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23 Theologische Li teratur ze it ung 129 (2004) 1 24 Denken und Phänomenologie im Rahmen ihrer rh eo lo gi sc hen Rezepr io n innerh alb der karholischen Glaubenshermeneurik mirein ander in s Gespräc h zu bringe n, müss ren neben rh eolog i- sc hen vor all em erst- bzw. lerztphilosophi sche Fra ge n e rtert werden. Welchen Srarus hat die Idee des Unendlichen bzw. des Absoluren? Wenn die Realität Gorr es ni chr durch ckga ng auf die Tran sze ndenralirär des Denke ns oder das fo rmale Unbedin g- re der Fre iheir gewonnen werden kann, begegnet sie dann pri- mär im Anrli rz des Anderen? Wie ve rh älr si ch daz u der im »meraph ys ischen« Denken erschlosse ne einh ei r ss rifr ende Grund unse res bewuss ten Lebens? Welch e Bedeutung har die Tra nsze n- denz der Leiblichkeit für das Subjekr? Wi e verhalren sic h trans- zendental es und inkarniertes Subjekt, Subjekrrh eo ri e und Dia- lo gik zu ein ander? Wo lieg t der primäre hermeneut isc he Ort der Gottes rede, im inkarnierte n Subjekt oder in der Unbedingrheir der Freiheit bzw. der Konsri rurion u ns eres bewuss ren Lebens? Die ze nrrale Herausfo rderun g, die sich aus dem We rk von L ev inas er gi bt , lautet: Kann die chrisrli che Th eologie konse- quenr einem ph il osophischen Denken fo l ge n, das nur die Spur Go ttes im Anrl irz des Anderen ke nnr, die bes rreirer, dass Gott in der Zeir »gege nrti we rd en kann ? Kan n d ie T heologie Gor- res endgülti ge Off enbarung in der Person des auf erwec kren Gekreuzigten wie d esse n Präsenz in der Euchari stie mir Hilfe ein er philosophi schen Denk fo rm zur Sprac he br in ge n, die den Gedanken »rea ler Gegenwart« (George Sreiner) sys temati sc h unterläuft? H ie r ge hr es um ni ch ts weni ge r als um das Ve rh älr- nis vo n Synchronie und Di ach ro ni e, Prä se nz und Unterbre- chun g, vo n An wese nheit und Abwese nheit, vo n Bi ld und Wirk- li chkeit, das die Phänomenologie seit Hu sserl besc fri gr. Der freihei r sr heo rer i sche Ansarz hingegen wir ft die Frage auf , ob die Pass ivirär, wie sie mir un se rer leiblichen Ve rfass ung gegeben ist, durch den Gedanke n der symboli schen Yermirrlung ei ner formal unbe dingten Freiheit ange messe n gedac ht werde n ka nn . Beda rf es dazu ni cht ein er Phänomenologie des inkarnierten Subj ekts? W ie is t die Bewegung des Lebens zu denken, die noch hinter d ie Id entität des Ich zurückführt? Neben der Darstellu ng der chris rli chen Glaubensleh re im Medium des Begriffs gewinnen in der katho lischen Dogmarik Religionswissenschaft Ha upt, Heinz-Gerhard, u. D ie rer Langewiesche [Hrsg.]: Nation und Relig ion in der deutschen Geschichte. Fra nk- fu rt a. M.-New York: Campus 200 1. 655 S. 8°. Ka rr . 51,00. ISBN 3-593-36845-5. 1 n der Debatte um den Nationalismu s, die se it er wa ein em Jahr- zehnt se hr intensiv gefüh rt wird, ist der Fak tor Reli gion nur se lektiv wa hr ge nommen worde n. Zwa r hat man die reli gions- äquiva lenten Srrukruren nat io nalistischer Id eologien, in denen Na ti on als letzter, »meta physi sc her« We rt überh öht wurde, ge- se hen, sowie die enge Ve rknüpfung vo n Proresranrismus un d deutscher Na ti on rea li siert - all erdings nu r in groben Züge n. Es fehl te n we itgehend Anal yse n nichrp ro resra nrischer Mi lie us un d der prorestantischen Binnendifferenzie ru ng und überh aupt mikrohistorische Sru d ien. Di ese De fi zi re suchr der vo rli egende Sa mmelband mi r l 8 durchweg fundierten Aufsätzen auszuleuchren. Ch ro nologisch reichen sie vo n den frühn euze irli chen Wu rze ln des Nario na- li smu s, die in den all erl erzrc n Jahren zu einem eigenen Fo r- zunehmend äs thetische und poetologische Ansätze an Bedeu- tung. So erh ell end eine Ästhetische und Poe ti sche Th eologie für die Se lbs rversrändi gu ng des chrisrl ichen G l au bens auch is t, ei ne wa hrh ei rsve rpflichre te Glaubenshermeneutik ka nn sich mir der äs the ti schen und poetischen Imaginarionskrafr des G la ubens lerz rl ich n icht zufrieden ge ben. Die U ni ve rsalität des chris tl ichen Mo notheism us lässt sich ohne e in e der theologischen Hermeneutik angemessene ph i- losoph i sc he Denkform ni ch t zur Gelrung br ingen. D ies zei gr derzeit vor all em die offenbarun gs- und trinitätstheologische Diskuss ion. Eine hermeneutische Ersch li eßung der ch ris rli chen Tr in irärslehre ist nicht nur auf das Gespräch mit dem Judentum angewiese n. Sie kann ebenso we ni g auf eine Besc häfti gu ng mit der ph il oso phi schen Pe rsondiskussio n, der Pluralistischen Reli- gionstheo ri e und der neueren Monotheismuskririk ve rzichten. D ie de rze it so bedrängende Frage nach dem Verhältn is von Rel igion und Gewalr könnte sc hließlich d ie karholisc he Dog- marik ve ranl asse n, im Gespräch mir der Kulranthropologie und in enge r Koo peratio n mit der Lirurgiewissenschafr die spezifi- sc he Se mant ik der christlichen O pf ersprache ge nauer aufzu- klären - im religionsgesch ichtl ichen Ve rgleich wie in kriti scher Disranz zum verdeckten Götzendienst und den O pfe rn ökono- mischer Ration al it. Summary T his co ntribu rion surveys rece nt developments in Ca rhol ic dog- mari cs . Ir rrea ts rh e following approaches an d themes : 1. The rheo logi ca l recept io n of rhe rransce ndenral idea of freedo m (Th o- mas Pröpper); 2. a rheology of >Alre rit y< in sp ired by rhe philoso- phy of Emmanuel Levinas which plays an imporra nt rol e in Jewish- Chri stian dialogue (Josef Wohlmurh er al ); 3. ·Poeric dog- mati cs< whi ch un fo lds C hristian rheology in rerms of corn ment- ari es on li ru rgy and an (Al ex Stock); 4. current di scuss ions on rhe c rir ique of Monorheism, rhe Tr ini ry, and rel i gio us pluralism as we ll as 5. the dra ma ti c reach in g of sa l vario n (Raymuqd Sc hwage r et al) whi ch bu ilds on Re ne Gi ra rd 's mimeri c th eory of power. Fin al remarks co ncern open problems and furrher rasks . schun gsfe ld geworden si nd , bis zum Ersten Wel tkrieg. Merho- di sc h haben all e Bei träge, dem Trend der Fors chung fo l ge nd , den Schwe rpunkt auf die Analyse des Na ti onalismus als Deu- rungsko nfig ur ar i on verschoben und d ie ältere Forschungs tra- dir io n, die stärker mit Entwickl ungs- u nd soziosr ru kturellen T heorien anal ys ierte, in den Hinrergrund gerückr. Die Relativierung der lange dominierende n proresra nrisch- boru ss ischen Perspekt ive ze igt sich in vier Felde rn : - Für das Ve rhältn is vo n Karholi zismus und Na ti on in Deurschland liegen we ir we niger Arbeiten vo r als für den Prote- stantismus . Auch katho li scherseits har man Frieden mit der Na- rion ge machr: li bera le Katholiken fr üh, die kar hol is chen Mas- se nve rein ig un ge n wie die Zentrums partei und der Vo lksverein später, wi e Beirräge über den Begriff der Nati on in L ex ika (Wi l- li bald Steinmetz), über konfessione ll e »Helden« in der Nario- nalgeschi chrssch reibung (Srefan Laube, Nikol aus Busch mann) oder über konfess ionelle Bil der der Nation (Fra nk Becker) deur- lich mache n. Sie bestäri ge n, dass Ulrramonranismus ke in aus- reic hendes Erike rr für das Verh ältn is der Ka rhol ik en zum Deur- schen Reich isr. - Zwei Aufsärze über das Verhältnis von Nationalismus und Ka th oliz ismus in Tiro l öffnen die kleindeursche Perspekri ve auf

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23 Theologische Lit eraturzeitung 129 (2004) 1 24

Denken und Phänomenologie im Rahmen ihrer rheologischen Rezepr ion innerhalb der karholischen Glaubenshermeneurik mireinander ins Gespräch zu bringen, müssren neben rheologi­schen vor allem erst- bzw. lerztphilosophische Fragen erörtert werden. Welchen Srarus hat die Idee des Unendlichen bzw. des Absoluren? Wenn die Reali tät Gorres nichr durch Rückgang auf die Transzendenralirär des Denkens oder das fo rmale Unbeding­re der Freiheir gewonnen werden kann, begegnet sie dann pri­mär im Anrlirz des Anderen? Wie verhälr sich dazu der im »meraphys ischen« Denken erschlossene einhei rssrifrende Grund unseres bewussten Lebens? Welche Bedeutung har die Transzen­denz der Leiblichkeit für das Subjekr? Wie verhalren sich trans­zendenta les und inkarniertes Subjekt, Subjekrrheorie und Dia­logik zueinander? Wo liegt der primäre hermeneutische Ort der Gottesrede, im inkarnierten Subjekt oder in der Unbedingrheir der Freiheit bzw. der Konsri rurion unseres bewussren Lebens?

Die zenrrale Herausforderung, die sich aus dem Werk von Levinas ergibt, lautet: Kann d ie chrisrliche Theologie konse­quenr einem philosophischen Denken folgen, das nur die Spur Gottes im Anrl irz des Anderen kennr, die besrreirer, dass Gott in der Zeir »gegenwärtig« werden kann ? Kann d ie T heologie Gor­res endgültige Offenbarung in der Person des auferweckren Gekreuzigten wie dessen Präsenz in der Eucharistie mir Hilfe einer philosophischen Denkfo rm zur Sprache bringen, die den Gedanken »realer Gegenwart« (George Sreiner) sys tematisch unterläuft? H ier gehr es um nichts weniger als um das Verhälr­nis von Synchronie und Diach ronie, Präsenz und Unterbre­chung, von Anwesenheit und Abwesenheit, von Bild und W irk­lichkeit, das die Phänomenologie seit Husserl beschäfrigr. Der freihei rsrheorerische Ansarz hingegen wirft die Frage auf, ob die Passivirär, wie sie mir unserer leiblichen Verfassung gegeben ist, durch den Gedanken der symbolischen Yermirrlung einer formal unbedingten Freiheit angemessen gedacht werden kann. Bedarf es dazu nicht einer Phänomenologie des inkarnierten Subjekts? Wie ist die Bewegung des Lebens zu denken, die noch hinter die Identität des Ich zurückführt?

Neben der Darstellung der chrisrlichen Glaubenslehre im Medium des Begriffs gewinnen in der katholischen Dogmarik

Religionswissenschaft

Haupt, Heinz-Gerhard, u. D ierer Langewiesche [Hrsg.]: Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Frank­furt a. M.-New York: Campus 200 1. 655 S. 8°. Karr . € 5 1,00. ISBN 3-593-36845-5 .

1 n der Debatte um den Nationalismus, die seit erwa einem Jahr­zehnt sehr intensiv gefüh rt wird, ist der Faktor Religion nur selektiv wahrgenommen worden. Zwar hat man d ie religions­äquivalenten Srrukruren nat ionalistischer Ideologien, in denen Nation als letzter, »metaphysischer« Wert überhöht wurde, ge­sehen, sowie d ie enge Verknüpfung von Proresranrismus und deutscher Nation realisiert - allerd ings nur in groben Zügen. Es fehl ten weitgehend Analysen nichrproresranrischer Milieus un d der prorestantischen Binnendifferenzie rung und überhaupt mikrohistorische Srud ien.

Diese Defizire suchr der vo rliegende Sammelband mi r l 8 durchweg fundierten Aufsätzen auszuleuchren. Chronologisch reichen sie von den frühn euzeirlichen Wurzeln des Nariona­lismus, d ie in den allerlerzrcn Jahren zu einem eigenen For-

zunehmend ästhetische und poetologische Ansätze an Bedeu­tung. So erhellend eine Ästhetische und Poetische Theologie für die Selbsrversrändigung des chrisrlichen G laubens auch ist, eine wahrheirsverpflichre te Glaubenshermeneutik kann sich mir der ästhetischen und poetischen Imaginarionskrafr des Glaubens lerzrl ich nich t zufrieden geben.

Die Universalität des christl ichen Monotheism us lässt sich ohne eine der theologischen Hermeneutik angemessene ph i­losoph ische Denkfor m ni ch t zur Gelrung bringen. D ies zeigr derzeit vor allem d ie offenbarungs- und t rinitätstheologische Diskussion. Eine hermeneutische Erschließung der chrisrlichen Trinirärslehre ist nicht nur auf das Gespräch mit dem Judentum angewiesen. Sie kann ebenso wenig auf eine Beschäftigu ng mit der philosophischen Persondiskussion, der Pluralistischen Reli­gionstheorie und der neueren Monotheismuskririk verzichten. D ie de rzeit so bedrängende Frage nach dem Verhäl tn is von Rel igion und Gewalr könnte schließl ich d ie karholische Dog­marik veranlassen, im Gespräch mir der Kulranthropologie und in enger Kooperatio n mit der Lirurgiewissenschafr die spezifi­sche Semantik der christl ichen O pfersprache genauer aufzu­klären - im religionsgesch ichtl ichen Vergleich wie in kritischer D isranz zum verdeckten Götzendienst und den O pfern ökono­mischer Rational ität.

Summary

T his contriburion surveys recent developments in Carhol ic dog­marics. Ir rreats rhe following approaches and themes: 1. T he rheological reception of rhe rranscendenral idea of freedom (Tho­mas Pröpper); 2. a rheology of >Alrerity< inspired by rhe philoso­phy of Emmanuel Levinas which plays an imporrant role in Jewish-Christian dialogue (Josef Wohlmurh er al); 3. ·Poeric dog­matics< which unfolds Christian rheology in rerms of corn ment­aries on li ru rgy and an (Alex Stock); 4. current discussions on rhe crir ique of Monorheism, rhe Triniry, and rel igious pluralism as well as 5. the dramatic reach ing of salvarion (Raymuqd Schwager et al) which bu ilds on Rene Gira rd 's mimeric theory of power. Final remarks concern open problems and furrher rasks.

schungsfeld geworden si nd, bis zum Ersten Wel tkrieg. Merho­d isch haben alle Beiträge, dem Trend der Forschung fo lgend , den Schwerpunkt auf die Analyse des Nationalismus als Deu­rungsko nfigurar ion verschoben und die ältere Forschungs tra­dirion, die stärker mit Entwicklungs- und soziosrrukturellen T heorien analysierte, in den Hinrergrund gerückr.

Die Relativierung der lange dominierenden proresranrisch­borussischen Perspektive zeigt sich in vier Felde rn:

- Für das Verhältn is von Karholizismus und Nation in Deurschland liegen weir weniger Arbeiten vor als für den Prote­stantismus. Auch katholischerseits har man Frieden mit der Na­rion gemachr: liberale Katholiken früh, d ie karholischen Mas­senvereinigungen wie d ie Zentrumspartei und der Volksverein später, wie Beirräge über den Begriff der Nation in Lexika (Wil­libald Steinmetz), über konfessionelle »Helden« in der Nario­nalgeschichrssch reibung (Srefan Laube, Nikolaus Busch mann) oder über konfess ionelle Bilder der Nation (Frank Becker) deur­lich machen. Sie bestärigen, dass Ulrramonranismus kein aus­reichendes Erikerr für das Verhältn is der Karholiken zum Deur­schen Reich isr.

- Zwei Aufsärze über das Verhältnis von Nationalismus und Katholizismus in T irol öffnen die kleindeursche Perspekrive auf

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das Habsburgerreich hin - mir bemerkenswerten Ergebnissen. Dass liberale Katholiken deutscher und italienischer Zunge in einem gemeinsamen Anti-Ultramontanismus zugleich den Na­tionalismus ihrer Sprachgruppen kritisierten (Thomas Görz), ist ebenso unerwartet wie d ie ebenfalls für Tirol belegte Differen­zierung zwischen Nation (und Heimat) und katholischer Reli­gion (Laurence Cole), d ie d ie traditionelle Vorstellung einer idenrifl kato rischen Konstruktion von Nation und Religion rela­tiviert. Der preußisch-deutsche Nationalismus erscheint vor diesem Hintergrund als regionale Ausprägung des chamäleonar­tigen Konzeptes der Nation.

- Beiträge i.iber Minderhei ten, insbesondere über Juden, aber auch über die Sorben, machen deutlich, wie groß die Hegemo­nisieru ngsbedrohung der nationalistischen Ideologie fü r Mino­ritäten war und wie prekär ihre Anpassungsversuche waren: Juden erwa suchten das Judenmm von einer Religionsgemein­schaft in einen »Stamm« oder eine »Rasse« umzudefini eren, um einen im deutschen Nationalismus akzeptierten Status zu erhal­ten (Michael Brenner). Andererseits kann bei Minderheiten, etwa den Sorben (Hartmut Zwahr), auch deutl ich werden, wel­ches Gewicht Religion als Resistenzfaktor besitzen konn te.

- Ulrich Linse dokumentiert, wie weit eine international ver­fass te Minderheit wie die Theosophische Gesellsch11fi den natio­nalen Rahmen überschreiten konnte, zugleich aber an den na­tional organisierten Landesgruppen fast zerbrochen wäre. Über solche internationalistisch strukturierten religiösen Vereinigun­gen, etwa im Bereich der christlichen D issenrer, wüssten wir gerne mehr, etwa ob sie auch langfr istig ins Lager der Kritiker der Nation gehörten, wie ein ige T heosophen mir ihrem Enga­gement für den Völkerbund.

Mir diesen Neujustierungen verschiebt sich die makrohistori­sche Gesamtwahrnehmung in diesem Band gleichwohl nicht unproblematisch, weil sie, wohl nicht absichtlich, dem Missver­ständnis Raum bieten, dass die Vorherrschaft beim Projekt deutsche Nation nicht im Protestantismus gelegen haben könn­te. Die protestantische Hegemonie zeigt allerdings in der gebo­tenen Deutlichkeit Frank-Michael Kuhlemann, der im Übrigen eine innerprotestantische Differenzierung dokumentiert, näm­lich den Dissens in der Pasrorenschafr. Insbesondere konservati­ve Pfarrer real isierten sehr sensibel das Konkurrenzverhältn is zwischen dem ch ristl ichen Gorr und der metaphysisch aufgela­denen Nation. Wie sehr der deutsche Nationalismus ein prote­stantisches Kind war, dokumentieren nicht zuletzt die Beiträge zur auslaufenden Frühen Neuzeit. Während Georg Schmidt für das Alte Reich noch eine kon fessionelle O ffenheit trotz frühna­tionalistischer Strömungen herausarbeitet, gibt es um 1800 eine Epochenzäsur. Von Friedrich Nicolais Antikatholizismus (Horst Carl) bis zur Sakralisierung der deutschen Nation im Angesicht der französischen Eroberungskriege (J örg Echtern kamp) zieht sich d ie protestantische Besetzu ng und Aufladung der in diesen Jahren als machtpoli tischer Faktor konstru ierten Nation.

Der Band besitzr das große Verdienst, das Verhältnis von Nation und Nationalismus als einen auch genuin rel igiös be­stimmten Diskurs zu analysie ren. Die Herausgeber plädieren dabei plausibel dafür, vom Begriff der pol irischen Rel igion oder der Ersatzreligion Abschied zu nehmen, und verstehen unter Nationalismus vielmehr d ie nSakralisierung der Nat ion« als »Nationalisierung christlicher Glaubensinhalte« ( 16). Sodann weisen sie alle entwicklungstheoretischen Perspektiven von sich. Denn aus der Differenziertheit, nachgerade \'V'idersprüchlich­keit der Optionen zur Konjunktion von Religion und Natio n lässt sich nur die Folgerung ziehen, dass Deutschland zwar fak­tisch auf das kleindeutsch-preußisch-protestantische Modell verengt wurde, aber nur unter Eli minierung oder Abdunklung

vieler alternati ver Optionen. Studien dazu, insbesondere zu wei­teren Minderheiten , Dissenrern, regionalen oder gruppenspezi­fischen Differenzierungen, nicht zuletzt eine umfassende Arbeit zum Verhältn is von Katholizismus und Nationalismus wären adäquate Antworten auf den anregenden Fundus d ieses Bandes.

Bonn Helmuc Zander

Krech, Volkhard: Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 187 1 bis 1933. Tübi ngen: Moh r Siebeck 2002. XI, 377 S. gr.8° = Rel i­gion und AuAdärung, 8. Kare.€ 59,00. ISBN 3- 16-147755-3.

Dieses Buch von Volkhard Krech isr nicht aus ei nem Guss geschrieben. Ausgangspunkt war der nicht publizierte, wissen­schaftsgeschich tliche Teil seiner Dissertation von 1998 über »Georg Si mmels Religionstheorie«, dem sich ein von der DFG gefordertes Projekt (Leitung: Hans G. Kippenberg) zur Ge­schichte der Religionsforschung anschl ießen sollte. Die Ab­schnitte über Religion und Kunst sowie zur Mystik hat der Autor schon in Aufsätzen veröffentlicht, sie werden hier noch­mals verwertet.

Schon zu Beginn der Lektüre löst der viel versprechende Wortlaut des T itels Irritationen aus: Bei »Wissenschaft und Re­ligion « hätte man beispielsweise gerne mehr über den religiös fundamentierten Forrschrinsglauben erfahren, vielleicht auch über den komplementären wissenschaftsdogmatischen Materia­lismus. Auch die zeirli che Eingrenzung zwischen 1871 und 1933 im Untertitel ist nicht korrekt. Präzise wäre es gewesen, ihn »Studien zur Religionsforschung um die Jahrhundertwen­de« zu nennen. Denn das Jahr 1900 ist die Achsenzei t, um die sich bei K. alles dreht. Die Wissenschaftsgeschichte der sechzi­ger und siebziger Jahre des 19. Jh.s oder die so wichtige Frage über Brüche und Ko ntinuitäten zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus gefri eren in seinen cleduktiv-l1arrati­ven Ausführu ngen zur vor- bzw. nachgeschichrlichen Abbrevia­tu r. Entwicklungslinien sichtbar gemacht hat di eses Buch gewiss nicht.

Darin geht es also um eine Wissenschaft, deren Gegenstand im deutschen Fächerkanon lange Zeit nicht zu einer eigenen Diszipli n aufsteigen sollte. Das Religiöse blieb vielmehr auf ver­schiedene W issenschaften verteilt, was ja kein Nachte il sein muss, sondern den interd isziplinären Blickwinkel und die Me­thodenvielfalt geradezu verstä rkt. K.s größte Aufmerksamkeit gilt dabei den Konstiturionsbedingungen der Rel igionssoziolo­gie. Wer sich darüber und über die Abhängigkeiten der Reli­gionsforschung von außerwissenschaftl ichen, gesellschaftlichen und wel tanschaulichen Bedingungen kundig machen wi ll , wird das ßuch mir Gewinn lesen.

Kurz zum In halt der Arbeit, die aus d rei Teilen besteht: Im ersten Teil geht es um d ie Paradigmen von Religionswissen­schaft. H ier trifft K. eine wichtige methodische, gerade auch historisch plausible Unte rscheidung, diejenige zwischen Reli­gion und Religiosität, die auf Max Weber zurückgeht und die das gesamte religionswissenschaftliche Fo rschungsfeld von »ob­jektiven« 1 nstiru rionen bis zu »subjektiven« Wahrnehmungen aufspann t. K. liefert dazu einen begriffs- und geisresgeschichr­lichen Exkurs, der bis ins 18. Jh . zurückreicht. Der zweite Teil widmet sich der \Xlissenssoziologie und fragt danach, wie die Religionsforschung auf den sozialen Wandel reagierte. Einer Separierung des rel igiösen Feldes in einer immer differenzierte­ren Gesellschaft stand eine zunehmende Viel fa lt religiöser Le­bensformen gegenüber, gerade auch außerhalb der Ki rchen. Der