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Nervenarzt 2012 · 83:847–854DOI 10.1007/s00115-011-3471-8Online publiziert: 24. Juni 2012© Springer-Verlag 2012
S.G. Riedel-Heller1 · U. Gühne1 · S. Weinmann2 · K. Arnold3 · E.-S. Ay3 · T. Becker3
1 Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Universität Leipzig2 Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité-
Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité Mitte, Berlin3 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm
Psychosoziale Interventionen bei schweren psychischen StörungenEvidenz und Empfehlungen: Psychoedukation, Training sozialer Fertigkeiten, Sport und Bewegung
Leitthema
Der Beitrag stellt drei gängige und in der Praxis weit verbreitete psycho-soziale Interventionen in den Mittel-punkt: psychoedukative Interven-tionen für Patienten und ihre Ange-hörigen, das Training sozialer Fertig-keiten sowie Sport- und Bewegungs-interventionen. Was wissen wir über deren Wirksamkeit bei Menschen mit schweren psychischen Störungen? Welche Empfehlungen gibt die S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien für Menschen mit schweren psychischen Störungen“ der Deutschen Gesell-schaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)?
Psychosoziale Interventionen
Psychosoziale Interventionen stellen neben den somatischen Therapieverfah-ren und psychotherapeutischen Inter-ventionen eine wichtige Säule psychiatri-scher Behandlung dar. Zu den psychoso-zialen Therapien gehören eine ganze Rei-he sehr heterogener Interventionen. Da-zu zählen komplexe Interventionen (z. B. Akutbehandlungen im häuslichen Umfeld [21]), aber auch umschriebene Interven-tionen, die in verschiedenen Settings, wie dem ambulanten Bereich, der Tagesklinik oder der stationären Behandlung Anwen-
dung finden. Dazu zählen die Psychoedu-kation, das Training sozialer Fertigkeiten und die Sport- und Bewegungstherapien. Diese Gruppe von Interventionen nimmt der vorliegende Beitrag in den Blick und reflektiert komprimiert die Evidenz zur Wirksamkeit bei Menschen mit schwe-ren psychischen Störungen definiert nach Ruggeri [69] und informiert über die im Prozess zur S3-Leitline dazu generierten Empfehlungen.
Von der Evidenz zur Empfehlung
Für jede psychosoziale Intervention und jede Zielgröße wurde die höchste verfüg-bare Evidenz beschrieben (. Tab. 1). Die Evidenz ist die Grundlage für die Empfeh-lungsstärke. Als Empfehlungsstärken kom-
men eine starke Empfehlung (A: „Soll“-Empfehlung), eine moderate Empfehlung (B: „Sollte“-Empfehlung) und eine schwa-che Empfehlung (C: „Kann“-Empfehlung) infrage. Empfehlungen, zu deren Begrün-dung keine Studien durchgeführt werden können oder die einer breiten Werte- und Präferenzentscheidung in unserer Gesell-schaft entsprechen, werden als klinischer Konsenspunkt (KKP) bezeichnet. Bei der „Übersetzung“ der Evidenz in die Emp-fehlungsstärke im Rahmen eines Leit-linienkonsensusprozesses spielen jedoch noch verschiedene andere Kriterien eine Rolle, aufgrund derer ein „up-grading“ oder ein „down-grading“ der Empfeh-lungsstärke vorgenommen werden kön-nen. Dazu zählt die Qualität der Studien, Effekte und Effektstärken hinsichtlich pa-
Tab. 1 Evidenzgraduierung [52]
Ia Evidenz aus einer Metaanalyse von mindestens 3 RCTs oder einer einzelnen großen RTC mit eindeutigem Ergebnis
Ib Evidenz aus mindestens einer kleineren RTC oder einer Metaanalyse von weniger als 3 RCTs
IIa Evidenz aus zumindest einer methodisch guten RTC
IIb Evidenz aus mindestens einer methodisch guten, quasi-experimentellen Studie
III Evidenz aus methodisch guten, nichtexperimentellen deskriptiven Studien, wie z. B. Ver-gleichsstudien, Korrelationsstudien und Fallserien
IV Evidenz aus Berichten und Empfehlungen von Expertenkomitees oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung respektierter Autoritäten
RCT „randomized controlled trial”.
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tientenrelevanter Zielgrößen, die Ausge-wogenheit zwischen erwünschten und unerwünschten Effekten, Werte und Prä-ferenzen und insbesondere die Akzepta-bilität für Patienten, die Kosteneffektivi-tät der Intervention und die breite An-wendbarkeit im deutschen Versorgungs-system [24].
Ergebnisse
Psychoedukative Interventionen für Betroffene und Angehörige
HintergrundPsychoedukation soll die „Patienten und ihre Angehörigen über die Krankheit und ihre Behandlung informieren, ihr Krank-heitsverständnis und den selbstverant-wortlichen Umgang mit der Krankheit fördern und sie bei der Krankheitsbe-wältigung unterstützen“ ([4], S. 3). Den Angehörigen schwer psychisch Kranker kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie müssen mit der Erkrankung des Betroffe-nen umgehen und erleben dadurch per-sönliche Belastungen. Deshalb wurden zunehmend Konzepte entwickelt, die An-gehörige einbeziehen.
EvidenzgrundlageDie vorliegenden Befunde beziehen sich hauptsächlich auf schwer psychisch kran-ke Menschen mit Schizophrenie und ver-wandten Störungsbildern sowie auf bi-polar erkrankte Patienten. Identifiziert und berücksichtigt wurden systemati-sche Reviews und Metaanalysen, die zum einen ihren primären Fokus auf Psycho-edukation richten [40, 51, 55] und zum an-deren systematische Reviews und Meta-ananlysen zu jenen Familieninterventio-nen, die Psychoedukation als eine Kom-ponente einschließen [3, 58, 60–62, 64]. Ergänzt wurden diese teilweise schon län-ger zurückliegenden Befunde durch aktu-elle randomisierte kontrollierte Studien zu psychoedukativen Behandlungsansätzen bei Patienten mit schizophrenen Erkran-kungen [1, 7–9, 22, 23, 41, 50] und rando-misierten kontrollierten Studien zu psy-choedukativen Behandlungsansätzen bei Patienten mit bipolaren Erkrankungen [10, 11, 32, 46, 47, 57, 65, 66].
Zusammenfassung der EvidenzDie systematischen Reviews und Meta-analysen, die zum einen ihren primären Fokus auf Psychoedukation richteten, er-gaben mit Ausnahme der Metaanalyse aus der NICE-Leitlinie für schizophrene Er-krankungen [51] Hinweise auf positive Ef-fekte von Psychoedukation auf den Wis-senserwerb, die Reduktion des Rückfallri-sikos und die reduzierte Wahrscheinlich-keit stationärer Wiederaufnahmen. Ver-einzelt positive Befunde weisen auf eine verbesserte Medikamentencompliance, Lebensqualität sowie auf ein stärkeres so-ziales Funktionsniveau hin. Systematische Reviews und Metaanalysen zu jenen Fa-milieninterventionen mit psychoeduka-tiven Behandlungsansätzen zeigen aus-nahmslos eine Reduktion des Rückfallri-sikos und der Wahrscheinlichkeit statio-närer Wiederaufnahmen. Daneben gibt es Hinweise darauf, dass auf Familien gerich-tete Interventionen die allgemeine Symp-tomschwere und stationäre Behandlungs-zeiten bei den Patienten reduzieren sowie die Medikamentencompliance und das soziale Funktionsniveau verbessern kön-nen. Es gibt Befunde, die neben einem elaborierten Wissenserwerb bei den An-gehörigen eine Reduktion des Belastungs-erlebens und ein besseres Familienklima durch Familieninterventionen aufzeigen.
» Die Informiertheit des Patienten ist Grundlage kooperativer klinischer Entscheidungsfindung
Weitaus weniger Studien liegen zur Effek-tivität psychoedukativer Behandlungs-ansätze bei Menschen mit bipolaren Stö-rungen vor. Es gibt Hinweise, dass auch der Verlauf der Erkrankung durch Psy-choedukation positiv beeinflusst werden kann (weniger Rückfälle, spätere Rückfäl-le, weniger manische Episoden, seltene-re und kürzere stationäre Behandlung). Vereinzelt wurden positive Effekte hin-sichtlich verbesserter sozialer Funktionen und einer verbesserten medikamentösen Compliance evident.
Bei Studien zur Wirksamkeit von Psy-choedukation bei depressiven Erkrankun-gen ist eine eindeutige Zuordnung zu der von uns betrachteten Patientengruppe
mit einer schweren depressiven Störung dabei kaum möglich. In diesem Zusam-menhang wird auf die Nationale Versor-gungsleitlinie „Unipolare Depressionen“ [13] verwiesen, deren Autoren psycho-edukative Angebote als sinnvolle Ergän-zung im Rahmen eines Gesamtbehand-lungsplanes mit einer „Sollte“-Empfeh-lung (B) empfehlen.
Empfehlungen der Leitlinie. F Konsens besteht darüber, dass jeder
Betroffene mit einer schweren psy-chischen Erkrankung über die gesetz-liche Aufklärungspflicht der Behan-delnden hinaus ein Recht darauf hat, situationsgerechte Informationen zu seiner Erkrankung, deren Ursachen, Verlauf und den verschiedenen Be-handlungsalternativen vermittelt zu bekommen. Die Informiertheit des Patienten ist Grundlage kooperativer klinischer Entscheidungsfindung und Voraussetzung gesundheitsfördern-den Verhaltens. Menschen mit Migra-tionshintergrund sollten diese Infor-mationen in ihrer Muttersprache er-halten können (KKP).
F Zur Optimierung des Wissens-erwerbs über die Erkrankung und zur Reduktion der Rückfallwahrschein-lichkeit sollte eine strukturierte Psy-choedukation im Rahmen eines Ge-samtbehandlungsplanes ausreichend lange und gegebenenfalls wiederholt angeboten werden (B, Ia).
F Angehörige sollen in die psychoedu-kative Behandlung mit einbezogen werden. Sowohl separate Angehöri-gengruppen als auch bifokale Grup-pen haben sich dabei als wirksam er-wiesen (A, Ia).
Training sozialer Fertigkeiten
HintergrundSchwere chronische psychische Erkran-kungen sind häufig mit Beeinträchtigun-gen alltagspraktischer und sozialer Fertig-keiten verbunden. Spezielle Ansätze psy-chosozialer Interventionen zielen darauf ab, die Betroffenen darin zu stärken, Fer-tigkeiten auszubauen, um selbstbestimmt ein weitgehend unabhängiges Leben ge-stalten zu können. Wir unterscheiden breitere Ansätze, die persönliche Bedürf-
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Leitthema
nisse der Betroffenen im Sinne einer un-abhängigen Alltagsgestaltung berücksich-tigen (Training alltags- oder lebensprakti-scher Fertigkeiten – „life skills training“), von Ansätzen, die auf die Verbesserung sozialer und kommunikativer Fertigkei-ten zielen (Training sozialer Fertigkeiten – „social skills training“). Beide Interven-tionsformen lassen sich nicht immer klar trennen. Mithilfe des „social skills model“ [45, 49] lassen sich drei Komponenten so-zialer Fertigkeiten bündeln:F die Wahrnehmung sozialer Reize und
Situationen („receiving skills“),F die kognitive Verarbeitung dieser In-
formationen („processing skills“) undF das angemessene Reagieren in sozia-
len Situationen („expressive skills“) [5].
EvidenzgrundlageAls Evidenzgrundlage wurden Metaana-lysen [39, 51, 58, 61, 62, 67], aktuelle ran-domisierte Studien [16, 29, 30, 33, 34, 75] und randomisierte kontrollierte Studien, die ganz besondere Aspekte des Fertig-keitentrainings untersuchen [17, 20, 38, 48, 72], herangezogen.
Zusammenfassung der EvidenzWährend eine 10 Jahre zurückliegen-de erste Metaanalyse [61, 62] keine sig-nifikante Überlegenheit der Intervention gegenüber anderen Ansätzen fand und le-diglich einzelne Befunde auf verbesserte soziale Funktionen und eine höhere Le-bensqualität in der Experimentalgrup-pe hinwiesen, liegt mittlerweile eine Fül-le an methodisch hochwertigen Studien vor, welche die Effekte eines strukturier-ten Trainings sozialer Fertigkeiten v. a. bei Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung untersuchten, vor. Ein Trai-ning sozialer Fertigkeiten zeigte nahezu durchgehend signifikante positive Aus-wirkungen auf die Erweiterung sozialer Funktionen und erhöhte die Wahrschein-lichkeit einer besseren sozialen Anpas-sung der Betroffenen. Weniger eindeutig waren die Effekte auf andere Zielgrößen (günstige Beeinflussung der Negativsym-ptomatik). Effekte auf die Lebensqualität, das Rückfallrisiko und stationäre Wie-deraufnahmeraten sowie auf die Behand-lungszufriedenheit, Krankheitseinsicht und auf erweiterte Chancen einer beruf-
lichen Wiedereingliederung konnten ver-einzelt aufgezeigt werden und waren selte-ner Gegenstand der Untersuchung.
» Hilfen zur eigenen Lebensgestaltung haben einen hohen Stellenwert
Verschiedene Modifikationen und Neu-entwicklungen von Trainingsmanualen zur Verbesserung sozialer Kompetenzen fokussieren zum Beispiel die Kombina-tion mit kognitiven Verfahren („atten-tion shaping“, „integrated psychological therapy“, „cognitive enhancement thera-py“, „errorless learning“). Positive Effek-te wurden dabei auf die Erweiterung so-zialer Fertigkeiten sowie auf kognitive Funktionen beobachtet. Die gezielte An-wendung eines Fertigkeitentrainings bei älteren Menschen, welches die besonde-ren Bedürfnisse dieser Personengruppe berücksichtigt, führte ebenfalls zu deutli-chen Vorteilen in der Interventionsgrup-pe hinsichtlich sozialer Funktionen, grö-ßerer Unabhängigkeit im Alltag, Stär-kung von Selbstbewusstsein und Krank-heitseinsicht.
Eine spezielle Unterstützung, um er-lernte Fertigkeiten in den Alltag zu trans-ferieren, zeigte positive Auswirkungen auf die soziale Anpassungsleistung, auf eine Reduktion der Symptomschwere so-wie die Reduktion des Rückfallrisikos und stationäre Wiederaufnahmeraten.
Empfehlungen der Leitlinie.F Da schwere psychische Erkrankun-
gen häufig mit Beeinträchtigungen von Alltagsfertigkeiten und sozialen Funktionen verbunden sind und da-durch die Teilhabe am sozialen Le-ben deutlich erschwert ist, haben Hil-fen zur eigenen Lebensgestaltung und die Befähigung zur Teilhabe an sozia-len Aktivitäten in verschiedenen Le-bensbereichen (Selbstsorge, Fami-lie, Freizeit, Arbeit, Gesellschaftliche Teilhabe) einen hohen Stellenwert in der Behandlung. Das Training sozia-ler Fertigkeiten wird gemessen an den individuellen Bedürfnissen der Be-troffenen in ein komplexes Behand-lungsangebot eingebettet (KKP).
F Ein Training sozialer Fertigkeiten soll als Intervention bei Vorhanden-sein sozialer Beeinträchtigungen mit dem Ziel der Verbesserung sozialer Kompetenzen durchgeführt werden (A, Ia).
Sport- und Bewegungstherapie
HintergrundIn Anlehnung an eine Definition des Deutschen Verbands für Gesundheits-sport und Sporttherapie e. V. (DVGS) soll Sport- und Bewegungstherapie hier als “ärztlich indizierte und verordnete Bewe-gung mit verhaltensorientierten Kompo-nenten“ verstanden werden, „die vom The-rapeuten geplant und dosiert […] mit dem Patienten alleine oder in der Gruppe durch-geführt wird“ [14].
Die Bewegungstherapie bei psychi-schen Störungen hat mehrere Wurzeln und eine große Bandbreite. Zur groben Orientierung lassen sich die Verfahren auf einem Kontinuum zwischen den beiden Polen Physiotherapie und Psychotherapie darstellen [31]. In der Nähe von Physio-therapie lassen sich Verfahren anordnen, die den Schwerpunkt primär auf die Be-einflussung körperlicher Zustände legen, wie z. B. Sporttherapie. In der Nähe des Pols Psychotherapie lassen sich dagegen solche Verfahren verorten, bei denen Be-wegung primär auf eine psychische Beein-flussung abzielt, wie z. B. die konzentra-tive Bewegungstherapie. Schließlich gibt es in der Mitte der beiden Pole die Ver-fahren, die auf körperliche und psychi-sche Veränderungen gleichermaßen zie-len, z. B. kommunikative Bewegungsthe-rapie. Eindeutige Abgrenzungen sind oft schwierig und es ist unumstritten, dass auch der Sporttherapie mehrere durchaus auch soziale Dimensionen zugrunde lie-gen [27, 28, 70].
EvidenzgrundlageEvidenzgrundlage bilden zum einen Arbeiten zu Bewegungsinterventionen bei Menschen mit einer schizophrenen Er-krankung. Hier konnte ein Cochrane-Re-view identifiziert werden, dem drei ran-domisierte kontrollierte Studien zugrun-de liegen [19]. Weiterhin wurden rando-misierte kontrollierte Studien [18, 25, 44, 53, 54, 68] und zwei nichtrandomisierte
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Leitthema
Zusammenfassung · Summary
Nervenarzt 2012 · 83:847–854DOI 10.1007/s00115-011-3471-8© Springer-Verlag 2012
S.G. Riedel-Heller · U. Gühne · S. Wein-mann · K. Arnold · E.-S. Ay · T. Becker
Psychosoziale Interventionen bei schweren psychischen Störungen. Evidenz und Empfehlungen: Psychoedukation, Training sozialer Fertigkeiten, Sport und Bewegung
ZusammenfassungDer Beitrag fasst die systematisch recher-chierte Evidenz zu drei gängigen psychoso-zialen Interventionen zusammen: psycho-edukative Interventionen für Betroffene und ihre Angehörigen, Training sozialer Fertigkei-ten und Sport- und Bewegungsinterventio-nen. Die im Konsensusprozess zur S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei Menschen mit schweren psychischen Störungen“ der Deut-schen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychothe-rapie und Nervenheilkunde (DGPPN) abgelei-teten Empfehlungen werden dargestellt und diskutiert. Die Ergebnisse zeigen das Poten-zial für psychosoziale Interventionen auf und verweisen auf Forschungslücken insbeson-dere bei den Sport- und Bewegungsinter-ventionen.
SchlüsselwörterSchwere psychische Störungen · Psychoedukation · Training sozialer Fertigkeiten · Sport- und Bewegungsinterventionen · S3-Leitlinie
Psychosocial interventions in severe mental illness. Evidence and recommendations: psychoeducation, social skill training and exercise
SummaryThis paper summarizes the results of a sys-tematic literature search on three widely used psychosocial interventions for people with severe mental illness: psychoeducation for patients and relatives, social skill training and physical exercise. Based on this evidence, recommendations given in the S3 guidelines on psychosocial therapies in severe men-tal illness of the German Society for Psychia-try, Psychotherapy and Neurology (DGPPN) will be reported. Areas of future research are identified.
KeywordsSevere mental illness · Psychoeducation · Social skill training · Physical exercise · S3-Guidelines
kontrollierte Studien [12, 35] identifiziert und berücksichtigt. Zum anderen wur-den randomisierte kontrollierte Studien zu Bewegungsinterventionen bei Depres-sion [2, 6, 37, 42, 43, 63] und bei gemisch-ten Dia gnosegruppen inkludiert [56].
Zusammenfassung der EvidenzAerobes Ausdauertraining (z. B. Fahrrad-ergometer-Training, Walking) kann posi-tive Effekte auf die psychische Gesund-heit schwer psychisch kranker Menschen entfalten. Speziell für Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung ist ein über-wiegend ausdauerorientiertes regelmä-ßiges Training in der Lage, Positiv- und Negativsymptomatik, Depressivität und Angst im Vergleich zu einer Standardbe-handlung signifikant zu vermindern. Bei depressiven Patienten verbessert aerobes Ausdauertraining den psychischen Ge-samtzustand, reduziert Depressivität und Angst, erhöht Lebensqualität und Selbst-wertgefühl und verändert dysfunktionale Einstellungen [6]. Der antidepressive Ef-fekt von Bewegung, der bezüglich leicht erkrankter Patienten bereits länger als ge-sichert gilt [15], stellt sich auch bei schwe-rer erkrankten Patienten ein [37, 42, 43]. Patienten, die weiterhin regelmäßig und selbständig trainierten, waren zur Nach-beobachtung seltener depressiv [2].
Drei randomisierte kontrollierte Stu-dien zur Wirksamkeit von körperorien-tierter Psychotherapie bei Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung [18, 44, 68] erbrachten Hinweise für Vorteile der Intervention im Hinblick auf Symptoma-tik und Funktionsniveau.
Empfehlungen der Leitlinie. F Für Menschen mit schweren psychi-
schen Störungen sollte regelmäßige körperliche Aktivität unter Anleitung angeboten werden, um die psychische Symptomatik zu bessern, die Körper-wahrnehmung zu fördern, Gemein-schaft zu erleben und die Fitness zu stärken (KKP).
F Bei Menschen mit einer Schizophre-nie sollten, je nach Beschwerdebild und Neigung sowie unter Berücksich-tigung der körperlichen Leistungsfä-higkeit, Bewegungsinterventionen als Teil eines multimodalen Gesamtthe-
rapiekonzeptes zur Anwendung kom-men (B, Ib).
F Körperpsychotherapeutische Verfah-ren sollten bei Menschen mit einer Schizophrenie zur Anwendung kom-men (B, IIa).
F Bei depressiven Patienten sollte unter Berücksichtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit gezielt regelmäßi-ges Trainieren zum Einsatz kommen (B, Ib).
F Patienten sollten zur selbständigen Fort- bzw. Durchführung regelmä-ßiger körperlicher Aktivität in ihrem Alltag ermutigt und angeleitet werden (0, III).
Diskussion
Der vorliegende Beitrag stellt die Evidenz und die Empfehlungen für die in der Pra-xis verbreiteten psychosozialen Inter-ventionen dar. Es wird deutlich, dass für die einzelnen Interventionen eine unter-schiedliche Datenbasis zur Verfügung steht. Für Psychoedukation und das Trai-ning sozialer Fertigkeiten liegt eine Fülle von Studien vor, die ihrerseits in systema-tische Übersichten und Metaanalysen ein-gingen. Für Sport- und Bewegungsinter-ventionen ist die Datenbasis deutlich klei-ner.
Wenn eine Leitlinie erscheint, ist sie schon veraltet. Der internationale Wis-senszuwachs ist auch in relativ kurzen Zeiträumen enorm. Das trifft auf einzel-ne Studien, aber auch auf systematische Reviews und Metaanalysen zu. So liegt für die Psychoedukation bereits eine neue Metaanalyse vor [74]. Die hier vorliegen-den Empfehlungen geben der Psycho-edukation von schwer psychisch Kranken unter Einbeziehung der Angehörigen ein besonders großes Gewicht und eine starke Empfehlung. Das erscheint vor dem Hin-tergrund der chronischen Erkrankungen und dem Stellenwert des sozialen Kon-textes bei der Bewältigung ausgesprochen sinnhaft.
Beim Training sozialer Fertigkeiten, für das eine klare Evidenz besteht und eine starke Empfehlung ausgesprochen wurde, sind insbesondere die neueren Arbeiten unter Einbezug kognitiver Tech-niken ein interessantes Feld. Bei weiteren Arbeiten sollte der Transfer erlernter Fä-
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higkeiten in den Alltag mehr in den Mit-telpunkt gerückt werden.
» Für Sport- und Bewegungs-interventionen besteht dringender Forschungsbedarf
Während eine überschaubare Anzahl von Studien zur Wirksamkeit von Sport- und Bewegungstherapie bei Menschen mit speziellen Störungsbildern existieren, ste-hen Studien für die diagnoseübergreifen-de Gruppe von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen aus. Das Ge-biet der Sport- und Bewegungstherapie wird gegenwärtig intensiv beforscht [36]. Es deutet sich an, dass diese Interventio-nen auch für schwer psychisch kranke Menschen ein großes Potenzial verspre-chen.
Nur wenige methodische Aspekte kön-nen hier angesprochen werden. Immer wieder stellt sich in diesen randomisier-ten kontrollierten Studien die Frage, was die richtige Kontrollintervention ist [59]. Die Standardbehandlung des „treatment as usual“ (TAU) hat sich über die Jahr-zehnte deutlich verändert. Eine bessere Beschreibung der Kontrollbedingungen wird immer wichtiger.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass es zu den vorgelegten Interventionen sehr wenige gesundheitsökonomische Evalua-tionen gibt, die darüber Auskunft geben, ob die Interventionen kosteneffektiv sind. Auch hier wird erheblicher Nachholbe-darf ausgemacht.
Welches Ergebnis sollen gute psycho-soziale Interventionen bringen? Was sind die sog. Outcome-Parameter, an denen sie sich messen lassen? Die mögliche Palette ist groß: krankheitsassoziierte Merkma-le (z. B. Symptomschwere), behandlungs-assoziierte Merkmale (z. B. stationäre Be-handlungszeiten), Merkmale sozialer In-klusion (z. B. soziale Funktionen), Zufrie-denheit und Lebensqualität sowie Kosten-effektivität. Waren in Zeiten der Deinsti-tutionalisierung noch verkürzte stationä-re Behandlungszeiten zentrale Zielgrö-ße, so rücken heute andere Zielgrößen in den Mittelpunkt. Die Berücksichtigung der Sichtweise von psychiatrieerfahrenen Menschen könnte dazu führen, dass we-niger symptomorientierte Ergebnispara-
meter und mehr Zielgrößen im Bereich der subjektiven Lebensqualität, der sozia-len Funktionen und der sozialen Inklu-sion Eingang in zukünftige Forschungen finden [26, 71].
Zusammenfassung
Psychosoziale Interventionen sind eine wichtige Säule psychiatrischer Behand-lung [73]. Auf der Grundlage einer Fülle von hochwertigen randomisierten kont-rollierten Studien und zusammengefass-ter Wissensbestände in systematischen Reviews und Metaanalysen werden so-wohl die Psychoedukation unter Einbezug von Angehörigen als auch ein Training so-zialer Fertigkeiten als wirksame Behand-lungen für Menschen mit schweren psy-chischen Störungen beschrieben. Ihr Ein-satz ist inhärenter Bestandteil einer leit-liniengerechten Behandlung. Für Sport- und Bewegungsinterventionen besteht dringender Forschungsbedarf. Ihr Ein-satz kann aufgrund der mangelnden em-pirischen Datenbasis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur mit einer moderaten Emp-fehlung gestützt werden.
Fazit für die Praxis
F Menschen mit schweren psychischen Störungen sind meist über lange Zeit auf das Versorgungssystem angewie-sen.
F Psychoedukation unter Einbezug der Angehörigen und ein Training sozialer Fertigkeiten muss für Menschen mit schweren psychischen Störungen fes-ter Bestandteil der Behandlung sein.
F Sport- und Bewegungsinterventionen wird ein großes Potenzial zugeschrie-ben.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. S.G. Riedel-HellerInstitut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Universität LeipzigPhilipp-Rosenthal-Str. 55, 04103 LeipzigSteffi.Riedel-Heller@ medizin.uni-leipzig.de
Interessenkonflikt. Die korrespondierende Autorin gibt für sich und ihre Koautoren an, dass kein Interes-senkonflikt besteht.
Danksagung. Die vorliegende Arbeit entstand inZusammenhang mit der S3-Leitlinie „Psychosozia-le Therapien bei Menschen mit schweren psychischen Störungen“ und wurde durch die Deutsche Gesell-schaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheil-kunde (DGPPN) gefördert.
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853Der Nervenarzt 7 · 2012 |
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A. Riecher-Rössler (Hrsg)Psychische Erkrankungen in Schwangerschaft und StillzeitBasel: Karger 2012, 152 S., (ISBN 978-3-8055-9562-9), 55.00 EUR
Psychische Erkrankungen in Schwangerschaft
und Stillzeit sind in den letzten Jahren zuneh-
mend in das Bewusstsein der Fachöffentlich-
keit gerückt, und in den deutschsprachigen
Ländern ist eine ganze Reihe von Projekten
entstanden, in denen peripartale psychische
Störungen im Behandlungsfokus stehen. Vor
diesem Hintergrund hat Anita Riecher-Rössler,
Ordinaria für Psychiatrie und Chefärztin der
Psychiatrischen Universitätspoliklinik Basel,
zusammen mit 32 weiteren deutschsprachi-
gen Experten ein Werk herausgebracht, in
dem der aktuelle Kenntnisstand der Peripar-
talpsychiatrie dargestellt wird (Abb. 1). Da
gerade psychische Erkrankungen in dieser
Zeit eine gute interdisziplinäre Zusammen-
arbeit zwischen Psychiatrie und Geburtshilfe,
zwischen Psychopharmakotherapie und
um die Mutter-Kind-Interaktion erweiterte
Psychotherapie und zwischen Hebammen
und Mütterberatern erfordern, beschreiben
Autorinnen aus den verschiedensten Diszipli-
nen anschaulich und praxisnah die häufigsten
psychischen Probleme und Erkrankungen
sowie deren Therapie in Schwangerschaft und
Stillzeit.
Im ersten Teil „Psychische Probleme und Er-
krankungen in Schwangerschaft und Postpar-
talzeit“ wird auf das Krankheitsbild der post-
partalen Depression und seine Bedeutung
für die Mutter-Kind-Beziehung eingegangen
sowie auch depressive und Angststörungen
in der Schwangerschaft dargestellt. Pränatal-
medizinisch-geburtshilfliche Aspekte bei der
Betreuung von psychisch kranken Schwan-
geren werden vom Geburtshelfer prägnant
dargestellt; die Betreuung drogenabhängiger
Schwangerer und Mütter erfordert nach-
drücklich den multidisziplinären Ansatz, und
da sich der Prozentsatz psychosekranker
Frauen, die Mütter werden, demjenigen der
Allgemeinbevölkerung annähert, wird auch
dieser Patientengruppe ein ausführliches
Kapitel gewidmet. Schließlich wird das Selbst-
erleben von Müttern und die Rolle des Vaters
peripartal thematisiert.
Im zweiten Teil „Spezifische therapeutische
Aspekte“ nimmt die Psychopharmakothera-
pie von Frauen in der fertilen Lebensphase,
mit Schwangerschaftswunsch und schließ-
Buchbesprechungen
lich in Schwangerschaft und Stillzeit einen
breiten Raum ein, mit einer für den Praktiker
sehr hilfreichen Anleitung zur Beratung und
Behandlung von psychisch kranken Frauen
in der jeweiligen Phase. In weiteren Kapiteln
werden spezifische Formen der Psychothera-
pie im Postpartum sowie die interaktionelle
Mutter-Kind-Therapie dargestellt.
Der dritte Teil widmet sich der „Prävention“;
dies ist wichtig, da psychische Erkrankungen
der Eltern ein Risikofaktor für kindliche Ent-
wicklungsstörungen und Kindeswohlgefähr-
dung sind. Der multidisziplinäre Ansatz der
Peripartalpsychiatrie ermöglicht und fördert
die Verbindung der Primärprävention der Kin-
deswohlgefährdung mit der Sekundärpräven-
tion postpartaler psychischer Erkrankungen.
Kurz und bündig gibt das Buch auf 152 Seiten
einen guten Überblick über den aktuellen
Wissensstand der Peripartalpsychiatrie; die
einzelnen Kapitel sind erfrischend kurz und
prägnant gehalten, auch der Vielautorstatus
behindert den Lesefluss nicht. Die Darstellung
der Tabellen ist sehr ansprechend, wichtige
Kernaussagen sind im Text optisch hervor-
gehoben und jedes der 18 Kapitel endet mit
einem Literaturverzeichnis sowie der damit
verbundenen Möglichkeit einer vertiefenden
Lektüre.
L. Turmes (Herten)
854 | Der Nervenarzt 7 · 2012