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Acta neuropath. (Berl.) 39, 157-163 (1977) Acta Neurol~thologica by Springer-Verlag 1977 Verziigerte Kleinhirnentwicklung im Rahmen des ,,embryofetalen Alkoholsydroms" Lichtoptisehe Untersuchungen am Kleinhirn der Ratte Benedikt Volk Institut ffir Neuropathologie der Universitiit, Irn Neuenheimer Feld 220-221, D-6900 Heidelberg, Federal Republic of Germany Delayed Cerebellar Histogenesis in "Embryofetal Alco- hol Syndrome" Light Microscopic Study of the Rat Cerebellum Summary. The cerebellar postnatal development of young rats (Wistar) was investigated, whose mothers were given a 12 % (w/v) ethyl alcohol solution for 7 days before and during pregnancy. Besides weighing less at birth, the experimental animals had a slower post- natal linear growth and gained weight less rapidly. Histological examination of the cerebellum showed an inpeded histogenesis, which could be observed in the Purkinje cells up to the 10th postnatal day. Moreover, a thick layer of embryonal granular cells with numer- ous mitoses could still be seen in the experimental animals at 3 weeks of age. After 30 days there was no histological difference between the controls and ex- perimental animals. Because the Purkinje cells in the developing cerebellum represent the units were ribo- somes are most abundant, it seems appropriate to ask, whether the observed inhibition of histogenesis could derive from an impaired cerebral protein synthesis. Disturbance of organogenesis was observed in three experimental animals afflicted witlh an extreme inter- nal hydrocephalus. Key words: Embryofetal alcohol syndrome - Cere- bellum - Purkinje cells - Embryonal granular cell layer - Histogenesis Einleitung Seit der Erstbeschreibung von Lemoine et al. (1968) und den sp/iter folgenden Berichten von Jones et al. (1973a, b), sind in letzter Zeit von klinischer Seite an einemimmer gr613er werdenden Pat~entengut zahlreiche Abhandlungen fiber das ,,embryofetale Alkoholsyn- drom" erschienen (Green, 1974; Jones et al,, 1975; Tenbrinck et al., 1975; Reinhold et al., 1975; Bierich et al., 1976; Ijaiya et al., 1976; Majewski et al., 1976). l~bereinstimmend wird von den Autoren die Sym- ptomatik dieses Krankheitsbildes wie folgt geschildert: ausgepr/igte pr/i- und postnatale Wachstumsverz6- gerung, Mikrocephalie, statomotorische und mentale Retardierung mit verringertem Intelligenzquotienten, kraniofaciale Entwicklungsst6rungen sowie Mil3bil- dungen an Herz und Extremitfiten. Der einzige bis heute bekannte Obduktionsbericht bei bekanntem embryofetalem Alkoholsyndrom betrifft ein 5 Tage altes Kind, das neben den oben genannten Mil3bil- dungen eine ausgepr/igte cerebrale Entwicklungsst6- rung in Form von Heterotopien in sfimtlichen Ab- schnitten von Grog- und Kleinhirn aufwies (Jones et al., 1975). Tierexperimentell wurde, vor allem in neueren Untersuchungen, die transplacentare Wirkung yon Athanol auf pr~i- und postnatales Wachstum unter- sucht. Papara-Nicholson et al. (1957) stellten bei jungen Meerschweinchen, deren Mfitter 3 ml Athanol/ kg K6rpergewicht oral verabreicht bekamen, ein verringertes Geburtsgewicht und eine verz6gerte cere- brale Markreifung fest. Tze et al. (1975) berichteten fiber eine signifikante postnatale Gewichtsreduzierung und ein verz6gertes L~ingenwachstum bei den Jungen Alkohol trinkender Ratten. Sandor et al. (1971) beob- achteten eine durch Athanol induzierte St6rung der cerebralen Morphogenese beim Hfihnchen. Chernoff (1975) gelang es durch ansteigende orale )i_thanol- gaben an tr/ichtige Mfiuse intrauterine Wachstums- verz6gerungen zu erzeugen. Kronick (1976) berichtete fiber gehfiuft auftretende Mil3bildungen in Form von Kolobomen und Ektrodaktylien bei jungen M~iusen, deren Mfitter am 8, 9. und 10. Schwangerschaftstag Athanol i.p. erhielten. Obwohl diese Arbeiten eine schfidigende intra- uterine Wirkung von Athanol auf Embryo und Fetus

Verzögerte Kleinhirnentwicklung im Rahmen des “embryofetalen Alkoholsydroms”

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Acta neuropath. (Berl.) 39, 157-163 (1977) Acta Neuro l~ tho log ica �9 by Springer-Verlag 1977

Verziigerte Kleinhirnentwicklung im Rahmen des ,,embryofetalen Alkoholsydroms" Lichtoptisehe Untersuchungen am Kleinhirn der Ratte

Benedikt Volk

Institut ffir Neuropathologie der Universitiit, Irn Neuenheimer Feld 220-221, D-6900 Heidelberg, Federal Republic of Germany

Delayed Cerebellar Histogenesis in "Embryofetal Alco- hol Syndrome"

Light Microscopic Study of the Rat Cerebellum

Summary. The cerebellar postnatal development of young rats (Wistar) was investigated, whose mothers were given a 12 % (w/v) ethyl alcohol solution for 7 days before and during pregnancy. Besides weighing less at birth, the experimental animals had a slower post- natal linear growth and gained weight less rapidly. Histological examination of the cerebellum showed an inpeded histogenesis, which could be observed in the Purkinje cells up to the 10th postnatal day. Moreover, a thick layer of embryonal granular cells with numer- ous mitoses could still be seen in the experimental animals at 3 weeks of age. After 30 days there was no histological difference between the controls and ex- perimental animals. Because the Purkinje cells in the developing cerebellum represent the units were ribo- somes are most abundant, it seems appropriate to ask, whether the observed inhibition of histogenesis could derive from an impaired cerebral protein synthesis. Disturbance of organogenesis was observed in three experimental animals afflicted witlh an extreme inter- nal hydrocephalus.

Key words: Embryofetal alcohol syndrome - Cere- bellum - Purkinje cells - Embryonal granular cell layer - Histogenesis

Einleitung

Seit der Erstbeschreibung von Lemoine et al. (1968) und den sp/iter folgenden Berichten von Jones et al. (1973a, b), sind in letzter Zeit von klinischer Seite an einemimmer gr613er werdenden Pat~entengut zahlreiche Abhandlungen fiber das ,,embryofetale Alkoholsyn-

drom" erschienen (Green, 1974; Jones et al,, 1975; Tenbrinck et al., 1975; Reinhold et al., 1975; Bierich et al., 1976; Ijaiya et al., 1976; Majewski et al., 1976). l~bereinstimmend wird von den Autoren die Sym- ptomatik dieses Krankheitsbildes wie folgt geschildert: ausgepr/igte pr/i- und postnatale Wachstumsverz6- gerung, Mikrocephalie, statomotorische und mentale Retardierung mit verringertem Intelligenzquotienten, kraniofaciale Entwicklungsst6rungen sowie Mil3bil- dungen an Herz und Extremitfiten. Der einzige bis heute bekannte Obduktionsbericht bei bekanntem embryofetalem Alkoholsyndrom betrifft ein 5 Tage altes Kind, das neben den oben genannten Mil3bil- dungen eine ausgepr/igte cerebrale Entwicklungsst6- rung in Form von Heterotopien in sfimtlichen Ab- schnitten von Grog- und Kleinhirn aufwies (Jones et al., 1975).

Tierexperimentell wurde, vor allem in neueren Untersuchungen, die transplacentare Wirkung yon Athanol auf pr~i- und postnatales Wachstum unter- sucht. Papara-Nicholson et al. (1957) stellten bei jungen Meerschweinchen, deren Mfitter 3 ml Athanol/ kg K6rpergewicht oral verabreicht bekamen, ein verringertes Geburtsgewicht und eine verz6gerte cere- brale Markreifung fest. Tze et al. (1975) berichteten fiber eine signifikante postnatale Gewichtsreduzierung und ein verz6gertes L~ingenwachstum bei den Jungen Alkohol trinkender Ratten. Sandor et al. (1971) beob- achteten eine durch Athanol induzierte St6rung der cerebralen Morphogenese beim Hfihnchen. Chernoff (1975) gelang es durch ansteigende orale )i_thanol- gaben an tr/ichtige Mfiuse intrauterine Wachstums- verz6gerungen zu erzeugen. Kronick (1976) berichtete fiber gehfiuft auftretende Mil3bildungen in Form von Kolobomen und Ektrodaktylien bei jungen M~iusen, deren Mfitter am 8, 9. und 10. Schwangerschaftstag Athanol i.p. erhielten.

Obwohl diese Arbeiten eine schfidigende intra- uterine Wirkung von Athanol auf Embryo und Fetus

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Anzo.h[ dcr 9tld Anzclh[ der Anzah[ der Elternt~re Jungen/Wurf Jungen

Kent torte I0 9.9 99

71 Experiment 12 59 mit Todesf~[ten

miRleres Gebuffsgew~ht

5.43 • 0.3"/ ~r6mm)

4,73 • 0.46 (Gromm)

rod yon Ettern- rod yon Eltern- postr~tak~r Iod tieren tieren Mi~itdtmgr Jungt~'re pr~,nata[ )ostnataL

Totgeburten

0

6

Kontrolte 0 0 0 0

2 3x I t r%~,~s Tier mit 0 Hydrocephe.lus

Experirr~nt 5 I tr6chtiges r~zr mit =l(~ 4 Feten int~rnus

i70[ / / , ' "

50 ~O

3O

..4 lo ,_..S_+..~- --'§

1 5 l0 15 21 25" 30 40 50 TAGE

] b

Abb. l b. Gewichtszunahme yon Kontroli- und Versuchstieren in Gramm. Schwarze und helle S/iulen = Standardfehler des Mittel- wertes; senkrechte Linien = Standardabweichung; Querstriche - Mittelwerte; gepunktete Kurve = Versuchsgruppe

. . . . . . . . . . . . ! . . . . . . . 2 . . . . . . . . 3 ........ . . . . . . . . 5 6

Abb. 2. a Unterschiedliches L~ingenwachstum beider Tiergruppen. Oben ein 21 Tage altes Kontrolltier. Unten ein 21 Tage altes Ver- suchstier. Makrophoto. b Prfiparation yon Gehirn und Riicken- mark. Gleiche Tiere wie Abbildung 2 a. Oben Kontrolle; unten Ver- suchstier. Makrophoto; Nachvergr. 1,3 x

bestfitigen, fehlen Tierexperimente mit besonderer Be- rficksichtigung der postnatalen cerebralen und cere- bellaren Entwicklung.

In dem vorliegenden Experiment wird der Versuch unternommen, den Einflul3 von Athanol auf die cere- bellare Morphogenese der Ratte zu untersuchen. Das Kleinhirn bietet sich deshalb an, da es sich hier um ein vorwiegend geometrisch aufgebautes und orientiertes Organ handelt (Eccles, 1973), und die Kenntnis fiber seinen neuronalen Aufbau welt fortgeschritten ist (Miale et al., 1961; Altmann, 1972a, 1972b, 1972c; Palay et al., 1974).

Material und Methode

Als Versuchstiere dienten die Jungen yon 12 m/innlichen und 12 weiblichen, 200 g schweren Ratten (Wistar). Die Elterntiere wur- den nach Randomisierung einzeln in Kunststoffk~ifigen gehalten und erhielten die Kontrolldiiit C1000 yon Altromin. I Woche vor der Paarung wurde den weiblichen Tieren eine 12 %ige (w/v) Atha- noll6sung als einzige Flfissigkeit ad libitum angeboten. Die Alkohol- aufnahme der Tiere schwankte zwischen 5 - 7 g/kg K6rpergewicht. Bei den weiblichen Tieren wurden 3mal aus der Schwanzvene Blut- proben entnommen und die Blutalkoholwerte sofort enzymatisch bestimmt (Bernt et al., 1970). Sie lagen im Durchschnitt bei 0,6 mg/

ml • 0,3. Die 10 weiblichen und mgnnlichen Elterntiere der Kon- trolljungen bekamen bei gleicher Haltung und gleichem Futter nor- males Wasser ad libitum. Nach der Paarung wurden sowohl alko- holisierte, als auch normal ern/ihrte Tiere ohne erhebliche zeitliche Differenzen schwanger, wobei allerdings zwei trfichtige Alkoholtiere kurz vor dem Werfen starben. Bei diesen Tieren waren einzelne Feten schon in utero abgestorben. In einem Fall fand sich eine ausgedehnte Placentablutung. Ein Versuchstier brachte nur tote Jungen zur Welt. Von den Kontrolleltern trugen alle ihre Jungen aus.

Von den Jungen der Kontroll- und Versuchsgruppe wurden am 5., 10., 15, 21, und 30. Tag jeweils 10 Tiere unter Nembutalnarkose fiber das linke Herz und die aufsteigende Aorta mit 3,5 %igem ge- puffertem Glutaraldehyd perfundiert. Die lichtmikroskopische Untersuchung erfolgte an Frontal- und Sagittalschnitten dutch Grog- und Kleinhirn. Ffirbungen: Hfimatoxilin-Eosin, Kliiver Barrera und Bodian, vereinzelt auch Versilberung nach Glees in der Modifizierung nach Novotny et al. (1974). Fiir die Elektronenmikro- skopie wurden B16ckchen aus Cortex und Kleinhirnwurm (Lob. posterior) in 1%iger OsO4-L6sung nachfixiert und in Araldit einge- bettet. Die Semidiinnschnitte wurden mit AzurII-Methylenblau ge- fiirbt. Zur Kontrastierung der Ultradtinnschnitte diente Uranyl- und Bleiacetat. Die elektronenmikroskopische Untersuchung erfolgte an einem Zeiss EM 9A.

Umbei den Muttertieren bei Entzug des Alkohols nach der Ge- butt die Gefahr eines Entzugsdelirs zu verringern, wurde bis zum 3. postnatalen Tag eine 5 %ige Nthylalkoholl6sung angeboten. Da- nach erfoIgte die Umstellung auf Wasser ad libitnm, die yon allen Tieren ohne sichtbare Entzugserscheinung toleriert wurde.

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Abb. 3 a Kleinhirnrinde; Kontrolltier 5 Tage alt. In der fiul3eren K6rnerzellschicht proliferative (PRO)- und prgmigra- torische Zone (PM) gut zu unterscheiden. Zahlreiche Mitose (groBe Pfeile). Purkinje-Zellen liegen als einzelne Zell- reihe vor mit deutlich ausgebildetem, apikalem Cytoplasma (kleine Pfeile). Semidfinnschnitt; Araldit; AzurII- Methylenblau. Vergr. 637 x/Oel. b Kleinhirnrinde; Versuchstier 5 Tage alt. Lfickenhafte ~iul3ere K6rnerzell- schicht; proliferative Zone (PRO), pr~migratorische Zone (PM). Die Purkinje-Zellen klein, teilweise mehr- schichtig mit unregelm~Ngem, schmalem Cytoplasmasaum (kleine Pfeile). Zwei Mitosen sind zu sehen (groBe Pfeile). Semidfinnschnitt; Araldit; AzurII-Methylblau. Vergr. 637 x/Oel

Ergebnisse

Unter den Alkoholjungen finden sich gehfiuft Totge- burten und sehr schwache Jungtiere, die kurz nach der Geburt sterben (Abb. la). Weiterhin auffallend ist das verringerte Geburtsgewicht (Abb. la), und die signi- fikant verz6gerte Gewichtszunahme in der Postnatal- periode (Abb. lb). Einige Jungtiere zeigen eine trok- kene, faltige, mit r6tlichen Flecken bedeckte Haut. Von den ,,Alkoholjungen" 6ffnen einige erst am 17. postnatalen Tag die Augen; Normalwert 15. Tag. Ver- einzelt weisen sie eine verz6gerte motorische Entwick- lung auf, in Form eines hochbeinigen und schwanken- den Ganges.

Makroskopisch

Trotz der erheblichen St6rung des Lfingenwachstums (Abb. 2 a) finden sich nach Freilegung von Gehirn und Rfickenmark, auBer entsprechenden Gr6Bendifferen- zen bei den meisten Versuchstieren, keine makro- skopisch sichtbaren Verfinderungen (Abb. 2 b). 3 Ver- suchstiere weisen einen Hydrocephalus internus auf. Die Kontrolltiere sind unaufffillig.

Histologisch

Bei den 5 Tage alten Kontrolltieren liegen die Pur- kinje-Zellen bereits als , ,Monolayer" vor mit apikal

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Abb. 4 a Kleinhirnrinde; Kontrolltier ]0 Tage alt. PRO proliferative Zone; P M prfi- migratorische Zone. Zahlreiche Mitosen (grol3e Pfeile). In der gut ausgebildeten Molekularschicht zahlreiche, wandernde KSrnerzellen (KZ). Die Purkinje- Zellen weit entwickelt mit deutlichem Dendritengeflecht (kleine Pfeile). Semidfinnschnitt; Araldit; AzurII- Methylenblau. Vergr. 636 x/Oel. b Kleinhirnrinde; Kontrolltier 10 Tage alt. Gut entwickelte Purkinje-Zelle mit deutlichem prim. Dendriten (Pfeile). In der rechten oberen Bildhfilfte drei wandernde Zellen aus dem prfimigra- torischen Lager; wahrscheinlich KSrner- zellen (KZ) ! Semidfinnschnitt; Araldit; AzurII-Methylenblau. Vergr. 2250 x / Oel. e Kleinhirnrinde; Versuchstier 10 Tage alt. PRO proliferative Zone; P M pr/imigratorische Zone. Zahlreiche Mitosen (groge Pfeile). Die Molekular- schicht ist schmal. Unreif wirkende Purkinje-Zellen mit dfinnem Cytoplasma- saum (kleine Pfeile). Semidfinnschnitt; Araldit; AzurII-Methylenblau. Vergr. 630 • d Kleinhirnrinde; Ver- suchstier ]0 Tage alt. Unreife Purkinje- Zellen mit apikal angelegtem Cytoplasma (Pfeile). Das Dendritengeflecht nur spfirlich ausgebildet. Semidfinnschnitt; Araldit; AzurII-Methylenblau. Vergr. 2250 x/Oel

verbreitertem, meist zipfelig geformtem und im Semi- dfinnschnitt dunkel angef~irbtem Cytoplasma (Abb. 3a). Die Molekularschicht ist schmal. In der gul3eren KSrnerzellschicht ist eine Unterscheidung zwischen proliferativer und prfimigratorischer Zone m6glich. In der proliferativen Zone zahlreiche Mi- tosen. Im Gegensatz dazu besteht bei den gleich alten Versuchstieren noch eine ungeordnete, teilweise mehr- zellige Purkinje-Zellschicht mit unreif wirkenden Pur- kinje-Zellen, die in den meisten Ffillen die pyramidale Form des Cytoplasmas noch vermissen lassen (Abb. 3b). Die /iul3ere KSrnerzellschicht ist ltickenhaft. Auch hier zahlreiche Mitosen.

Im Alter von 10 Tagen weisen bei den Kontroll- tieren die Purkinje-Zellen schon die bekannte, schei- benf6rmige Form auf, mit gut ausgebildetem Nucleo- lus und deutlich sichtbaren primfiren Dendriten (Abb.4a, 4b). Die Molekularschicht ist breiter ge- worden, mit einzelnen spindeligen migratorischen Zellen auf dem Weg vom pr/imigratorischen Lager in die endg/iltige K6rnerzellschicht. Bei den 10 Tage alten Versuchstieren sind die Purkinje-Zellen dagegen noch wesentlich unreifer (Abb. 4c, 4d). Die runde, typische Form ist noch nicht erreicht. Der Cytoplasmasaum ist schmfiler. Auch das Dendritengeflecht ist nicht so ausgebildet wie bei den entsprechenden Kontrolltieren.

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Abb. 5 a Kleinhirnrinde (Wurm; Pyramis); Kontrolltier 21 Tage alt. Reife Rinde. Die embryonale K6rnerzellschicht nicht mehr sichtbar. Semidfinnschnitt; Araldit; AzurII-Methylenblau. Vergr. 427,5 x. b Kleinhirnrinde (Wurm; Pyramis); Versuchstier 21 Tage alt. Deutlicher Zellbesatz in der embryo- nalen K6rnerzellschicht mit zahlreichen Mitosen (Pfeile). In der Molekular- schicht wandernde K6rnerzellen (KZ). Semidtinnschnitt; Araldit; AzurII- Methylenblau. Vergr. 427,5 x. c Klein- hirnrinde (Wurm; Pyramis); Kontroll- tier 30 Tage alt. Reife Kleinhirnrinde. Semidfinnschnitt; Araldit; AzurII- Methylenblau. Vergr. 427,5 x. d Klein- hirnrinde (Wurm; Pyramis); Versuchs- tier 30 Tage alt. Kein Unterschied zu Abbildung 5 c. Semid6nnschnitt; Araldit; AzurII-Methylenblau. Vergr. 427,5 x

Trotz der dtinneren Molekularschicht besteht kein Unterschied in der Ausbildung der fiuBeren K6rner- zellschicht. Bei Kontroll- und Versuchstieren wird zu diesem Zeitpunkt die Zona proliferans schmfiler bei entsprechendem Wachstum der prfimigratorischen Zone.

Mit 15 Tagen sind die Purkinje-Zelleiber beider Gruppen lichtoptisch nicht mehr zu unterscheiden. Wfihrend bei den Kontrollt ieren das Dendritengeflecht der Purkinje-Zellen weit entwickelt ist, scheint es bei den Versuchstieren plumper ausgebildet zu sein. Bei

Kontroll- und Versuchstieren findet sich kein Unter- schied in der/iuBeren K6rnerzellschicht. Lediglich in der Molekularschicht sieht man bei den Versuchstieren hfiufiger migratorische Zellen.

Nach 21 Tagen ist bei den Kontrollt ieren die fiuBere K6rnerzellschicht, auBer einzelnen Restzellen, frei (Abb. 5a), Histologisch findet sich eine reife Klein- hirnrinde, die kaum v o n d e r eines 30 Tage alten Tieres zu unterscheiden ist. Bei den Versuchstieren dagegen zeigt sich in Pyramis und Culmen des Lob. posterior noch ein deutlicher Zellbestand der ~iuBeren K6rner-

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zellschicht mit proliferativen und prfimigratorischen Zellen, sowie zahlreichen Mitosen (Abb. 5b). In der Molekularschicht liegen zahlreiche, sich noch in Migration befindende Zellen.

Im Alter yon 30 Tagen ist sowohl bei den Kontroll- als auch Versuchstieren eine Unterscheidung von sei- ten der Kleinhirnrinde nicht mehr mfglich (Abb. 5c, 5d).

Diskussion

)~hnlich den Ergebnissen von Tze et al. (1973) findet sich auch bei unseren Versuchstieren eine deutliche pr~i- und postnatale Wachstumshemmung mit ver- zfgerter postnataler Gewichtszunahme. Weiterhin treten auch in unserem Material gehfiuft Totgeburten und Todesf~lle in den ersten Lebenstagen auf. Die histologische Untersuchung bringt dazu noch fol- gendes Ergebnis: Im Rahmen der embryonalen und fetalen Alkoholeinwirkung kommt es zu einer Hem- mung der Kleinhirnhistogenese, die sich bis zum 21. postnatalen Tag verfolgen 1/iBt. Besonders betrof- fen sind die Purkinje-Zellen, die am 5. Tag noch nicht als Zellreihe vorliegen und im Vergleich zu den Kon- trolltieren lfinger zur Differenzierung des Cytoplasmas und des Dendritengeflechtes brauchen. Dieser zeitliche Riickstand wird allerdings bis zum 15. postnatalen Tag weitgehend aufgeholt. Lediglich die embryonale K6r- nerzellschicht zeigt fiber den 21. Tag hinaus bei den Versuchstieren einen deutlichen Zellbestand mit zahl- reichen Mitosen. Nach Altmann (1972a) dfirften bier zu diesem Zeitpunkt nur einzelne, verstreut liegende Zellen vorkommen.

Zur Pathogenese dieser Entwicklungshemmung sollte folgendes bemerkt werden: Athanol fiberwindet ungehindert die Placentaschranke (Mann et al., 1975) und kann bei faktisch fehlender Alkoholhydrogenase- aktivitfit sowohl vom Menschen (Pikkarainen et al., 1968), als auch von niederen S/iugern (Papara-Nichol- son et al., 1957) in der Prfinatalperiode kaum metaboli- siert werden. Nach den Untersuchungen yon Ho et al. (1972), die tr~ichtigen Affen und Hamstern (1-14C) - ;~thanol in 12 %iger L6sung i.v. applizierten, fand sich 15 und 90 min spfiter bei den Feten eine hfhere Anrei- cherung in der grauen als in der weigen Substanz, wobei als Schwerpunkte Putamen, Hippocampus, Cerebellum, Nucl. dentatus und Nucl. fastiguus ange- geben werden. Diese Verteilungsmuster bleiben bis fiber 12 h erhalten. Von den Autoren wird daraufhin diskutiert, ob die Wirkung yon Athanol auf die Ko- ordination eventuell in dieser Affinitfit zum extrapyra- midalen System zu sehen wfire. Wichtig sind weiter- hin die Experimente von Tewari et al. (1975). Bei chronischer Gabe einer 10%igen Athanollfsung an Ratten wurde 6 Wochen spfiter eine Reduzierung der

cerebralen mRNA und rRNA in polysomalen Frak- tionen beobachtet. Diese Stfrung des cerebralen Ribo- nucleotidstoffwechsels wfirde fiber eine Verfinderung von Transscription und Translation eine Verminde- rung der cerebralen Eiweigsynthese nach sich ziehen. Auch Rawat (1975) konnte in fetalen sowie bis 4 Tage alten Rattengehirnen eine globale Verringerung von RNA und DNA und eine Abnahme der ribosomalen Proteinsynthese bei bestehendem mfitterlichen A1- koholkonsum nachweisen, wobei sich bei )~lterwerden der Jungtiere die Werte der 14C-Leucin-Inkorporation denen der Kontrolltiere wieder n/iherten. Bei 3 Monate alten Tieren war eine Unterscheidung der einzelnen Gruppen nicht mehr m6glich.

Dieser Einflul3 von Athanol auf die cerebrale Pro- teinsynthese - die cerebrale Lipidsynthese bleibt im wesentlichen unbeeinflugt (Rawat, 1973) - wfire eine Mfglichkeit, die Pathogenese des ,,embryofetalen Alkoholsyndroms" unter anderem nicht nur in einer Stfrung der cerebralen, sondern als Verfinderung der Proteinsynthese schlechthin zu sehen. Dabei dfirfte die Hfhe der mfitterlichen Blutalkoholwerte und ihre Metabolisierungsf/ihigkeit sicher die mal3geblichen Parameter darstellen, ob es im Rahmen der Alkohol- wirkung zu Stfrungen der Organogenese in Form von Mil3bildungen, oder lediglich zu Verfinderungen der Histogenese kommt. In unserem Material konnten wir bei den relativ niedrigen Blutalkoholwerten der Muttertiere auger einem Hydrocephalus internus in 3 Ffillen (einmal mit einem Cavum septum pellucidum), im wesentlichen eine Entwicklungshemmung beob- achten. Andere Migbildungen fanden sich bei den untersuchten Tieren nicht. Allerdings ist zu bemerken, dab einige der Versuchstiere, die nach der Geburt starben, eine extreme Cyanose aufwiesen. Eine Autop- sie der Herzen wurde jedoch nicht vorgenommen. Damit stimmen unsere Befunde mit denen von Cher- noff (1975) fiberein, der bei ansteigenden mfitterlichen Blutalkoholwerten - bis 4 mg/ml - bei den Jung- tieren eine Zunahme der Migbildungsrate feststellte, wobei Herz- und cerebrale Mil3bildungen geh/iuft auf- traten. Derart hohe Blutalkoholwerte haben wit bei unseren Tieren jedoch nicht messen kfnnen.

Die yon Rawat (1975) und Tewari et al. (1975) be- schriebenen Auswirkungen von Athanol auf den Hirn- stoffwechsel kfnnten, auf unsere Ergebnisse bezogen, m6glicherweise die besondere Entwicklungsverzfge- rung der Purkinje-Zellen erkl~ren, die ja innerhalb der Kleinhirnrinde die ribosomenreichsten Elemente dar- stellen. Inwieweit es neben der beschriebenen Entwick- lungshemmung zu Verfinderungen der Substrukturen kommt - z.B. Degranulierung des rauhen endoplas- matischen Reticulum - werden die bereits begonne- nen elektronenmikroskopischen Untersuchungen zei- gen.

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Danksagung. Herrn Prof. Dr. H. Berlet (Institut ffir Pathochemie und allgemeine Neurochemie; Heidelberg) danken wir ffir die Be- stimmung der Blutalkoholwerte. Ferner danken wir Frau S. Wesch f/ir die Herstellung der histologischen Prgparate und Frau G. Schr6- ter ftir die Anfertigung der Semidfinnschnitte und die fotographi- schen Arbeiten.

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Eingegangen am 3. Miirz 1977/Angenommen am 20. April 1977