündung deutete genau auf die Brust dieser Mordmaschine.
»All right«, sagte ich. »Jetzt stelle ich die Fragen. Was geschieht mit den beiden Frauen? Wo sind
sie hingebracht worden? Los, rede! «
Er sprach nicht, er grinste. Dann hob er die fast schrankbreiten Schultern, senkte den Kopf etwas und
schlug mit der rechten Pranke zu.
Es war ein mörderischer, blitzschnell geführter Schlag. Die Beretta wurde mir aus den Fingern
gewirbelt, prallte mit einem dumpfen Geräusch auf das Autodach und rutschte zu Boden.
Im nächsten Augenblick kam die Linke des Kerls. Sie fegte mich zu Boden. Ich hörte Engel singen.
Hätte der Kerl jetzt nachgesetzt, wäre es aus mit mir gewesen. Doch er wollte mich nicht mit seinen
Pranken umbringen, sondern mit einem ganz gemeinen Instrument.
Mit einem Schädelbrecher!
Ich kannte diese Dinger von Bildern. Die Indianer im Wilden Westen hatten sich mit diesen Waffen
verteidigt. Der Form nach erinnerten sie an eine Wünschelrute. der Metallstab teilte sich in der Mitte.
Zwischen den beiden Enden steckte eine Bleikugel.
Das Gebirge von Mensch walzte auf mich zu. Schwer wie ein Elefant trampelte er näher.
Ich konnte wieder einigermaßen klar denken, obwohl meine linke Gesichtshälfte noch brannte. Auf
dem Rücken lag ich, und als der Kerl nah genug vor mir war, hakte ich blitzschnell meinen rechten
Fuß um sein linkes Bein.
Mit einem Ruck krachte der Schläger zu Boden.
Rasch war ich auf den Beinen, sprang ihn mit den Füssen zuerst an und stieß ihn zurück, als er sich
wieder aufrichten wollte.
Er prallte mit dem Kopf gegen den linken Vorderreifen des Rovers.
Und dann machte ich einen Fehler. Ich suchte meine Beretta, gab dem Kerl so Zeit, sich
aufzurichten.
Er kam. Schneller als ich gedacht hatte. Der verdammte Schädelbrecher pfiff durch die Luft, und nur
mein rascher Sprung zur Seite rettete mir das Leben.
Das Mordinstrument zertrümmerte fast das Blech des hinteren Kotflügels. Keuchend wirbelte der
Muskelprotz herum. Er knurrte wie ein Raubtier, als er sich mir zudrehte.
Meine Handkante war schon unterwegs, doch mit einem blitzschnellen Hochreißen seines linken
Arms fing er den Schlag ab.. Dafür schickte er einen Tritt auf die Reise, dem ich nur ungenügend
ausweichen konnte und der mich an der rechten Hüfte traf.
Eine Sekunde später wälzte ich mich am Boden.
Das Gebirge warf sich auf mich, den Schädelbrecher hatte es zum Schlag erhoben.
Wieder rettete mich meine Schnelligkeit. Wie eine Kugel rollte ich mich ein paar Mal um die eigene
Achse.
Der Muskelprotz sprang daneben, und der Schädelbrecher pflügte den Boden auf.
Beide sprangen wir zur gleichen Zeit auf. Wieder kam der Schläger breitbeinig auf mich zu. Er hatte
die Arme am Körper herabhängen, achtete gar nicht auf seine Deckung. Bei seinen Kräften konnte er
die Deckung mit ruhigem Gewissen vernachlässigen.
Mir wurde angst und bange. Langsam bekam ich das Gefühl, dass mir mein Gegner überlegen war.
Und da hatte ich die Idee. Wenn ich mit bloßen Fäusten schon nichts ausrichtete, dann musste ich zu
einem Trick greifen.
Und zu dem Trick brauchte ich den Rover.
Mit ein paar Schritten lockte ich den Schläger von dem Wagen weg. Ich grinste ihn sogar noch an.
»Komm schon, Freund, komm ... «
Er schlug nach mir, doch der Schädelbrecher zerteilte nur die Luft.
Unter dem nächsten Schlag tauchte ich hinweg, war plötzlich am Mann und hebelte ihn zu Boden.
Er fiel auf den Rücken und überschlug sich.
Ich gewann Zeit, hetzte zu dem Wagen und warf mich hinter das Lenkrad. Sofort verriegelte ich die
Türen.
Zum Glück hatte der Kerl den Zündschlüssel stecken lassen. Satt brummte der Motor auf.
Ich legte den Rückwärtsgang ein und setzte nach hinten.
Der Muskelprotz sprang auf, er wollte nicht überrollt werden. Aber das hatte ich auch nicht vor.
Mein Plan war zwar riskant, aber er musste klappen.
Vorwärtsgang. Eine Kurve.
Ich jagte auf ihn zu.
Er sprang zur Seite und fluchte dabei laut.
Ich zog die Kurve enger. Der Kies spritzte wie Hagelkörner unter den breiten Reifen weg. Das Heck
versuchte auszubrechen, doch ich hielt den Rover unter Kontrolle.
In den ersten Sekunden rannte der Kerl weg. Er wurde getrieben wie ein Hase von einem Jagdhund,
dann hatte er sich gefangen und unternahm etwas.
Jetzt kam es darauf an.
Von der Fahrerseite her griff das Gebirge an. Er hielt sich mit der linken Hand am Außenspiegel fest,
sein Gesicht tauchte dicht hinter der Seitenscheibe auf, die rechte Hand hatte er zum Schlag erhoben.
Behalte die Nerven, John! hämmerte ich mir ein.
Da drosch er zu.
Ich warf mich nach links. Die Scheibe zerplatzte. Splitter regneten in das Innere des Rovers.
Ich drückte aufs Gas.
Der Wagen wurde noch schneller. Weiter riss ich das Lenkrad herum, der Rover geriet ins
Schleudern.
Die Fliehkräfte wurden größer, rissen auch den menschlichen Bullen mit. Er schrie, als er
mitgeschleift wurde, wollte aber nicht loslassen.
Vor mir sah ich den Gebüschgürtel.
Jetzt oder nie!
Bis zum Anschlag presste ich meinen Fuß auf das Gaspedal. Der Rover jagte geradeaus, wurde noch
schneller.
Ich ließ Lenkrad, Pedale und Kupplung los, ließ mich auf den Beifahrersitz fallen und hoffte, dass
mein Plan gelang.
Der Rover raste in das Gebüsch. Es ging abwärts. Er machte einen Sprung, kippte vornüber. Das
Heck hob sich. Ich wurde durcheinandergeschüttelt, stieß irgendwo hart mein Knie, hörte den Motor
gequält heulen, wurde noch einmal hochgeschleudert und lag dann still.
Der Wagen stand.
Ich warf die Beifahrertür auf. Der Rover hatte sich mit den Reifen tief in die Erde gewühlt. Auch
die Schnauze steckte im Dreck.
Und der Schläger.
Er lag auf dem Boden. Den Seitenspiegel hielt er in der linken Hand, der rechte Arm lag unter
seinem Körper vergraben. Der Kerl war ziemlich groggy, aber nicht bewusstlos.
Für den zweiten Zustand sorgte ich. Mit der Handkante schickte ich ihn ins Reich der Träume.
Der Schläger wurde schlaff. Ich rollte ihn zur Seite, nahm den verdammten Schädelbrecher an mich
und warf ihn weg. Dann kroch ich keuchend aus dem Gebüsch hervor.
Der Kampf hatte mich geschlaucht. Verdammt. Ich rannte auf den provisorischen Parkplatz zu.
Beinahe wäre ich auf meiner Beretta ausgerutscht. Zufrieden steckte ich die Waffe ein.
Die Frage war nur, wie ging es jetzt weiter?
Sekunden später hatte ich die Antwort. Das Gesetz des Handelns wurde mir aus der Hand
genommen.
Tanzende Lichter blitzten in der Dunkelheit auf. Ich hörte Schreie und eine befehlsgewohnte
Stimme.
Sie suchten mich. Es lag auf der Hand, dass mein Eindringen nicht unbemerkt geblieben war. Sie
hatten zur Hetzjagd geblasen. Nur war das Wild kein Tier, sondern ein Mensch.
Doch der konnte sich wehren ...
Die Alten bildeten eine Gasse, stellten sich so hin, dass Roger von Cordtland hindurchschreiten
konnte.
Und er kam.
Schritt für Schritt ging er die Stufen hinunter. Hochaufgerichtet, königlich, wie ein Herrscher, der zu
seinem Volk hinuntersteigt, um es zu begrüßen.
Das Licht reichte aus, um den Mann zu erkennen.
Bill Conolly war beeindruckt. Er hatte sich unter van Cordtland einen dämonischen Typ vorgestellt,
doch er sah sich enttäuscht.
Der Arzt wirkte wie ein Gentleman. Er war schlank, und der taillierte Anzug betonte seine Figur.
Der Arzt hatte ein hageres Gesicht, und am Kinn wuchs ein Knebelbart. Die Nase sprang wie ein Erker
aus dem Gesicht hervor. Der dünnlippige Mund wirkte, als wäre er mit dem Messer in die Haut
geschnitten worden.
Das graue Haar war gescheitelt und floss in natürlichen Wellen bis dicht an die Ohren.
Roger van Cordtland war unbewaffnet. Bei ihm hatte man das Gefühl, dass er keine Waffe
benötigte. Der Mann wirkte allein durch seine Persönlichkeit.
Hinter ihm erschienen zwei Kittelträger. Wie ergebene Hunde folgten sie dem Mann.
Van Cordtland brachte die Treppe hinter sich und blieb vor dem Gitter stehen. Niemand sprach ein
Wort. Roger van Cordtland und Bill Conolly fixierten sich. Die übrigen Menschen wagten kaum noch
zu atmen.
Schließlich war es Bill, der den Blick senkte. Um van Cardtlands Lippen geisterte ein spöttisches
Lächeln. Er hatte gesiegt. Jeder beugte sich seinem Willen.
»Wer sind Sie?« fragte er. Seine Stimme klang sonor, wurde durch die herrschende Akustik noch
verstärkt und hinterließ bei Bill einen sympathischen Eindruck.
Überhaupt gefiel ihm der Mann. Der Reporter lächelte.
Und van Cordtland erwiderte die Geste.
Bill ahnte nicht, dass er bereits dem Dämonischen Einfluss des Mannes erlegen war. Und dabei hatte
van Cordtland nicht viel getan. Er hatte Bill nur angesehen.
»Ich heiße Bill Conolly«, antwortete der Reporter wahrheitsgemäß.
»Und warum wollten Sie sich gegen mich stellen?« erkundigte sich van Cordtland. »Habe ich Ihnen
etwas getan?«
»Nein ... das nicht.« Bill runzelte die Stirn, als würde er über irgend etwas angestrengt nachdenken.
»Was war es dann, was sie hergetrieben hat?«
»Ich bin nicht von allein gekommen, Sir. «
»Sorry, ich vergaß. Meine Männer haben Sie ja zu mir geschafft. Aber sie mussten einen Grund
haben. Welchen Grund haben Sie ihnen gegeben?«
»Da waren die Bilder. Eine unselige Angelegenheit.« Bill winkte ab und blickte sich um. Er fühlte
sich unwohl. »Können Sie nicht vielleicht ...?« Er breitete die Arme aus und machte eine hilflose
Bewegung.
»Aber sicher, mein Lieber.« Einer seiner Männer bekam einen Wink.
Der Kittelträger schloss auf. Bill durfte seinen Käfig verlassen. »Ich danke Ihnen«, sagte er.
Van Cordtland lächelte. »War mir ein Vergnügen. Aber jetzt erzählen Sie weiter, Mr. Conolly. «
»Ja, natürlich.« Bill legte zwei Finger gegen die Stirn. »Wo war ich stehengeblieben. Ach so, ja. Ich
bekam die Bilder. Von William F. Masters, einem Bekannten. Er lebt nicht mehr. Aber das ist
Nebensache. Ich ging mit den Bildern zu meinem Freund John Sinclair ... «
»Dem Geisterjäger!« zischte van Cordtland. Zum erstenmal zeigte sein Gesicht eine Reaktion.
Sekundenlang verzerrte es sich zu einer haßerfüllten Grimasse. Doch rasch hatte er sich wieder in der
Gewalt.
Und Bill Conolly erzählte. Er berichtete alles, hatte sein eigenes Ich völlig vergessen. Er war, ohne
es zu merken, in den Bann des Teufels geraten.
»Wollen sie hier bleiben?« stellte van Cordtland mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen die
Frage.
Bills Augen leuchteten. »Ja.« Dann blickte er sich um. Er sah in die gespannten bleichen Gesichter
der alten Menschen, und er konnte das Interesse lesen, das in ihren Augen stand.
Sahen sie ihn als Opfer an?
Bill war es egal. Willenlos unterwarf er sich diesem Arzt.
Dr. van Cordtland trat auf Bill Conolly zu und legte ihm freundschaftlich einen Arm um die
Schulter. »Können Sie spielen? « fragte er.
Bill blickte ihn erstaunt an. »Was meinen sie damit? «
»Ja. Hin und wieder.«
»Na, das ist fabelhaft, dann werde ich Sie zum Roulettspiel einladen. Sie sind mein Gast. «
»Und was ist das für ein Roulettspiel, um das Sie solch ein Geheimnis machen?«
»Es ist das Totenkopf-Roulett, mein Lieber! Ein richtiges Geister-Roulett.
Rebbie Jones wehrte sich. Sie schlug, biss und kratzte, während ihre Mutter apathisch in den Klauen
der Männer
hing und kurzerhand mitgeschleift wurde.
Rebbie machte sich steif, stemmte beide Füße ein, drehte sich und hämmerte ihrem Bewacher die
Fäuste in das Gesicht.
Der zuckte nicht einmal zurück, steckte die Schläge ein, die für ihn nicht mehr waren als
Mückenstiche.
Er schleifte Rebbie weiter. Durch einen langen kahlen Flur mit glatten Wänden.
»Lasst mich los, ihr Schweine! « schrie Rebbie. »Lasst mich los, verdammt! «
Der Mann kümmerte sich nicht um ihr Geschrei. Sein Griff wurde noch fester, und als Rebbie sich
auch dagegen wehrte, wurde sie kurzerhand hochgestemmt und lag im nächsten Moment auf der
linken Seite ihres Gegners.
Er schleppte sie weg. Ging mit ihr auf eine Tür zu, durch die ihre Mutter wenige Sekunden vorher
verschwunden war.
Mit der rechten Hand riss der Mann die Tür auf.
Er betrat mit seinem Opfer einen Spielsaal. Rebbie sah den Roulettisch, den Kronleuchter, der von
der Decke hing, und leere gepolsterte Stühle.
Auf dem grünen Filz lagen die Jetons schon bereit. Die Roulettschüssel glänzte wie frisch poliert.
Die Gruppe durchquerte das Spielzimmer und blieb vor einer Tür stehen. Die beiden Männer standen
jetzt neben ihren Opfern. Sie warfen sich noch einen Blick zu, nickten dann, und einer von ihnen zog
die Tür auf.
Im gleichen Augenblick schrie Rebbie auf.
Aus der Türöffnung drang ein markerschütterndes Heulen. Die Dunkelheit hinter dem Eingang war
wie eine zerfließende Masse, bewegte sich, formte Figuren und Kreise. Rebbie hatte das Gefühl, vor
ihr würde sich ein riesiges Maul öffnen, der Rachen, der alles verschlang oder mit in eine finstere
Hölle zog.
»Mutter!« brüllte sie. Doch dann erstickte ihre Stimme in einem Wimmern.
Sie bekam mit, was der Kerl mit ihrer Mutter machte. Er hatte sie vorher auf den ausgebreiteten
Armen getragen, hob sie jetzt hoch und schleuderte sie in die brodelnde Finsternis hinein.
Wie eine Puppe verschwand Rebbies Mutter in der Dunkelheit, wurde kleiner und kleiner und
schliesslich von der Schwärze aufgesaugt.
Rebbie stand das gleiche Schicksal bevor.
Verzweifelt begann sie, sich zu wehren. Sie trommelte mit den Fäusten auf dem Rücken ihres
Peinigers - herum, schrie und wand sich, doch der Griff, mit dem der Mann Rebbie festhielt, war
eisenhart.
An den Beinen wurde sie gepackt und von der Schulter gerissen. Ihre Finger klammerten sich an
dem Kittelstoff fest, rissen daran, als wollten sie ihn nie mehr loslassen.
Ohne Erfolg. Sie kam gegen die urwüchsige Kraft nicht an.
Rebbie wurde hochgehoben, schwebte sekundenlang in der Luft, sah diese gähnende schreckliche
Finsternis vor sich, hatte das Gefühl, den Atem der Hölle zu spüren, und wurde mit Vehemenz in den
schwarzen wirbelnden Trichter hineingestossen.
Ihr Schrei verlor sich in der Unendlichkeit der Dimensionen
Für mich wurde es kritisch.
Meine Häscher waren doch näher, als ich gedacht hatte. Ich hörte ihre Stimmen, mit knappen,
halblauten Befehlen und ein seltsames Knurren und Hecheln.
Hunde!
Die Kerle hatten Hunde.
Ich presste die Lippen zusammen und überlegte. Nach vorn konnte ich nicht. Zur Seite ebenfalls
nicht. Blieb nur noch ein Weg. Zurück. Aber da war der Gestrüppgürtel und dahinter die Mauer mit
der elektrischen Sicherung.
Verdammtes Spiel.
Mein Kampf mit dem Bullen war nicht geräuschlos über die Bühne gegangen. Und wenn die anderen
auch solche Kräfte hatten wie der Gegner zuvor, konnte ich einpacken. Viele Hunde sind des Hasen
Tod, das traf bei mir bald wörtlich zu.
Ich machte mich auf einen ehrenvollen Rückzug. Und dabei wollte ich Suko informieren. Unter
Umständen konnte er mir noch behilflich sein.
Ich wollte das Sprechgerät aktivieren. Es blieb beim Vorsatz. Das Gerät war zerstört, kaputt, wie
immer Sie wollen. Es hatte den Kampf nicht überstanden.
Meine Chancen waren gesunken.
Geduckt huschte ich zurück. Tauchte ein in den Gestrüppgürtel. Das Wetter meinte es gar nicht gut
mit mir. Der Himmel war blank. Der Halbmond sah aus wie eine große gelbe Sichel. Für meinen
Geschmack gab er zu viel Licht.
Zweige und knorriges Gewächs schlugen mir wie Gummiruten um die Ohren. Ich wollte einen
Bogen schlagen und versuchen, die Mauer an einer weniger gefährlichen Stelle zu überklettern. Die
Alarmanlage auszuschalten, traute ich mir schon zu.
Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Meine Häscher holten auf. Klar, sie kannten das Gelände wie andere Leute ihre Westentasche.
Aus dem Knurren wurde ein Bellen. Hatten die Köter meine Spur aufgenommen?
Sie hatten.
Seitlich von mir knackte und brach es. Im nächsten Moment flog mir eine der Bestien entgegen. Ein
Tier mit Zähnen
wie Dolche. Hellschimmernd im Fell und schwer.
Doch ich war auch nicht langsam, kauerte mich zusammen und schnellte dann hoch. Meine
Handkante hatte die Wucht einer Axt. Hier ging es um mein Leben, und Rücksicht konnte ich nicht
nehmen. Nicht auf die verdammten Bluthunde.
Ich traf.
Die Zähne und die herausgestreckte Zunge verschwanden. Bevor der Köter mich berühren konnte,
fiel er zu Boden. Er jaulte noch und lag dann still.
Eine Pause gönnte ich mir nicht, sondern jagte weiter. Mit zwei weiteren Hunden auf den Fersen.
Ich hörte sie hinter mir hecheln. Mit Brachialgewalt stürmten sie durch die Büsche.
Ich schlug Haken, so gut es ging. Einmal rutschte ich aus, konnte mich aber wieder fangen und
rannte weiter.
Auch die Häscher hatten mich jetzt entdeckt. Sie brüllten sich gegenseitig aufmunternde Worte zu.
Und dann rutschte ich wirklich aus. Über ein Gitter, das im Boden eingelassen war. Am mittleren
Stab hing ein Eisenring, durch den man das Gitter in die Höhe ziehen konnte. Ich fiel nach vorn, mit
dem Gesicht auf die stachligen Zweige.
Sofort warf ich mich herum.
Der Schatten flog schon auf mich zu wurde größer, und ich sah in die aufgerissene Schnauze eines
Bluthundes. Der Köter wollte mir die Kehle zerfetzen.
Ich packte zu. Wie eine Stahlklammer waren meine Hände, als sie den Hals des Hundes umkrallten.
Eine Handbreit vor meinem Gesicht sah ich die Reißzähne schimmern.
Mensch gegen Tier! Wer hatte die größeren Kraftreserven?
Es war ein verzweifeltes Ringen, und ich bekam es mit der Angst zu tun, als ich aus den
Augenwinkeln den zweiten
Bluthund bemerkte, der mich aus seinen tückischen Augen belauerte.
So fest es ging, drückte ich zu. Die Augen quollen mir dabei aus den Höhlen. Dick lag der Schweiß
auf meiner Stirn.
Der Hund erschlaffte und rollte schwer zur Seite. Meine weiteren Reaktionen wurden von Reflexen
ausgelöst. Ich hechelte zur Seite, riss gleichzeitig meine Beretta hervor und feuerte.
Die Kugel traf die andere Bestie in den Schädel. Sie fiel zurück, zuckte mit den Beinen und lag
dann still.
Ich sprang auf.
Sie kamen wie eine Woge. Urplötzlich waren meine Häscher da, stürzten sich über mich und
begruben mich mit ihren Körpern.
Ich kämpfte heldenhaft. Mir gelang es, für wenige Sekunden Luft zu bekommen. Ich konnte meine
Fäuste einsetzen, schaffte es auch, einen Kerl ins Reich der Träume zu schicken, aber damit hatte es
sich.
Etwas Grosses, Dunkles raste auf meinen Schädel zu. Ich wollte den Kopf noch zur Seite nehmen,
doch er fühlte sich plötzlich an wie mit Blei gefüllt.
Dann explodierte etwas an meiner Stirn. Ich sah nicht nur Sterne, sondern ein ganzes Weltall vor
meinen Augen aufblitzen. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Danach folgte die
Schwärze, die alles in sich einsaugte - auch mich ...
Rebbie Jones fiel und fiel. Seit dem Eintritt in diesen unendlich tiefen Schacht waren ihre Gedanken
und ihr Fühlen ausgeschaltet.
Sie wurde zum Spielball der magischen Kräfte.
Sie sah Dinge, von denen sie vorher noch nie etwas gehört hatte. Schreckliche, grauenhafte Monster
und Fabelwesen. Zyklopenhafte Untiere und Bestien, groß wie Titanen. Sie sah Friedhöfe wie am
Ende der Welt, sah den Tod in mannigfachen Gestalten und erlebte den Horror, den die Hölle für jeden
bereithielt.
Doch irgendwann war Schluss mit dieser rasenden Fahrt:
Rebbie kam zur Ruhe, konnte wieder normal denken und fühlen. Und sie lebte. Ein Zustand, der sie
selbst verwunderte.
Sie wollte gehen, doch das schaffte sie nicht. Sie schritt nicht über einen Boden, sondern trat auf der
Stelle, wie im Schwimmbad beim Wassertreten, nur dass sich unter ihr keine Flüssigkeit befand,
sondern Luft.
Oder war es ein Vakuum wie im All?
Der Gedanke erschreckte sie nicht einmal. Nicht nach alldem, was hinter ihr lag.
»Mutter?« Die Frage war nur ein Hauch.
Rebbie bekam keine Antwort.
Weit riss sie die Augen auf, versuchte, die Dunkelheit um sich herum mit Blicken zu durchdringen.
Aber nicht einmal den Umriss einer Gestalt machte sie aus.
Nur diese grausame Schwärze, die selbst die Seele eines Menschen zu fressen schien.
»Mutter ...?«
Sie schrie, suchte Kontakt, verlangte Schutz wie ein Kind.
Und es kam Antwort.
Schwach, wie ein verwehender Schrei im Wind.
»Rebbie ...«
»Mutter, ich ...«
Wieder wollte sie laufen, dem Klang der Stimme entgegenlaufen, ihre Mutter in die Arme
schließen, sie an sich pressen und die Wärme des Körpers spüren.
Weit streckte sie die Arme aus. »Komm doch, Mutter ... bitte ... komm zu mir.... «
Ihre Bewegungen wurden hilflos, schlapp und matt. Da spürte sie die Berührung. An ihrer rechten
Hüfte. Im ersten Augenblick zuckte sie zusammen, bis sich eine wärmende Hand in die ihre legte.
Die schützende Hand ihrer Mutter.
Ihr war, als ginge ein Kraftstrom von dieser Berührung aus. Ein Strom, der neues Leben brachte.
Die Wärme der Haut, die Nähe des Menschen, das Gefühl, nicht allein zu sein ...
In einer impulsiven Bewegung schlang sie ihre Arme um den Nacken der Mutter. Fest drückte sie
die Frau an sich.
»Mum«, flüsterte sie wie ein kleines Kind. »Ich hatte solch eine Angst. Es war so schrecklich. .. «
Hände strichen über ihr Haar. Beruhigend, liebkosend. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben,
Rebbie. Ich bin bei dir. Ich lasse dich nicht mehr los. « Die Stimme der alten Frau zitterte, ein Zeichen,
wie sehr auch sie von den Ängsten geplagt wurde. Doch sie wusste sich besser zu beherrschen, hatte
die größere Lebenserfahrung.
Sie standen da und umklammerten sich. Jeder war für den anderen der rettende Strohhalm. Die Zeit
wurde zu einem unwichtigen Faktor, bis Rebbie sich schließlich von ihrer Mutter löste.
»Wo ... wo sind wir hier?«
»Ich weiß es nicht, mein Kind.«
»Aber ... du spürst doch auch, dass wir schweben, nicht wahr?«
»Ja, Rebbie.«
»Können wir ... sind wir ... in der Hölle? Sieht so die Hölle aus, Mutter?«
»Es ist möglich, mein Kind.«
Rebbie begann zu weinen. Sie konnte dieses grausame Schicksal nicht ertragen. Diese Tür, durch die
man sie geworfen hatte, stellte sie den Eingang zur Hölle dar?
Plötzlich spürten die beiden Frauen unter ihren Füssen eine kreisende Bewegung. Etwas zog an ihren
Schuhen, wurde schneller und steigerte sich zu einem Wirbel.
Rebbie klammerte sich an ihrer Mutter fest. »Was ist das ... was ist?«
Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Eine nicht sichtbare Kraft riss sie gewaltsam in die Tiefe.
Mutter und Tochter hatten keine Chance.
Sie konnten nur hoffen - und beten.
Automatisch murmelten ihre Lippen die Worte, die die Kirche sie gelehrt hatte. Und sie fühlten, dass
sie nicht allein waren, dass die Gebete ihnen die Kraft gaben den Horror und all das Grausame zu
überstehen.
Dann schwebten sie nur noch. Und plötzlich hellte sich vor ihnen die Dunkelheit auf. Es war wie im
Kino. Ein helles, weißschimmerndes, rechteckiges Gebilde stand vor ihren Augen. So nah, dass sie das
Gefühl hatten es mit der Hand greifen zu können.
Doch die Fläche blieb nicht leer. Figuren tauchten darauf auf. Menschliche Figuren.
Zwei Frauen ...
Sie selbst!
»Nein!« Rebbie stieß den Schrei aus. »Mutter, das sind wir. Sieh doch, Mutter ... «
Mrs. Jones gab keine Antwort. Auch sie hatte das Grauen gepackt, als sie sah, was mit diesen
Figuren geschah.
Sie veränderten sich, wurden älter und jünger.
Bei Mrs. Jones fing es an. Wie im Zeitraffertempo sah sie Stationen ihres Lebens ablaufen. Sah sich
als voller blühte Frau, dann als frisch verheiratet. Ihr Gesicht lächelte. Es spiegelte die Freuden der
Hochzeitsnacht wieder. Sogar die alten Kleider trug sie noch. Damals hatte sie das Haar zu einem
Knoten gesteckt. Mit geschickten Fingern löste sie ihn. Das haar flatterte jetzt im Wind wie eine
Fahne. Die Augen strahlten, der Mund lachte ... «
Noch eine Station. Mrs. Jones als junges Mädchen. Als Backfisch, wie man damals sagte. Lachend,
fröhlich. Bei einem Picknick. Ein junger Mann, verschwommen im Hintergrund. Nur undeutlich war
sein Gesicht zu erkennen. Langsam zerfaserten die Konturen.
Das Bild des jungen Mädchens blieb. Es starrte die Frau an, lächelte, streckte den Arm aus.
Es kam immer näher. Die Finger der Hand waren nach innen gebogen, tauchten jetzt dicht vor Mrs.
Jones Gesicht auf.
Die alte Frau stöhnte auf, als sie von ihrem eigenen jungendlichen Spiegelbild berührt wurde. Sie
spürte in ihrem Innern ein Brennen. Ihre Persönlichkeit wurde ausgelöscht, dafür trat an deren Stelle
die des jungen Mädchens.
Mrs. Jones hatte ihre Jugend wieder!
Und ihre Tochter?
Rebbie hatte nicht auf ihre Mutter gesehen, sondern ihr war ein anderes Schicksal zugedacht. Die
Gegenkräfte formten sich, forderten ihre Jugend und Schönheit.
Rebbie Jones alterte.
Ihre Gesichtshaut verfiel, verlor die Frische und nahm eine andere Farbe an. Grau. Die roten Haare
wurden stumpf und blass. Strähnig hingen sie zu beiden Seiten des Kopfes herab. Die Lippen verloren
die Frische, das Kinn sank ein,
auch der Körper verlor seine Straffheit und Form.
Rebbie Jones war eine alte Frau geworden!
Gebeugt stand sie da, starrte auf dieses leinwandähnliche Gebilde, das ihr in aller Grausamkeit ihre
verlorengegangene Jugend präsentierte.
Der Teufel hatte ein schreckliches Spiel in Gang gesetzt und es bis zum bitteren Ende durchgeführt.
Er weidete sich an dem Entsetzen der Menschen. Das Böse selbst kannte keine Gnade.
Und aus den Tiefen der Dimensionen erscholl ein schauerliches siegessicheres Lachen.
Suko hatte sich von mir vor dem Sanatoriumsgrundstück absetzen lassen. Er wartete die erste
Verständigungsprobe ab und verstaute dann zufrieden sein Sprechgerät.
Es passte ihm nicht, dass er nicht mit an der Front war und nur den Rückraum deckte. Deshalb
machte er sich auch sofort auf die Suche nach einer günstigen Stelle, von der aus er die Mauer
überklettern konnte.
Das Grundstück des Sanatoriums war ziemlich gross. Die Mauer umspannte es als Rechteck. Da der
Abend sehr ruhig war, konnte Suko das Rauschen der Brandung gegen die Steilküste hören. Der Wind
kam aus Südwest und kämmte das hohe Strandgras, das wie ein dicker Teppich wuchs.
Suko hielt sich immer im Schatten der Mauer, als er das Grundstück umrundete. Die Mauer selbst
war aus dicken Steinen errichtet worden, und auf der Krone verlief der elektrisch geladene Draht.
Der Chinese überlegte, wie er es anstellen konnte, über das Hindernis zu kommen. Er musste vorher
einen Weg
gefunden haben, denn wenn erst ein Hilferuf kam, dann war es zu spät.
Er musste diese Anlage ausschalten!
Und das ging mit einem Stück Metall. Ein eisernes Rohr, auf den stromführenden Draht geworfen,
würde wahre Wunder vollbringen.
Suko ging ziemlich langsam und blickte immer wieder zum Eingangstor zurück. Kurz davor war er
an einer unübersichtlichen Stelle des Tores abgesetzt worden. Seine Hoffnungen erfüllten sich nicht.
Er sah den Rover das Sanatoriumsgrundstück nicht verlassen.
Die Zeit verging. Längst hatte Suko das Grundstück zur Hälfte umrundet.
Plötzlich horchte der Chinese auf. Jenseits der Mauer vernahm er Bellen und Heucheln.
Und dann ein Schuss.
Abgefeuert aus einer Beretta.
Sukos Nackenhaare stellten sich quer. Seine Augen zogen sich noch mehr zusammen. Der etwas
gedrungen wirkende Körper spannte sich unmerklich.
Suko witterte förmlich die Gefahr. Und er spürte, dass sein Freund John Sinclair in der Klemme saß.
Ein Griff zum Walkie Talkie.
»John?«
Keine Antwort.
Suko unternahm noch einige Male den Versuch, mich zu erreichen. Es gelang ihm nicht.
Er brauchte kein Hellseher zu sein, um wissen zu müssen, dass etwas passiert war. Eine Möglichkeit,
die Mauer zu überwinden hatte er noch nicht gefunden. Aber er musste seinem Freund zu Hilfe eilen.
Suko setzte alles auf eine Karte. Mit langen Sätzen hetzte er zum Tor zurück. Er wusste, dass dort
ein Wärter hockte. Ihn heranzulocken und zu überwältigen, das war sein Plan.
Kurz bevor Suko das Tor erreichte, stoppte er. Er konzentrierte sich ein paar Sekunden, holte noch
einmal tief Luft und wankte dann auf das Eisentor zu.
Er spielte den Betrunkenen und hoffte, mit dieser Masche Erfolg zu haben. Einem Angetrunkenen
fühlen sich die meisten Menschen überlegen.
Das Tor war in die Mauer eingelassen und ließ sich durch Fernbedienung bewegen. Die elektrische
Alarmanlage war hier unterbrochen.
Vor sich hinsingend torkelte Suko auf das Tor zu. Dann blieb er stehen, sah das Gitter an, lachte
dümmlich und umklammerte mit beiden Fäusten die Stäbe.
»He«, rief er, »hat die verdammte Kneipe schon geschlossen? Ich will 'nen Schluck!«
Er versuchte, an den Stäben zu rütteln. Zuerst geschah gar nichts. Als Suko
jedoch einen Zahn zulegte und noch
lauter sang, wurde der Wärter sauer. Er stürmte aus einer Steinbude. Suko grinste innerlich.
Aber der Kerl war bewaffnet. In der rechten Hand hielt er ein Eisenrohr.
Suko spielte weiter den Betrunkenen. »Da bist du ja, Partner. Komm, gib mir noch 'nen Gin. Ich
habe einen Brand, den ich kaum noch löschen kann.«
Der Wärter trug auch einen dieser graublauen Leinenkittel. Und er war wütend. »Ich werde dir
deinen Durst schon austreiben, du versoffenes Schwein! « brüllte er, packte Sukos linke Hand, schob
seine Hand mit dem Eisenrohr durch die Gitterstäbe und wollte Suko eins auf den Kopf geben.
»Auf die Nuss kriegst du ... «
Plötzlich brüllte der Aufpasser auf. Suko hatte zugepackt, das Armgelenk des Wärters umfasst und
es herumgedreht. Der Kerl musste die Bewegung mitmachen, rasende Schmerzen trieben ihn dazu.
Jetzt war Suko am Zug. Mit einem satten Hieb schickte er den Burschen ins Reich der Träume.
Dann kletterte der Chinese gewandt an den Gitterstäben hoch, schwang sich darüber und sprang auf
der anderen Seite wieder zu Boden.
Sein erstes Ziel hatte Suko erreicht. Er befand sich auf dem Gelände des Sanatoriums ...
Sobald die Dunkelheit anbrach, begann im Roulettspiel der Betrieb. In geschlossener Formation
betraten die alten Menschen das Spielzimmer.
Als letzter kam Bill Conolly in den Saal.
Nicht nur altersmässig stach er von den anderen ab. Auch in seiner legeren Kleidung - er trug eine
Wildlederjacke, Rollkragenpullover und eine blaue Tuchhose - fiel er aus dem Rahmen.
Flüsternd nahmen die Menschen am Roulettisch Platz. In ihren Blicken zeigte sich die Gier.
Irgendeiner von ihnen würde an diesem Abend wieder seine Jugend zurückerhalten. Die Frage war nur
- wer?
Jeder glaubte, an der Reihe zu sein. Dass ihn die Croupiers durch die Tür führen würden, hinter der
das grosse Geheimnis lag. Sie alle hatten sich schon bereit erklärt. Asmodis ihre Seele zu verkaufen.
Als Preis für die Jugend.
An die Folgen dachte niemand ... Sie nahmen Ihre Plätze ein. Nicht alle bekamen einen Sitzplatz.
Viele mussten stehen bleiben. Sie bauten sich hinter den Stühlen auf und starrten gebannt auf den
grünen Filz.
Noch drehte sich die Kugel nicht. Noch saßen die Croupiers nicht auf ihren Plätzen. Und auch Bill
Conolly war stehen geblieben. Genau unter dem prachtvollen Lüster beobachtete er mit
teilnahmslosen Blicken das Treiben um ihn herum.
Bill war nicht mehr er selbst. Roger van Cordtlands Einfluss hatte seine Persönlichkeit ausgeschaltet.
Der Reporter erinnerte in seinem Zustand an eine Marionette, die an den Fäden ihres Besitzers - in
seinem Fall van Cordtland - hing. Bill hatte auch gar nicht den
Versuch unternommen, sich gegen van Cordtland zur Wehr zu setzen. Er fühlte sich nur ihm
zugehörig.
Gedämpft waren die Unterhaltungen. Einer beobachtete den anderen misstrauisch, beinahe lauernd.
Jeder wollte der Auserwählte sein, der die Jugend zurückbekam, und niemand gönnte dieses Privileg
seinem Nachbarn.
Zigaretten glühten. Dürre, mit Schmuck überladene Finger zählten die Jetons durch. Scheine
raschelten. Es wurde Zeit. Das Spiel musste in wenigen Minuten beginnen.
Dann kamen die Croupiers. Wie Könige schritten sie durch den Saal. Schwarz gekleidete Männer, in
eleganten Smokings. Ihre Gesichter waren blass, beinahe leichenfahl. Auch der Mann, der
angeschossen war, befand sich unter den Croupiers. Von seiner Verletzung war nichts mehr zu sehen.
Der Spielleiter nahm seinen erhöhten Platz ein, ebenso wie der Drehcroupier, der sich an die
Roulettschüssel setzte. Der dritte Croupier nahm dem Spielleiter gegenüber Platz. Mit einer demon-
strativen Geste hob er seinen Rateau und zeigte damit an, dass er spielbereit war.
Aber nicht der Spielleiter.
Er winkte Bill Conolly zu sich.
Der Reporter ging wie ein Roboter und blieb dicht vor dem Spielleiter stehen.
»Haben Sie keinen Platz, mein Freund? « wurde Bill gefragt.
»Nein, Sir.«
Über das starre Gesicht des Croupiers huschte ein Lächeln. »Dann werde ich Ihnen einen besorgen.
Mr. Van Cordtland hätte es gern, wenn Sie sich am Spiel beteiligten. «
»Ich möchte es gern«, erwiderte Bill.
Der Spielleiter beugte sich zu dem Drehcroupier hinunter und flüsterte diesem etwas ins Ohr. Der
Mann nickte und zeigte auf eine hagere Frau, die mit zitternden Fingern ihre Jetons zurechtlegte.
»Machen Sie Platz, Madam! «
Die Frau zuckte zusammen. Dann ruckte ihr Kopf herum. Ängstliche Blicke trafen den Sprecher.
»Aber der Platz gehört mir.« Sie legte Protest ein.
»Jetzt nicht mehr, Madam! « Die Stimme des Croupiers hatte sich verschärft.
Die Frau ließ sich nicht beirren. »Nein, dieser Platz gehört mir. Den lasse ich mir nicht wegnehmen.«
Sie begann zu schreien, trommelte mit den Fäusten auf den Roulettisch, fegte die Jetons von der Platte
und umklammerte mit ihren Fingern die Tischkante.
Die anderen Spieler betrachteten sie teilnahmslos. Niemand hatte Mitleid mit dem anderen. Hier
regierte der reine Egoismus. Sonst nichts.
Dem Spielleiter wurde es zu bunt. Er hob den rechten Arm, ließ den Daumen in die Höhe schnellen
und drehte seine Hand dann um.
Das Zeichen für den ihm gegenübersitzenden Croupier.
Der hob seinen Stab. Drehte ihn.
Die kleine Schaufel zeigte auf die Frau. Nur für einen Atemzug.
Weit riss die Frau den Mund auf. Sie ahnte, was passieren würde. Und sie hatte sich nicht getäuscht.
Ein Blitzstrahl zuckte aus dem Rateau.
Mit tödlicher Sicherheit bohrte er sich in die Stirn des bedauernswerten Opfers.
Langsam kippte die Frau zur Seite. Andere Spieler zerrten sie vom Stuhl. Niemand hatte ein Wort
des Bedauerns für das Opfer übrig. Die Gefühlskälte, die herrschte, war schon brutal zu nennen.
Die Tote wurde weggeschleift. Über das Gesicht des Spielleiters zuckte ein Lächeln. Er wandte sich
an Bill Conolly. »Ihr Platz ist frei, Sir! «
Man hatte mich nicht gefesselt. Anscheinend fühlten sich meine Gegner sehr sicher. Wenn ich
ehrlich sein wollte, dann musste ich zugeben, dass es mir auch nicht besonders gut ging.
Der Schlag über den Schädel hatte mich doch geschafft. Wie lange ich bewusstlos gewesen war,
konnte ich mit einem Blick auf die Uhr ablesen. Ungefähr dreißig Minuten. Eine Zeitspanne, in der
hätte wer weiß was geschehen können.
Ich lag auf einer Pritsche in einem quadratischen Raum, dessen graue Betonwände mich höhnisch
anzustarren schienen. Ebenso wie die Eisentür, die einen Ausbruch verhinderte.
Mit dem Gedanken spielte ich momentan auch gar nicht. Ich hatte genug zu tun, um zu mir selbst zu
finden.
Der Schlag hatte mich glücklicherweise nicht voll getroffen. Auch die Anzeichen einer
Gehirnerschütterung spürte ich nicht, nur ein dumpfes Hämmern und Pochen unter meiner
Schädeldecke, das mich an ein Bergwerk erinnerte.
Endlich wurde mein Gefängnis durch eine Leuchtstoffröhre, deren kaltes Licht mich blendete und
außerdem nicht dazu beitrug, die Schmerzen in meinem Kopf zu verringern. Ich drehte deshalb das
Gesicht zur Seite, hielt es aus dem unmittelbaren Bereich der Röhre.
Grosse Angst hatte ich nicht. Die Burschen wollten etwas von mir, sonst hätten sie mich sicherlich
längst umgelegt. So rechnete ich mir eine Chance aus, doch noch aus diesem Gefängnis heraus-
zukommen.
Gespannt war ich auf diesen Dr. van Cordtland. Dass er nicht der Schwarze Tod in einer seiner
vielfältigen Masken war, das wusste ich bereits von Linda Blaine. Sie sagte, Asmodis selbst würde
sich hinter der Maske verbergen. Stimmte das, dann gute Nacht, John Sinclair.
Dann war mein Leben weniger wert als das eines Goldfischs in der Wüste.
Ich schüttelte die trüben Gedanken ab und blieb ruhig auf der harten Pritsche liegen. Geräusche
hörte ich nicht. Die dicken Mauern schirmten alles ab.
Langsam verebbten die Kopfschmerzen, nur der dumpfe Druck blieb. Er ließ sich einigermaßen
ertragen.
Meine Gedanken wanderten zu Suko. Sicher wusste mein chinesischer Partner längst, . dass etwas
nicht stimmte. Unsere Kontaktgespräche hatte ich nicht aufrechterhalten können. Ich hoffte, dass Suko
die Mauern überwunden hatte und sich bereits auf dem Gelände des Sanatoriums befand.
Vorwürfe machte ich mir, weil ich die beiden Frauen mit in den Fall hineingezogen hatte. Sollten
Rebbie Jones und ihre Mutter nicht mehr am Leben sein, würde ich diese Dämonenbrut hetzen bis
zum Ende aller Tage.
Aber auch von Bill Conolly hatte ich keine Spur gesehen. Was mochte mit ihm geschehen sein? War
er überhaupt noch am Leben? Allein der Gedanke daran ließ Schauer über meinen Rücken rieseln.
In diesem verdammten Fall, der so harmlos begonnen hatte, ging auch alles schief.
Schritte schreckten mich aus meinen Gedanken. Ich horchte auf. Dem Geräusch der Tritte nach zu
urteilen mussten sich mehrere Personen meinem Gefängnis nähern.
Oder gingen sie vorbei?
Nein, die Schritte verklangen vor der Eisentür.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Wenig später schwang die Tür quietschend nach innen.
Drei Männer betreten mein Gefängnis.
Zuerst sah ich die zwei Graukittel, mit denen ich auch draußen schon gekämpft hatte.
Ihnen folgte Dr. van Cordtland.
Obwohl ich ihn zuvor noch nie gesehen hatte, konnte er kein anderer sein.
Die Kittelträger traten zur Seite. Van Cordtland und ich musterten uns.
Ich sah das hagere Gesicht, den Knebelbart am Kinn, die kalten Augen, die hervorspringende Nase
und den strichdünnen Mund. Er trug einen nachtblauen Smoking, dazu ein blauschillerndes
Seidenhemd und eine breite dunkelblaue Fliege. Auf mich wirkte er wie ein Gentleman, der sich für
einen Theaterbesuch angekleidet hatte.
Allerdings nur auf den ersten Blick.
Der zweite Blick lehrte mich, die Menschenverachtung in seinem Gesicht zu lesen. Und mir wurde
klar, dass ich von diesem Mann keine Gnade erwarten durfte.
Daran änderte auch nichts der elegante Anzug. Roger van Cordtland war ein Teufel!
Er bewegte kaum die Lippen, als er sprach. Und er sagte nur zwei Worte, in die er jedoch alles legte,
was er für mich, seinen Gegner empfand.
»John Sinclair! «
Hass, Verachtung und Triumph. Diese Eigenschaften hielten sich bei seiner Anrede die Waage.
Ich gab mich gelassen, obwohl es mir verdammt schwerfiel, dem Blick dieser kalten Augen zu
widerstehen.
»Meinen Namen kennen Sie ja«, sagte ich. »Darf ich dann den Ihren erfahren?«
»Sie können mich Roger van Cordtland nennen«, erwiderte er.
»Und ich dachte an Asmodis.«
Er gab darauf keine Antwort, sondern lächelte nur hintergründig. Seine beiden Gorillas beobachteten
mich mit lauernden Blicken. Ihnen entging nicht die kleinste Bewegung.
Ich riskierte es und setzte mich behutsam auf. Die Wächter gingen jeweils einen Schritt vor, doch
van Cordtland stoppte sie mit einer Handbewegung.
»Lasst ihn«, sagte er. »Mr. Sinclair
wird nicht so dumm sein und sich mit euch anlegen.«
Ich grinste. »Man kann nie wissen ... «
In van Cordtlands Augen funkelte es. »Lassen Sie ihre dummen Reden, Sinclair. Es ist Ihnen doch
klar, daß Sie dieses Sanatorium nicht mehr lebend verlassen. Aber vorher will ich Ihnen noch etwas
zeigen. Sie sollen sehen, dass Sie sich zu viel vorgenommen haben. Ich ahnte, dass ich irgendwann
einmal auf Sie stoßen würde. Allerdings wusste ich nicht, dass dies so rasch ging. Schade für Sie.
Aber es behindert meine Pläne keinesfalls.«
»Darf man davon erfahren?«
Er nickte. »Ja, Sie dürfen. Einem Todgeweihten soll man immer den letzten Wunsch erfüllen. Und
da es bei uns keine Henkersmahlzeit gibt, werde ich Ihre Frage beantworten. Ich habe es geschafft,
wovon andere träumen. Ich kann den Menschen das zurückgeben, wonach sie sich immer gesehnt
haben. Jugend und Schönheit. Die Hölle hat mir die Macht dazu gegeben. Schwarze Magie macht es
möglich, dass andere zufrieden und sehr reich werden. Aber es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt,
der beachtet werden sollte. Die Menschen, denen ich die Jugend zurückgebe, gehören zu den
Mächtigen in diesem Land. Mit einem Satz: Macht bedeutet Geld. Ich verdiene sehr gut daran, und das
Geister-Roulett gibt der Sache einen zusätzlichen Reiz. «
»Und welche Bedingungen stellen Sie?« fragte ich.
Van Cordtland lachte. »Ich stelle gar keine Bedingungen. Asmodis stellt Sie, womit Ihre Frage
beantwortet ist, die Sie mir vorhin gestellt haben. Ich selbst bin nicht Asmodis. Ich betrachtete mich
nur als seinen verlängerten Arm und führe die Befehle aus. Was die Menschen angeht, so müssen sie
ihre Seele an den Teufel verkaufen. Wie es schon vor uralten Zeiten der Brauch war. Sie sehen also, es
hat sich nichts geändert.«
»Dass die Unglücklichen dann verloren sind, daran haben Sie nicht gedacht, wie?«
Van Cordtland hob die Schultern. » Was kümmert es mich. Die Leute haben ihre Jugend
zurückbekommen - und fertig. Wie, das ist ihnen völlig egal.«
»Irgendwann wird der Teufel seine Rechnung präsentieren«, sagte ich. »Und die ist nicht billig. Ich
kenne ähnliche Fälle. Was verlangt Asmodis denn von ihnen?«
»Das gleiche wie von mir. Gehorsam. Absoluten Gehorsam. Er hat ihre Seelen als Pfand und kann
die Menschen in sein Reich holen, wann immer er will. Er spielt mit ihnen, genau wie wir hier die
Roulettkugel rollen lassen.«
»Und ich soll dabei mitspielen?«
»Nein, Sinclair. Sie nicht. Für Sie habe ich mir etwas Besseres ausgedacht.«
»Darf man fragen - was?«
Van Cordtland schüttelte den Kopf. »Lassen Sie sich überraschen, Geisterjäger. «
Er gab sich verdammt siegessicher. Und zum Teufel noch mal, er konnte es auch. Er hielt alle
Trümpfe in seiner Hand und spielte sie eiskalt aus.
»Dann darf ich Sie bitten mir zu folgen«, erklärte er in zynischer Höflichkeit. »Ein Fluchtversuch ist
sinnlos. Meine beiden Freunde sind schneller als Sie. «
Das glaubte ich dem Knaben sogar. Aber an Aufgabe dachte ich nicht. Ich brauchte mir nur
vorzustellen, was geschah, wenn van Cordtland mit seinen Plänen Erfolg hatte. Kaum auszudenken. Er
konnte sich zum Herrscher der Welt aufschwingen.
Aber darauf lief letztendlich alles hinaus. Das wollten Asmodis und seine
Schergen. Die Welt beherrschen und sich die Menschheit untertan machen.
Bisher hatten meine Freunde und ich es verhindern können, doch in der letzten Zeit sah es so aus,
als kämpften wir gegen eine riesige Hydra. Schlug man einen Kopf ab, wuchsen gleich zwei neue
nach. Die Mächte der Finsternis hatten zur geballten Attacke gegen die Kräfte des Guten aufgerufen.
Wahre Dämonenheere standen bereit, um in die Welt einzufallen. Sie verbreiteten Schrecken und
Angst, kamen aus Parallelwelten und brachten den Gluthauch der Hölle mit.
Die meisten Menschen ignorierten diese Zeichen. Sie taten es als Humbug und Quatsch ab. Nur
wenige wussten, vor welch einem entscheidenden Schicksal die Welt stand. Und die wenigen waren
zu schwach, um die Dämonenpest aufhalten zu können. Während ich ein Gefangener dieses Teufels
war, wurden sicherlich in einem anderen Teil der Welt neue grausame Fäden geknüpft und ein
mörderisches Spiel in Gang gesetzt.
Roger van Cordtland schien zu merken, was in meinem Kopf vorging. Er lachte spöttisch und
meinte dann: »Ja, Sinclair, es sieht übel aus. Übel für Sie und Ihre Freunde. «
Ich gab ihm keine Antwort, sondern erhob mich von der harten Pritsche.
Im ersten Moment wurde mir schwindlig. Das lange Liegen und der Schlag auf den Schädel hatten
meinen Kreislauf doch ein wenig durcheinandergebracht.
Aber nach einigen Sekunden fühlte ich mich besser. Ich hatte eben eine gute Kondition. Und die
war auch Voraussetzung bei meinem verflixt harten Job.
Die Graukittel nahmen mich in die Mitte. Sie bedrohten mich mit keiner Waffe, anscheinend trauten
sie mir nicht zu, in ihrer Anwesenheit einen Fluchtversuch zu starten. Sollten sie in dem Glauben
bleiben. Mir war es recht.
Wir verließen mein Gefängnis und betraten einen Gang. Er war ebenso kahl
wie der Raum hinter mir und wurde auch durch Leuchtstoffröhren erhellt.
Die beiden Aufpasser kamen so dicht an mich heran, dass ich ihren säuerlichen Schweißgeruch
wahrnehmen konnte. Er schlug mir auf den Magen. Die Typen hätten sich mal dringend waschen
sollen.
Dr. van Cordtland blieb hinter mir. Er redete auch nicht mehr, sondern dirigierte uns den langen
Gang hinunter, der vor einer doppelflügeligen Holztür endete.
»An die Wand! « wurde mir befohlen.
Ich gehorchte und stützte mich an dem rauen Boden ab.
Als ich den Kopf nach links drehte, sah ich, dass van Cordtland einen Schlüssel in das Schloss der
Tür schob.
Wenig später war die Tür offen.
In Begleitung der beiden Leibwächter betrat ich den dahinterliegenden Raum.
Er war elegant eingerichtet. Dunkle Mahagonimöbel. Ein grosser Schreibtisch. Zwei Bücherregale,
kostbare Teppichbrücken, eine Ledergarnitur, dunkelgrün und glänzend. Eine Wand, die von einem
grauen Vorhang bedeckt wurde.
Ich musste in der Mitte des Raumes warten, flankiert von den beiden Schlägern.
Van Cordtland trat auf den Vorhang zu. Er lächelte dabei, wandte mir sein rechtes Profil zu und zog
den Vorhang mit einem Ruck zur Seite.
Er flatterte auf wie eine Fahne, lief auf den Rollen weiter und faltete sich dann zusammen.
Dahinter lag ein Spiegel! Er war breit, fast so groß wie der Vorhang selbst.
»Treten Sie ruhig näher, Mr. Sinclair«, wurde mir gesagt. »Ich will Ihnen etwas zeigen. Sie werden
staunen! «
Ich ging auf den Spiegel zu. Ich sah nicht mich selbst oder die Möbelstücke im Zimmer, sondern ich
konnte in einen hinter den Spiegel liegenden Raum blicken.
In einen Roulettsaal!
»Das Geister-Roulett läuft bereits«, erklärte mir Van Cordtland.
»Schauen Sie genau hin, dann sehen Sie, wie gierig die Spieler sind. Die alten Weiber, sie sind
scharf darauf, ihre Jugend wiederzubekommen. Sie gehen über Leichen, glauben Sie mir. Kennen Sie
den Mann dort in der Wildlederjacke? Er spielt auch, für sein Leben gern sogar. Er hat es mir selbst
gesagt. Er hat mir übrigens alles erzählt. Soll ich Ihnen seinen Namen sagen?«
»Nein«, erwiderte ich rauh. Van Cordtland brauchte mir nicht zu sagen, wer dort spielte.
Ich sah es selbst.
Es war mein Freund Bill Conolly!
Bill war richtig bei der Sache. Er hatte Jetons bekommen, ohne einen Shilling dafür bezahlen zu
müssen. Und er war über diese Großzügigkeit nicht einmal misstrauisch geworden.
Das Spiel zog ihn in seinen Bann. Zweimal hatte Bill Conolly gesetzt und zweimal verloren.
Das dritte Spiel.
Flankiert war er von zwei Frauen. Beide waren in eine widerlich süß riechende Parfümwolke
eingehüllt, und beide qualmten schwarze französische Zigaretten. Die Glimmstengel hingen zwischen
ihren welken Lippen. Sie nahmen sie beim Rauchen gar nicht hervor, sondern ließen den scharfen
Rauch durch die Nasenlöcher ausströmen.
»Machen Sie Ihr Spiel«, sagte der Drehcroupier. Seine Stimme klang glatt und emotionslos wie
immer.
Bills linke Nachbarin nahm einen Hundert-Pfund-Jeton und setzte Carre. Das heißt, der Einsatz kam
auf den Schnittpunkt von vier Nummern. Wenn eine der Nummern gewann, so wurde ihr das
Achtfache des Einsatzes ausgezahlt.
Bills andere Nachbarin setzte Plain. Sie suchte sich eine der Nummern zwischen 0 und 36 aus. Und
zwar die Nummer zwanzig.
Bill Conolly hielt sich an seine linke Nachbarin. Er setzte ebenfalls Carre. Einsatz: Zwei Pfund.
Auch die anderen Spieler setzten. Ein Jeton flog über Bills Schulter, wurde von dem Rateau eines
Croupiers abgefangen und auf das zu setzende Feldgeschoben.
Der Spielleiter warf einen Blick über den Roulettisch und gab dem Drehcroupier ein Zeichen.
Der setzte den Einsatz der Schüssel in eine kreisende Bewegung, nahm die kleine Kugel und
schnippte sie aus den Fingern.
Die Fliehkraft hielt die Kugel in der Bahn. Jetzt rollte sie wieder, und die Blicke der Spieler hingen
gebannt an ihr. Dieses kleine runde Stück Elfenbein entschied über Sieg und Niederlage.
Die Frau rechts neben Bill atmete schwer. Der Mann, der ihm gegenüber saß, bewegte, die Lippen
und sprach unhörbar mit sich selbst.
Die Kugel rollte aus. Kippte in ein Nummernfach und blieb liegen.
Nummer zwölf.
Der Croupier rief die Zahl aus und gab dann alle Gewinne bekannt.
Die Frau links neben Bill kicherte. Sie hatte gewonnen. Weit beugte sie ihren mageren Hals über den
Tisch, wartete auf ihren Gewinn. Er wurde ihr zugeschoben.
Sie zählte die Jetons und stapelte sie
aufeinander.
Das nächste Spiel begann.
Plötzlich stieß der Drehcroupier Bill
Conolly leicht an der Hüfte an. »Sir?« Bill wandte den Kopf.
Der Croupier lächelte. »ich an Ihrer
Stelle würde auf die Nummer sieben
setzen«, schlug er vor. »Es ist eine besondere Zahl! «
»Und wie viel soll ich setzen?« Bill fragte erst gar nicht nach dem Grund. Ihm kam alles ganz
natürlich vor.
»Alles! « lautete die Antwort.
Für einen Moment ruckte Bills Kopf hoch. Er sah über die ihm gegenübersitzenden Spieler hinweg
in einen Wandspiegel, der ihm sein eigenes bleiches Gesicht präsentierte. Dann senkte der Reporter
wieder den Blick.
»Wenn Sie meinen, setze ich alles«, erwiderte Bill Conolly. »Auf Ihre Verantwortung. «
»Tun Sie das! « Der Croupier lächelte.
Dann warf er die Kugel, wartete noch einige Sekunden ab und rief sein obligatorisches »Rien ne va
plus! «
Nichts geht mehr - gar nichts.
Auch nicht für Bill Conolly, der nicht im entferntesten ahnte, auf was er sich eingelassen hatte.
Und die Kugel rollte.
Die anderen Spieler hielten den Atem an. Jemand hatte auf sieben gesetzt. Auf die Nummer, die für
sie der Schlüssel zur Jugend und Schönheit war.
Nummer sieben!
Kam sie - oder rollte die Kugel weiter?
Die Spannung stieg, wurde unerträglich. Manche Spieler stöhnten auf. Die meisten hatten die Hände
zu Fäusten geballt, wagten nicht einmal mehr zu atmen.
Noch rollte die Kugel am Rand der Schüssel entlang. Noch hatte sie genügend Drive, um den
Gravitationskräften zu widerstehen.
Dann rutschte sie tiefer.
Die Spieler standen auf. Jeder wollte in die Roulettschüssel hineinsehen, um mitzubekommen,
welche Zahl die Kugel stoppte. Die anderen Einsätze waren uninteressant geworden, . Geld spielte
keine Rolle mehr, jetzt zählte nur noch das Totenkopf-Roulett.
Einer aus ihrer Mitte hatte die bewusste Zahl gesetzt.
Wer? Wer hatte es gewagt?
Und die Kugel rollte.
Da! Ein klackendes Geräusch. Sie war am Rand eines Nummernfachs hängengeblieben. Sie tickte
weiter, rutschte noch einmal hoch, doch sie fiel sofort wieder herab.
In das Fach mit der Nummer sieben!
Das Totenkopf-Roulett war gelaufen. Einer aus der Mitte würde durch die Tür gehen.
Bill Conolly hatte gewonnen. Oder verloren, ganz wie man die Sache sah.
Sekundenlang war die Stille erdrückend. Niemand sah mehr die Kugel an, sondern nur noch den
Jeton.
Würde er sich verwandeln?
Er tat es!
Plötzlich stieg der Rauch auf, kräuselte der Decke entgegen, sammelte sich unter der Lampe und
zerfaserte.
Der Jeton verschwand.
Zurück blieb - ein Totenschädel, dessen Augen in einem düsteren Rot leuchteten.
Die Spieler wichen zurück. Nur einer blieb sitzen. Der Gewinner.
Bill Conolly!
»Aber er ist doch noch jung«, hörte Bill eine Stimme. Sie riss ihn wie aus einer tiefen Trance in die
Wirklichkeit zurück. Er sah auf, blickte auf die Croupiers und bemerkte, dass ihnen die Haut von den
Gesichtern fiel und den bleichen Knochen der Totenschädel Platz machte ...
Durch den Einwegspiegel konnte ich den gesamten Roulettsaal überblicken. Ich sah die Spieler, ihre
angespannten Gesichter und die gierigen Blicke, die den Lauf der Roulettkugel verfolgten.
Auch Bill benahm sich nicht anders. Ich kannte meinen Freund gut genug, um zu wissen, dass er
nicht Herr seines eigenen Willens war, dass er unter einem fremden Einfluss stand.
Van Cordtland schien meine Gedanken zu erraten. »Sie erkennen ihn kaum wieder, nicht wahr,
Sinclair? Ich habe Ihren Freund hypnotisiert, und er wird genau das tun, was von ihm verlangt wird. «
Inzwischen war wieder ein Spiel beendet worden. Ich sah wie die Frau neben Bill Conolly Jetons
zusammenraffte und hastig wegsteckte. Mein Freund hatte verloren.
Dann beugte sich der Croupier zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Bill bewegte ebenfalls die Lippen und nickte dann.
»Jetzt geht er in die Falle! « kommentierte van Cordtland neben mir. »Er wird auf die Nummer
sieben setzen! «
»Und was bedeutet das?« wollte ich wissen.
»Dass er gewinnt und damit das Totenkopf-Roulett in Gang setzt.«
»Mit anderen Worten, es steht schon fest, dass die Nummer sieben kommen wird. «
»Genau, Mr. Sinclair!«
Dr. van Cordtland war von einer kalten, mich anwidernden Höflichkeit. Er sah sich als Sieger, und er
genoss seinen Triumph.
Ich riskierte einen Blick auf die beiden Gorillas. Sie ließen mich nicht aus den Augen. Ihre stumpfen
Pupillen starrten mich an. Ein weniger abgebrühter Mann hätte diese Blicke kaum ertragen können,
ohne eine Gänsehaut zu bekommen.
Ich konzentrierte mich wieder auf den Spielsaal. Die Kugel für das nächste Spiel lief schon. Die
Spieler waren noch aufmerksamer geworden, noch konzentrierter. Gebannt verfolgten sie den Lauf.
Da, die Kugel fiel.
In das Fach Nummer sieben!
»Jetzt ist es soweit! « Van Cordtland stieß die Worte triumphierend hervor. Er hatte die Arme halb
erhoben und die Hände zu Fäusten geballt. Weiß und spitz traten die Knöchel heraus.
Das Geschehen im Spielsaal zog mich in seinen Bann. Ob ich wollte oder nicht, ich starrte auf den
mit grünem Filz bespannten Tisch und auf den Jeton, der anfing, sich zu verändern. Auch die leichte
Rauchwolke konnte nicht verbergen, dass aus dem Jeton ein handgroßer Totenschädel wurde.
Mit glühenden roten Augen.
Sie schienen mich anzustarren. Ich hatte ein Gefühl, als ob mich das Maul des Schädels auslachen
würde.
Aber nicht nur der Jeton verwandelte sich. Auch die Croupiers machten die Metamorphose mit. Die
Haut schrumpfte zusammen, verschwand wie ein Nebelstreif in der Sonne und machte den blanken
weißen Knochen Platz. Sie sahen schrecklich aus, diese Monster mit ihren Totenschädeln und den
skelettierten Händen, die nach wie vor die gefährlichen Rateaus umklammert hielten.
Synchron erhoben sich die Totenkopf-Croupiers von ihren Plätzen. Und synchron wandten sie sich
einem Mann zu.
Meinem Freund Bill Conolly!
»Für ihn ist es zu spät! « hörte ich van Cordtland neben mir sagen. »Genau wie für Sie, Geisterjäger!
« Er hatte kaum das letzte Wort ausgesprochen, da sprang er schon zurück. Gleichzeitig schrie er sei-
nen beiden Leibwächtern einen Befehl zu.
»Legt ihn um! «
Suko schleifte den bewusstlosen Aufpasser zu dessen Bude und legte ihn dort im Innern des kleinen
Steinhauses unter einen Tisch. Er fand eine Rolle mit isoliertem Draht und fesselte dem Knaben damit
Hand- sowie Fußgelenke.
Über dem Heizkörper auf der Fensterbank stand ein Telefon. Es sah aus wie der Anschluss einer
Haussprechanlage, besaß also keine Nummerntafel.
Das Fehlen des Wärters schien noch nicht entdeckt worden zu sein. Wenigstens hatte der Chinese
keine Anzeichen bemerkt, die darauf hindeuteten.
Er verließ das kleine Wärterhaus wieder und orientierte sich in Richtung Sanatorium.
Suko hielt sich dabei abseits des Hauptweges und schlug sich durch die Büsche. Seine Füße gingen
über einen gepflegten Rasen, der wie ein Teppich wirkte und jeden Laut dämpfte. Bäume gaben ihm
Deckung. Die Luft war kühl. Ein leichter Nachtwind wehte über die Parkanlage, bewegte die Zweige
der Büsche und rieb sie hin und wieder raschelnd gegeneinander.
Das Sanatorium auf dem Hügel bestand aus mehreren bungalowähnlichen Bauten, die in günstigen
Winkeln zueinander standen. Kein Licht brannte. Nur hinter der breiten Tür des Haupthauses sah Suko
einen hellen Schimmer.
Er rechnete damit, auf patrouillierende Wächter zu stoßen, sah sich diesbezüglich jedoch angenehm
enttäuscht. Dafür bereitete es ihm aber Schwierigkeiten, in das Gebäude hineinzukommen. Er fand
keine offene Tür.
Suko bewegte sich im Schatten der Hausmauer vorwärts. Er umrundete das Hauptgebäude, erreichte
einen Anbau, sah vergitterte Fenster, fand aber auch hier keinen Einstieg.
Viel Zeit hatte der Chinese nicht. Deshalb griff er zu einem wirkungsvollen, aber nicht ganz
ungefährlichen Mittel.
Er wickelte ein Taschentuch um die rechte Faust, lief zurück zum Haupthaus. Dort schlug er mit
einem kurzen, trockenen Schlag die Scheibe eines Fensters ein. Das Fenster lag nicht weit von der Tür
entfernt, und als das Glas nach innen rieselte, hielt Suko einen Moment
inne, um sich zu überzeugen, ob er nicht gehört worden war.
Aber es blieb still.
Suko entfernte noch ein paar Glasreste aus den Rahmen und wand seinen Athletenkörper dann durch
die entstandene Öffnung. Er stieg in ein einfaches Zimmer ein. Es war spärlich möbliert. Kein Teppich
bedeckte den Boden. Er roch nach Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln.
Suko schlich zur Tür.
Sie war offen.
Der Chinese trat auf den Gang, warf einen vorsichtigen Blick nach beiden Seiten und zuckte
plötzlich zusammen, als ein Mann um die Ecke des schwach beleuchteten Ganges kam.
Der Kerl führte einen Hund an der Leine.
Zurückweichen konnte Suko nicht mehr. Er musste sich stellen.
Der Hund stieß ein bedrohliches Knurren aus und wurde in der nächsten Sekunde von der Leine
gelassen.
Wie eine Kanonenkugel raste er auf Suko zu. Seine breiten Pfoten klatschten auf den Boden.
Suko blieb breitbeinig stehen. Ein Kraftpaket, ein Bündel an Energie. Er wirkte wie ein Fels.
Zwei Yards vor Suko schnellte der Köter los. Weit hatte er seinen Rachen aufgerissen. Die
Reißzähne blinkten. Der Hund war bereit, sie Suko in die Kehle zu hacken.
Suko, der Kraftmensch, blieb stehen. Die dressierte Bestie prallte gegen ihn.
Fauchen, Knurren, unterdrücktes Bellen.
Für Sekunden schienen Menschen und Tier eins zu sein. Dann warf Suko den Körper der gefleckten
Bestie zu Boden. Es klatschte, als der Hund den Boden berührte.
Stumm und mit aufgerissenen Augen blieb er liegen. Sein Kopf stand seltsam verdreht vom Körper
ab.
Der Kerl, dem der Hund gehörte, stieß einen Laut aus, der nicht weniger an das Bellen eines Tieres
erinnerte. Unter seiner Jacke holte er den Schädelbrecher hervor. Suko konnte nicht wissen, dass ich
bereits mit dem Kerl gekämpft hatte. Der Bursche hatte sich inzwischen jedoch erholt und auch
seine verdammte Waffe wiedergefunden.
Er kam wie eine Walze. Ließ dabei den Schädelbrecher in die offene linke Handfläche klatschen.
Suko wich zurück. Er war ganz auf Abwehr eingestellt. Er wusste genau, dass er einen Schlag mit
dem Schädelbrecher auch nicht verdauen würde.. Dazu brauchte man wirklich einen Schädel aus
Eisen. Und wer hatte den schon.
»Brei! « keuchte der Schläger. »Zu Brei haue ich ... «
Das letzte Wort bekam er gar nicht mehr heraus. Da hatte Suko bereits zugeschlagen.
Blitzschnell und aus dem Stand war diese Aktion gekommen. Es war ein harter, präziser Schlag, der
da traf, wo Suko es haben wollte.
Der Kerl verdrehte die Augen. Seine rechte Hand war paralysiert. Die Waffe rutschte ihm aus den
Fingern. Schwer wie ein Brett kippte der Mann nach hinten. Er war nicht bewusstlos, konnte noch
sprechen, wenn auch nur mühsam.
Suko kniete sich neben ihn. »Du musst noch viel lernen, Freund«, sagte er. »Ohne Deckung geht
man nicht auf einen Gegner los. Merk dir das mal. «
Der Graukittel starrte den Chinesen nur an.
Suko stellte seine Fragen. »Wo ist John Sinclair?«
In den Augen des Mannes leuchtete Unverständnis.
Suko präzisierte seine Frage. »Ich will wissen, wo der Mann ist, den ihr gefangen habt?«
»Spielzimmer«, murmelte der Wächter. »Roulett ... «
Suko glaubte ihm nicht, doch der Kerl
blieb auch nach einer erneuten Frage bei seiner Antwort.
»Dann erkläre mir den Weg«, forderte Suko.
Er bekam die Beschreibung und war wenige Sekunden später bereits unterwegs...
Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, erhoben sich zwei Croupiers von ihren Plätzen.
Nur der Spielleiter blieb sitzen.
Aus leeren Augenhöhlen starrte er auf die versammelten Menschen und bekam so alles mit, was sich
in dem Spielzimmer abspielte. Die Schwarze Magie hielt ihn am >Leben<. Sie machte ihn auch
sehend, obwohl er keine normalen Augen besaß.
Bill Conolly furchte die Stirn. Er schien zu überlegen. Irgend etwas zerbrach in seinem Innern.
Fand er sein Gedächtnis zurück?
Schweiß sammelte sich auf seinem Gesicht, lief in Rinnsalen an den Wangen entlang, tropfte über
das Kinn und versickerte im Kragen des Pullovers.
Plötzlich sprang Bill auf.
Aber da waren die beiden Totenköpfe schon bei ihm. Fest packten sie zu. Ihre knochigen Finger
legten sich wie Klammern um seine Handgelenke und bogen sie zurück.
»Verdammt!« Dieser Fluch zeigte, dass der Reporter wieder in die brutale Wirklichkeit
zurückgefunden hatte. Er warf seinen Körper herum, riss die beiden Croupiers mit, die von dieser
Aktion überrascht wurden, und schmetterte sie gegen die Kante des Roulettisches.
Sie ließen den Reporter los.
Sofort wirbelte Bill herum, wollte zur Tür rennen.
Da hob der Spielleiter den Rateau. Ein Blitz schoss daraus hervor und bohrte sich dicht vor Bill
Conollys Schuhspitzen in den Boden.
Den Teppich zierte ein fingergroßes Loch. Es roch verbrannt.
Bill blieb stehen.
Die anderen Spieler wichen schreiend zurück, drängten sich an den Wänden, um aus dem
unmittelbaren Gefahrenbereich zu gelangen.
»Packt ihn! « gellte der Befehl.
Die Totenköpfe griffen zu. Sie warfen sich dem Reporter entgegen. Bill bekam einen Schlag in die
Kniekehlen, der ihn zu Boden schickte. Er wollte sich noch zur Seite rollen, doch die Croupiers hielten
eisern fest.
Hart rissen sie ihn auf die Füße.
Bill bekam einen Schlag in den Magen, der ihm die Übelkeit in die Kehle trieb. für wenige
Augenblicke verschwamm alles vor seinen Augen. Die Zeit reichte den Totenköpfen, um ihn in eine
Art Polizeigriff zu nehmen.
Sie drängten ihn auf die Tür zu.
Die Tür, die das Geheimnis verbarg, das den Menschen Jugend und Schönheit zurückgeben sollte.
Der Spielleiter verließ ebenfalls seinen Platz. Mit schnellen Schritten ging die makabre Gestalt auf
die Tür zu, legte ihre Hand auf die Klinke und zog die Tür auf.
Heulen und Wehklagen drang aus einer schwarzen, unergründlichen Tiefe. Grausame Schreie
mischten sich mit einem dämonischen Singsang. Tanzende wirbelnde Schatten schienen mit gierigen,
langen Armen nach dem Opfer zu greifen, wollten es hinabziehen in den Tunnel ohne Wiederkehr.
Bill Conolly ahnte, was ihm bevorstand. Und er begann zu kämpfen. Er wollte sich nicht so einfach
aufgeben und stemmte sich gegen den Griff der beiden Totenköpfe.
Doch die Kräfte dieser Horrorgestalten waren stärker. Zoll für Zoll näherten sie sich ihrem Ziel.
»Hinein mit ihm! « brüllte der Spielleiter. »Die Hölle wartet auf ihren Gast. Er wird die Jugend
bekommen und den Teufel kennenlernen. Sieg der Schwarzen Magie! «
»Verdammt! « Bill keuchte. Er kämpfte wie ein Berserker. Es gelang ihm, einen seiner Bewacher zu
Boden zu schmettern, doch der Hundesohn ließ nicht los. Er riss Bill mit.
Der Reporter sah den Teppich auf sich zukommen. Im gleichen Moment packte jemand seine Beine,
hob sie hoch.
Bill schwebte in der Luft.
Aus! Es war vorbei!
»Hinein mit ihm! « schrie der Spielleiter.
Noch einmal riss der Reporter seine Augen weit auf. Blickte in den dunklen furchterregenden
Schlund, in die grausame, alles vernichtende Schwärze und schloss in diesen schrecklichen Sekunden
mit seinem Leben ab ...
»Legt ihn um!«
Ich hörte den Befehl und wusste, dass es um Bruchteile von Sekunden ging.
Zu zweit stürzten sich die Schläger auf mich. Der rechte zog dabei eine Pistole unter dem Jackett
hervor.
Es war meine Beretta.
Und er war auch meiner Meinung nach der gefährlichste.
Ich drehte mich, und aus der Drehung heraus feuerte ich einen linken Haken ab.
Der Schlag schüttelte den Mann durch. Sein Angriff wurde gestoppt. Die Hand mit der Waffe sank
herunter. Ich wollte nachsetzen und den Arm packen, doch da hing mir der zweite Schläger am Hals.
Er riss mich zurück.
Ich stolperte, konnte mich jedoch fangen und meine Hände um seinen Nacken krallen. Mit einem
Kraftakt schleuderte ich ihn über mich hinweg zu Boden.
Es krachte dumpf, und ich hatte das Gefühl, die Wände würden wackeln. Durch diese Aktion hatte
ich den bewaffneten Kerl für einen Augenblick irritiert.
Diesmal gelang es mir, seinen Arm zu fassen und ihn herumzudrehen. Wir kämpften verbissen um
die Beretta. Keiner gab nach. Ich bekam die Kraft des Schlägers zu spüren. Immer mehr drückte er die
Mündung in meine Richtung.
Aus den Augenwinkeln schielte ich zur Seite. Von Dr. van Cordtland sah ich nichts mehr, dafür aber
von Schläger Nummer zwei. Er holte einen Totschläger unter seinem Jackett hervor. Er würde ihn mir
in der nächsten Sekunde über den Kopf ziehen.
Ich trat meinem Gegner die Beine weg.
Er fiel hin, ich duckte mich seitlich ab, hörte den Schlag über meinen Kopf hinwegpfeifen und das
enttäuschte Gebrüll des Gorillas. Noch in der Bewegung fiel ich über den Kerl mit der Waffe. Ich hatte
mehr Schwung drauf, konnte ihm das Gelenk herumdrehen und ihm die Beretta entwinden.
Ein paar Mal rollte ich mich über den Boden.
Dann sah ich den Schatten.
Der Kerl mit dem Totschläger sprang auf mich zu.
Meine Beine schnellten vor. Voll bekam er den Tritt mit. Er stoppte seine rasende Bewegung. Der
Bursche wurde grün im Gesicht und hielt sich den Leib.
Schon >rollte< der zweite Kerl heran. Ich flog herum, und er rannte genau in meinen Schlag hinein.
Diesmal hatte ich mit dem Lauf zugeschlagen. Ich wollte meinen Gegner nicht töten, nur
kampfunfähig machen.
Das schaffte ich auch.
Sein Gesicht nahm einen erstaunten Ausdruck an, der Blick wurde glasig, und dann krachte der
Mann zu Boden.
Mit ausgebreiteten Armen und Beinen blieb er liegen.
Sein Kumpan hatte immer noch mit meinem letzten Schlag zu kämpfen. Er biss die Zähne
aufeinander, dass es knirschte.
»Gib auf!« schrie ich ihn an.
Stur wie ein Panzer schüttelte er den Kopf.
Schwer drang sein Atem aus dem halbgeöffneten Mund. Speichelbläschen zerplatzten vor seinen
Lippen. Noch immer hatte er beide Hände auf den Magen gepresst.
Der Kerl war fertig. Sogar im Stehen!
Ich ging auf ihn zu und tippte ihn quasi nur mit der Hand an. Er fiel nach hinten, Bewusstlos blieb er
liegen.
Mir zitterten die Knie. So kurz der Kampf nur gewesen war, so sehr hatte er mich angestrengt. Zwei
Gegner waren doch verdammt viel. Auch mir wurde schwindlig, doch der Schwächeanfall ging rasch
vorbei.
Ich warf einen Blick in den Spiegel, das heißt durch den Einwegspiegel hindurch.
Was ich zu sehen bekam, ließ mir die Haare zu Berge steigen ... Mit einem Knall flog die Tür auf.
Sie prallte bis gegen die Wand, wurde zurückgeschleudert, aber da war Suko schon im Zimmer.
Ein Aufschrei der entsetzten Menschen. Die Totenköpfe hielten mitten in der Bewegung inne.
Wandten ihre hässlichen Schädel dem Eindringlich zu.
Suko kam wie ein Wirbelsturm.
Mit 'einem Kampfschrei auf den Lippen fegte er auf die beiden Monster zu, kam über sie wie ein
rächender Gott.
Sie ließen Bill Conolly fallen.
Dicht vor der offenen Tür blieb der Reporter liegen. Er bekam kaum mit, was sich in den folgenden
Sekunden abspielte.
Sukos Fäuste knallten gegen die weißen Schädel der Skelette. Die Unheimlichen wurden
zurückgeschleudert. Der
Spielleiter riss seinen Rateau hoch, wollte auf Suko anlegen, doch der Drehcroupier fiel gegen ihn und
stieß ihn zurück.
Für einige Augenblicke bekam Suko Luft. Er packte den zweiten Croupier, riss ihn hoch und
schleuderte ihn in die schwarze Öffnung hinein.
Ein tierischer Schrei drang über die Lippen des Monsters. Für Bruchteile von Sekunden sah Suko die
langen Arme aus der Dunkelheit auftauchen, sah die tanzenden, wirbelnden Schatten, die sich über das
Monster legten und es aufzufressen schienen.
Sofort kreiselte Suko herum.
Der Drehcroupier griff ihn an. Er wollte mit seinen skelettierten Händen Sukos Kehle umklammern.
Der Chinese duckte sich, die Hände verfehlten ihn. Jetzt packte Suko den Kerl und feuerte ihn mit
wilder Entschlossenheit in den Eingang zur Hölle.
Wieder der Schrei, wieder das Grauen.
Noch war der Spielleiter übrig. Und er besaß seine magische Waffe.
Plötzlich sah Suko die kleine Schaufel auf sich gerichtet, und er erwartete den alles zerstörenden
tödlichen Strahl.
Da griff Bill Conolly ein.
Noch immer lag der Reporter am Boden. Doch der Totenkopf stand dicht bei ihm.
Zu dicht ...
Bills rechter Arm schnellte vor, umklammerte blitzschnell den Knöchel und zog.
Das Monster verlor seine Standfestigkeit. Genau in dem Augenblick, als der magische Strahl den
Rateau verließ.
Suko sah nur einen Blitz. Er sauste haarscharf an seinem Kopf vorbei und bohrte sich in die Decke.
Dann reagierte der Chinese.
Er hechtete auf den Totenschädel zu, hämmerte seine Handkante auf den skelettierten Arm und
versuchte, den Stab an sich zu bringen.
Ein weiterer Blitzstrahl schoss aus der Mündung, glitt an Freund und Feind
vorbei und verschwand in der Schwärze hinter der Tür, wo es zu lautlosen Lichtexplosionen kam.
Suko kämpfte verbissen. Immer wieder versuchte er, dem Croupier die Waffe zu entwinden.
Es war ein verzweifelter Kampf.
Auch Bill griff ein. Und er sah die beiden Rateaus der Croupiers auf dem Roulettisch liegen.
Drei Riesenschritte brachten ihn zu seinem Ziel. Seine rechte Hand wollte schon den Stab
umklammern, als die Tür zum zweitenmal aufflog.
Dr. van Cordtland sprang in den Spielsaal.
»Finger weg!« brüllte er.
Bill zuckte hastig zurück, wandte den Kopf und vereiste innerlich.
Drei Schritte stand van Cordtland von der Tür entfernt. Er hielt zwar keine magische Waffe in den
Händen, aber die Maschinenpistole reichte aus, um die Versammelten ins Jenseits zu befördern ...
»Das wär's dann wohl«, sagte van Cordtland mit kalter höhnischer Stimme.
Und zu Suko gewandt. »Steh auf! Lass den Croupier los! «
Suko zögerte.
Van Cordtland begann zu schreien. »Ich schieße sie alle um. Auf keinen nehme ich Rücksicht!
Er schwenkte die MPi im Halbkreis. Da gab Suko auf. Er ließ den Croupier
los und kam ächzend auf die Füße. Sofort zielte der Totenkopf mit dem Rateau auf ihn.
»Noch nicht!« schrie van Cordtland. »Ich möchte erst einiges klarstellen. Wo sind die anderen.
Die Frage galt Bill Conolly, und der Reporter konnte sich trotz der ernsten Situation ein Grinsen
nicht verkneifen. Er deutete auf die offenstehende Tür. »In der Hölle«, erwiderte er. »Sie sind dort, wo
sie hingehören! «
Van Cordtland fluchte. »Was glaubst du, wo du gleich bist! « zischte er. »Ich werde dich
durchlöchern. Voll Blei pumpen. Ich ...
»Wo bleibt denn Ihre Erziehung, van Cordtland? « fragte Suko.
Der Arzt schnappte nach Luft. Sein hochrotes Gesicht zeigte einen erstaunten Ausdruck. »Wer sind
Sie eigentlich?«
Sukos Pfannkuchengesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Sagen Sie bloß, Sie kennen
mich nicht. Ich dachte, Sie wären über alles informiert. John Sinclair, zum Beispiel ... «
»Reden Sie keinen Quatsch. Ich will wissen, wer Sie sind! «
»Er ist John Sinclairs Kampfgefährte«, antwortete Bill an Sukos Stelle.
Van Cordtland begann zu lachen. »Sinclair ist tot! « brüllte er triumphierend.
Bills Herz überschlug einen Sprung. Und auch Suko wurde blass. Bluffte der Kerl nur - oder sagte er
tatsächlich die Wahrheit?
»Beweisen Sie es!« forderte Bill.
Van Cordtland schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht nötig. Sie müssen mir schon glauben.«
Er ging noch einen Schritt vor. Seine kalten Blicke wanderten über die Anwesenden. Die Spieler
standen mit schreckensbleichen Gesichtern an der Wand. Für sie musste eine Welt zusammenge-
brochen sein. Ihr Traum von Jugend und Schönheit war ausgeträumt?
Van Cordtland gab in den nächsten Sekunden die Erklärung. »Keine Angst«, sagte er zu ihnen.
»wenn ich diese Brut erledigt habe, dann läuft alles wieder seinen normalen Gang. Das Totenkopf-
Roulett wird sich weiterdrehen. Das verspreche ich Ihnen.«
» Wenn Sie sich da nicht zu viel vornehmen«, meinte Bill.
»Halten Sie den Mund!«
Suko und Bill Conolly beobachteten den Mann genau. Es entging ihnen auch nicht, dass seine
Blicke hin und wieder zur Ausgangstür wanderten. Wartete er auf irgendein Ereignis? Oder auf die
Vollzugsmeldung? Vielleicht bekam er auch Verstärkung?
Bill Conolly beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen. »Warum schießen Sie nicht?« fragte er.
Der verbrecherische Arzt versteifte, doch dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Sie werden
schon früh genug sterben«, bellte er. »Keine Angst. Jeder kommt dran. «
» Wie John Sinclair. «
»Ja, wie er! «
»Haben Sie ihn getötet?«
»Nein. Diese Arbeit haben meine Leute übernommen. Obwohl es mir ein 'Vergnügen gewesen
wäre. Aber man kann nicht alles haben. «
»Ich glaube Ihnen nicht, dass John Sinclair tot ist«, sagte Bill.
»Und warum nicht?«
Gefühlssache.
Van Cordtland lachte auf. »Ihre Gefühle täuschen sie diesmal, Conolly. Aber Sie haben recht.
Warum soll ich hier unnötig Zeit vertrödeln? Bringen wir es hinter uns. Du wirst diesen Chinesen
erledigen, Tabor!« Damit war der Spielleiter gemeint. »Und ich erschieße Conolly ... «
Bill und Suko spannten sich. Sie sahen das Aufleuchten in den Augen des Arztes, und im nächsten
Augenblick überstürzten sich die Ereignisse ...
Mit einem mörderischen Krach brach der riesige Wandspiegel in tausend Scherben.
Von der anderen Seite hatte ich mit meiner Beretta dagegengeschlagen, war dann durch die Öffnung
gehechtet und sprang in den Spielsaal.
Die folgenden Ereignisse liefen wie im Zeitraffertempo ab, waren aber von einer mörderischen
Brisanz.
Scherben hatten meine Gesichtshaut eingerissen. Mit dem linken Ärmel wischte ich mir das Blut von
den Wangen.
Van Cordtland hatte das Splittern schräg hinter sich gehört. Wie ein Irr-, wisch wirbelte er herum,
riss den Abzug der Maschinenpistole durch.
Ich sah das dunkle, hässliche Loch der Mündung und feuerte. Jagte zwei Kugeln aus der Beretta. Ich
konnte jetzt keine Rücksicht mehr nehmen.
Es ging um mein Leben. Und um das der anderen.
Die Kugeln rissen van Cordtland herum. Blut sprudelte auf sein blütenweißes Smokinghemd. Er
torkelte zur Seite. Und dann rotzte die Bleigarbe aus dem Lauf der MPi. Fegte in den Boden, riss den
Teppich auf.
Van Cordtland zuckte. Er wollte die Waffe noch einmal in die Höhe bringen. Er schaffte es nicht.
Die Maschinenpistole rutschte aus seinen Fingern.
Er selbst taumelte weiter, versuchte, sich krampfhaft auf den Beinen zu halten, und näherte sich doch
immer mehr der Tür.
Hinter mir vernahm ich die gellenden Angstschreie der Casinogäste. Die Männer und Frauen hatten
sich in ihrem panischen Schreck zu Boden geworfen und die Köpfe in den Armen vergraben.
Ich konnte mich nicht um sie kümmern, denn noch war die Gefahr nicht gebannt.
Der Spielleiter lebte noch.
Er kämpfte mit Suko.
Der Chinese hatte, als ich in den Saal gestürmt kam, mit einer blitzschnellen Bewegung den Arm des
Totenkopfs in die Höhe geschlagen. Der Lichtblitz aus
dem Rateau zerfraß die Decke. Mehr aber nicht. Und jetzt kämpften Suko und der Croupier um jeden
Fußbreit Boden.
Menschliche Kraft gegen die der Hölle.
Wer würde siegen?
»Suko!« brüllte ich. »Weg von dem Kerl! «
Der Chinese verstand. Er ließ den Totenkopf los, warf sich zurück aus der Schusslinie.
Ich stand in Combatstellung. Breitbeinig! Jagte meine vorletzte Kugel aus dem Magazin.
Der Totenkopf wirbelte soeben herum, sprang in den Schuss hinein, und das Silbergeschoss spaltete
ihm den Schädel.
Die Teile platzten nach allen Seiten weg, und das Monster verging in Sekundenschnelle, wurde zu
Staub.
Ein Schrei ließ mich herumfahren. Nie würde ich die Szene vergessen, die sich meinen Augen bot.
Rückwärts taumelte der Schwerverletzte van Cordtland auf den Eingang zur Hölle zu.
Noch einen Schritt - dann ...
Da kamen die Schatten. Die langen Arme. Wie Tentakel umfassten sie den verbrecherischen Arzt.
»Aaaahhh ...! «
Lange noch gellte mir der Schrei in den Ohren. Auch dann, als Roger van Cordtland bereits
verschwunden war.
Die Hölle hatte ihn verschluckt.
Im gleichen Moment zerbrachen auch die beiden zurückgebliebenen Rateaus. Die Schwärze hinter
der Tür löste sich auf, wurde heller. Mondlicht schimmerte.
Mondlicht?
Ein Park, Bäume, Sträucher ...
Wir konnten nach draußen schauen. Wo sich die Tür befunden hatte, war jetzt eine Öffnung zu
sehen, die den Blick in den Park des Sanatoriums freigab.
Der Spuk war verschwunden.
Doch zum Aufatmen sollte ich nicht kommen. Der letzte Schock stand mir noch bevor.
Zwei Gestalten liefen durch den Park, kamen geradewegs auf den Eingang zu.
Zwei Frauen ...
Mrs. Jones und ihre Tochter Rebbie!
Aber wie hatten sie sich verändert. Automatisch lief ich ihnen entgegen.
Ich sah Mrs. Jones - oder war es Rebbie? Das Schicksal hatte grausam mit ihnen gespielt.
Rebbie war gealtert und Mrs. Jones ein Teenager geworden. Doch nur für wenige Sekunden.
Dann begann Mrs. Jones zu zerfallen. Wurde wieder die alte Frau, und mit Rebbie geschah das
Gegenteil. Sie verwandelte sich zurück in ein junges Mädchen.
Niemand konnte wohl ermessen, was die beiden Frauen in diesen schrecklichen Augenblicken
empfanden. Ich stand wie eine Statue neben ihnen, unfähig zu begreifen.
Plötzlich entrang sich den Lippen der alten Frau ein erstickter Seufzer. Dann brach sie in die Knie.
Ich sprang hinzu und fing sie noch auf. Doch ein Blick in ihre Augen sagte mir genug.
Mrs. Jones war tot.
Sie hatte die Schrecken nicht überwinden können.
Rebbie sah mich an. »Ist sie ... ist sie...«
Ich nickte.
Hinter mir hörte ich Bill Conolly sprechen. »Kommen Sie, Ladies and Gentlemen. Das Spiel ist aus.
..«
Und leise fügte ich hinzu. »Rien ne va plus - nichts geht mehr ... «
-ENDE-
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Der schwarze
Henker war eine Bestie, wie sie nur die Hölle erschaffen konnte. Blutrünstig. Grausam. Nach 400 Jahren war sie erwacht, um das mörderische Handwerk zu vollenden. Unter dem Beil des schwarzen Henkers starben Hunderte von unschuldigen Opfern. Die Furcht der Lebenden war unvorstellbar. Da entschloß sich John Sinclair, dem Mörder den Garaus zu machen. Er hatte an alles gedacht, auch daran, daß der Henker als unsterblich galt...
Fahren Sie mit John Sinclair nach Schottland, in den einsamen Gebirgsort
Pitlochry. Sie erleben ein Abenteuer, das Ihnen unter die Haut geht