Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der zweiten staatlichen Prüfung
für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen
gemäß § 13 PVO-Lehr II
Thema der Arbeit:
Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung eines positiven Fähigkeitsselbstkonzeptes,
untersucht an einer Musicalproduktion im Rahmen einer Musical-AG mit 3. und 4. Grundschulklassen
Fach: Pädagogik
vorgelegt von: Kristina Jüttner, Löhbergstr. 2, 27412 Wilstedt
im Studienseminar Verden
Erstgutachter: Carsten Krause
Zweitgutachterin: Anja Cohrs
Wilstedt, den 20. Januar 2007
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 1
2. Das Fähigkeitsselbstkonzept – theoretische Annäherung und Begriffsklärung 3
2.1 Zum Begriff des Fähigkeitsselbstkonzepts 3
2.2 Historische Ansätze der Selbstkonzeptforschung 3
2.3 Moderne Selbstkonzept-Theorien 5
2.4 Zur Struktur und zum Verständnis des Fähigkeitsselbstkonzepts in der
vorliegenden Arbeit 6
3. Entstehung und Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzepts 8
3.1 Entwicklungspsychologische Voraussetzungen 8
3.2 Zusammenhang von schulischer Leistung und Fähigkeitsselbstkonzept –
zur Bedeutung von Attributionen und Bezugsrahmeneffekten 9
3.2.1. Bezugsnormorientierung 9
3.2.2. Kausalattributionen 10
3.2.3. Zur Richtung der Kausalität von (Schul-) Leistung und
Fähigkeitsselbstkonzept 12
3.3 Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung des Fähigkeitsselbstkonzepts 12
3.4 Möglichkeiten der Messung eines Fähigkeitsselbstkonzepts 13
4. Erste Schlussfolgerungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung eines
positiven Fähigkeitsselbstkonzepts in der Grundschule 13
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“ 15
5.1. Zur Situation der Lerngruppe und zur Lernausgangslage –
die Musical-AG der Grundschule Worphausen 15
5.2. Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume 18
5.3. Sachanalyse „(Kinder-)Musical“ 19
5.3.1. Allgemeines zu Musicals 19
5.3.2. Das Kindermusical – Unterschiede, Charakteristika,
Gemeinsamkeiten 19
5.3.3. Das Kindermusical Hexenwald 20 5.4. Allgemeine didaktische Entscheidungen 21
5.5 Allgemeine Ziele der Musicalproduktion 24
5.6. Allgemeine methodische Entscheidungen 25
5.7. Rolle der Lehreranwärterin 28
6. Untersuchungsmethode 29
7. Darstellung der Musicalproduktion 30
7.1. Überblick über das geplante Unterrichtsvorhaben 30
7.2. Phase 1: Kennenlernen und Gruppenfindung 30
7.2.1. Übergreifende didaktische und methodische Entscheidungen 31
7.2.2. Übergreifende Reflexion 32
7.3. Phase 2: Rollenfindung und Rollenidentifikation 34
7.3.1. Übergreifende didaktische und methodische Entscheidungen 34
7.3.2. Übergreifende Reflexion 36
7.4. Phase 3: Intensive Probenphase 38
7.4.1. Übergreifende didaktische und methodische Entscheidungen 38
7.4.2. Übergreifende Reflexion 39
7.5. Phase 4: Aufführungsphase 41
7.5.1. Übergreifende didaktische und methodische Entscheidungen 41
7.5.2. Übergreifende Reflexion 42
8. Gesamtreflexion 44
9. Literaturverzeichnis 51
10. Anhang
1. Einleitung
1. Einleitung „Das kann ich nicht!“
„Da bin ich zu dumm zu, sagt mein großer Bruder…“
„Frau Jüttner, meinst du echt, dass ich das kann???“
„Das liegt bei uns in der Familie, das können wir nämlich alle gut.“
„Frau Jüttner, Tom hat gesagt, dass ich mit der 5 im Diktat nur `ne Hauptschulempfehlung
kriege, stimmt das?“
„Ach, Frau Jüttner, Deutsch muss ich doch nicht können, das ist nämlich uncool
und außerdem bin ich Fußballer, die sind eh nicht so gut in der Schule und ich will ja später
zu Werder…!“
Diese und ähnliche Äußerungen von Kindern begegnen mir seit dem Beginn meiner
Anwärterzeit an der Grundschule Worphausen immer wieder und zeigen m.E. deutlich, wie
intensiv sich schon Grundschulkinder mit schulischem Erfolg oder Misserfolg, den dafür
verantwortlichen Ursachen und natürlich den daraus resultierenden Folgen
auseinandersetzen. Besonders erschreckend ist dabei für mich, wie stark einige Kinder
gerade negative Einstellungen und Einschätzungen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten schon
internalisiert haben und fest davon überzeugt sind, dass ihre nicht so guten Leistungen auf
ihre mangelnde Begabung oder mangelnde Intelligenz zurückzuführen sind. Dass sich
solche „negativen Fähigkeitsselbstkonzepte“ schon früh ausbilden können und meist in
einem engen Zusammenhang mit den schulischen Erfahrungen, Erwartungen und
Leistungsbewertungen stehen, wird u.a. im Bereich der Pädagogischen Psychologie schon
seit langem nicht mehr angezweifelt. Zudem stellt ein positives Fähigkeitsselbstkonzept
„einen wesentlichen Indikator für psychische Gesundheit“1 und für das physische
Wohlbefinden eines Kindes dar.
Aus diesen sehr wichtigen Erkenntnissen ergeben sich für mich zwangsläufig folgende
Fragen, die auch in dieser Arbeit besondere Beachtung finden sollen und in den Kapiteln 2
bis 4 aufgegriffen werden:
Wie entsteht bei Kindern ein positives oder negatives Fähigkeitsselbstkonzept und
inwiefern sind schulische bzw. unterrichtsbedingte Faktoren maßgeblich daran
beteiligt?
Welche Auswirkungen hat ein bestehendes Fähigkeitsselbstkonzept auf das
Selbstwertgefühl und die Schulleistungen eines Kindes?
Wie und womit kann ich als Lehrkraft dazu beitragen, das Fähigkeitsselbstkonzept
eines Kindes positiv zu beeinflussen?
1 Laskowski, 2000, S. 9
1. Einleitung
Aufgrund meiner Fächerkombination (Musik, Sport, Deutsch) habe ich die Möglichkeit,
Kinder auch in Fächern zu unterrichten und zu erleben, in denen es nicht in erster Linie auf
das kognitive Leistungsvermögen oder auf abfragbares Wissen ankommt. Dabei fällt mir
gerade im Musikunterricht auf, dass die sonst leistungsschwächeren Kinder besondere
Erfolgserlebnisse durch die publikumswirksamen, fachspezifischen Präsentationen erfahren
können, die ihr Selbstwertgefühl, ihre „Ich“-Stärke und ihr Vertrauen in die eigene
Leistungsfähigkeit stärken. Hier können sie sich einmal „anders“ präsentieren, sich produktiv,
selbstwirksam und kompetent erleben und werden in ihrer Persönlichkeit und in ihrem
Handeln bestätigt. Das zeigte sich auch, als ich vor den Sommerferien begann, mit den
damaligen dritten Klassen ein kleines selbstgeschriebenes Theaterstück mit zwei Liedern für
die kommende Einschulungsfeier einzustudieren: Schüchterne, unsichere und von der
Tendenz her misserfolgsmotivierte Kinder traten im Laufe des Erarbeitungsprozesses
zunehmend selbstsicherer auf, konzentrierten sich ganz besonders auf die erfolgreiche
Bewältigung ihrer speziellen Aufgaben und konnten Misserfolgserlebnisse und Frustrationen
aus anderen schulischen Bereichen durch das Erfolgs- und Kompetenzerleben teilweise
kompensieren.
Handlungskompetenz sowie das Wissen um die eigene Leistungsfähigkeit und individuelle
Begabungen und Fertigkeiten unterstützen Kinder maßgeblich in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung. So muss den Schülerinnen und Schülern gerade in der
Grundschule erfolgreiches Lernen ermöglicht und das Selbstvertrauen in die eigene
Leistungsfähigkeit sowie eine realistische Fähigkeitsselbsteinschätzung2 gefördert werden,
denn hier wird der Grundstein für das weitere Lern- und Leistungsverhalten eines Kindes
gelegt. Diese Forderungen werden in der für die Arbeit in der Grundschule geltenden
Bestimmungen des Kultusministeriums explizit betont.“3
Zugrunde liegende These des geplanten Unterrichtsvorhabens und der begleitenden Arbeit
ist, dass Musiktheater in Form einer Musicalproduktion einen wichtigen Beitrag dazu zu
leisten vermag:
Arbeitsleitende These: Das Fähigkeitsselbstkonzept eines Kindes wird durch die Teilnahme an einer Musicalproduktion positiv beeinflusst.
Diese These möchte ich im Rahmen der Musicalproduktion „Hexenwald“, die ich in einer AG
mit Kindern des dritten und vierten Schuljahres erarbeite, überprüfen.
• Zum Aufbau dieser Arbeit:
2 Die realistische Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten stellt eine entscheidende und zunehmend auch
geforderte Schlüsselqualifikation dar. 3 Vgl. Das Niedersächsische Kultusministerium, http://nibis.ni.schule.de/~mk-datei/arbeit-in-der-gs.pdf. S. 2 und
11f, 23.11.2006.
1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit möchte ich zunächst auf theoretische Grundlagen eingehen
(Kapitel 2-4), die die Struktur, Entstehung und das Begriffsverständnis des
Fähigkeitsselbstkonzeptes sowie spezifische Einflussfaktoren, v.a. im schulischen Lern- und
Leistungskontext, verdeutlichen. Es schließen sich Überlegungen zu didaktischen,
methodischen und unterrichtsorganisatorischen Aspekten an. Diese bilden die Grundlage der
in dem Kapitel 5 dargelegten Planung der Musicalproduktion „Hexenwald“. Didaktische und
methodische Entscheidungen werden in der anschließenden Durchführungsbeschreibung
des 7. Kapitels konkretisiert und zusammen mit der Eignung der in Kapitel 6 dargestellten
Untersuchungsmethode abschließend reflektiert (Kapitel 8). Dies geschieht unter Rückbezug
auf die eingangs angeführte arbeitsleitende These und die Zielsetzung des
Unterrichtsvorhabens. Die Arbeit endet mit einem Ausblick auf mögliche Ansätze der
Förderung einer positiven Fähigkeitsselbstkonzeptgenese, die meine, aus der
Musicalproduktion „Hexenwald“ gewonnenen Erkenntnisse einschließt.
2. Das Fähigkeitsselbstkonzept – theoretische Annäherung und
Begriffserklärung 2.1. Zum Begriff des Fähigkeitsselbstkonzepts
Befasst man sich mit dem Fähigkeitsselbstkonzept, beschäftigt man sich zwangsläufig auch
mit der Erforschung des „Selbst“. Dabei stößt man in der Literatur auf vielfältige Begriffe wie
Selbstbild, Selbstschema, Identität, Selbstmodell, Selbsttheorie, Selbstsystem,
Selbstwertgefühl, Selbsteinschätzung, Selbstkonzept usw.. Da allerdings manche Autoren
einige dieser Begriffe synonym verwenden, andere sie wiederum in der Fachliteratur mit
jeweils unterschiedlichen Sachverhalten verbinden4, stößt man dementsprechend auch auf
vielfältige Definitionsversuche. Aufgrund dessen fällt auch eine genaue Abgrenzung bzw.
Spezifizierung des Begriffs „Fähigkeitsselbstkonzept“ schwer.
Um das Fähigkeitsselbstkonzept dennoch zu erläutern, möchte ich zunächst auf eine
Definition des „menschlichen Selbst“ von Mummendey zurückgreifen. Er ist der Meinung,
dass man generell von Selbstkonzepten eines Menschen sprechen sollte und versteht
darunter „die Gesamtheit der auf die eigene Person bezogenen Beurteilungen und
Bewertungen eines Individuums, also die Gesamtheit der Einstellungen zu sich selbst.“5
Neben verschiedenen anderen Selbstkonzepten, die einen Großteil unserer Persönlichkeit
ausmachen, existieren also bei jedem Menschen auch Selbstbeurteilungen und
Bewertungen hinsichtlich der eigenen Fähig-, Fertigkeiten und Begabungen, die ich in der
vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Krapp und Weidenmann unter dem Begriff
4 Vgl. Mittag, 1992, S. 3
5 Mummendey, 2006, S. 7
2. Das Fähigkeitsselbstkonzept – theoretische Annäherung und Begriffsklärung
„Fähigkeitsselbstkonzept“6 zusammenfassen möchte und als „Gesamtheit der auf die
eigenen Fähigkeiten bezogenen Einstellungen eines Individuums“ definiere.
2.2. Historische Ansätze der Selbstkonzeptforschung
Ideen, Gedanken und Hypothesen bezüglich der menschlichen Psyche sowie der Versuch,
diese inneren Vorgänge zu beschreiben, zu analysieren und zu bewerten, um damit tiefere
Einblicke und weiterführende Erkenntnisse in die psychologischen Prozesse und kognitiven
Vorgänge von Personen zu gewinnen, gibt es schon sehr lange.
So beschäftigten sich schon die griechischen Philosophen, wie z.B. Aristoteles (384-322 v.
Chr.), mit der Unterscheidung zwischen seelischen und körperlichen Merkmalen des
Menschen und betrachteten „[…] damit im Grunde wieder den Seelenbegriff als
Ausgangspunkt der Selbstkonzeptforschung[…]“7.
Zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert entwickelte sich im ausgehenden Mittelalter die
Auffassung von der Einheit und Einzigartigkeit des Individuums und führte dann von
Descartes (1596-1650)
„cogito ergo sum“8 über die Leibnizsche Philosophie, das Wesen in der Substanz zu
suchen9, und mündete schließlich, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in dem allgemeinen
Interesse, zwischen einem inneren und äußeren „Selbst“ zu unterscheiden.
„Man interessierte sich für das Selbstbewußtsein eines Menschen und für Selbsttäuschung, also auch für gewissermaßen falsche Selbstbilder, […] beispielsweise [dafür,] was jemand wirklich ist und was jemand nach außen darstellt oder unter dem Einfluß seiner Umgebung geworden ist.“(Mummendey, 2006, S. 26)
Die zentrale handlungsleitende Bedeutung des „Selbst“, auf der viele Ansätze der modernen
Selbstkonzept-Theorien fußen (vgl. Kap. 2.3.), wurde erstmals in der frühen
Psychologiegeschichte hervorgehoben.10 In diesem Zusammenhang möchte ich auf die drei
Hauptansätze der frühen Selbstkonzept-Theorien verweisen, die Gergen als die „drei
Säulen“11 der Selbstkonzeptforschung bezeichnet, nämlich den Ansatz von James, die
Ansätze des symbolischen Interaktionismus und die psychoanalytische Selbsttheorie.12
6 Krapp/Weidenmann, 2001, S. 228
7 Vgl. Mummendey, 2006, S. 26
8 Für René Descartes, den Begründer der Subjekt-Philosophie, ist der Mensch in erster Linie ein denkendes und
erkennendes Wesen (vgl. Mummendey, 2006, S. 26). 9 Der deutsche Philosoph und Wissenschaftler Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) erkannte, dass man sich im
Zustand der Selbstbezogenheit eine individuelle Substanz denkt, wenn man „ich“ sagt. (Vgl. http://www.brock.uni-wuppertal.de/cgi-bin/echo, 15.12.2006 und Mummendey, 2006, S. 27)
10 Vgl. Mittag, 1992, S.3
11 Streblow, 2004, S. 13
12 Zusätzlich sind einige Grundannahmen und Konzepte aus dem Behaviourismus entstanden, auf die ich allerdings nicht näher eingehen möchte. Zum einen, um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, zum anderen, weil der Behaviourismus „für die Entwicklung von Modellen und Theorien zum „Selbst“ zunächst wenig produktiv [war]“. (Ebd., 2004, S. 16)
2. Das Fähigkeitsselbstkonzept – theoretische Annäherung und Begriffsklärung
James unterschied bereits 1890 zwischen verschiedenen inhaltlichen Bereichen des Selbst,
wie z.B. dem materialen, spirituellen, sozialen und physischen Selbst und sprach von dem
„I“, „self as subject“ (Selbst als Subjekt) und dem „Me“, „self as object“ (Selbst als Objekt).
Innerhalb dieser „konstruktivistischen Sichtweise“13 wird das Selbst zugleich als „Produkt und
[als] Produzent seiner selbst“14 dargestellt. Damit differenzierte James zwischen dem
selbstbezogenem Wissen und dem sich selbst betrachtenden Subjekt.
Durch die symbolischen Interaktionisten wie z.B. Cooley (1902, 1912) und Mead (1934)
wurde der Ansatz von James entscheidend durch das Aufgreifen von unterschiedlichen
sozialen Selbstbildern weiterentwickelt. Cooley (1902) prägte zudem den Begriff des
„looking-glass-self“ (sich mit den Augen des anderen sehen) und stellte damit die Wichtigkeit
der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme in den Vordergrund. Meads Ansatz bezog sich
ebenfalls auf die Annahme einer Korrelation zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung, die in
empirischen Studien (z.B. Felsons, 1989) belegt wurde.15 Weiterhin benannte Mead noch
weitere Faktoren der Selbstausdifferenzierung. Zum einen das Bedürfnis nach Verbesserung
des Selbstbildes und zum anderen den Wunsch nach Einzigartigkeit und Exklusivität, die
sich in den modernen Selbstkonzept-Theorien wiederfinden.16
Mit Freuds17 Unterscheidung von „Ich“, „Über-Ich“ und „Es“ entstand Anfang des letzten
Jahrhunderts eine neuartige Betrachtung der Selbst-Struktur eines Individuums. Auch in
anderen psychoanalytischen Ansätzen (z.B. Horney, 1937/ Erikson, 1968 u.a.) wurden nun
v.a. Motive in den Fokus genommen, die die Ausdifferenzierung des Selbst bedingen.
2.3. Moderne Selbstkonzept-Theorien
In der aktuellen Selbstkonzeptforschung wird das „Selbst“ nun zunehmend als ein
multidimensionales Konstruktsystem verstanden, bei dem kognitive, affektive und konative
Prozesse eine wesentliche Rolle spielen. Auf eine Aufzählung und genaue Taxonomie der
einzelnen Selbstkonzepttheorien möchte ich an dieser Stelle allerdings verzichten. Zum
einen um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, zum anderen, weil durch diese
Kategorisierungsversuche in verschiedene Schemata, die verschiedenen Ansätze fest und
klar gegeneinander abgrenzbar erscheinen, aber die vielfältigen Ähnlichkeiten und
Überschneidungen zwischen den Ansätzen dagegen nicht thematisiert werden.
„Als fehlerhaft erscheinen diese Klassifikationen schon deshalb, weil beispielsweise zwischen Kognitions-, Emotions-, Motivations- und Verhaltensprozessen grundsätzlich vielfache Verknüpfungen
13
Mittag, 1992, S. 3 14
Ebd. S. 6 15
Vgl. Streblow, 2004, S. 14 16
Vgl. ebd. 17
In der von Sigmund Freud (1856-1939) begründeten Psychoanalyse versteht man den Menschen als Energiesystem. Jedem Menschen steht dabei eine bestimmte Energiemenge zur Verfügung, die entweder aufgestaut wird oder sich in unterschiedlichen Handlungen entlädt. (Vgl. Streblow., 2004, S. 15)
2. Das Fähigkeitsselbstkonzept – theoretische Annäherung und Begriffsklärung
bestehen. Zum Beispiel sind an der positiven Selbstbewertung eines Individuums alle genannten Prozesse beteiligt.“(Mummendey, 2006, S. 114) Im Folgenden möchte ich deshalb an dieser Stelle lediglich zwei gegensätzliche
Ansatzrichtungen der modernen Selbstkonzeptforschung anführen, die sich dann im
nächsten Abschnitt dieser Arbeit in zwei Betrachtungsschwerpunkten des
Fähigkeitsselbstkonzepts widerspiegeln werden.
So beruhen einige der modernen Selbstkonzept-Theorien zum Teil auf dem Paradigma der
Informationsverarbeitung (z.B. Markus & Zajonc, 1985/ Greenwald & Pratkanis, 1984), bei
der die Aufnahme und Verarbeitung von selbstbezogenen Informationen ohne Einbeziehung
von Motiven ausschließlich auf der Basis von Lern- und Gedächtnisprozessen erklärt wird.18
Andere Ansätze stellen im genauen Gegensatz dazu verschiedene Motive als bedeutendste
Einflussfaktoren für die Selbstkonzeptgenese dar. Diese motivationspsychologischen
Selbstkonzept-Theorien werden z.B. von Rosenberg (1979, 1981), Higgins, Klein &
Straumann (1987), Swann (1990), Mummendey (1995) und Dauenheimer (2000) vertreten.19
Insgesamt herrscht in der modernen Selbstkonzeptforschung inzwischen ein breiter Konsens
darüber, dass nicht von einem Selbstkonzept ausgegangen werden kann, es also nicht „das“
Selbstkonzept gibt, sondern dass sich ein allgemeines Selbstkonzept, wie unter Punkt 2.1.
bereits beschrieben, aus unterschiedlichen Bereichen zusammensetzt.20 Über die Struktur
dieser Teilbereiche und ihrer Korrelation untereinander, existieren, wie oben schon
angedeutet, allerdings recht uneinheitliche Annahmen und Ansätze.21
Da sich auch die vorliegende Arbeit auf die Annahme stützt, dass es sich bei dem
allgemeinen Selbstkonzept um einen
„[…] Faktor höherer Ordnung handelt, der multiple, bereichsspezifische Selbstkonzepte umfaßt, die, obgleich sie korreliert sind, als getrennte, eigenständige Konstrukte aufgefaßt werden können“ (Mummendey, 2006, S. 207)
möchte ich kurz auf die Struktur dieser mehrdimensionalen, hierarchischen
Selbstkonzeptmodelle (z.B. Marsh, Byrne & Shavelson, 1988) eingehen:
18
Vgl. ebd., S. 18 19
Ebd. S. 18ff 20
„Laut Hattie (2004) ist es nicht mehr zu bestreiten, daß das Selbstkonzept ein mehrdimensionales Gebilde ist, dem Autor zufolge wurden bislang mindestens 18 verschiedene Selbstkonzepte schulischer Fähigkeiten, acht Arten musikalischer und drei Arten künstlerischer Konzepte sowie 15 verschiedene physische und drei unterschiedliche religiöse Selbstkonzepte empirisch identifiziert.“ (Mummendey, 2006, S. 205) 21
Vgl. Streblow, 2004, S. 27
2. Das Fähigkeitsselbstkonzept – theoretische Annäherung und Begriffsklärung
Abb.1, Mummendey ,S. 207
Beim Selbstkonzept handelt es sich demzufolge um ein strukturiertes Gebilde, dessen
Bereiche hierarchisch aufgebaut sind: Auf niedrigen hierarchischen Ebenen sind einzelne,
situationsspezifische und veränderliche Erfahrungen anzusiedeln, die auf höheren
Hierarchieebenen umfassendere Konzepte bilden. Dies wiederum bedeutet, dass das
allgemeine Selbstkonzept als recht stabil anzusehen ist und dass, um es zu verändern, eine
Vielzahl von Veränderungen spezifischer, hierarchisch gesehen niedrigerer Selbstkonzepte
notwendig sind.
2.4. Zur Struktur und zum Verständnis des Fähigkeitsselbstkonzepts in
der vorliegenden Arbeit
Bezüglich des Fähigkeitsselbstkonzepts, also dem Bereich, der das selbstbezogene Wissen
einer Person hinsichtlich ihrer Fähigkeiten umfasst, geht man ebenfalls davon aus, dass es
sich hierbei um ein strukturiertes, mehrdimensionales sowie hierarchisch aufgebautes
Konstrukt handelt, das sich im Laufe der Lebensspanne zunehmend ausdifferenziert (vgl.
Kap. 3.1).22
Um die hinter diesem großen Themenkomplex stehenden Phänomene und generierenden
Prozesse untersuchen zu können sowie Wirkungsmechanismen zu erforschen, differenziert
man in der modernen Fachliteratur stark zwischen unterschiedlichen Schwerpunktbereichen
dieses Konstrukts. So stehen je nach Gewichtung bzw. Schwerpunktsetzung entweder eher
die kognitiven oder die motivationalen Aspekte und Einflussfaktoren des
Fähigkeitsselbstkonzepts im Vordergrund.23
Damit man in diesem Zusammenhang zu einer größeren theoretischen Klarheit gelangt,
fordern Autoren, wie z.B. Schöne, Dickhäuser, Spinath und Stiensmeier-Pelster, deshalb
22
Vgl. ebd., S. 40 23
Vgl. dazu die unter Punkt 2.3. skizzierten Ansatzrichtungen der modernen Selbstkonzepttheorien.
2. Das Fähigkeitsselbstkonzept – theoretische Annäherung und Begriffsklärung
eine klare Unterscheidung zwischen eigenständigen kognitiven und affektiven
Repräsentationen der eigenen Fähigkeiten und schlagen eine begriffliche Trennung in die
Konstrukte „Fähigkeitsselbstkonzept“ als rein kognitiv und „Selbstwert“ als mit Affekten
behaftet vor.24
Ich möchte in der vorliegenden Arbeit auf diese künstliche Trennung von affektiven und
kognitiven Aspekten verzichten, da sich gerade im schulischen Kontext die motivationalen,
emotionalen und kognitiven Faktoren wechselseitig bei der Entwicklung und Ausprägung des
Fähigkeitsselbstkonzepts bedingen und zugleich stark mit dem Grad der
Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit korrelieren (vgl. Kap. 3./4.).
Stattdessen fasse ich – im Rahmen meiner Möglichkeiten als „Nicht-Psychologin“ – das
Fähigkeitsselbstkonzept in dieser Arbeit als generalisierende Einschätzung von eigenen
Fähigkeiten auf25, die in meinem Unterrichtsvorhaben (vgl. Kap. 5./6.) zwar schulbezogen,
aber nicht an ein konkretes Fach gebunden sind. Ich möchte eine generalisierende
Darstellung über das Fähigkeitsselbstkonzept geben und sowohl emotionale als auch
motivationale Aspekte in meine Betrachtungsweise mit einfließen lassen. Eine
Differenzierung des Begriffs „Fähigkeitsselbstkonzept“ würde sich anbieten, wenn ich mich
wie viele Autoren auf einen einzigen Bereich des Fähigkeitsselbstkonzepts, wie z.B. auf das
Akademische Selbstkonzept, das ausschließlich auf bestimmte Schulfächer bezogen wird,
beschränken würde.26 Im Hinblick auf meinen Forschungsschwerpunkt (vgl. Kap. 1) verzichte
ich aber darauf. So impliziert mein Verständnis eines positiven Fähigkeitsselbstkonzepts in
der vorliegenden Arbeit sowohl ein realistisches Einschätzungsvermögen als auch ein
gesundes Selbstvertrauen hinsichtlich eigener Fähigkeiten.
Meinen Ausführungen lege ich in Ansätzen die „Selbstbestimmungstheorie“ von Deci und
Ryan (1993) zugrunde, die eine umfassende Theorie zum Selbst aus der
Motivationspsychologie darstellt. Als drei grundlegende und angeborene Motive des
Menschen postulieren Deci und Ryan (1993) in ihrer„Self-determination-theory“ die
Bedürfnisse „sich als autonom und kompetent zu erleben und sich sozial eingebunden zu
fühlen“.27 Davon ausgehend, fassen sie die Übernahme von Werten und Handlungszielen als
ein vier Stufen umfassenden, reversiblen Prozess der Internalisierung und Integration auf.
Intrinsische und extrinsische Motivation spielen dabei eine wesentliche Rolle.28
24
.Vgl. Stienmeier-Pelster/ Rheinberg, 2003, S.4 25
Vgl. auch die unter Kap. 2.1. gegebene Definition des Fähigkeitsselbstkonzepts. 26
Vgl. Streblow, 2004, S. 40ff 27
Krapp/Weidenmann, 2001, S.233 28
Vgl. ebd., S. 232 und Streblow, 2004, S. 40
3. Entwicklung und Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzepts
Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle trotz der verschiedenen Ansätze und
uneinheitlichen Begriffsverwendungen dennoch festhalten, dass es unumstritten ist, dass
das Fähigkeitsselbstkonzept in einem sehr engen Zusammenhang mit der Lern- und
Leistungsmotivation steht und aufgrund dessen auch eine entscheidende Determinante für
den Ablauf lernmotivationaler Prozesse bei Schülerinnen und Schülern darstellt.
„[…] Wenngleich in der pädagogisch-psychologischen Praxis wie auch in der aktuellen Forschung zum Fähigkeitsselbstkonzept unterschiedliche Theorien und Modelle postuliert werden, so besteht doch Einigkeit darüber, dass die Tatsache, für wie hoch oder niedrig ein Schüler seine schulischen Fähigkeiten einschätzt, von Bedeutung für dessen Lern- und Leistungsverhalten und damit letztlich auch für seinen Schulerfolg ist.“ (Stiensmeier-Pelster/ Rheinberg, 2003, S.4) In den folgenden Kapiteln möchte ich diesen Zusammenhang genauer darstellen und
erläutern.
3. Entwicklung und Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzepts Zusammenfassend kann die Entwicklung des Fähigkeitsselbstkonzepts als Ergebnis von
Informationsverarbeitung und Selbstregulation.29 aufgefasst werden: Jede Person sammelt
und verarbeitet selbstbezogene Informationen über ihre Fähigkeiten und Begabungen aus
den erlebten Person-Umwelt-Interaktionen. Diese Informationen werden innerhalb des
emotional-situativen Kontexts analysiert, abgespeichert und in das eigene und somit auch
generierende Fähigkeitsselbstkonzept integriert.30
Anders ausgedrückt: Ein Fähigkeitsselbstkonzept bildet sich durch die Interpretation,
Bewertung und Verarbeitung von situationsspezifischen Erfahrungen.
Um allerdings aus bestimmten Erfahrungen und Erlebnissen überhaupt selbstbezogene
Informationen und Rückschlüsse bezüglich eigener Fähigkeiten und Begabungen zu ziehen,
sind entwicklungspsychologische Voraussetzungen notwendig.
Auf diese möchte ich im nächsten Abschnitt näher eingehen und weiterführend wichtige
Einflussfaktoren benennen, die bei der Entwicklung des Fähigkeitsselbstkonzepts eine
entscheidende Rolle spielen.
3.1. Entwicklungspsychologische Voraussetzungen
Sich selbst wahrzunehmen, über sich selbst nachzudenken, sich selbst zu beurteilen und zu
bewerten, beginnt im Lebenslauf einer Person schon recht früh und hört eigentlich nie mehr
auf:
„Sich selbst zu interpretieren und zu definieren […] kann als lebenslange Praxis bezeichnet werden […] Selbstverständnis und Selbstregulation werden gewissermaßen als lebenslange Entwicklungsaufgaben angesehen.“ (Mummendey, 2006, S.87)
29
Selbstregulation meint in diesem Zusammenhang diejenigen bewussten und unbewussten psychischen Vorgänge, mit denen Menschen ihre Aufmerksamkeit, Emotionen, Impulse und Handlungen steuern. (Vgl. Mummendey, 2006, S. 113)
30 Verwiesen sei an dieser Stelle auf Laskowski, 2000, S. 36ff; Mummendey, 2006, S. 87ff.
3. Entwicklung und Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzepts
So findet man schon bei Kleinkindern zwar spontane, aber selbstbezogene Äußerungen, die
sich mit der Zeit zunehmend ausdifferenzieren und sich im Laufe der Lebensspanne stark
verändern können.
Dabei startet die allgemeine Selbstkonzeptentwicklung gleichsam mit einer Person-Umwelt-
Unterscheidung, die „selbst-bezogene“ und „außenwelt-bezogene Einordnung von
Erfahrungen“ 31 erst ermöglicht. Daran schließt sich die kognitive Fähigkeit an,
Handlungseffekte zu produzieren, zwischen Schwierigkeitsgraden (Gütegraden) zu
unterscheiden und Tätigkeitseffekte auf sich selbst zu beziehen. Das bedeutet, dass Kinder
bei der Entwicklung eines Fähigkeitsselbstkonzepts, ähnlich wie bei der Entwicklung des
Leistungsmotivs, in der Lage sein müssen, eigene Tüchtigkeit bzw. Untüchtigkeit, zu
erleben.32 Bei der individuellen Einordnung bzw. Einschätzung, was tüchtig (gute Leistung)
oder nicht tüchtig (schlechte Leistung) ist, kristallisiert sich als entscheidender Faktor die
Leistungsrückmeldung heraus.
Leistungsrückmeldungen haben somit einen großen Einfluss auf die
Fähigkeitsselbsteinschätzung von Kindern, wenn sie in der Lage sind, diese auf internale (in
der Person liegende) Faktoren zurückzuführen und „zwischen Konsequenzen von
Anstrengung und Fähigkeit [zu] differenzieren“33. Die in der Literatur angegebenen
Altersangaben für diesen ontogenetisch bedingten Entwicklungsschritt variieren stark.
Zusammenfassend lassen sich die Befunde dahingehend interpretieren, dass ein Kind diese
Fähigkeit bzw. dieses Verständnis der Kausalbeziehungen während der Grundschulzeit
erwirbt und weiter ausdifferenziert.
Da Kinder vor Schuleintritt nur selten mit realistischen Rückmeldungen auf spezifische
Leistungen konfrontiert werden, sind viele Selbsteinschätzungen in der Kindheit noch
unkritisch positiv:
„Wenn Kinder ihre Schulzeit im Alter von 6 Jahren beginnen, verfügen sie noch über keine fachspezifischen Begabungsüberzeugungen, sondern über ein eher globales Fähigkeitsselbstbild, welches in der Regel überhöht ist.“(Streblow, 2004, S. 45) Die Überzeugung hinsichtlich persönlicher Stärken und Schwächen bildet sich also erst, in
Verbindung mit der vom Kind vorgenommenen Kausalattribution und dem Bezugsrahmen
aus, in den die Leistung eingeordnet und somit bewertet wird.
Dieser Zusammenhang ist besonders für die Entwicklung des Fähigkeitsselbstkonzepts im
schulischen Lern- und Leistungskontext relevant und soll im nächsten Abschnitt verdeutlicht
werden.
31
Filipp zitiert in Mummendey, 2006, S. 95 32
Nach Piagets Theorie der geistigen Entwicklung, bildet sich diese Fähigkeit in der präoperationalen Phase heraus. (Vgl. Ginsburg/ Opper, 1998, S. 198ff) In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf die Entwicklung der Selbstwirksamkeitserwartung nach Bandura (vgl. Mummendey, 2006, S. 74ff).
33 Streblow, 2004, S. 45
3. Entwicklung und Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzepts
3.1. Zusammenhang von schulischer Leistung und Fähigkeitsselbstkonzept – zur
Bedeutung von Attributionen und Bezugsrahmeneffekten
3.1.1. Bezugsnormorientierung
Leistungsrückmeldungen erhalten als Indikator für eigene Fähigkeiten nur eine spezifische
Bedeutung, wenn sie auch in einen spezifischen Bezugsrahmen eingeordnet werden, d.h. es
werden Standards oder Gütemaßstäbe definiert, an denen individuelle Leistung messbar ist.
Unterschieden werden dabei drei unterschiedliche Bezugsnormorientierungen.34
Bei der „individuellen Bezugsnormorientierung“ handelt es sich um einen intraindividuellen
Längsschnitt (Leistungen eines Schülers) von Resultaten, die man vergleicht, während es
sich bei der „sozialen Bezugsnormorientierung“ um einen interindividuellen Querschnitt-
Vergleich handelt.35 Hier werden also Schülerleistungen untereinander verglichen und so die
Einzelleistung am Klassendurchschnitt gemessen. Daneben gilt es, fest definierte Lernziele
zu erreichen, die durch objektive Kriterien, wie z.B. die Fehleranzahl, beschrieben werden
(„kriteriale Bezugsnormorientierung“). 36
Besonders negativ kann sich bei leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern die
soziale Bezugsnormorientierung auf die Ausprägung des Fähigkeitsselbstkonzepts
auswirken, da Lernfortschritte nicht so deutlich werden und stattdessen der schlechte
Leistungsstand als kaum veränderlich und belastend erfahren wird. Denn selbst wenn ein
Kind sich gemessen an seiner vorherigen Leistung deutlich steigern kann, damit aber
dennoch unter dem Klassendurchschnitt liegt, wird der persönliche Erfolg nicht erfahren und
stattdessen ein negativ ausgeprägtes Fähigkeitsselbstkonzept bestätigt.
Ein besonderer Effekt stellt dabei der „Big-Fish-Little-Pond“-Effekt (engl. großer Fisch im
kleinen Teich) 37 oder auch „Bezugsgruppeneffekt“ dar: Die Fähigkeitseinschätzung von
Schülern hängt stark von der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit der jeweiligen
Bezugsgruppe ab, an der die individuelle Leistung gemessen wird. Es scheint, als ob sie sich
in ihren Einschätzungen v.a. darauf beziehen, wie ihre Leistungen im Vergleich zu den
Leistungen ihrer Klassenkameraden zu werten sind und berücksichtigen nicht, ob sie sich
beispielsweise an einer besonders leistungsstarken Bezugsgruppe messen.38 Je nach
Leistungsstärke der Bezugsgruppe, empfindet sich Schüler bei identischer Leistung also als
kleiner oder eher großer „Fisch“ im Vergleich zu anderen, was sich wiederum in der
Ausprägung seines Fähigkeitsselbstkonzepts (Tendenz positiv/ negativ) widerspiegelt.
34
„Bezugsnormen sind Standards, mit denen man ein vorliegendes Resultat vergleicht, wenn man beurteilen will, ob es sich um eine gute oder schlechte Leistung handelt.“ (Krapp/ Weidenmann, 2001, S. 313)
35 Vgl. Krapp/ Weidenmann, 2001, S. 313
36 Vgl. ebd.
37 Streblow, 2004, S. 47
38 Vgl. ebd., S.48
3. Entwicklung und Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzepts
3.1.2. Kausalattributionen
Neben der Bezugsgruppe und der Bezugsnormorientierung scheint für die tendenzielle, d.h.
positive oder negative Ausprägung des Fähigkeitsselbstkonzepts, die
Ursachenzuschreibungen, s.g. „Kausalattributionen“ 39, hinsichtlich der schulischen Erfolge
und Misserfolge ausschlaggebend zu sein. Unterschieden werden dabei drei verschiedene
Dimensionen von Attributionen, die sowohl den Grad der lernrelevanten Emotionen als auch
die Stärke der Leistungsmotivation bestimmen.40 Stabilität, Lokation und Kontrollierbarkeit.
Diesen Dimensionen liegen Faktoren zugrunde, die zur Erklärung von Leistungs- und
Lernergebnissen herangezogen werden und entweder internal (in der Person selbst liegend)
oder external (in der Umwelt liegend) sein können. Internale und externale Faktoren lassen
sich erneut unterteilen in zeitlich variable und zeitlich stabile Faktoren, die man kontrollieren
bzw. nicht kontrollieren kann.
Internal
External
Stabil Variabel Stabil Variabel
Kontrollierbar
Wissen Anstrengung Lernumgebung Aufgabenwahl
Nicht
Kontrollierbar
Begabung Krankheit Schwierigkeit des Faches Zufall
Abb. 2: Taxonomie der Kausalattributionen bei Erfolg und Misserfolg
(nach Krapp/ Weidenmann, 2001, S. 229)
Das Kind, das beispielsweise eine gute Mathearbeit auf internale Faktoren (Wissen,
Begabung, Anstrengung etc.) zurückführt („Ich bin erfolgreich gewesen, weil ich gut in Mathe
bin/ weil ich alle Aufgaben gekonnt habe/ weil ich viel geübt habe!“) und externale Faktoren
(Zufall, Schwierigkeit des Fachs etc.) für etwaige Misserfolge verantwortlich macht („Ich habe
eine schlechte Arbeit geschrieben, weil andere Aufgaben dran kamen, als abgesprochen/
weil ich Pech hatte…!“), geht an leistungsthematische Situationen mit einem positiven
Fähigkeitsselbstkonzept heran.
Ein Kind, das nun schulischen Misserfolg auf internale Faktoren („Ich bin halt blöd!“) und
Erfolgserlebnisse auf externale Faktoren zurückführt, verfügt über ein negatives
Fähigkeitsselbstkonzept, das große Scham und Selbstzweifel hervorrufen kann: Aufgrund 39
Vgl. Gage/ Berliner, 1996, S. 352 40
Vgl. ebd.
3. Entwicklung und Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzepts
des erwarteten Misserfolgs, setzen Defensivmechanismen ein, die ungünstige Zielsetzungen
und Anstrengungskalkulationen41 begünstigen und so zu einem Teufelskreis von Misserfolg,
mangelndem Kompetenzgefühl und externer Stigmatisierung durch Mitschüler, Lehrer und
Eltern führen können.
Diese Ergebnisse zeigen, wie eng die Entwicklung des Fähigkeitsselbstkonzepts auch mit
der tendenziellen Ausprägung der individuellen Leistungsmotivation42 (Erfolgs-/
Misserfolgsmotiviertheit) in Verbindung steht.
Besonders hervorzuheben ist, dass neben Motivlagen auch die Erwartungshaltungen und
Überzeugungen anderer, hinsichtlich der Fähigkeiten eines Schülers, die jeweilige
Ausprägung des Fähigkeitsselbstkonzepts beeinflussen.43 Besonders die
Lehrererwartungen, die auf „meistens sehr subtile Weise“44 kommuniziert werden, haben
große Auswirkungen auf die Leistung und die Kausalattributionen von Schülerinnen und
Schülern und hängen somit direkt mit der Entwicklung des Fähigkeitsselbstkonzepts
zusammen.
Im „Pygmalioneffekt“45, einer besonderen Variante der Self-fullfilling-Prophecy
(selbsterfüllenden Prophezeiung)46, tritt das deutlich zu Tage.
3.2.3. Zur Richtung der Kausalität von (Schul-)Leistung und Fähigkeitsselbstkonzept
Zwischen den Lernleistungen eines Kindes und dem Fähigkeitsselbstkonzept besteht eine
wechselseitige Beziehung: Während gute schulische Leistungen das Selbstwertgefühl
stärken und Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit geben, ist ein stabiles
Selbstvertrauen wiederum eine sehr gute Voraussetzung für erfolgreiches Lernen47.
Zur Erörterung der Richtung der Kausalität von Leistung und Fähigkeitsselbstkonzept
verweisen Schöne, Dickhäuser, Spinath und Stiensmeier-Pelster (2003) allerdings auf eine
nicht ganz eindeutige Befundlage, in der sowohl Ergebnisse für einen „skill-development“
Ansatz sprechen, bei dem zunächst die Leistung erbracht wird, die auf das
41
Anstrengungskalkulation ist die Erwägung, ob und unter welchem Anstrengungsaufwand ein bestimmtes Lernziel erreicht werden kann. (Vgl. Krapp/ Weidenmann, 2001, S.249)
42 Als Leistungsmotivation wird die „Selbstbewertung eigener Tüchtigkeit in Auseinandersetzung mit einem akzeptierten Gütemaßstabs [bezeichnet]; es wird zwischen zwei Komponenten des Leistungsmotivs unterschieden: der „Hoffnung auf Erfolg“ und der „Furcht vor Misserfolg“. (Ebd., S. 220)
43 Vgl. dazu auch die in der Einleitung angeführten Kinderzitate.
44 Krapp/ Weidenmann, 2001, S. 311
45 Dieser Effekt beschreibt die Tatsache, dass die Einschätzung eines Schülers durch den Lehrer, zum einen sein
Verhalten gegenüber dem Schüler und zum anderen die Selbstwahrnehmung des Schülers beeinflusst. Anders ausgedrückt: Die Fremdattribution durch Lehrer beeinflusst die Selbstattribution des Schülers und damit dessen Motivation/ Motivtendenz und dessen Fähigkeitsselbstkonzept. Verwiesen sei an dieser Stelle auf Krapp/ Weidenmann, 2001, S. 310-313. 46
Hier geht es um Erwartungen, die die Tendenz haben, sich zu bewahrheiten, indem sie eigenes und fremdes Verhalten so beeinflussen, sodass am Ende tatsächlich das geschieht, was man erwartet hat. (Vgl. ebd., S. 310)
47 Vgl. Krapp/ Weidenmann, 2001, S. 229
3. Entwicklung und Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzepts
Fähigkeitsselbstkonzept wirkt, als auch für einen „self-enhancement“ Ansatz, bei dem
umgekehrt ein positives Fähigkeitsselbstkonzept zu guten Leistungen führen kann.48
Alltagserfahrungen sprechen dafür, dass im Schulalltag beide Prozesse auftreten und sich
wechselseitig bestärken.49
3.2. Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung des Fähigkeitsselbstkonzepts
Wie unter Kapitel 2.3. schon kurz thematisiert, ist ein bestehendes Fähigkeitsselbstkonzept
durch seine mehrdimensionale und hierarchisch aufgebaute Struktur zwar lebenslang
veränderbar (vgl. Kap. 2.3.), aber trotzdem als recht stabil anzusehen. Schwarzer, Lange
und Jerusalem (1982) konnten in ihrer Studie allerdings zeigen, dass ein
Fähigkeitsselbstkonzept sich verändern kann, wenn sich der Bezugsrahmen ändert (z.B. die
Bezugsgruppe durch Schulwechsel/ Umzug etc.).50 Dieser Ansatz wird durch Gergen (1984)
gestützt, der annimmt, dass ein Fähigkeitsselbstkonzept stabil bleibt, wenn die äußeren
Lebensbedingungen konstant bleiben, eine Selbstkonzeptänderung aber „häufiger nach
situativen Veränderungen […] zu erwarten [sei]“.51
Greve (1990), Rustemeyer (1993), Filipp (1975) und Epstein (1984) gehen davon aus, dass
sich ein Fähigkeitsselbstkonzept nur aufgrund von „nicht-integrierbaren Informationen“ oder
durch „die Bewältigung kritischer Lebensereignisse“ ändert. Da ein bestehendes
Fähigkeitsselbstkonzept
48
Vgl. Schöne, Dickhäuser, Spinath und Stiensmeier-Pelster, 2003, S. 6) 49
Vgl. Streblow, 2004, S. 42 50
Vgl. Laskowski, 2000, S. 152ff 51
Ebd., S. 153
4. Erste Schlussfolgerungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung eines positiven…
einen Interpretationsrahmen für neue Informationen vorgibt, also selektiert52, können neue
Informationen ihrer Meinung nach nur dann zu einer Fähigkeitsselbstkonzeptänderung
führen, wenn sie eine große Diskrepanz zur eigenen Selbsteinschätzung aufweisen oder von
einer als sehr kompetent empfundenen Person ausgehen.
Auch durch die Identifizierung mit Vorbildern können Einstellungen und Verhaltensweisen
beeinflusst werden (Modell-Lernen).
Allen Ansätzen ist gemein, dass sich ein Fähigkeitsselbstkonzept eigentlich nur dann
verändern kann, wenn neue, selbstbezogene Informationen in das bestehende
Fähigkeitsselbstkonzept integriert werden, die wiederum aus situationsspezifischen, meist
neuen Erfahrungen resultieren.
3.3. Möglichkeiten der Messung eines Fähigkeitsselbstkonzepts
Die in der Literatur aufgeführten Methoden und Verfahren um Fähigkeitsselbstkonzepte zu
untersuchen und ihre tendenzielle Ausprägung festzustellen, beziehen sich meist
ausschließlich auf die kognitive Komponente des Fähigkeitsselbstkonzepts (vgl. Kap.
2.3./2.4.). So lassen sich beispielsweise durch das „Internal/External-Frame-of-Reference“-
Modell von Marsh und Yeung (2001) spezifische Korrelationsfaktoren beim Akademischen
Selbstkonzept ausmachen, aus denen wichtige Rückschlüsse gezogen werden, wie sich
fachspezifische Selbsteinschätzungen auf das Erleben und Verhalten in Lern- und
Leistungssituationen auswirken.53
Als häufigste Messmethode werden bei der Selbstkonzepterfassung Fragebogenverfahren
verwendet, die in der modernen Selbstkonzeptforschung allerdings aufgrund ihrer
mangelnden Vergleichs- und Übertragbarkeit als etwas problematisch angesehen werden.
Zu beachten ist außerdem, dass mit Fragebögen meist nur Selbsteinschätzungen erfasst
werden können, die der betreffenden Person auch bewusst sind.
Andere Messverfahren wären beispielsweise die „Q-Sort-Technik“ und die „projektiven
Verfahren“ (z.B. Thematischer Apperzeptionstest, Murrey 1943), die überwiegend in
therapeutischen Kontexten eingesetzt werden und eher für Einzeltestungen bestimmt sind.
Neuere Messmethoden, wie z.B. das „Priming“ (Hannover, 1997; Pohlmann, 2003) gehören
inzwischen überwiegend in den Bereich der „impliziten Methoden“.54
4. Erste Schlussfolgerungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung
eines positiven Fähigkeitsselbstkonzepts in der Grundschule
52
„Man nimmt mit Vorliebe solche Informationen wahr, die in das bestehende Konzept gut passen.“ (Laskowski, 2000, S. 153)
53 Vgl. Streblow, 2004, S. 50ff
54 Vgl. ebd. S. 29
4. Erste Schlussfolgerungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung eines positiven…
Wie die obigen Ausführungen zeigen, stellen die ersten Schuljahre eine wichtige Etappe in
der Entwicklung der Einstellungen der Kinder zu sich selbst dar: Dadurch, dass täglich neue
Aufgaben bewältigt werden müssen, die auch Vergleichsprozessen unterliegen (u.a. auch
durch Eltern und Mitschüler) wird die Grundlage dafür gelegt, ob Kinder eine tendenziell
positive und optimistische Einstellung hinsichtlich ihrer Fähigkeiten sowie ein damit
verbundenes gesundes Selbstvertrauen entwickeln oder ob sich Schul- und
Versagungsängste sowie ein niedriges Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen herausbilden
und zu verfestigen beginnen.“
Doch wie lassen sich Grundschulkinder bei der Entwicklung ihres Fähigkeitsselbstkonzepts
positiv beeinflussen und unterstützen? Im vorherigen Kapitel dieser Arbeit werden neben
dem Lehrerverhalten v.a. das Klassenklima und die Bezugsnormorientierung als
Bedingungsfaktoren für die Entwicklungsrichtung des Fähigkeitsselbstkonzepts identifiziert:
Je stärker der Wettbewerb innerhalb der Lerngruppe, desto häufiger kommt es auch zur
Ausprägung einer negativen Attributionsstruktur und eines negativen
Fähigkeitsselbstkonzepts bei Schülerinnen und Schülern.55
Des weiteren wird deutlich, dass „Veränderungen […]in [persönliche] Überzeugungen, nicht
einfach von außen durch Erziehungsmaßnahmen hervorgerufen oder gar determiniert
werden können“56, sondern dass Erziehung nur Chancen und Gelegenheiten für Erfahrungen
bereithalten kann, in denen ein Kind sich geistig und handelnd mit Themen, Dingen und
Problemen auseinandersetzt und dabei von uns Lehrkräften Hilfestellung und
Rückmeldungen erhält. Wie diese Erfahrungen interpretiert, bewertet, ausgewählt und in
bereits vorhandene kognitive Strukturen integriert werden, liegt dabei einzig und allein in der
Hand des lernenden Kindes.57 Ein von der Tendenz her negatives Fähigkeitsselbstkonzept
kann also nur durch eine Veränderung des eigenen Meta-Wissens um die jeweiligen
individuellen Fähigkeiten und Begabungen positiv beeinflusst werden.
Aus diesen Erkenntnissen sowie den in dieser Arbeit wiedergegebenen wissenschaftlichen
Befunden (Vgl. Kap. 3) ziehe ich in Bezug auf die Unterrichtspraxis folgende erste
Schlussfolgerungen:
Um ein Kind in seiner Entwicklung eines positiven Fähigkeitsselbstkonzept zu fördern, ist
„aktives“58 Lernen notwendig, d.h. es müssen im Unterricht Lernsituationen geschaffen
werden, …
55
Vgl. Krapp/ Weidenmann, 2001, S. 217 56
Ebd. 57
Vgl. ebd. 58
In der pädagogischen Psychologie charakterisiert der Begriff „aktives Lernen“ einen Lernprozess, der auf eine hohe Schüleraktivität ausgelegt ist und damit mehr assoziative Verbindungen zum Lehrstoff herstellt. (Vgl. dazu Gage/ Berliner, 1996, S. 299 sowie Krapp/ Weidenmann, 2001, S. 127)
4. Erste Schlussfolgerungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung eines positiven…
…die herausfordern, aber erfolgreich bewältigt werden können,
…in denen sich Kinder als kompetent erleben können,
…die Erfahrungslernen begünstigen und Grenzerfahrungen hinsichtlich der
Selbstwirksamkeit und der eigenen Leistungsfähigkeit zulassen,…die das
Engagement der Schülerinnen und Schüler erfordern sowie eine große
Mitbestimmung und Selbsttätigkeit ermöglichen,
…die die Kreativität anregen und fördern,
…die auch individuelle Leistungsmessungen zulassen.59
Aus diesen Anforderungen an die Unterrichtsorganisation ergeben sich für mich auch
Konsequenzen zum Verhalten der Lehrkraft:
Als Lehrkraft kann ich speziell zur positiven Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzepts
beitragen, indem ich…
…sachbezogene Leistungsrückmeldungen gebe,
…differenziere,
…mich um ein positives Klassenklima bemühe, in dem angstfreies und motiviertes
Lernen möglich ist60,
…Schülerinnen und Schüler ernst nehme und hinsichtlich ihres eigenen
Leistungspotenzials ermutige,
… versuche, die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung zu fördern.
Im nächsten Teil dieser Arbeit sollen nun die Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung
eines positiven Fähigkeitsselbstkonzepts anhand einer Musicalproduktion untersucht
werden, die im letzten Teil der Arbeit dann ausführlich reflektiert werden wird.
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“ 5.1. Zur Situation der Lerngruppe und zur Lernausgangslage – die Musical-AG der Grundschule Worphausen Zusammensetzung der Lerngruppe
59
In diesem Zusammenhang möchte ich u.a. auf die Möglichkeit des Einsatzes von Produkt-Portfolios im Unterricht hinweisen, deren positive Auswirkungen u.a. durch Wessel bestätigt wurden. (Vgl. dazu Wessel, Sabine: Stärken veröffentlichen. Möglichkeiten des Einsatzes von Portfolios als Beitrag zur Förderung der Selbstwahrnehmung, dargestellt am Beispiel der Arbeit mit dem Bilderbuch „Freunde“ von Helme Heine im Deutschunterricht einer zweiten Klasse. Unveröffentlichte Examensarbeit, 2005. )
60 Zur Bedeutung des angstfreien Lernens vergleiche „10 Merkmale guten Unterrichts“ nach H. Meyer, 2005.
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
Seit dem 13. September 2006 leite ich die von mir neu gegründete Musical-AG an der
Grundschule Worphausen, die sich jeden Mittwoch von 12.15 bis 13.30 Uhr trifft. Die
altersgemischte und jahrgangsübergreifende Lerngruppe setzt sich aus 5 Kindern der dritten
und 12 Kindern der vierten Klassen im Alter von 7-10 Jahren zusammen und besteht aus 13
Mädchen und 4 Jungen (vgl. Anhang I). Waldemar und Cahide stammen aus Familien mit
Migrationshintergrund. Ende November ist Janis neu zur Lerngruppe gestoßen, da zu
diesem Zeitpunkt feststand, dass ein Mädchen aus der Musical-AG bei einer Aufführung
vertreten werden musste.
Alle Kinder sind mir durch meinen Musik- Sport- oder Deutschunterricht bekannt61 und
kennen sich zumindest vom Sehen und teilweise auch durch einen im letzten Halbjahr
stattfindenden, jahrgangsübergreifenden Lese-Projekttag.62 Die Arbeit in dieser
Zusammensetzung ist aber für alle Kinder neu. In diesem Zusammenhang ist es mir
besonders wichtig darauf hinzuweisen, dass sich die Zusammensetzung der Lerngruppe
ausschließlich aufgrund persönlicher Neigungen der Kinder konstituierte und dabei in
keinster Weise nach Begabung oder Können selektiert wurde.63
Allgemeine Lernausgangslage
Die nachfolgend gegebenen Einschätzungen bezüglich Arbeits-, Sozialverhalten und
bestehendem Fähigkeitsselbstkonzept der Kinder resultieren zum einen aus den
Erfahrungen und Beobachtungen, die ich in meinem Fachunterricht des letzten Halbjahres
gemacht habe, und zum anderen aus Gesprächen mit den jeweiligen Klassenlehrerinnen.
Insgesamt schätze ich die Lerngruppe als sehr lebendig, motiviert, leistungswillig und Neuem
gegenüber aufgeschlossen ein. Zwischen den Kindern herrscht im Allgemeinen eine
freundliche und offene Arbeitsatmosphäre, allerdings müssen sie noch als Gruppe
zusammenwachsen. Die Kinder sind aus anderen Fächern und vorangegangenen Einheiten
mit unterschiedlichen Sozialformen wie Partner- und Gruppenarbeit vertraut. Während ich
v.a. von den Mädchen der vierten Klassen weiß, dass sie schon recht selbstständig,
kooperativ und zunehmend zielgerichtet und ausdauernd arbeiten, lassen sich einige
Schülerinnen und Schüler (insbesondere Max, Paul und Lara) noch leicht von
außerunterrichtlichen Dingen ablenken und müssen dann direkt zur konzentrierten Mitarbeit
aufgefordert werden. Anderen Kindern, wie Waldemar, aber auch Lara und Max, fällt es 61
Während ich in beiden vierten Klassen seit dem 2. Februar 2006 jeweils eine Musikstunde sowie zwei Sportstunden erteile, kenne ich Lara und Cahide aus meinem Deutschunterricht (4 Stunden pro Woche) und die Kinder aus der 3b durch eine betreute Musikstunde im letzten Halbjahr.
62 Eventuelle gemeinsame Freizeit- oder Vereinsaktivitäten der Schülerinnen und Schüler sind mir nicht bekannt und bleiben deshalb an dieser Stelle unberücksichtigt.
63 Alle Dritt- und Viertklässler dürfen sich, jedes Halbjahr neu, für eine AG entscheiden und treffen sich dafür am ersten AG-Tag (mittwochs) in der Aula. Nachdem die AG-Leiter ihr jeweiliges Thema kurz vorgestellt haben, ordnet sich jedes Kind nach individuellem Interessensschwerpunkt einer AG zu. Neben der Musical-AG standen in diesem Schulhalbjahr noch eine Schach- eine Garten-, eine Sport- und eine Bücherei-AG zur Auswahl.
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
mitunter noch schwer, Kompromisse einzugehen und produktiv mit anderen Kindern
zusammenzuarbeiten. Meine Erfahrungen des letzten Halbjahres haben gezeigt, dass sie in
diesem Fall die gezielte Zuwendung der Lehrkraft benötigen, um Auseinandersetzungen
friedlich beizulegen und ihre weitere Arbeit neu zu strukturieren. Max und Waldemar zeigen
hyperaktives Verhalten, wobei insbesondere Waldemar eine sehr geringe
Frustrationstoleranz besitzt. Beide drängen sich aufgrund ihres großen Geltungsbedürfnisses
oft in den Vordergrund und versuchen sich in Gesprächsphasen lauthals Geltung zu
verschaffen, ohne sich an vereinbarte Gesprächsregeln zu halten. Sollte dieses Verhalten
auftreten, werde ich sie auf die Gesprächsregeln hinweisen und ggf. mit ihnen
Einzelgespräche führen.
Um Aufgabenstellungen oder Spielanweisungen angemessen erfassen und umsetzen zu
können, benötigen v.a. Lara und Gina Hilfestellung durch mich bzw. durch Mitschüler. Als
besonders leistungsstark schätze ich dagegen Simon, Alicia, Pia und Lea ein, die auch
aufgrund ihres sehr positiven Sozialverhaltens dazu beitragen können, dass sich
schüchterne Kinder, wie z.B. Johanna, Gina und Cahide, in der Lerngruppe schnell zurecht
finden, Selbstvertrauen gewinnen und integriert werden.
Was die Ausprägung des individuellen Fähigkeitsselbstkonzepts angeht, komme ich zu
folgenden Einschätzungen, die sich wie gesagt nicht nur aus meinem Fachunterricht,
sondern auch aus Beobachtungen der Klassenlehrerinnen ergeben.
Über eine schon recht realistische Selbsteinschätzung sowie ein gesundes Selbstvertrauen
in die eigenen (Leistungs-)Fähigkeiten verfügen Janina, Pia, Max, Lea, Maren und Simon.
Insbesondere Simon stellt zwischen seiner erbrachten Leistung, der dafür erforderlichen
Anstrengung und seiner individuellen Begabung einen schon recht genau analysierten
Kausalbeziehung her, setzt sich in leistungsthematischen Situationen ein realistisches
Anspruchsniveau und verfügt über eine große Lern- und Leistungsbereitschaft. Während
sich bei Cahide, Alena, Laura, Alicia und Marie noch keine tendenzielle Ausprägung des
Fähigkeitsselbstkonzepts abzeichnet und die Selbstwirksamkeitserwartung in
unterschiedlichen Bereichen noch stark differiert, lässt sich bei Waldemar, Johanna, Gina
aber auch Janis ein von der Tendenz her negatives Fähigkeitsselbstkonzept ausmachen.
Während Johanna z.B. bei leistungsthematischen Situationen stark verkrampft und anfängt
zu zittern, geht besonders Waldemar solchen Situationen so weit es geht aus dem Weg oder
setzt sich unrealistische Anspruchsniveaus. Wenn etwas nicht klappt, schlägt er sich immer
wieder mit der Hand an den Kopf und sagt dabei „Ich bin halt zu blöd, blöd, blöd…“
Insbesondere Lara, aber in Ansätzen auch Paul, überschätzen ihre eigene
Leistungsfähigkeit, verfügen also über ein überhöhtes und damit auch von der Tendenz her
negatives Fähigkeitsselbstkonzept. Während Paul allerdings eine nicht so gute Leistung auf
seine geringe Anstrengungsbereitschaft und damit auf internal variable Faktoren zurückführt,
hat es bei Lara den Anschein, dass sie Misserfolg auf externale Faktoren zurückführt und für
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
eine schlechte Zensur die ungerechte Beurteilung der Lehrkraft, Stress mit ihrer Freundin
o.ä. verantwortlich macht. Bei ihren Mitschülern fällt sie oft negativ auf, weil sie zudem ihre
eigene Leistung im Vergleich zu anderen überbewertet. Diese unrealistische
Fähigkeitsselbsteinschätzung findet bei Paul in Ansätzen zwar auch statt. Er schafft es
jedoch im Gegensatz zu Lara, einen Schluss von Leistung auf Fähigkeit vorzunehmen,
indem er zwischen Konsequenzen von Anstrengung und Fähigkeit differenziert (vgl. Kap.
3.1.). Bei Lara ist diese Kausalbeziehung nicht gegeben.
Fach- und inhaltsspezifische Lernausgangslage
Die Teilnahme an einer größeren Musicalproduktion stellt für alle Kinder ein Novum dar.
Allerdings konnten die Kinder der jetzigen vierten Klassen schon ein paar Vorerfahrungen im
Theaterspiel sammeln, als ich mit ihnen ein kleines selbstgeschriebenes Theaterstück mit
zwei Liedern für die diesjährige Einschulungsfeier einstudiert habe.64 Dabei wurde deutlich,
dass besonders Pia und Simon über schauspielerisches Talent verfügen, Texte rasch
auswendig lernen und besonders ausdrucksstark vortragen. Max hat in seiner Freizeit schon
bei einer Theaterproduktion der Bremer Waldbühne mitgewirkt.
Alle Kinder der Musical-AG singen gerne. Aus dem Musikunterricht des letzten Halbjahres
ließ sich feststellen, dass besonders Waldemar unheimlich gut und kräftig singen kann, aber
auch Alicia, Simon, Maren und Alena zunehmend sauber intonieren und rhythmisch sicher
sind. Fünf Kinder (Janina, Pia, Simon, Max und Maren) erhalten zudem außerschulischen
Instrumentalunterricht. Besonders kreativ im Bereich „Musik und Bewegung“ sind v.a.
Janina, Pia und Marie, die sich auch in den Pausen gerne Tänze zu aktuellen Songs
ausdenken.
Das betonte und ausdrucksvolle Sprechen wird überwiegend im Deutschunterricht
aufgegriffen und geübt. Aufgrund des Altersunterschieds sind die meisten Viertklässler in
ihrer Lesekompetenz sehr viel weiter fortgeschritten als die Drittklässler. So zeigen Lara und
Gina z.B. noch deutliche Probleme, einen Text flüssig und betont vorzulesen, was in den
Proben mit berücksichtigt werden muss.
5.2. Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume Trotz aller Chancen und Möglichkeiten einer Musicalproduktion, ergeben sich vor dem
Hintergrund der theoretischen Betrachtung einer positiven Fähigkeitsselbstkonzeptgenese
Einschränkungen hinsichtlich des Zielvorhabens: Denn die Teilnahme an einer
Musicalproduktion wirkt nicht als „Therapeutikum“65, sondern kann durch ihre musisch-
64
Vor diesem Hintergrund relativiert sich die in dem ersten Fragebogen angegebene hohe Anzahl der Kinder, die schon an einer „Musicalproduktion“ teilgenommen haben.
65 Lenzen, 1990, S. 16
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
ästhetische Erziehung nur einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung von Kindern
leisten.66
Auch der zeitliche Rahmen ist für eine Musicalproduktion knapp bemessen. So stehen uns
drei Probentermine67 vor den Herbstferien und sieben Probentermine danach zur Verfügung,
die jeweils 75 Minuten umfassen. Da die Musical-AG aus keinem festen Klassenverband
besteht, sind zusätzliche Proben also nur nachmittags zu realisieren, wobei es
wahrscheinlich zu zahlreichen Überschneidungen mit anderen Hobbys oder Terminen der
Kinder kommen wird. Eine Entlastung durch eine weitere Aufsichtsperson in der regulären
Probenzeit, die verstärkt Kleingruppenarbeit und damit wahrscheinlich effektiveres Proben
ermöglichen würde, ist nicht bzw. nur höchst selten gegeben.
Da der Musikraum durch die Bücherei-AG belegt ist und in dem einzigen Nachbarraum die
Schach-AG tagt, muss ich mit der Musical-AG auf die Aula bzw. andere Klassenräume
ausweichen. Hieraus ergeben sich sowohl Vor- als auch Nachteile, die bei der Organisation
und Planung von mir mitberücksichtigt werden müssen: Die Aula bietet den Vorteil, dass uns
gerade für die Theaterübungen und Choreografien viel Platz zur Verfügung steht und wir von
Anfang an auf der Bühne proben können, auf der die Aufführungen stattfinden. Der Nachteil
ist, dass sich zum einen der Organisations- und Zeitaufwand für das Transportieren von
Instrumenten und Materialien (Requisiten, CD-Player, Keyboard, Textplakaten etc.) erheblich
erhöht68 und zum anderen dass die Aula von Eltern, Kollegen und Kindern als
Durchgangsverbindung oder Aufenthaltsraum genutzt wird. Das bedeutet, dass regelmäßig
mit „Störungen“ oder unerwünschtem Publikum zu rechnen ist, da Eltern hier z.B. auf ihre
Kinder warten, die Toiletten nur über die Aula zu erreichen sind und gerade die Erst- und
Zweitklässler in der Betreuungszeit ständig durch die Aula laufen oder hier spielen möchten.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass sich bei einigen Kindern die Selbsteinschätzung unter
Rückbezug auf eigene Fähigkeit bzw. Anstrengung entwicklungsbedingt erst herauszubilden
beginnt. So kann es z.B. bei Gina oder Lara sein, dass sie ihre eigene Leistung zwar
erkennen, aber nicht auf internale Faktoren zurückführen und ihre Leistung somit nicht in
einen sich wechselseitig bedingten Kontext von Motivation, Anstrengung und Fähigkeit
bringen.
66
Zu den nicht intendierten quasi-therapeutischen Effekten der Schultheaterarbeit schreibt Lenzen: „Ästhetische Erziehung in der Grundschule entwickelt körpernah die Kreativität einzelner Kinder und die Kreativität von Gruppen. Diese Kreativität kann befreiend wirken, ohne therapeutisch gemeint zu sein. Lehrerinnen und Lehrer können lernen, diesen kreativen Prozess in verschiedenen Sparten körperlicher Ausdrucksfähigkeit anzuregen, zu begleiten und sich selbst in ihn hineinzubegeben.“ Ebd. S. 16 f.
67 Die Proben vor den Herbstferien reduzieren sich auf drei Termine, da ich eine Woche auf Klassenfahrt fahre und an einem anderen Mittwoch einer 2. Staatsexamensprüfung beiwohnen kann.
68 An den Musikraum schließt sich ein kleiner Abstellraum an, in dem die Instrumente und die für die Musical-AG benötigten Materialien und Medien gelagert werden.
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
So wird die positive Fähigkeitsselbstkonzeptgenese durch die hier thematisch sowie zeitlich
begrenzte Musicalproduktion nicht in dem Maße gefördert werden können, wie es in einem
musikalischen Langzeitprojekt69 o.ä. möglich wäre.
5.3. Sachanalyse „(Kinder-)Musical“ 5.3.1. Allgemeines zu Musicals Der Ausdruck „Musical“ ist eine Kurzform für „Musical comedy“ (musikalische Komödie) oder
„musical play“ (musikalisches Spiel). Der Begriff bezeichnet eine musikalisch-theatralische
Form, die sich aus Operette, Revue (frz. Rückschau; Gattung des Unterhaltungstheaters),
Sprechdrama und Varieté (frz. Vermischtes; Spielart) zusammensetzt, in freier Form besetzt
ist und aus Schauspiel, Songs, Liedern, Tanz-, Jazz-, Unterhaltungsmusik sowie Tanz und
Ballett bestehen kann70. Das Genre lässt sich dem Bereich des Musiktheaters71 zuordnen
und entstand Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika aus einer Verschmelzung
unterschiedlicher europäischer und afroamerikanischer Elemente. Als Geburtsstunde des
Musicals wird häufig die Uraufführung des Werkes „The Black Crook“ im Jahre 1866
angeführt, eine mehr als fünfstündige s.g. „Extravaganza“72. Dabei handelte es sich um eine
Show mit Sensationsdarbietungen aus Zirkus und Varieté.
Als wichtige Vorläufer des Musicals gelten die Operette, aber auch die englische
Balladenoper, das französische Vaudeville und das deutsche Singspiel.
5.3.2. Das Kindermusical – Unterschiede, Charakteristika, Gemeinsamkeiten Der Begriff des „Kindermusicals“ wurde zunächst Anfang der 70er Jahre im Bereich des
professionellen Kinder– und Jugendtheaters verwendet. Die ersten „Musicals für Kinder“
waren so konzipiert, dass sie an professionellen Bühnen von Erwachsenen für ein
Kinderpublikum aufgeführt werden konnten. Erst seit Ende der 70er Jahre hat sich der
Begriff „Kindermusical“ fest etabliert und dahingehend gewandelt, dass seitdem auch Stücke
professioneller Texter und Komponisten auf die Aufführung durch Kinder angelegt sind.73 So
ist ein Kindermusical inzwischen wie die „großen“ Musicals eine „Theaterproduktion mit Live-
Darbietungen [von Kindern] im Bereich Schauspiel, Tanz, Gesang und Musik“74. Allerdings
69
Zu Chancen und Möglichkeiten musikalischer Langzeitprojekte verweise ich auf die Langzeitstudie von Bastian (2001) .
70 Vgl. Meyers Taschenlexikon, 1984, S. 299f
71 Seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird der Begriff „Musiktheater“ für die wachsende Vielfalt von Bühnenwerken benutzt, in denen Sprache, Szene, Musik, Bild und Bewegung miteinander kombiniert werden. Aufgrund vielfältiger Stile, unterschiedlicher Behandlung des Tonmaterials und der wechselnden Gewichtung der Anteile von Musik, Text und szenischer Darstellung fällt allerdings eine genaue Abgrenzungen innerhalb des Genres zunehmend schwer. (Vgl. Kruse, 2001, S. 5)
72 Kruse, 2001, S. 5
73 Vgl. Schoenebeck in Kruse, 2001, S. 19
74 Oscar Hammerstein (1895-1960), ein berühmter Broadway-Produzent, berief Mitte des letzten Jahrhunderts
einen Kongress ein, der diese Musical-Definition festlegte. (vgl. www.tanzundtheaterwerkstatt-ffm.de/tanzstile/musical.html. 28.12.2006)
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
ist die für das Genre charakteristische Verbindung von Musik, Tanz, Drama und Show
zwangsläufig nicht so ausgeprägt, wie im Musical für Erwachsene, deren Darsteller in der
Regel eine professionelle Ausbildung genossen haben. Häufig dominiert deshalb im
Kindermusical der Text, während Tanz und Show nur in Ansätzen vertreten sind.
Auch die große Bandbreite der musikalischen Gestaltung der großen Musicals reduziert sich
bei den Kindern überwiegend auf einfache Popsongs, Tanzschlager und Lieder.75
Aufgrund der entwicklungsbedingten stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten von Kindern und
Jugendlichen, dominiert bei der vokalen Besetzung von Kindermusicals meistens der
einstimmige Chor. In Musicals für ältere Kinder und Jugendliche treten dagegen eher
Gesangssolisten, in komplexeren Werken auch mehrstimmiger Chorgesang auf.
5.3.3. Das Kindermusical „Hexenwald“ Das Kindermusical „Hexenwald“ wurde von mir in den Sommerferien 2006 getextet und
komponiert und ist auf die Fähig- und Fertigkeiten von Grundschulkindern abgestimmt. Es
thematisiert das Aufeinandertreffen von zwei verschiedenen Welten sowie die Bedeutung
von Hilfsbereitschaft, Freundschaft und der Selbstüberwindung bzw. eigenen
Angstbewältigung.
In dem Kindermusical geht es um die beiden Kinder Lena und Lisa, die durch Zufall im
Hexenwald landen. In diesem Zauberwald gibt es nicht nur Fabelwesen, Feenprinzen,
Baumgeister etc. sondern natürlich auch jede Menge böser Hexen. Nachdem diese Lena
gleich zu Beginn entführt haben, macht sich Lisa auf die Suche nach einem mächtigen
Verbündeten, der ihr gegen die Hexen zur Seite stehen und ihr helfen soll, Lena zu befreien.
Feuersteine bieten ihre Hilfe an, bekommen aber schon bei der Demonstration ihres
Schlachtrufes heftigen Muskelkater, da sie sich die letzten 300 Jahre nicht bewegt haben.
Also sucht Lisa weiter und stößt auf den Feenprinzen Tassilo, der sich mit ihr auf den Weg
zur tiefsten und dunkelsten Stelle des Hexenwaldes macht. Da selbst die Sonne diese Stelle
meidet, hoffen sie, hier diesen mächtigen Verbündeten zu finden. Doch statt des
furchterregenden Ungeheuers, das die beiden dort vermuten, machen sie die Bekanntschaft
des drolligen Fabelwesens Tamin, das zwar fauchen und Purzelbäume schlagen kann, aber
nicht im geringsten gefährlich ist. Schließlich hecken die drei eine List aus und schaffen es,
die Hexen mit Hilfe der Feuersteine zu besiegen und Lena zu befreien. Die Hexen müssen
versprechen, niemals mehr etwas Böses zu tun und so kehrt in den Hexenwald endlich
wieder Friede ein. Lena und Lisa haben im Hexenwald viele neue Freunde gefunden und
können zurückkehren in ihre eigene Welt.
Der Text des Kindermusicals verteilt sich auf 16 Rollen mit unterschiedlich großen
Textanteilen (vgl. Anhang): Neben den beiden Erzählern Florentine und Filippo, die durch
75
Vgl. Schoenebeck, 1999, S. 14f
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
das Stück führen und einen mittelgroßen Sprechanteil haben, gibt es jeweils fünf Feuersteine
sowie fünf Hexen, die weniger Text haben und vier s.g. „Hauptrollen“ (Lena, Lisa, das
Fabelwesen Tamin und der Feenprinz Tassilo), die erheblich mehr Text lernen müssen als
beispielsweise die Feuersteine oder die Hexen.
Ergänzt wird der Text durch insgesamt sechs Lieder sowie eine Bläserfanfare.76 Während die
meisten Lieder Strophenlieder sind und von einer Kleingruppe (Steine, Hexen etc.)
vorgetragen werden, gibt es noch ein recht anspruchsvolles Duett, das von Lisa und Tassilo
solistisch gesungen, wird sowie ein von der Harmonik und Melodieführung ebenfalls recht
anspruchsvolles „Lied vom Pläne schmieden“.77
5.4. Allgemeine didaktische Entscheidungen
Die Notwendigkeit, Kindern im schulischen Alltag Erfolgserlebnisse zu ermöglichen, wird in
den für die Arbeit in der Grundschule geltenden Bestimmungen des Kultusministeriums
explizit betont.78 Dazu müssen im Unterricht Lernsituationen geschaffen werden, in denen
sich die Schülerinnen und Schüler als produktiv, selbstwirksam und kompetent erleben
können. Gleichzeitig gilt es, alle Schülerinnen und Schüler „an eine angemessene
Einschätzung ihrer Leistungsfähigkeit“79 heranzuführen, wobei gerade der Grundschule als
erster Schulstufe eine immense Bedeutung und Verantwortung für die weitere
Lernentwicklung und das Lernverhalten des Kindes zukommt (vgl. Kap. 4). Voraussetzung
für die Erfüllung dieser Forderungen ist die Entwicklung eines positiven
Fähigkeitsselbstkonzeptes. Nur so können „Lernfreude [sowie] Lern- und
Leistungsbereitschaft“80 bei Kindern gestärkt und weiterentwickelt werden. Die Entwicklung
eines positiven Fähigkeitsselbstkonzeptes impliziert nicht nur eine Steigerung der Sach- und
Selbstkompetenz bei Kindern, sondern auch eine diesbezügliche realistische
Selbsteinschätzung: Dass sich Kinder „nur“ als kompetent erleben, reicht nicht aus, sie
müssen lernen, ihre Fähigkeiten und Leistungen angemessen zu reflektieren und auf
internale Faktoren zu beziehen. Dabei müssen Vergleichsprozesse angestellt werden, um
einen Schluss von Leistung auf Fähigkeit vornehmen zu können.
Weil das Grundschulalter eine „sensible Phase“81 für die Ausprägung des
Fähigkeitsselbstkonzepts darstellt, weist die Förderung einer diesbezüglich positiven
Entwicklung für die Kinder meiner Lerngruppe nicht nur eine aktuelle, sondern v.a. auch
zukünftige Bedeutsamkeit auf. Ein einmal ausgebildetes Fähigkeitsselbstkonzept generiert
sich zwar ständig, bleibt jedoch von der Tendenz her relativ stabil: In der Kindheit gebildete 76
Vgl. CD (Anlage) 77
Vgl. Noten im Anhang und CD 78
Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium, http://nibis.ni.schule.de/~mk-datei/arbeit-in-der-gs.pdf. Punkt 2.6./5.3., 23.11.2006
79 Ebd. Punkt 5.3.
80 Ebd.
81 Den Begriff der „sensiblen Phase“ benutze ich in Anlehnung an Piaget (vgl. Ginsburg/ Opper, 1998, S. 43)
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
Fähigkeitsselbstkonzepte behalten ihren Einfluss auf neue Postulate bis ins
Erwachsenenalter bei82. Wissenschaftliche Untersuchungen (z.B. Epstein 1984) machen
deutlich, dass diese überdauernde Tendenz aus der unbewusst oder bewusst vollzogenen
Meidung von Situationen resultiert, die entsprechende Veränderungen bedingen könnten
(vgl. Kap. 3.4.).
Diese Erkenntnis wird m.E. vor dem Hintergrund, dass der Grundschule durch die
Abschaffung der Orientierungsstufe inzwischen eine verstärkte Selektions- und
Zuweisungsfunktion zukommt, noch brisanter: So erhält die Gewichtung der sozialen
Bezugsnormorientierung nicht nur überdurchschnittliches Gewicht, sondern setzt aufgrund
der weiterführenden Schullaufbahnempfehlung insbesondere die Viertklässler meiner
Lerngruppe unter starken Leistungsdruck. Auch die Drittklässler laufen, aufgrund der
Neueinführung von Zensuren, Gefahr, mit Misserfolgen und selbstwertmindernden
Erfahrungen konfrontiert zu werden, die zu einem negativen Fähigkeitsselbstkonzept führen
können.
Das Gefahrenpotenzial dieser Entwicklung lässt sich anhand der bereits im Rahmen der
Einleitung angeführten Zitate der Schüler verdeutlichen. An ihnen werden der durch die
soziale Bezugsnorm entstehende - z.T. mit erheblichen Ohnmachtsgefühlen verbundene -
Leistungsdruck sowie die daraus hervorgehenden (Selbst-)Attributionen und
Generalisierungen deutlich ersichtlich.
Gemäß den obigen Ausführungen, sind deshalb die nachfolgenden Erfahrungen für meine
Lerngruppe zum Zeitpunkt der Durchführung des geplanten Unterrichtsvorhabens besonders
wichtig:
1. Ich bin nicht hilflos, sondern kann meine Leistungen beeinflussen!
2. Ich kann mehr, als ich mir zugetraut habe!
3. Ich bin kompetent und kann etwas bewirken!
Eine Musicalproduktion fördert diese Erfahrungen und damit die Entwicklung eines positiven
Fähigkeitsselbstkonzepts in besonderem Maße. Aufgrund der Vielseitigkeit eines Musicals,
kann jedes Kind entsprechend seiner individuellen Fähigkeiten sinnvoll in den gemeinsamen
Arbeits- und Gestaltungsprozess eingebunden werden und Erfahrungen auf
unterschiedlichsten Gebieten sammeln: Im Tanz, im Singen, im Schauspielern, im
Musizieren oder im Gestalten von Bühnenbildern, Kostümen, Requisiten etc..
Leistungsstärkere Kinder, wie z.B. Alicia, Simon und Pia, erhalten so die Gelegenheit, Rollen
mit einem größeren Textumfang zu übernehmen, die sie herausfordern, während kleinere
Rollen auch von leistungsschwächeren Kindern (z.B. Lara, Gina, Cahide) erfolgreich
bewältigt werden können. Durch diese Möglichkeit der Differenzierung kann jedes Kind
82
Vgl. Laskowski, 2000, S. 171
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
entsprechend seiner Fähig- und Fertigkeiten sowie persönlichen Interessen optimal und
individualisierend gefördert werden.
Die gegenwärtige als auch zukünftige Bedeutsamkeit des geplanten Unterrichtsvorhabens
gründet sich zudem auf der angestrebten Kompetenzerweiterung der Schülerinnen und
Schüler bezüglich ihrer eigenen musikalischen, sprachlichen und körperlichen Ausdrucks-
und Wahrnehmungsfähigkeiten.
Die Umsetzung eines Musicals impliziert immer die ganzheitlich-bewusste
Auseinandersetzung der Akteure mit sich und der Umwelt.83 So erschließen sich die Kinder
durch Mimik, Gestik, Sprache, Musik, Bewegung und bildnerisches Gestalten eine Vielfalt
von Ausdrucksformen und lernen, diese zielgerichtet einzusetzen. „Sich auszudrücken“ ist
ein persönliches und individuelles Bedürfnis jedes Kindes. Es unterstützt die positive
Fähigkeitsselbstkonzeptgenese dadurch, dass die Kinder eine „Ich-Stärke“ aufbauen können
und Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht gemindert werden. Bezüglich der Lerngruppe,
würde dies m.E. besonders Schülerinnen und Schülern wie Waldemar, Johanna, Janis und
Gina zugute kommen.
Alternativ hätte anstelle eines Musicals auch ein Theaterstück produziert werden können,
das m.E. allerdings nicht so vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten für das Entdecken
individueller Fähigkeiten geboten hätte. Eine weitere Alternative zu einer größeren
Musicalproduktion hätten kleinere, unzusammenhängende Sequenzen, ohne eine
Präsentation vor Publikum, im Bereich des Musiktheaters dargestellt. Ich habe mich dagegen
entschieden, weil die Aufführungen für die Zielsetzung meines Unterrichtsvorhabens sehr
wichtig sind: Sie sind ein konkretes, von außen „objektiv“ einschätz- und bewertbares
Endprodukt und geben durch die positive Resonanz und Anerkennung der Zuschauer
wichtige Impulse für die positive Fähigkeitsselbstkonzeptgenese der Kinder (zur
Bedeutsamkeit der bestätigenden Leistungsrückmeldung vgl. Kapitel 3.2.). Das Erfolgs- und
Kompetenzerleben der Kinder wird somit durch die publikumswirksamen Aufführungen
entscheidend begünstigt. In diesem Zusammenhang möchte ich allerdings betonen, dass es
mir bei dem „Hexenwald“- Musical nicht um eine perfekte Aufführung (didaktische Reduktion)
geht, sondern für mich der „Weg“ (der Erarbeitungsprozess) das eigentliche Ziel darstellt.
Die Teilnahme an einer Musicalproduktion stellt für alle Kinder ein Novum dar. Dies impliziert
für jedes Kind auch eine Vielzahl neuer Erfahrungen, die neue selbstbezogene und in ein
bestehendes Fähigkeitsselbstkonzept „nicht integrierbare Informationen“84 ermöglichen und
damit besonders geeignet sind, das Fähigkeitsselbstkonzept der Kinder positiv zu stärken
83
Die Lebenswirklichkeit zeigt, dass Kinder durch zunehmende Medienkonsumption („Berieselung“) sowie durch die Vorstrukturierung und Durchtechnisierung des Alltags, inzwischen immer mehr rezeptiv, statt aktiv produktiv tätig sind. Dazu kommt, dass in den heute vorherrschenden Kleinfamilien, viele Kinde auf sich allein gestellt sind. Die Kommunikation, das Spielen mit anderen und die Bewegung werden somit immer weniger geübt und gefördert. Musiktheater stellt für Kinder in diesem Bereich natürlich keinen Ersatz dar, aber es entsteht die Möglichkeit, z.B. durch das Theaterspielen, aus der eigenen Ich-Bezogenheit herauszutreten. So können zumindest einige Handlungsprozesse des Kindes „spielerisch“ verarbeitet werden (vgl. Scheurlen, 1999, S.4f). 84
Epstein zit. in Laskowski, S. 159
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
bzw. zu beeinflussen. Diese Erfahrungen können zudem in einer Art „Schonraum“ gemacht
werden, da das Musical nicht im Klassenverband85 erarbeitet wird und aus dem regulären
schulischen Leistungs- und Bewertungskontext herausgelöst ist.
Durch die Musicalproduktion „Hexenwald“ können die Kinder außerdem in vielen der im
Kerncurriculum Musik und Deutsch beschriebenen prozess- und inhaltsbezogenen
Kompetenzbereichen gefördert werden: Sie lernen Musik zunehmend als ein
Ausdrucksmittel mit unterschiedlicher Wirkung kennen (kulturhistorische Dimension),
sammeln Erfahrungen im Instrumentalspiel (Erkenntnisse gewinnen), werden in ihrer Hör-
und Körperwahrnehmung sowie in ihrer Ensemblefähigkeit geschult (Wahrnehmen/
Lernstrategien erwerben), üben ihre Ergebnisse zu präsentieren, zu bewerten und zu
reflektieren (Beurteilen und Bewerten) und werden insbesondere durch die Bereiche „Musik
und Bewegung“ sowie die Liederarbeitungen im inhaltsbezogenen Kompetenzbereich
„Gestalten“ gefördert.86 Neben der Erweiterung der musikalischen Handlungskompetenz der
Schülerinnen und Schüler, werden sie gemäß der curricularen Vorgaben im Fach Deutsch im
Sinne einer produktiven, rezeptiven und reflektierenden Auseinandersetzung mit Sprache
und Sprachgebrauch gefördert und können Sprache in ihrer Bedeutung und Wirkung als
gestaltbares und gestaltendes Kommunikationsmedium wahrnehmen.87 Angestrebte
Konsequenz ist es, den Kindern durch das „Hexenwald“-Musical auch eine zunehmend
rezeptive und produktive Auseinandersetzung mit Musik und Sprache zu ermöglichen und
sie somit in ihrer Sach- und Selbstkompetenz zu fördern.
Des Weiteren bietet der Inhalt des Kindermusicals [(Selbst-)Überwindung/ Angstbewältigung,
sich allein im dunklen, bedrohlichen Hexenwald Hilfe suchen] den Kindern eine Möglichkeit
der Identifikation. Die im Musical transportierte Botschaft („Auch scheinbar bedrohliche
Situationen können gemeistert werden und stellen sich manchmal als gar nicht so schlimm
heraus, wie befürchtet.“) lässt sich sowohl auf den schulischen als auch außerschulischen
Lebensalltag der Kinder transferieren und sensibilisiert diese für eigene diesbezügliche
Fähigkeiten. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Musical kann so die Kinder dabei
unterstützen, Selbstvertrauen und Ich-Stärke zu entwickeln.
Damit zielt die Musicalproduktion „Hexenwald“ nicht nur auf eine Kompetenzerweiterung ab,
sondern trägt aktiv zur Persönlichkeitsbildung der Kinder bei.
5.5. Allgemeine Ziele der Musicalproduktion Übergeordnetes Ziel:
85
Durch die in der AG aufgebrochene Klassenstruktur, die neue Situation (andere Aufgaben) etc., wird für einige Kinder eine flexiblere bzw. andere Rollenzuweisung möglich sein.
86 Vgl. Kercurriculum Musik, 2006, S. 11-13
87 Vgl. Kerncurriculum Deutsch, 2006, S. 7f
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
Die Schülerinnen und Schüler sollen durch die Teilnahme an der Musicalproduktion
„Hexenwald“ in ihrer positiven Fähigkeitsselbstkonzeptgenese unterstützt und gefördert
werden.
Feinziele:
Die Schülerinnen und Schüler sollen…
• in ihrer Selbstkompetenz gefördert werden, indem sie…
zunehmend lernen, eigene Erfolge anzuerkennen und diese auf internale Faktoren
zu beziehen.
das eigene Tun zunehmend einschätzen, reflektieren und ansatzweise bewerten.
in ihrer konstruktiven Kritikfähigkeit gefördert werden.
• üben, ihre Fähigkeiten zunehmend realistisch einzuschätzen, indem sie…
sich bei der Rollenauswahl ein realistisches Anspruchsniveau setzen.
Lernerfolge und noch vorhandene Schwierigkeiten verbalisieren und auf ihrem
Reflexionsbogen schriftlich fixieren.
ihre Einschätzungen mit den meinen in verbaler und schriftlicher Form abgleichen.
• sich als kreativ, produktiv, kompetent und selbstwirksam erleben, indem…
sie Lieder durch szenische und choreografische Elemente ausgestalten.
sie einen auf der Bühne dargestellten szenischen Handlungsablauf aus dem
Kindermusical „Hexenwald“ auf Orff-Instrumenten verklanglichen.
ihre Rolle ausgestalten.
• in ihrer Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit gefördert werden,…
durch Theaterübungen im Bereich „Musik und Sprache“, „Musik und Bewegung“
und „Musik und Theater“.
indem sie durch das Theaterspielen ihrAusdrucks- und Bewegungsrepertoire
erweitern und aus ihrer „Ich“-Bezogenheit heraustreten.
indem sie ihre Körperwahrnehmung durch erprobende sowie gezielt eingesetzte
Mimik und Gestik zunehmend ausdifferenzieren.
• …in ihrer Sozialkompetenz gefördert werden, indem…
sie zunehmend lernen, rücksichtsvoll und kooperativ mit ihren Mitschülerinnen und
Mitschülern zusammenzuarbeiten.
sie als Gruppe zusammenwachsen.
sich gegenseitig helfen.
als „Team“auf der Bühne agieren.
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
• durch die Musicalproduktion ihre (musikalische) Handlungskompetenz erweitern und
somit auch in ihrer Sachkompetenz gefördert werden.
• durch die Aufführungen des „Hexenwald“- Musicals in ihrer Präsentationsfähigkeit
gefördert werden.
• das Kindermusical „Hexenwald“ kennenlernen sowie sich inhaltlich mit der Thematik
auseinandersetzen, indem Textpassagen gelesen, die Lieder erarbeitet und Szenen
geprobt werden.
• das Kindermusical „Hexenwald“ auf eine Aufführung hin einstudieren.
• Freude am gemeinsamen Singen, Musizieren, Bewegen und Theaterspielen erfahren.
• zunehmend lernen, die Verantwortung für ein gemeinsames Produkt zu übernehmen.
5.6. Allgemeine methodische Entscheidungen
„Wir glauben Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns.“88
Dieses Zitat scheint mir besonders gut geeignet zu sein, um ein Lernen zu thematisieren,
das eigene spezifische Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflussen soll.
Im Folgenden sind wesentliche methodische Grundentscheidungen dargestellt, die ich
zusammengefasst als methodischen Rahmen für die Umsetzung meines geplanten
Unterrichtsvorhabens ansehe.
Erfahrungslernen
Wie unter Kapitel vier beschrieben, spielen Erfahrungen eine entscheidende Rolle bei der
tendenziellen Ausprägung des Fähigkeitsselbstkonzepts. Da alle meine „Musical-Kinder“
schon eine bestimmte, aus den Erfahrungen des Schulalltags und der Umwelt resultierende,
Erwartungshaltung an sich selbst mitbringen, sehe ich meine Aufgabe darin, während der
gesamten Musicalproduktion immer wieder Lernsituationen zu schaffen, in denen Kinder sich
ohne den Druck einer generellen Leistungs- und Bewertungssituation ausprobieren und als
selbstwirksam, produktiv und kompetent erleben können. Dabei möchte ich den Kindern
möglichst eine Vielzahl an Zugangs- und Umgangsweisen mit dem Kindermusical eröffnen,
durch die ebenso die eigene Vielseitigkeit als auch die des Gegenstandes erfahren werden
kann. Neue „nicht integrierbare Informationen“ 89 (vgl. Kap. 3.4.) und Erfahrungen die zur
positiven Fähigkeitsselbstkonzeptgenese beitragen, erfolgen dabei überwiegend durch die
Antizipation und Reflexion von Handlungsabläufen, sodass mir an dieser Stelle das Prinzip
der Handlungsorientierung besonders wichtig erscheint.
88
Zitat von Eugène Ionesco (1909-1994), französischer Schriftsteller, http://www.zit.at/personen/ionesco.html, 13.01.2007
89 Filipp zitiert in Laskowski, vgl. Kap. 4
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
Eine „Handlung“ ist ein komplexer psychischer Vorgang, der durch Wahrnehmung, Begriffe,
Vorstellungen, Gedächtnis- und Denkprozesse sowie durch Emotionen gesteuert wird. Nach
Aebli bezeichnen Handlungen den bewussten, intentionalen Einsatz von Sachen,
Maßnahmen und Verhaltensweisen, um zielgerichtet ein bestimmtes Ergebnis zu
erreichen.90 Zwischen Wahrnehmen, Handeln und Denken besteht ein
Wechselwirkungsverhältnis.91 Dabei lässt sich insbesondere in Hinblick auf musikalische
Inhalte festhalten, dass „der Handlungsvollzug durch das Zusammenwirken
psychomotorischer, kognitiver und affektiver Vorgänge charakterisiert wird“92.
Die Ausbildung und Erweiterung allgemeiner Handlungsfähigkeit, Sachkompetenz sowie das
Erleben erfolgreicher Selbstwirksamkeit im Laufe der Musicalproduktion trägt somit
besonders zur Herausbildung eines positiven Fähigkeitsselbstkonzepts bei Kindern bei: „Wenn man auf einem bestimmten Gebiet oder bei bestimmten Tätigkeiten Kompetenzen erlangt hat, so kann man auch unabhängig von anderen Personen selbstständig handeln […]. Diese Erfahrung verstärkt wiederum das Empfinden von Autonomie, so dass eine positive Handlungsspirale in Gang gesetzt werden kann.“(Hartinger/ Fölling-Albers, 2002, S.125) Aufgrund der ganzheitlichen und schüleraktiven Ausrichtung des handlungsorientierten
Unterrichts, sieht Hilbert Meyer in ihm einen entscheidenden Schritt in Richtung auf das
Prinzip der Schülerorientierung.93 So sollen auch bei dem „Hexenwald“- Musical nicht nur die
fachlichen Lernvoraussetzungen jedes Kindes, sondern auch ihre biografischen und sozialen
Prägungen sowie ihre individuellen Erfahrungen und Bedürfnisse berücksichtigt und ernst
genommen werden, die sie in dieses Unterrichtsvorhaben mit einbringen.
Als Konsequenz daraus möchte ich das Unterrichtsvorhaben methodisch gesehen an
Ansätzen des „projektorientierten Lernens“ ausrichten, das eine intensive Form der
Handlungsorientierung darstellt, durch eine hohe Mitverantwortung und Mitbestimmung aller
Schülerinnen und Schüler, zielgerichtetes Tun sowie eine Produktorientierung (hier:
Aufführungen) gekennzeichnet ist.94 „Mit dem Begriff der Projektorientierung werden methodische Grundformen gekennzeichnet, die Elemente der Projektarbeit beinhalten, aber eben nicht alle.“ (Bönsch, 2006, S. 93)
Im projektorientierten Unterricht können die Kinder durch zielgerichtetes Handeln mit
Gegenständen, in sozialen Rollen und auf symbolisch-geistiger Ebene vielfältige, sinnliche
Erfahrungen machen und eine umfassende Handlungskompetenz aufbauen. Diese
Einbeziehung der Kinder durch Mitverantwortung und weitgehende Selbststeuerung wirkt
motivierend, weil sie von ihnen als subjektiv bedeutsam empfunden wird. Es kommt zur
Identifikation mit dem Thema. Aus „dem Thema“ wird „unser Thema“. Das Anstreben
90
Vgl. Köck, 2005, S. 23 sowie Möller, 1983, S. 92 91
Vgl. Köck, 2005, S. 297 92
Kruse, 2001, S.7 93
Vgl. Meyer, 1991, S. 206f. 94
Vgl. Bönsch, 2006, S. 93
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
konkreter, als subjektiv bedeutsam empfundener Ziele, die Aussicht auf
Kompetenzsteigerung und das Gefühl selbst etwas bewirkt, geleistet und erreicht zu haben,
stärkt gleichzeitig das Selbstvertrauen der Kinder, schafft eine nicht zu unterschätzende
Lernmotivation95 und unterstützt damit den Aufbau eines positiven Fähigkeitsselbstkonzepts.
Aus diesen grundlegenden methodischen Prinzipien und den unter Kapitel 5.4. erläuterten
didaktischen Entscheidungen, ergeben sich nun auch für die generelle Probengestaltung
methodische Entscheidungen, die ich hier in allgemeinerer Form benennen und später in
den phasenspezifischen Darstellungen der methodisch-didaktischen Entscheidungen explizit
aufgreifen möchte.
Allgemeine methodische Entscheidungen hinsichtlich der Probengestaltung
Eingerahmt wird jede Probe durch einen ritualisierten Organisationsrahmen96, der den
Schülerinnen und Schülern die Struktur des Unterrichtsverlaufs verdeutlichen soll.
Die an die Begrüßung anschließende und ebenfalls ritualisierte Aufwärmphase besteht aus
Theaterübungen im Bereich
Musik und Sprache,
Musik und Theater,
Musik und Bewegung
und dient der Erweiterung des Ausdrucks- und Bewegungsrepertoires. Durch die von uns in
früher Kindheit erlernten „Körpersozialisation“97, verhalten wir uns nach eingeübten Mustern,
die uns vorgeben, wie wir uns zu bewegen haben, wie viel Raum wir mit unserem Körper
einnehmen dürfen, welche Gesten und Blicke in welcher Situation erlaubt bzw. verboten sind
und welche Gefühle gezeigt, ausgestellt oder zurückgehalten werden müssen.98 Weil die
Kinder in den Theaterübungen auch in ganz „fremde“ Rollen schlüpfen, sich z.B. einmal als
laut, energisch und dominant oder ängstlich und verzagt erleben können
(Perspektivenwechsel), werden solche Muster aufgebrochen und bieten Raum für neue
Erfahrungen. So sehe ich in diesen Theaterübungen v.a. für Kinder wie Paul, Gina und
Johanna die Chance, ihren Körper als Ausdrucksmedium wahrzunehmen und ganzheitlich
zu erfahren, um dadurch Selbstvertrauen und Sicherheit zu gewinnen, die das eigene
Auftreten stärken. Gleichzeitig dient das Aufwärmen der Lockerung des Körpers sowie dem
Abbau von Hemmungen, etwas szenisch oder musikalisch darzustellen und bereitet dadurch
auf die nachfolgenden Arbeitsphasen vor.
95
Der Terminus „Lernmotivation“ umfast dabei die persönliche Einstellung zum Lehr- und Lernprozess und den Willen, sich auf die Unterrichtaufgaben einzulassen und sich mit ihnen auseinander zu setzen. Wissen um den Wert und die Bedeutung des Lerngegenstands werden für Lehrer und Schüler gleichermaßen zum „bewegenden“ Grund ihres Lernens und Lehrens. Für Projekte ist es wichtig und kennzeichnend, dass nicht nur die Person des Lehrers für die Motivation von Schülern ausschlaggebend ist, sondern die Schüler intrinsisch motiviert sind und somit zu Subjekten ihres Lernens werden. (Vgl. Hintz; Pöppel; Rekus, 2001, S. 240ff)
96 Ritualisierte Begrüßung und Verabschiedung siehe Anhang.
97 Scheller, 1999, S. 21
98 Vgl. Scheller, 1999, S. 21
5. Planungsgrundlagen der Musicalproduktion „Hexenwald“
In den Arbeitsphasen werden die musikalischen und dramaturgischen Elemente des
„Hexenwald“- Musicals erarbeitet, gefestigt und in einen Gesamtkontext gebracht werden.
Gemäß dem projektorientiertem Lernen sollen hierbei die Vorerfahrungen, Interessen und
Bedürfnisse der Kinder mit einfließen. Zudem sollen die Schülerinnen und Schüler, so weit
es möglich ist, an den Planungs- und Durchführungselementen demokratisch beteiligt
werden, mit dem Ziel, Lernprozesse anzustoßen, die durch Eigenverantwortung und
Selbsttätigkeit gekennzeichnet sind und somit den Aufbau eines positiven
Fähigkeitsselbstkonzepts unterstützen.
Lernerfolge sowie noch vorhandene Schwierigkeiten sollen in einer abschließenden
Reflexionsphase verbalisiert oder schriftlich fixiert werden.
5.7.Rolle der Lehreranwärterin An mich als Lehrerin stellen sich hinsichtlich des geplanten Unterrichtsvorhabens folgende
Anforderungen: Um die Motivation für das „Hexenwald“-Musical zu wecken und zu erhalten,
bzw. um längerfristige Erfahrungen, realistische Selbsteinschätzungen der eigenen
Leistungsfähigkeit und damit ein positives Fähigkeitsselbstkonzept aufbauend zu entwickeln,
muss der Aufbau der einzelnen Proben und Phasen so angelegt sein, dass die Kinder
Erfolgserlebnisse erfahren können. Weiterhin gilt es, für ein freundliches, positives und
förderndes Lern- bzw. Probenklima zu sorgen, das durch Vertrauen und Respekt geprägt ist
und in dem selbstständiges, eigenaktives und kreatives Arbeiten der Schülerinnen und
Schüler möglich wird. Erreichen möchte ich dies durch eine klare Strukturierung der Proben,
Zieltransparenz, eine größtmögliche Einbindung der Schülerinnen und Schüler in den
Lernprozess (vgl. Kap. 5.6.) sowie durch Beobachtung ihrer Arbeit und ihres Verhaltens und
einer konsequenten Disziplinierung bei Unterrichtsstörungen. Gemäß diesem Anspruch
kommt mir als Lehrkraft innerhalb des eigentlichen Lernprozesses zum einen eine
unterstützende, beratend-begleitende und zum anderen eine fordernde, anleitende Funktion
zu. Diese kann sich z.B. durch gezielte individuelle Hilfestellung (z.B. bei der Rollenauswahl
und Rollendarstellung) ausdrücken.
Dabei gilt es immer eine Balance zu finden zwischen
(An-)Leiten und eigenständigem Lernen,
Fördern (unterstützen) und Fordern (Ansprüche stellen),
Halt/ Orientierung und Beeinflussung/ Fremdbestimmung.
6. Untersuchungsmethode
Damit entscheide ich mich für einen „autoritativen“99 Führungsstil, der mir persönlich am
meisten zusagt, aber sich m.E. auch besonders gut für die Lerngruppe und das geplante
Unterrichtsvorhaben eignet.
Neben meiner Motivations- und Organisationsaufgabe wird sich meine Lehrerinnenrolle
wahrscheinlich von Phase zu Phase ändern bzw. schwerpunktmäßig verlagern. Der jeweilige
Phasenschwerpunkt könnte dabei z.B. so aussehen: Anleiten (1. Phase) – beraten (2.Phase)
– fordern (3. Phase) – ermutigen (4. Phase). Insgesamt möchte ich mich aber in den
Gestaltungsphasen (z.B. Verklanglichung, Szenen- oder individueller Rollengestaltung etc.)
der Musicalproduktion soweit es geht zurückhalten, während ich bei der Erarbeitung
bestimmter Inhalte, wie z.B. der Lieder, aber auch bei den Theaterübungen ganz klar als
Spiel- und Anleiter fungiere.
6. Untersuchungsmethode Um die Entwicklung des Fähigkeitsselbstkonzepts über den Zeitraum des
Unterrichtsvorhabens bei den Kindern meiner Lerngruppe zu untersuchen, habe ich mich
entschlossen, einen Fragebogen100 am Anfang und einen am Ende der Musicalproduktion
von den Kindern ausfüllen zu lassen, wobei die beiden Fragebögen in einigen Bereichen
allerdings bewusst differieren. Während der Bereich, in dem die musik- und
theaterspezifischen Fähigkeiten von den Kindern eingeschätzt werden müssen, in beiden
Fragebögen identisch ist und damit einen direkten Vergleich des individuell eingeschätzten
Lernzuwachses zulässt (temporaler Vergleich bei individueller Bezugsnorm), werden im
ersten Fragebogen bestehende Vorerfahrungen und im zweiten Fragebogen eher
situationsspezifische Erfahrungen und wahrgenommene Emotionen während der
Aufführungsphase thematisiert.
In den Fragebögen werden bewusst keine anderen fachspezifischen
Fähigkeitsselbsteinschätzungen gefordert, da es sich in dieser Arbeit nicht um ein spezielles
akademisches Fähigkeitsselbstkonzept im mathematisch, naturwissenschaftlichen oder
sprachlichen Bereich handelt. Ansonsten hätte sich dafür das „Internal/External-Frame-of-
Reference“-Modell von Marsh und Yeung (2001) angeboten (vgl. Kap. 3.5.). Stattdessen
möchte ich mich auf die musicalspezifischen Fähigkeiten konzentrieren, da diese ja auch
speziell gefordert und gefördert werden.
Bei der Einschätzung der musik- und theaterspezifischer Fähigkeiten gibt es drei
Antwortvorgaben, die aus drei Smileys („Das kann ich schon gut.“) zwei Smileys („Das geht
so.“) oder einem Smiley („Das kann ich noch nicht so gut.“) bestehen und durch ihre
geschlossene Form suggestive Formulierungen vermeiden sollen.
99
Phelan/ Schonour, 2005, S.36 100
Fragebogenanalyse siehe Kap. 8, Gesamtauswertung sowie Fragebogen I, II siehe Anhang
6. Untersuchungsmethode
Zusätzlich habe ich mich aber, v.a. bei dem zweiten Fragebogen, auch für die Verwendung
recht offener Fragen entschieden, damit die Kinder die Fragen mit erhöhter Aufmerksamkeit
beantworten und dazu angeregt werden, sich die aus der Musicalproduktion resultierenden,
neuen selbstbezogenen Informationen bewusst zu machen.
Ergänzt werden diese Fragebögen sowohl durch ritualisierte Reflexionen am Ende der
Proben, in denen jedes Kind eine Einschätzung hinsichtlich individuelle Schwächen und
Stärken in bestimmten Schwerpunktbereichen gibt, als auch durch einen von mir und jedem
Kind auszufüllenden Reflexionsbogen, der den Umsetzungsgrad der „Theaterregeln“
dokumentieren soll (vgl. Kap. 7.5./ Anhang). Dieser wird von November bis Mitte Dezember
eingesetzt und kurz vor den Aufführungen mit mir gemeinsam in Form von Einzelgesprächen
reflektiert, sodass ein Abgleich von Selbst- und Fremdeinschätzung erfolgen kann.
Besonders hier soll individueller Lern- und damit auch Kompetenzzuwachs verdeutlicht
werden. Des weiteren möchte ich meine Beobachtungen und Einschätzungen mit den
jeweiligen Klassenlehrerinnen in regelmäßigen Abständen in Form von Gesprächen
austauschen, um mich über evtl. Verhaltensänderungen in anderen Fächern, die aus der
Musicalarbeit resultieren können zu informieren.
7. Darstellung der Musicalproduktion In diesem Kapitel werde ich zunächst einen Überblick über die geplante Musicalproduktion
geben, um die Stellung der einzelnen Stunden und Phasen im Gesamtverlauf zu
verdeutlichen. Es schließt sich eine Beschreibung der praktischen Umsetzung des
Unterrichtsvorhabens an, die eine Darstellung und Begründung ausgewählter „Bausteine“ mit
entsprechenden „Elementen“ beinhaltet.
7.1. Überblick über das geplante Unterrichtsvorhaben
7. Darstellung der Musicalproduktion
Phasen Bausteine Elemente Ph
ase
1
1.-2
. Std
.
Ken
nenl
erne
n un
d G
rupp
enfin
dung
Ankommen und Kennenlernen
• Kennlernspiele • Interaktionsspiele/Gruppenaufgaben • Fragebogen 1 zur Selbsteinschätzung
Kennenlernen des
Kindermusicals „Hexenwald“ sowie inhaltliche
Auseinandersetzung mit der Thematik
• Eigene Ideen/ Vorstellung von einem „Hexenwald“ verbalisieren und malen
• Charakteristika des Genres Musical kennenlernen und erarbeiten
• Textbuch lesen/ Textpassagen spielen • Lieder kennenlernen und gemeinsam
erarbeiten
Hinführung zum Theaterspielen
• Theaterübungen zur Erweiterung des Ausdrucks- und Bewegungsrepertoires
• Ganzheitliche Erfahrungsmöglichkeiten im Bereich:
Musik und Sprache Musik und Theater Musik und Bewegung
Phas
e 2
3.-5
. Std
.
Rol
lenf
indu
ng u
nd
Rol
leni
dent
ifika
tion
Rollenfindung und –verteilung
• Experimentieren und Ausprobieren verschiedener Rollen
• Zeit nehmen und eigene Fähigkeiten realistisch einschätzen und dann drei mögliche Rollen aussuchen
• Einzelgespräche mit LAn + Vorsingen
Identifikation mit der eigenen Rolle
• Rollenbiografien schreiben und Bild dazu malen
• Auftritt in der Talkshow „Jüttner & Co.“ • Eigene Ideen/ Vorstellungen hinsichtlich
der eigenen Rolle beim Spielen einbringen • Ausbau der eigenen Rolle auf der Bühne
Kompetenzerweiterung bezüglich des
Theaterspielens
• Aufwärm-Theaterübungen zur Erweiterung des Ausdrucks- und Bewegungsrepertoires
• Gemeinsame Erarbeitung wichtiger Aspekte des Theaterspielens auf der Bühne
• Reflexionsbogen
Phas
e 3
6.-9
. Std
.
Inte
nsiv
e P
robe
npha
se
Musikalische Ausgestaltung des Kindermusicals
• Lieder ausdrucksvoll vortragen • Verklanglichung einer Theaterszene • Musik und Bewegung
Lieder durch Bewegung ausgestalten Tänze entwickeln und erarbeiten
In der eigenen Rolle
überzeugen
• Aufwärm-Theaterübungen zur Erweiterung des Ausdrucks- und Bewegungsrepertoires
• Ausschöpfung der eigenen individuellen Fähigkeiten
• Textsicherheit: Auswendiglernen • Eigene Rolle durch überzeugende Mimik/
Gestik ausgestalten • Anwendung der Theaterregeln (individuelle
Ausprägung) • Einschätzungsbögen
Die Musical-AG als
Team • Helferkultur
7. Darstellung der Musicalproduktion
7.2. Phase 1: Kennenlernen und Gruppenfindung 7.2.1. Übergreifende didaktische und methodische Entscheidungen
Da sich die Lerngruppe aus unterschiedlichen Klassen zusammensetzt und für viele Kinder
die Theaterarbeit ein Novum darstellt (vgl. Kap. 5.1.), ist es mir sehr wichtig, den Kindern
zunächst Raum zu geben, in der Musical-AG „anzukommen“, die anderen Kinder besser
kennenzulernen und ihnen erste Vorerfahrungen im Bereich des Theaterspielens zu
ermöglichen, bevor es mit der eigentlichen „Hexenwald“- Erarbeitung losgeht. Dadurch
erhoffe ich mir, dass v.a. die etwas schüchternen Drittklässler, wie z.B. Gina und
Johanna(vgl. ebd.), ihre evtl. vorhandenen Hemmungen gegenüber älteren Kindern
abbauen, stattdessen Zutrauen gewinnen können und eine angenehme und v.a. angstfreie
Arbeitsatmosphäre angebahnt wird, die weiterführend dazu beitragen soll, dass alle
Schülerinnen und Schüler rücksichtsvoll sowie kooperativ miteinander umgehen und
zunehmend als Team zusammenarbeiten.
So stehen neben Interaktions- und Kennlernspielen, die das Gruppengefüge stärken sollen,
in dieser Phase schwerpunktmäßig die Hinführung zum Theaterspielen sowie die Einführung
des Kindermusicals „Hexenwald“ im Vordergrund, auf die ich nachfolgend expliziter eingehen
möchte.
Hinführung zum Theaterspielen
Um die Kinder im weiteren Verlauf der Musicalproduktion nicht zu überfordern, ist es m.E.
gerade jetzt zu Beginn der Musicalproduktion von elementarer Bedeutung, dass die
Schülerinnen und Schüler vielfältige, ganzheitliche und kreative Vorerfahrung im
Theaterspielen sammeln, die sie später für die Darstellung und Ausgestaltung ihrer Rolle im
„Hexenwald“ nutzen können. Möglichen Misserfolgserlebnissen, die sich negativ auf das
Fähigkeitsselbstkonzept des Kindes auswirken könnten („Ich wusste ja, das ich das sowieso
wieder nicht kann!“), soll damit vorgebeugt werden. Aus diesem Grund möchte ich in dieser
Phas
e 4
10.-1
4. S
td.
Auf
führ
ungs
phas
e
Öffentlichkeitsarbeit • Werbung durch Plakate und Zeitung • Programmheft
Ausgestaltung des „Hexenwaldes“
• Requisiten/ Kulissen • Kostüme
Bühnensicherheit gewinnen• Sonderprobe und Generalprobe • Festigung von Szenenabläufen • Sich innerhalb der Gruppe helfen: „Wir sind
ein Team“
Aufführungen • Schminken • Nerven beruhigen • Auf der Bühne Spaß haben! • Applaus genießen
Reflexion • Auswertung Reflexionsbogen • Öffentliche Resonanz • Zeitungsbericht • Fragebogen 2 zur Selbsteinschätzung
7. Darstellung der Musicalproduktion
ersten Phase viele Theaterübungen zur Erweiterung des Ausdrucks- und
Bewegungsrepertoires einfließen lassen, in denen die Kinder die Möglichkeit haben …
…Raum wahrzunehmen, sich Raumwege zu erschließen und Raum mit ihrer Stimme
und ihrem Körper einzunehmen.
…ihre Stimme als Ausdrucksmittel wahrzunehmen und gezielt und variantenreich
(laut, leise, bittend, schmeichelnd, fordernd etc.) einzusetzen.
…ihren Körper als Ausdrucksmittel wahrzunehmen und Emotionen und Stimmungen
(wütend, traurig, beleidigt, glücklich, ängstlich) auf der Bühne pantomimisch
darzustellen.
Dabei ist mir durchaus bewusst, dass es selbst für professionelle Schauspieler eine
Herausforderung ist, verschiedene Gefühle oder Stimmungen mimisch und gestisch
überzeugend darzustellen, weil man dabei meistens einen Teil seiner Persönlichkeit mit
einbringt. Aufgrund dessen erwarte ich, dass bei vielen Kindern, wie z.B. bei Waldemar,
Paul, Laura und Johanna, gerade am Anfang verstärkt Hemmungen auftreten werden etwas
darzustellen.
Diesen Hemmungen möchte ich entgegenwirken und stattdessen die erforderliche Sicherheit
schaffen, in der individueller Ausdruck bei Kindern überhaupt möglich wird, indem ich zum
einen durch klare Aufgabenstellungen101 auch gleichzeitig klare Regeln vorgebe, die von
vorherein ein mögliches Auslachen oder vorschnelles Vergleichen unterbinden und indem
ich zum anderen die Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit solcher Theaterübungen betone.
Kennenlernen des Kindermusicals „Hexenwald“ sowie inhaltliche Auseinandersetzung mit
der Thematik
Unter dem Begriff „Kindermusical“ werden sich vermutlich wenige Kinder etwas konkret
vorstellen können. Darum gilt es im gesamten Verlauf der Musicalproduktion dieses
„Abstraktum“ für die Kinder zu konkretisieren und mit „Leben zu füllen“, sodass die einzelnen
Aspekte von ihnen nach und nach, v.a. durch eigene Handlungen, in ihre Erfahrungswelt
integriert und verinnerlicht werden können (vgl. Kap. 5.6.). So möchte ich diese erste Phase
nutzen, um zunächst die besonderen Merkmale und Charakteristika von Musicals zu
thematisieren und gemeinsam durch Hörbeispiele von „großen“ Lloyd-Webber-Musicals wie
„Cats“ und „Phantom der Oper“ und mithilfe von Bildern aus einem Musical-Katalog zu
erarbeiten. Darauf aufbauend sollen die Schülerinnen und Schüler mit dem Kindermusical
„Hexenwald“ vertraut gemacht werden.
Als Einstieg dafür habe ich ein Foto (vgl. Anhang) (stummer Impuls) eines etwas düster
aussehenden Waldweges auf Folie kopiert, zu dem die Kinder Assoziationen, Vermutungen
und Ideen äußern und somit auf den Inhalt des Musicals eingestimmt werden sollen. Ein zu
101
Zu Aufgabenstellungen bzw. Theaterübungen siehe Anhang.
7. Darstellung der Musicalproduktion
malendes Bild, das der visuellen Konkretisierung spezifischer „Hexenwald“-Vorstellungen
dienen soll, rundet diese Einstiegsphase ab.
Weiterführend setzen sich die Kinder in dieser Phase durch Textarbeit (gemeinsames Lesen
des Textbuches), erstes Spielen einzelner Szenen sowie das Einstudieren der Lieder,
inhaltlich mit dem Kindermusical auseinander. Dabei ist es mir wichtig, dass die Kinder die
einzelnen Szenen und Lieder als zusammengehörig und als einander ergänzend
wahrnehmen und begreifen und möchte darum versuchen, Szenenabschnitt und
dazugehöriges Lied zeitlich nah zu thematisieren. Dabei sollen die melodisch-rhythmischen
Verläufe sowie die Texte der einzelnen Lieder v.a. durch das „Call and response“-Prinzip
bewusst imitatorisch erarbeitet und durch Wiederholung in den einzelnen Proben gefestigt
werden.
Fragebogen I
Ergänzt wird diese Phase durch den ersten Fragebogen, den ich nutzen möchte, um mir
einen Überblick über die bereits gemachten Vorerfahrungen der Kinder im Bereich des
Musiktheaters sowie ihre Einschätzungen hinsichtlich der dafür benötigten Fähigkeiten zu
verschaffen (vgl. Anhang).
7.2.2. Übergreifende Reflexion In dieser ersten Phase waren alle Kinder hochmotiviert und unheimlich gespannt, was sie
alles in der Musical-AG erwarten würde und was es mit dem „Hexenwald“ auf sich hat. Die
Einstiegsphase des „Hexenwaldes“ erzielte den erwünschten Effekt (s.o.) und wirkte sehr
motivierend. Dabei sorgte die gemeinsame Erarbeitung der Musicalcharakteristika zunächst
für viel Erheiterung. So fanden viele Kinder den „Singestil“ (O-Ton Alena) der professionellen
Sänger und Sängerinnen mit z.T. großem Vibrato unheimlich lustig und versuchten diesen
nachzuahmen. Simons Kommentar „Boah, da ist ja viel Gesinge drin, müssen wir das etwa
auch so machen … auch so alleine?“ beendete diese Heiterkeit zunächst und löste bei
einigen Kindern eine kleine Schrecksekunde aus. Von da an merkte man, dass bei fast allen
Kindern im Kopf folgende Fragen präsent waren: Was kommt da eigentlich auf mich zu?
Was muss ich dafür tun und schaffe ich das überhaupt?
Die Theaterübungen empfanden die meisten Kinder spannend und lustig. Vielen Kindern
wurde währenddessen erst bewusst, welche Körperhaltung, Mimik, Gestik etc. zu einem
bestimmten Charakter oder zu einer bestimmten Gefühlsstimmung passt und dass die
jeweilige Körperhaltung und der dazugehörige mimische und gestische Ausdruck bei jedem
Darsteller auch individuell variieren kann (s.u.). Dabei hatte ich den Eindruck, dass Paul und
Waldemar versuchten, ihre Unsicherheit oder Hemmungen durch sehr albernes Verhalten zu
kaschieren. Bei weiterführenden Übungen, die z.B. das Darstellen von Gefühlen und
Stimmungen thematisierten, habe ich mich deshalb darum bemüht, eine geschützte
7. Darstellung der Musicalproduktion
Atmosphäre zur Verfügung zu stellen, in der die Versuche nicht ausgelacht, schlecht
gemacht oder vorschnell verglichen wurden, und auf der anderen Seite offene Situationen zu
schaffen, in denen viele individuelle Ideen der Kinder Platz hatten. Allerdings war auch hier
bei einigen Kindern, wie z.B. bei Johanna und Cahide, hintergründig immer die Angst
spürbar, etwas falsch zu machen und gestellten Ansprüchen nicht zu genügen. Zur
Verdeutlichung hier ein Beispiel:
Cahide: „War das jetzt falsch?“
Waldemar: „Klar war das falsch!“
Alicia: „Quatsch! Bei so was gibt es kein richtig oder falsch.“
-kurze Pause-
Frau Jüttner: „Alicia hat recht. Aber warum gibt es hierbei eigentlich kein richtig oder
falsch?“
Alicia: "Weil,… mh…”
Pia: „Ja, weil jeder das so darstellen kann wie er will … sieht doch auch bei jedem gut aus.“
Paul: „Aber Janina macht das ganz anders als alle anderen. Das find ich komisch.“
Janina: „Ich bin ja auch nicht du! Ich mach das so, wie es zu mir passt und du machst das
so, wie es zu dir passt.“
Pia: „Ich find beides gut und bei beiden sieht es echt aus…is doch die Hauptsache!“
Diese kleine Szene soll auch stellvertretend für den Umgang mit ähnlichen Situationen
stehen und verdeutlichen, dass ich mich immer darum bemüht habe, den Kindern Raum und
Zeit zu geben, in denen sie ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen verbalisieren, um so
selbstständig zu Erkenntnissen und eigenen Schlussfolgerungen zu kommen. Die
Kinderbelange wurden damit ernst genommen und es wurde ihnen gleichzeitig das Gefühl
vermittelt, dass ihrer Meinung Bedeutung zugemessen wird. Solchermaßen ermutigt, traten
viele Kinder im Laufe der Musicalproduktion immer stärker für ihre Ansichten ein, tolerierten
aber auch gegensätzliche Meinungen und wurden so in ihrer Sozialkompetenz gefördert.
Die Lieder wurden begeistert aufgenommen und wirkten zusätzlich motivierend. Allerdings
haben wir das „Lied vom Pläne schmieden“ und „Allein in der Nacht“ zeitlich nicht geschafft
zu erarbeiten. Das soll in der nächsten Phase erfolgen.
Ich nehme aus dieser Phase mit, dass es für viele Kinder faszinierend ist, sich bei den
Theaterübungen einmal ganz anders als sonst darzustellen102, dass hierdurch auch
Hemmungen innerhalb der Gruppe abgebaut werden und die Selbstkompetenz der Kinder
durch das Gefühl „ich werde nicht übersehen“ und „ich kann zeigen, wie es gerade in mir
aussieht“ gestärkt wird.
102
So hatte z.B. Gina große Hemmungen mal laut oder energisch zu werden. Nach einer „Löwenrunde“ (vgl. Anhang) sagte sie ganz überrascht „Ich kann ja brüllen!“ und zeigte im Laufe der Proben ein zunehmend sicheres Auftreten, wenn ich sie daran erinnerte, sich so zu fühlen wie ein Löwe.
7. Darstellung der Musicalproduktion
Aufgrund dessen möchte ich die Theaterübungen zur Erweiterung des Ausdrucks- und
Bewegungsrepertoires im weiteren Verlauf der Musicalproduktion in Form von ritualisierten
Aufwärmübungen fortführen und in ihrer Intensität noch ausweiten.
7.3. Phase 2: Rollenfindung und Rollenidentifikation 7.3.1. Übergreifende didaktische und methodische Entscheidungen Die Musicalproduktion zielt darauf ab, Kinder in der positiven Genese ihres
Fähigkeitsselbstkonzepts zu unterstützen, indem v.a. die Selbst- und Sachkompetenz
gefördert wird (vgl. Kap. 5.5.). Wie ich schon unter Kapitel 5.4. beleuchtet habe, ist dafür die
Erfahrung „ich kann mehr als ich mir ursprünglich zugetraut habe“ also ein positives Erfolgs-
und Kompetenzerleben besonders wichtig. Eine bedeutsame Voraussetzung dafür stellt die
erfolgreiche Bewältigung der eigenen Rolle dar. So sehe ich in dieser Phase meine
Hauptaufgabe darin, die Kinder bei der Auswahl einer für sie geeigneten, zu bewältigenden,
aber auch herausfordernden Rolle zu beraten und sie in der anschließenden
Rollenaneignung (Identifikation) zu unterstützen. Damit soll zum einen ein überzeugendes
Spiel auf der Bühne angebahnt und zum anderen der große Gestaltungsspielraum jeder
Rolle verdeutlicht werden. Ich möchte den Kindern damit suggerieren „Das ist unser
Hexenwald, das ist deine Rolle, wie du sie ausgestaltest liegt in deiner Hand…“. Die
einzelnen Bausteine, bei denen ich mich ansatzweise am szenischen Spiel nach Ingo
Scheller orientiere, sind nachfolgend genauer erläutert.
Rollenfindung
Um allen Kindern die oben angesprochenen so wichtigen Erfolgserlebnisse zu ermöglichen,
die sich positiv auf das Fähigkeitsselbstkonzept auswirken, ist es also von entscheidender
Bedeutung, dass jedes Kind eine Rolle findet, die zu ihm passt und die es von der
Anforderung (Solo, Textumfang) her weder unter- noch überfordert. Darum steht in dieser
Phase zunächst das Ausprobieren und Experimentieren mit verschiedenen Rollen im
Vordergrund. In dieser Experimentierphase sollen sich die Schülerinnen und Schüler ohne
Leistungsdruck in möglichst vielen verschiedenen Rollen erproben können. Sie erweitern
dadurch ihr Ausdrucksrepertoire (vgl. 5.6.) und können während des Spiels feststellen, ob sie
sich in der Rolle wohlfühlen. Ich erhoffe mir durch diese zeitintensive Rollenfindungsphase,
dass die Kinder üben, ihre schauspielerischen, sängerischen und tänzerischen Fähigkeiten
möglichst realistisch einzuschätzen, um sich dann (über die Herbstferien) für drei mögliche,
geeignete Rollen zu entscheiden. Um die Kinder in diesem Auswahlprozess zusätzlich zu
unterstützen und in der Annahme, dass die Hauptrollen unheimlich begehrt sein werden,
möchte ich ihnen noch einmal vergegenwärtigen, wie viel Text bei einer bestimmten Rolle
7. Darstellung der Musicalproduktion
auswendig gelernt werden muss. Dazu habe ich die Zeilenmenge jeder Rolle einmal
durchgezählt und auf dem Rollenankreuzbogen vermerkt.103
Nach den Herbstferien möchte ich die Rollenwünsche mit jedem Kind einzeln besprechen,
um hier noch einmal gezielt beraten zu können und auf individuelle Stärken, aber auch
Schwächen vorsichtig hinzuweisen.
Rollenidentifikation
Beim Theaterspiel ist es immer wichtig, dass sich die Darsteller mit ihrer Rolle identifizieren
können, um überzeugend auf der Bühne zu agieren. Identifikation bedeutet dabei für mich,
dass man sich zu der eigenen Rolle selbst Gedanken macht, dem jeweiligen Charakter einen
eigenen „Stempel aufdrückt“ und die Rolle auf dem Papier zu einer „lebendigen“ Person
werden lässt, mit Hobbys, spezifischem Aussehen, Charaktereigenschaften und Gefühlen.
Damit sich die Kinder ihrer, nun fest besetzten, Rolle annähern können, sollen deshalb in
dieser Phase Rollenbiografien angefertigt werden. Dafür habe ich einen Fragebogen
vorbereitet (siehe Anhang), den sie ihrer Rolle entsprechend ausfüllen und je nach Wunsch
auch eigenständig erweitern können.
Damit die Schülerinnen und Schüler diese kreativen Ideen bezüglich ihrer Rolle sofort
spielerisch erproben und den anderen Kindern präsentieren können, führe ich die Talkshow
„Jüttner & Co.“ ein. In dieser Talkshow habe ich die verschiedenen Charaktere des
„Hexenwaldes“ zu Gast, die ich zu Vorlieben, Abneigungen, besonderen Eigenschaften etc.
interviewen möchte.
Alternativ hätte hier zur Identifikation ein Brief oder Tagebucheintrag aus der Rolle heraus
geschrieben werden können. Um die Kinder allerdings nicht zu überfordern und aufgrund
des hohen Motivationswertes einer Talkshow, habe ich mich dagegen entschieden.
Kompetenzerweiterung bezüglich des Theaterspielens
Neben den inzwischen ritualisierten Theaterübungen, die ich zu Beginn jeder Probe als
„Warming-Up“ und zur Erweiterung des Ausdrucks- und Bewegungsrepertoires einsetze,
möchte ich gemeinsam mit den Kindern Bühnenregeln erarbeiten, die für das Theaterspielen
besonders wichtig und notwendig sind. Diese sollen den Kindern Hilfestellung geben und
eine gewisse Professionalität im wahrsten Sinne des Wortes „mit ins Spiel“ bringen. Die
Auseinandersetzung mit diesen Theateraspekten ist für die meisten Kinder neu und dient
damit auch einer Erweiterung der Sachkompetenz. Dazu werden Szenen aus dem
„Hexenwald“-Musical geprobt. Anschließend werden von den Kindern, die gerade nicht
gespielt und deshalb zugeschaut haben, Tipps und Regeln verbalisiert, die zum Abschluss
der Probe zu festen Theaterregeln zusammengefasst und schriftlich fixiert werden sollen. Mit
diesen Regeln möchte ich in den nachfolgenden Proben weiterarbeiten, sowohl in Form von
Karten auf denen Beobachtungsaufträge formuliert sind, die während der Spielszenen
103
Siehe dazu Brief im Anhang.
7. Darstellung der Musicalproduktion
eingesetzt werden, als auch in Form eines Reflexionsbogens, in dem jedes Kind nach jeder
Probe die eigene individuelle Umsetzung der Theaterregeln einschätzt und reflektiert.
7.3.2. Übergreifende Reflexion In dieser Phase war es besonders interessant zu erleben, wie sich die Kinder selbst
einschätzen, welche Rolle sie sich zutrauen usw. Dabei war ich sehr überrascht, dass der
Großteil der Kinder die eigene Leistungsfähigkeit, zumindest was die dramaturgischen
Fähigkeiten anbelangte, relativ gut einschätzen und angemessen beurteilen konnte. Hilfreich
war dabei sicherlich der Rollenankreuzbogen, auf dem der Textumfang der einzelnen Rollen
vermerkt war. So erzählte mir Gina: „Also Frau Jüttner, ich wollte ja erst die Lisa-Rolle
ankreuzen, aber da hab ich gesehen, die hat ja 76 (!!) Zeilen, ne, also da hab ich dann lieber
die Steine angekreuzt!“ Zu der in den meisten Fällen recht realistischen Selbsteinschätzung
hatte m.E. weiterhin dazu beigetragen, dass jedes Kind alle Lieder kennenlernte und die
Chance hatte, sich mit allen Charakteren vertraut zu machen sowie bestimmte Rollen auch
vor der Klasse einmal auszuprobieren. Aufgrund dessen wussten auch alle, dass es z.B. bei
der Rolle von Lisa und Tassilo unumgänglich ist, ganz alleine auf der Bühne ein Duett zu
singen, dass man als Tamin recht temperamentvoll über die Bühne fegen oder als Lena
richtig zickig erscheinen muss.
Da es für die meisten Kinder sehr schwierig war, ihre stimmlichen Fähigkeiten
einzuschätzen, habe ich jedes Kind - unter Ausschluss der restlichen Klasse - einmal alleine
vorsingen lassen104 und anschließend seine Rollenwünsche mit ihm besprochen. Dieses
Verfahren wurde von allen Beteiligten äußerst positiv aufgenommen und zeigte eine große
Produktivität und Effektivität bei der Rollenbesetzung: Einige Kinder wollten viel sprechen,
aber möglichst nicht singen. Andere wiederum wünschten sich eine schwere Choreografie
oder wollten ein Solo singen usw. Außerdem bot sich mir durch diese Vorgehensweise die
Möglichkeit, mich intensiver mit den Wünschen und Fähigkeiten jedes Einzelnen vertraut zu
machen, individuell zu ermutigen oder zum Teil auch andere Rollen vorzuschlagen. So hatte
z.B. Alicia die Erzählerrollen angekreuzt, weil sie der Meinung war, für eine noch größere
Rolle nicht gut genug zu sein. Nachdem ich ihr mehrmals versichert habe, dass ich ihr eine
Hauptrolle durchaus zutrauen würde, meldete sie sich dann für die Rolle von Lisa und spielt
diese Rolle seitdem schon sehr ausdrucksstark und mit „wahrer Hingabe“105.
Bei diesen Einzelgesprächen habe ich mich sehr darum bemüht, Kindern ihre individuellen
Stärken aufzuzeigen, ohne direkt ihre Schwächen zu thematisieren.106 Dabei habe ich
104
Unser Schulassistent hatte sich netterweise bereit erklärt, in dieser Zeit mit den anderen Kindern das Textbuch weiterzulesen.
105 Alicia teilte mir des öfteren mit, ihr Ziel sei es, ihre Rolle mit wahrer Hingabe zu spielen. Das täten die „Kinoleute“ nämlich auch…
106 So hatte Lara beispielsweise nur Hauptrollen angekreuzt. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass man mit seinen Aufgaben wächst, hätte eine so große Rolle für sie m.E. eine Überforderung dargestellt. Als ich sie jedoch fragte, worin sie ihrer Meinung nach besonders gut sei, erwiderte sie, sie könne sich besonders gut
7. Darstellung der Musicalproduktion
festgestellt, dass die Kinder meiner Meinung und Einschätzung ihrer Fähigkeiten eine enorm
hohe Bedeutung zumessen, sodass es manchmal für mich schwierig war, die unter Kapitel
5.7. thematisierte Balance zwischen „Orientierung geben“ und „beeinflussen“ zu finden.
Letztendlich hat jedes Kind eine seiner zuletzt genannten Wunschrollen erhalten, sodass
allgemeine Zufriedenheit und Freude bei der Bekanntgabe der endgültigen Rollenbesetzung
herrschte.
Auch die Phase der Rollenidentifikation war insgesamt für die Kinder sehr motivierend, lustig
und spannend. Bei der Erläuterung der Rollenbiografien führte ich den Vergleich an, dass
jede Rolle momentan noch wie ein schwarz-weißes Bild sei, hauptsächlich bestehend aus
ein paar Textzeilen, das jeder für sich noch mit Farbe und eigenen Vorstellungen füllen
müsste. Dieser Vergleich blieb eindrucksvoll in den Köpfen der Kinder haften, sodass sie
sich spontan dazu entschlossen, nicht nur ihre Charaktereigenschaften schriftlich
festzuhalten, sondern auch ihr Abbild auf Papier zu bannen. Dadurch entstanden tolle
Zeichnungen zu den einzelnen Charakteren des „Hexenwaldes“, die ich in Absprache mit
den Kindern gerne zusammen mit den Zusammenfassungen der Rollenbiografien im
Programmheft abdrucken würde.
Die Talkshow „Jüttner & Co.“, die dazu diente, sich mit der eigenen Rolle intensiver
auseinanderzusetzen, wirkte zusätzlich motivierend und erfreute sich unter den Kindern sehr
großer Beliebtheit. Gleichzeitig hatte sie den positiven Effekt, dass die Kinder hier die
Möglichkeit hatten, zwar innerhalb ihrer Rolle, aber außerhalb der Textvorgabe des
„Hexenwald“-Musicals zu agieren, zu spielen und sich vor Publikum darzustellen. Dabei ist
mir aufgefallen, dass sich die Kinder bei den Interviews sehr viel natürlicher bewegten, als
bislang auf der Bühne. Daraus ziehe ich den Schluss, dass die Bühnensituation gerade in
Verbindung mit einer Textvorgabe doch noch hemmt bzw. zu Unsicherheiten führt.
Konsequenterweise möchte ich darum den Aspekt der „Natürlichkeit“ in der anschließenden
Phase aufgreifen und stärker thematisieren.
Bei der gemeinsamen Erarbeitung der Theaterregeln haben wir uns schließlich auf fünf
wichtigste Regeln geeignet (siehe Anhang), wobei ich allerdings aus Zeitgründen den
Erarbeitungsprozess durch gezielte Fragen etwas beschleunigt habe. Dabei stand für viele
Kinder zunächst das Sozialverhalten auf der Bühne im Vordergrund. So wurde
beispielsweise genannt, dass nicht geschubst, geärgert, gelacht, geschielt werden darf, weil
andere sonst aus dem Konzept kommen. Da diese Verhaltensregeln den Kindern sehr
wichtig waren, haben Paul und Alicia sie unter dem Titel „Selbstverständliche Bühnenregeln“
mit aufgeschrieben.
Das erstmalige Ausfüllen der Reflexionsbögen war für einige Kinder zunächst recht
schwierig. Während z.B. Gina sich an ihrer Tischnachbarin orientierte und genau das
„hexengleich bewegen und durch einen Wald schleichen“. Da das zutraf, habe ich sie in ihrer Meinung bestärkt, woraufhin sie schließlich sehr zufrieden drei Hexenrollen angekreuzt hat.
7. Darstellung der Musicalproduktion
Gleiche schrieb, fragten Johanna, Waldemar und Cahide immer nach, wie ich das sehen
würde. Das zeigt mir, wie unsicher die Kinder hinsichtlich ihrer Leistungseinschätzung und –
bewertung noch sind. In den nächsten Wochen muss ich deshalb in punkto realistischer
Selbsteinschätzung hier verstärkt Hilfestellung leisten. Das könnte beispielsweise durch
gezielt eingesetztes Lob bei individuellem Lernzuwachs erfolgen, durch Tipps oder auch
dadurch, dass ich mithilfe einer Lehrerdemonstration eine gewisse „Zielrichtung“ vorgebe,
sodass die Kinder eine Kompetenzerweiterung im musikalischen und dramaturgischen
Bereich wahrnehmen bzw. für sich einen individuellen Gütegrad hinsichtlich einer
bestimmten Szenendarstellung entwickeln können.
7.4. Phase 3: Intensive Probenphase 7.4.1. Übergreifende didaktische und methodische Entscheidungen In dieser Phase geht es überwiegend darum, den „Hexenwald“ durch ausdrucksvoll
vorgetragene Lieder und durch die Auseinandersetzung mit dem Bereich „Musik und
Bewegung“ musikalisch auszugestalten.107 Des weiteren werden Werbeplakate (vgl. Anhang)
erstellt und es gilt zunehmend in der eigenen Rolle zu überzeugen. Letztgenanntes bedeutet,
dass der Text auswendig gelernt werden muss, um freies Spielen zu ermöglichen. Zudem
soll die eigene Rolle durch natürliche und überzeugende Mimik und Gestik ausgestaltet und
die Theaterregeln sollen zunehmend angewendet werden. Meine Aufgabe sehe ich v.a.
darin, meine Einschätzungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Kindes
deutlich zu machen, zu ermutigen, aber auch klar zu fordern, damit eigene individuelle
Fähigkeiten wirklich ausgeschöpft werden. Da verbale Bewegungsbeschreibungen selbst für
Erwachsene oftmals noch zu abstrakt und schwer nachvollziehbar sind, möchte ich
überwiegend mit Schüler- und Lehrerdemonstrationen arbeiten, um die Kinder in der
darstellerischen Umsetzung von Tipps und Theaterregeln zu unterstützen.
Außerdem soll in dieser Phase die Lerngruppe als Team stärker zusammenwachsen, da
gerade die jüngeren Schülerinnen, v.a. Johanna und Gina, noch Hemmungen haben, mit
älteren Kindern zusammenzuarbeiten und von mir immer wieder ermutigt werden müssen,
ihre Interessen zu verbalisieren. Bei den älteren Kindern fällt auf, dass sie versuchen,
überwiegend in ihren gewohnten Cliquen zu arbeiten. Für die Stärkung des sozialen Gefüges
und des Zusammenhaltes innerhalb der Lerngruppe, ist es mir darum an dieser Stelle
107
Gemäß dem Kerncurriculum Musik, lässt sich dieser Baustein überwiegend dem inhaltsbezogenen Kompetenzbereich „Gestalten“ zuordnen: Sowohl das bewusste und koordinierte Umsetzen von Musik in Bewegung und umgekehrt, als auch das Instrumentalspiel und das Erfinden von Musik, das u.a. bei Verklanglichungen zum Tragen kommt, bilden einen wichtigen inhaltlichen Bestandteil dieses Kompetenzbereiches. Gleichzeitig werden die Kinder aber auch in anderen inhalts- und prozessbezogenen Kompetenzbereichen gefördert: Sie lernen Musik zunehmend als ein Ausdrucksmittel mit unterschiedlicher Wirkung kennen (kulturhistorische Dimension), sammeln Erfahrungen im Instrumentalspiel (Erkenntnisse gewinnen) und werden in ihrer Hör- und Körperwahrnehmung geschult (Wahrnehmen). Vgl. Kerncurriculum, 2006, S. 11-13
7. Darstellung der Musicalproduktion
wichtig, dass sie mit der gesamten Gruppe einen auf der Bühne dargestellten szenischen
Handlungsablauf aus dem Kindermusical auf Orff-Instrumenten verklanglichen. Damit die
Kinder sich als kreativ und produktiv erfahren, könnte hier als Alternative, genauso gut
Kleingruppenarbeit stattfinden. Allerdings soll durch die oben genannte Sozialform, die
Sozialkompetenz der Kinder in stärkerem Maße gefördert werden, indem sie zunehmend
lernen, auch in einer großen Gruppe kooperativ und rücksichtsvoll zusammenzuarbeiten. „Wenn Klänge gemeinsam gesucht und zu einem sinnvollen Ganzen gefügt werden, dann ist es notwendig, dass man aufeinander hört, anerkennt, was ein anderer entdeckt hat, zu Korrekturen und Verbesserungen bereit ist und zu Reaktionen auf andere fähig ist.“ (Holthaus; Schmitter-Wallenhorst, 2000, S. 24 )
Hierbei steht für mich auch im Vordergrund, dass sich die Kinder beim gemeinsamen
Musizieren als wichtigen Teil eines Ganzen erleben, was m.E. nicht nur für den Aufbau eines
positiven Fähigkeitsselbstkonzepts, sondern auch für das Gelingen der gesamten
Musicalproduktion von entscheidender Bedeutung ist. Die oben thematisierte Sozialform
stellt dabei in allen Arbeitsphasen eine Differenzierung dar: Die Kinder der altersgemischten
Lerngruppe (vgl. Kap. 5.1.) besitzen unterschiedliche Fähigkeiten hinsichtlich der in dieser
Stunde notwendigen Abstraktion, Umsetzung und Gestaltung. Leistungsstärkere Kinder, wie
z.B. Pia, Simon, Janina oder Alicia können bei den Aufgaben eine Vorbildfunktion erfüllen
und mit mir zusammen als Impulsgeber fungieren und so die kreativen Fähigkeiten
derjenigen Kinder anregen, die mit der erprobenden Herangehensweise nicht so vertraut
sind und noch Schwierigkeiten haben zu abstrahieren. Durch die Orientierung an anderen
Schülerinnen und Schülern erhalten leistungsschwächere Kinder zudem Ideen und Impulse
für eigene Gestaltungsmöglichkeiten.
Ein weiteres Element des Bausteins „Musikalische Auseinandersetzung mit dem Bereich
Musik und Bewegung“ stellt die Ausgestaltung der „Hexenwald-Lieder“ durch die in
Rollengruppen (Feuersteine, Hexen etc.) selbst erarbeiteten Bewegungselemente,
Schrittkombinationen und kleinen Choreografien dar. Durch diese eigene kreative und
produktive Mitgestaltung des Musicals erleben sich die Schülerinnen und Schüler als
kompetent. Für die Kinder gewinnt das Musical zudem an subjektiver Bedeutsamkeit.108
Um die Kinder in dieser Phase noch zusätzlich bei der Festigung der Lieder zu unterstützen
und mich bei den Aufführungen zu entlasten, habe ich eine Proben109- und eine Playback-CD
erstellt, mit der die Kinder nun auch zu Hause üben können.
Konsequenter Umgang mit Unterrichtsstörungen und Konflikten
In dieser Phase ist es mir zudem sehr wichtig, noch konsequenter mit Störungen
umzugehen. Während sich der Umgang der Kinder untereinander im Allgemeinen zwar
manchmal noch als vorsichtig (s.o.), aber dennoch als offen und sehr freundlich beschreiben
lässt, kristallisierte sich in den vergangenen Proben eine etwas „brisante“ Konstellation 108
Hier kommen auch wieder die Ansätze des projektorientierten Lernens zum Tragen (vgl. Kap. 5.6). 109
Vgl. Anlage (CD)
7. Darstellung der Musicalproduktion
innerhalb der Lerngruppe durch Lara, Waldemar und Max heraus. Trotz Ermahnungen,
Einzelgesprächen etc. lösen Max und insbesondere Waldemar, der gerne von Lara
provoziert wird, immer wieder Störungen oder Konflikte aus, veralbern Szenen durch
übertriebene Darstellungsarten und halten vereinbarte Gesprächsregeln oft nicht ein. Auf
Anraten einer ehemaligen Mitanwärterin möchte ich deshalb versuchen mit der „1-2-3-
Methode“ nach Phelan und Schonour (vgl. Anhang) zu arbeiten, um künftig zeitsparender
und effektiver mit Störungen umgehen zu können.
7.4.2. Übergreifende Reflexion In dieser Phase wurde deutlich, dass es auch leistungsschwächeren Kindern, wie z.B. Gina
und Lara, zunehmend gelang, sich in ihrer Rolle überzeugend zu bewegen und ihre
Umsetzung der Theaterregeln auf ihrem Reflexionsbogen realistischer einzuschätzen.
Allerdings hatte ich gerade in den Szenen, in denen ich zusammen mit anderen Kindern auf
der Bühne agierte, ein etwas zwiespältiges Gefühl: Denn hier galt es wieder eine Balance zu
finden (vgl. Kap. 5.7.) zwischen meiner Rolle als Mitspielerin, auch wenn es nur als Ersatz
für jemanden oder zu Demonstrationszwecken war, und als Spielleiterin. Diese Problematik
bzw. Unsicherheit zeigte sich auch bei den Kindern. Dazu ein Beispiel: Alicia und Janina
gehen als Lisa und Lena in der Anfangsszene streitend durch den Wald. Ich übernehme
Alicias Rolle, um zu demonstrieren, dass man bei diesem „Streiten“ richtig laut werden kann,
damit es überzeugend rüberkommt.
Janina (gelangweilt): „Da hast du wohl einfach zu viele Fantasy-Romane gelesen!“
Ich (energisch): „Hab ich nicht!“
Janina (laut): „Hast du doch!“
Ich (wütend): „Und hab ich nicht!“
Janina (sehr laut): „Und hast du doch!“
Ich : „Dumme Ziege!“
Janina: „Blöde… aber Frau Jüttner, ich kann zu dir doch nicht „blöde Kuh“ sagen…“
Diese kleine Szene habe ich als Anlass genommen, um den Kindern zu verdeutlichen, dass
wenn man Szenen auf der Bühne probt, nicht mehr Pia, Laura oder Frau Jüttner ist, sondern
eine ganz bestimmte Person des Hexenwaldes. Man ist quasi in eine andere Rolle
geschlüpft und hat alle Gedanken, Bewegungen etc. dieser Person übernommen. Besonders
wichtig war mir dabei zu vermitteln, was in diesem Zusammenhang „Professionalität“
bedeutet, nämlich dass, wenn die Szene zu Ende ist und wir die Szene durchsprechen, jeder
wieder er selbst ist und keine Rolle mehr spielt. Dabei hatte ich zunächst die Befürchtung,
dass einige Kinder, wie z.B. Waldemar und Max, gerade was meine Person anbelangt, nicht
zwischen „mitspielen“ und „anleiten“ trennen und nachfolgende Szenen durch vorlaute
Äußerungen stören würden. Es zeigte sich aber, dass die gesamte Musical-AG diese
7. Darstellung der Musicalproduktion
Unterscheidung sehr faszinierend fand und sie sehr ernst nahm. Von nun an war es für alle
selbstverständlich, dass ich auf der Bühne einen Hexenwaldbewohner verkörpern kann, aber
bei Anweisungen, Anleitungen, Hilfestellungen etc. sofort wieder Frau Jüttner bin.
Als sehr wirkungsvoll erwies sich auch der konsequente Einsatz der „1-2-3-Methode“, die
von Waldemar das erste Mal zwar nicht110, später aber in zunehmendem Maße akzeptiert
und schließlich auch eingefordert wurde. Der Umgang mit ihm lässt sich seitdem zwar nicht
als „unkompliziert“ beschreiben, aber sein Verhalten ist sehr viel positiver und offener. Im
Vergleich zu anderen hat er zwar noch recht viele „Auszeiten“, strengt sich aber sehr an,
diese zu reduzieren, sich zu integrieren und zeigt offen, dass es ihm etwas ausmacht, wenn
er irgendwo nicht mitmachen kann. Vorher hatte es den Anschein, es sei ihm alles egal.
Auch bei der Verklanglichung wurde ein tolles Ergebnis erzielt, auf das die Kinder sehr stolz
sind. Bei dem Erarbeitungsprozess habe ich durch gezielte Fragen etwas Hilfestellung
geleistet. Eine Videoaufnahme, die der Sicherung des ersten Ergebnisses diente, wirkte
unheimlich motivierend und konnte zudem für den weiterführenden Erarbeitungsprozess
genutzt werden. Bei dem Endprodukt wurden zusätzliche Verbesserungsvorschläge von
meiner Seite her abgelehnt und das eigene Ergebnis für gut befunden, was von mir
akzeptiert wurde. Auf alle Fälle konnten die Kinder auch in den Vorübungen zur
Verklanglichung den narrativen Aspekt von Musik erleben. Sie erfuhren, dass Musik - auch
ohne Worte - Geschichten erzählen kann, dass bestimmte Klänge Assoziationen und
Gefühle hervorrufen können, die sie auch in ihrer Verklanglichung gezielt einsetzen können,
um beim Zuhörer eine bestimmte Wirkung zu erzielen und –als erste Anbahnung- dass
Musik durch Interpretation eine semantische Bedeutung zukommt. So konnten hier
Erkenntnisse gewonnen werden, die die musikalische Handlungskompetenz der Kinder
erweitern. Die Verklanglichung der Theaterszene ermöglichte den Kindern zudem durch die
Verbindung mit Gestik, Mimik, Sprache und Bewegung kindgemäße Zugänge und
differenzierte, ganzheitliche Erlebensweisen von Musik.
Die Entwicklung eines positiven Fähigkeitsselbstkonzepts konnte dabei besonders gefördert
werden, weil bei einer Verklanglichungen mit Orff-Instrumenten keine spezifischen,
musikalischen Spieltechniken und Fertigkeiten vorausgesetzt werden. Somit wurde die
Aufgabe von jedem Kind erfolgreich und mit einem tollen Ergebnis bewältigt.
7.5. Phase 4: Aufführungsphase 7.5.1. Übergreifende didaktische und methodische Entscheidungen „Jetzt wird es ernst!“ Diesen Satz äußerte Waldemar, als er in der Bäckerei von Worphausen
unser Werbeplakat entdeckte, das Max dort aufgehängt hatte. 110
Bei dem ersten „Auszählen“ ging Waldemar zwar in die Auszeitzone, blieb nach fünf Minuten dort aber trotzig und beleidigt bis zum Ende der Stunde sitzen. Ich bat ihn hinterher zu einem Gespräch, in dem er plötzlich anfing bitterlich zu weinen und immer wieder sagte „Immer bin`s ich, immer ich…“. Vor diesem Gespräch hatte ich das Gefühl, dass ich, egal was ich mache, nicht an das Kind herankomme und er weder Lob noch gezielte Hilfestellung von mir annehmen kann.
7. Darstellung der Musicalproduktion
Diesen zutreffenden Satz möchte ich auch als Aufhänger für die Beschreibung meiner
methodisch-didaktischen Entscheidungen dieser vierten Phase nutzen. „Jetzt wird es ernst“,
bezieht sich dabei nicht nur auf die nahenden Aufführungstermine für die noch viel
vorbereitet werden muss, sondern v.a. auch darauf, inwiefern ich die Kinder noch optimaler
auf die Aufführungen vorbereiten und ihnen das nötige Selbstvertrauen geben kann,
souverän und mit Freude auf der Bühne zu agieren. Nicht um einer perfekten Aufführung
willen, sondern um den Kindern zu einem größtmöglichen und von ihnen nicht für möglich
gehaltenen Erfolgserlebnis zu verhelfen. So zielt diese Phase in ihrem Aufbau überwiegend
auf die Vermittlung von Bühnensicherheit ab, die durch Festigung der Szenenabläufe, Tipps
für routiniertes Bühnenverhalten bei Textunsicherheiten, Kostümproben etc. erreicht werden
soll. Dafür sind zusätzlich zwei Nachmittagstermine eingeplant, an denen eine Sonderprobe
sowie die Generalprobe stattfinden sollen. An dem Sonderprobentermin ist ebenfalls ein
Soundcheck mit der Mikroanlage vorgesehen, die wir von einer Akustikfirma ausleihen
werden.
Auswertung des Reflexionsbogens
Zudem möchte ich mit jedem Kind einzeln seinen Reflexionsbogen bezüglich der Umsetzung
der Theaterregeln auswerten, um jedes Kind noch einmal auf seinen individuellen
Lernzuwachs während der Musicalproduktion aufmerksam zu machen und um individuelle
Tipps zu geben, woran bei den Aufführungen gedacht werden muss. Ich möchte hier ganz
gezielt ermutigen und deutlich machen, was ich persönlich dem Kind zutraue. Durch den
Abgleich von Selbst- und Fremdeinschätzung wird die Selbstkompetenz der Schülerinnen
und Schüler hinsichtlich einer realistischeren Selbsteinschätzung noch zusätzlich gefördert.
Aufführungstage
An den Aufführungstagen selbst möchte ich versuchen, die Kinder besonders zu ermutigen,
aufgewühlte Nerven zu beruhigen und ihnen noch einmal ein „Wir-Gefühl“ nach dem Motto
„Wir sind ein Team“ zu vermitteln. Dadurch möchte ich das Gefühl der Zugehörigkeit und der
Sicherheit sowie der sozialen Integration bei jedem Kind stärken und allen Beteiligten noch
einmal deutlich machen, dass jeder gebraucht wird und alle sich gegenseitig unterstützen
und einander helfen müssen, damit eine erfolgreiche Aufführung realisiert werden kann.
Dafür erhält jedes Kind u.a. eine kleine Aufgabe, die mich zum einen entlastet und zum
anderen die Wichtigkeit jedes Einzelnen hervorheben soll. Zu diesen Aufgaben gehört z.B.
darauf zu achten, dass der Vorhang vor jeder Aufführung zugezogen ist, dass alle
Instrumente am richtigen Platz sind, dass ein Funkmikro hinter der Bühne für den
Schulassistenten (Rolle: Sprecher des Vorhangs) bereitliegt, dass ein Glas Wasser für das
Löschen der Wunderkerze bereitsteht und beim Anziehen der Kostüme zu helfen,
Programmhefte zu verkaufen usw. Meine Erfahrungen zeigen, dass oftmals aus dieser
7. Darstellung der Musicalproduktion
Verantwortung Zuverlässigkeit erwächst. Durch die Konzentration auf die Verantwortung
anderen gegenüber, „kann das Bewusstsein der eigenen Fähigkeit […] größer werden“111
und das Gefühl entstehen, dass man gebraucht wird112.
Direkt vor den Aufführungen sollen stimmliche und körperliche Lockerungsübungen dazu
dienen, die Anspannung der Kinder abzubauen sowie ihre Aufmerksamkeit und
Konzentration zu sammeln.
Fragebogen II
Diese Phase wird durch den zweiten Fragebogen abgerundet, der von den Kindern nach der
zweiten öffentlichen Aufführung ausgefüllt wird und in dem die Schülerinnen und Schüler
viele Dinge reflektieren und einschätzen müssen. Diese Ergebnisse werden von mir
ausgewertet, in einen Bezug zum ersten Fragebogen gesetzt und unter Kapitel 8.1.
abschließend dargestellt.
7.5.2. Übergreifende Reflexion Die Aufführungsphase war für mich, aber auch für die Kinder wahrscheinlich am
anstrengendsten.
Für mich war es besonders schwierig zum einen den Überblick und die Ruhe zu behalten
und zum anderen vieles im Hintergrund zu organisieren, wie z.B. Pressevorankündigung,
Mikroanlage, Kostüme, Stoffe für Requisiten und Feuersteinkostüme etc. So habe ich mich
mit dem Zeitfaktor im Nacken so manches Mal etwas überfordert gefühlt und immer überlegt,
ob durch mehr Zeit, die Kinder nicht noch besser hätten vorbereitet werden können.
Insgesamt gesehen stellten die Aufführungen aber ein richtig tolles Ergebnis dar, sodass
sich jede Mühe und Anstrengung gelohnt hat. Bemerkenswert fand ich in dieser Phase, dass
viele Geschwister und Mitschüler der am Musicalprojekt beteiligten Kinder die Liedtexte
auswendig mitsingen und sogar einige der Choreografien mittanzen konnten: Hier waren die
Mitwirkenden selbst wieder zu kleinen „Lehrern“ geworden, hatten Gelerntes weiter
vermitteln können und wurden dadurch insgesamt in ihrer Persönlichkeit, in ihrem
Selbstvertrauen gestärkt. Durch diese Erweiterung der Sachkompetenz wurden die Kinder in
ihrer positiven Fähigkeitsselbstkonzeptgenese besonders gefördert.
Sonderprobe und Generalprobe
Besonders motivierend wirkten hier die Kostümierungen. Jedes Kind wurde in seinem
jeweiligen Kostüm ausgiebig beklatscht und bestaunt und musste z.T. erst lernen, sich damit
zu bewegen.113 Dabei waren viele Kinder sichtbar stolz auf ihr Kostüm und schlugen vor,
nach den Aufführungen doch noch eine „Kostüm-Modenschau“ zu veranstalten, weil sie ihr
Kostüm so schön fanden.
111
Staub, 1982, S. 266ff 112
Diese soziale Eingebundenheit postulieren Deci und Ryan in ihrer Selbstbestimmungstheorie als grundlegendes Bedürfnis des Menschen, dass für viele Handlungen ausschlaggebend ist (vgl. Kap. 2.4.).
113 Besonders für die Feuersteine gestaltete sich das aufgrund der langen Kostüme als nicht so einfach.
7. Darstellung der Musicalproduktion
Obwohl einige Kinder ihre Teilnahme bei beiden Probenterminen aufgrund teurer
Freizeitaktivitäten (Tennisstunde, Klavierunterricht etc.) abgesagt hatten, war letztendlich
doch die gesamte Musical-AG bei den Proben versammelt. Das verdeutlicht noch einmal,
das die Musicalproduktion von den Schülerinnen und Schüler als unheimlich wichtig erachtet
und nun zunehmend als „ihr“ Musical angesehen wurde.114
Auswertung des Reflexionsbogens
Die Einzelgespräche fanden außerhalb der Proben statt und erwiesen sich als sehr
wirkungsvoll. Besonders positiv fanden die Kinder, dass ich mir so viel Zeit für sie nahm und
auch ich empfand es als sehr angenehm, mich in Ruhe mit jedem Kind auseinandersetzen
zu können und meine Beobachtungen mit den ihren abzugleichen. Dabei wurde bei jedem
Kind ein deutlicher Lernfortschritt sichtbar, was einige Kinder in Erstaunen setzte und
gleichzeitig ein Gefühl des „stolz seins“ bei ihnen auslöste. Johanna verschluckte sich z.B.
vor Aufregung, als sie sah, dass ihre Leistung auch nach meiner Einschätzung in nur so
kurzer Zeit um so vieles besser geworden war und sagte: „Ich hab gehofft, dass ich es gut
mache, aber ich war mir doch nicht sicher…“. Auch Waldemar stellte sehr stolz fest, dass
sich seine Anstrengung gelohnt hätte und das er sich auf die Aufführungen freuen würde, in
denen ihn sein Bruder, seine Eltern und die ganze Schule dann „bestaunen“ könne.
In diesen Einzelgesprächen wurde gerade den Kinder mit einem negativen
Fähigkeitsselbstkonzept (z.B. Janis, vgl. Kap. 5.1.) zudem bewusst, dass sie sich verbessert
haben, weil sie geübt und sich angestrengt haben. Dies sehe ich als wichtige Erfahrung an,
auf der sich darauf aufbauend eine Kausalbeziehung zwischen Anstrengung, Fähigkeit und
Leistung entwickeln kann, was sich wiederum positiv auf die Fähigkeitsselbstkonzeptgenese
auswirkt.
Aufführungen
Hier hat sich der Spruch „dass man mit seinen Aufgaben wächst“ eindeutig bestätigt.
Während v.a. vor der ersten Aufführung emsige Betriebsamkeit und bei einigen große
Nervosität herrschte, merkte man diese auf der Bühne kaum noch. Und obwohl bereits
während der Proben eine ständige Leistungssteigerung festzustellen war, verblüfften mich
am ersten Aufführungsabend alle Kinder, ohne Ausnahme, mit einer noch gelungeneren
Bühnenleistung. Es war wirklich bemerkenswert, wie die einzelnen Schülerinnen und
Schüler, motiviert durch das Publikum, über sich hinauswuchsen. Dabei halfen sich alle
Akteure gegenseitig (Text zuflüstern etc.), genossen den Applaus und hatten –was mich
besonders freute- großen Spaß daran, den „Hexenwald“ zu präsentieren. Auf die
„Hexenwald“-Aufführung und auf sich selbst waren sie sehr stolz.
114
Die Klassenlehrerin der 4a berichtete mir diesbezüglich, bei ihren „Musical-Kids“ wäre ein wahres Fieber ausgebrochen. Die Kinder würden nur noch von den Proben erzählen, die Lieder singen und den anderen Kindern Tanzschritte vorführen und beibringen.
8. Gesamtreflexion
Bei den folgenden Aufführungen zeigten die meisten Kinder schon eine beachtliche
Bühnenroutine: Sie spielten ihre Rolle mit einer noch größeren Lockerheit und
Selbstverständlichkeit, ohne dass darüber die Intensität und die Freude am Spiel verloren
ging.
Vor jeder Aufführung haben wir uns nach den Lockerungsübungen und dem „Kampfschrei“ in
einem Kreis versammelt, haben uns angefasst, uns „toi toi toi“ gewünscht und ich habe ein
Motto für die kommende Aufführung bekannt gegeben, das den Kindern die Angst und
Nervosität nehmen sollte. Bei der ersten Aufführung war das Motto „Spaß haben und
Applaus genießen“, bei der zweiten „Auf die Musik hören115 und zeigen, wie gut man Theater
spielen kann“ und bei der Schulaufführung „Das Spielen auf der Bühne auskosten“.
In dieser Phase zeigte sich, dass die Lerngruppe mehr und mehr als Gruppe
zusammenwuchs und das Gesamtmotto der Musicalproduktion „Wir sind ein Team!“
internalisierte und regelrecht „lebte“.116
8. Gesamtreflexion Im letzten Kapitel dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die
Zielsetzung des Unterrichtsvorhabens erfolgreich umgesetzt werden konnte und ob die
eingangs gestellte arbeitsleitende These bestätigt werden kann. Ebenso soll auf die
angeführte Methode der Überprüfung und deren Eignung, eventuelle Lernzuwächse deutlich
zu machen und angemessen darzustellen, eingegangen werden. Auch spezifische
Möglichkeiten sowie Grenzen der Entwicklung eines positiven Fähigkeitsselbstkonzepts
werden hier aufgegriffen. Es schließt sich ein Ausblick mit abschließenden
Schlussfolgerungen an.
Zur arbeitsleitenden These
„Das Fähigkeitsselbstkonzept eines Kindes wird durch die Teilnahme an einer Musicalproduktion positiv beeinflusst.“ Die Zielsetzung des Unterrichtsvorhabens scheint bei allen Kindern der Musical-AG erreicht
worden zu sein. Aus Gesprächen, Beobachtungen und der Auswertung der Fragebögen
wurde ersichtlich, dass bei allen Schülerinnen und Schülern, ungeachtet der divergierenden
Fähigkeiten und individuellen Lernvoraussetzungen, sowohl ein Kompetenzerleben während
der Aufführungen des Hexenwald-Musicals als auch ein individueller Lernzuwachs während
des Erarbeitungsprozesses zu verzeichnen war. Dieser wurde von den Kindern registriert
115
Die Kinder sind bei der ersten Aufführung während der Lieder immer schneller geworden. 116
Bei der zweiten Aufführung z.B versagte bei Aufführungsbeginn komplett die CD- und Mikroanlage. Während einige hilfsbereite Väter noch versuchten, die Technik wieder in Gang zu bringen, ging ich zu den Kindern hinter den Vorhang, um sie schon darauf vorzubereiten, dass sie heute besonders laut und deutlich sprechen müssten. Die Kommentare der Kinder dazu: „Ach, Frau Jüttner, nun sei mal nicht so nervös, das kriegen wir doch alles hin… auch ohne Mikros!“ „Ja genau, wir sind ja schließlich ein Team!“, worauf Waldemar ergänzte „Wir sind nicht ein Team, wir sind das Team, Frau Jüttner, das Team!“.
8. Gesamtreflexion
0102030405060708090
Gesamtauswertung der musicalspezifischen Fähigkeitsselbsteinschätzungen
1. Fähigkeitsselbsteinschätzung
2. Fähigkeitsselbsteinschätzung
und spiegelte sich in einer deutlich positiveren Einschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten wider,
sodass sich die Gültigkeit der oben angeführten These m.E. in vollem Umfang bestätigen
lässt. Das nachfolgende Säulendiagramm, das die Selbsteinschätzungen der
musicalspezifischen Fähigkeiten (singen, tanzen, Theater spielen, laut und betont sprechen
etc.) darstellt, soll dieses Ergebnis verdeutlichen.
e ee eee
Während die Selbsteinschätzungen der Kinder sich bei den meisten Items um
durchschnittlich eine Kompetenzstufe verbessert haben, ist der eingeschätzte Lernzuwachs
bei dem Item „singen“ überdurchschnittlich groß.
e ee eee
02468
10121416
Auswertung der Fähigkeitsselbsteinschätzungen bzgl. "singen"
1. Fähigkeitsselbsteinschätzung
2. Fähigkeitsselbsteinschätzung
8. Gesamtreflexion
Viele Kinder konnten hier offensichtlich, zumindest in Ansätzen, eine Kausalbeziehung
zwischen ihrer Singfertigkeit und der im Vorfeld geleisteten Anstrengung ziehen, da wir uns
in den letzten beiden Erarbeitungsphasen noch einmal intensiv mit den Liedern
auseinandergesetzt und großen Wert auf Ausdruck, Intonation etc. gelegt hatten. Simon
äußerte sich diesbezüglich in einer Probe: „Na, das haben wir ja auch so geübt, das musste
ja auch mal besser werden…“ Bei Lara wurde in diesem Zusammenhang ebenfalls die
Tendenz zu einer realistischeren Einschätzung der eigenen Fähigkeiten sowie ein
Nachdenken über einen Kausalitätsbezug zwischen Anstrengung und Fähigkeit sichtbar.
Obwohl sie deutliche Schwierigkeiten beim Schauspielern hatte, kreuzte sie in beiden
Fragebögen ausschließlich drei Smileys an, teilte mir bei der Abgabe des zweiten
Fragebogens jedoch erklärend mit: „Frau Jüttner, ich hab hier immer alles angekreuzt, weil
ich gemerkt habe, ich war gar nicht so gut, aber ich hab mich ja ganz doll angestrengt und
dann war das alles ja besser… meinst du, das ist woanders auch so?“
Auch die offener gestellten Fragen zeugen von einer Stärkung des Selbstvertrauens der
Schüler in die eigene Leistungsfähigkeit, was sich besonders am Beispiel Johannas ablesen
lässt.
Fragebogen 1
Fragenbogen 2
Die Gesamtauswertung der Fragebögen zeigte deutlich, dass es für alle Kinder etwas ganz
Besonderes war, vor so vielen Menschen, ihren Eltern, Geschwistern, Freunden, Mitschülern
und Lehrern zu stehen, zu singen, zu musizieren, zu schauspielern und zu tanzen. Dabei
durften sie erfahren wie es ist, auch einmal im Mittelpunkt zu stehen. Durch die Arbeit am
„Hexenwald“, insbesondere durch die positive Resonanz des Publikums und die
Zeitungskritik, erkannten viele Schülerinnen und Schüler: Ich kann etwas Besonderes, habe
durch mein Engagement und meine Anstrengung etwas Tolles geschafft und kann auch
eigene Ängste überwinden.117 Das Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit wurde bei den Kindern
117
Johanna hatte z.B. vor der ersten Aufführung ziemlich Angst und meinte, dass das ja noch schlimmer als eine Mathearbeit sei (laut der Klassenlehrerin ist eine Mathearbeit Johannas Albtraum schlechthin). Am Tag der
8. Gesamtreflexion
noch dadurch verstärkt, den eigenen Namen im Programmheft zu lesen, die Werbeplakate
anzumalen und in der Umgebung aufzuhängen sowie durch den Zeitungsbericht. Dazu O-
Ton Pia: „Wenn ich in der Zeitung stehe, dann bin ich wichtig und dann habe ich was gut
gemacht!“ Obwohl für mich eigentlich immer der Weg das Ziel war, konnte gerade durch die
gelungene „Bühnenleistung“ jedes Kind eine „Ich-Stärke“ innerhalb der Gruppe erfahren.
Waldemar und Janina schreiben beispielsweise im Fragebogen II dazu:
Für das Selbstbewusstsein, die globale Persönlichkeitsentwicklung sowie für weitere
Lernprozesse war dies von großer Bedeutung und hat damit direkt zur positiven
Fähigkeitsselbstkonzeptgenese jedes Kindes beigetragen.
Weiterhin konnten die Kinder durch die Musicalproduktion in besonderer Weise ihre
musikalische Handlungskompetenz erweitern, aber auch in ihrer Selbst-, Sach- und
Sozialkompetenz118 gefördert werden. Auf diesen Erfahrungen aufbauend, können m.E. auch
andere leistungsthematische Situationen nun selbstbewusster und daraus resultierend auch
oft erfolgreicher angegangen werden (vgl. Kap. 3).
Eignung der Fragebögen zur Überprüfung des Fähigkeitsselbstkonzepts
Das Fähigkeitsselbstkonzept ist, wie in Kapitel 2 dargestellt, ein komplexes Konstrukt, das
sich aus verschiedenen Teilkomponenten zusammensetzt. Da es mir innerhalb dieses
Konstrukts nicht um eine spezifische Komponente geht, sondern ich das
Fähigkeitsselbstkonzept in seiner Gesamtheit betrachte, war es nötig, das
Forschungsinstrumentarium so zu reduzieren bzw. zu gestalten, dass ich allgemeinere
zweiten Aufführung kam Johanna mir entgegengerannt und rief:“ Ich freu mich heute auf die Aufführung, das war so toll gestern und ich hab es gut gemacht!“
118 Diese musikalisch-ästhetischen Erfahrungen beeinflussten nicht nur die musikalischen, kreativen Fähigkeiten
und das emotionale Einfühlungs- und Ausdrucksvermögen der Kinder, sondern förderten in besonderer Weise auch die soziale Kompetenz des Einzelnen innerhalb der Lerngruppe. Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit sowie kreative Problemlösefähigkeit wurden geschult. Diese Kompetenzen bilden auch für das spätere Leben der Kinder eine wichtige Voraussetzung und stellen eine inzwischen verstärkt geforderte berufliche Kompetenz bzw. Qualifikation dar.
8. Gesamtreflexion
Aussagen treffen konnte. Die von mir herangezogene Untersuchungsmethode zeigt daher
eine Tendenz auf, bietet aber keine detaillierte Aufschlüsselung. Um spezifischere Details
herauszuarbeiten, Beobachtungsaspekte vertiefend zu präzisieren oder aus dem
Gesamtkomplex zu isolieren, wären längerfristige Beobachtungen und ein modifizierter
Fragebogen mit spezifischeren Angaben nötig gewesen. Vor dem Hintergrund, dass sich
Verhaltensänderungen nur bedingt empirisch überprüfen lassen (d.h. bestimmte Aspekte
nicht direkt beobachtbar und nur mittelbar zu erschließen sind, sodass ich manchmal darauf
angewiesen war, auch Anzeichen zu deuten), erscheint mir meine Untersuchungsmethode –
auch in Hinblick auf mein Grobziel (vgl. Kap. 5.5.) – angemessen.
Möglichkeiten und Grenzen
Es gibt etwas, das sehr viel seltener zu finden,
etwas, das sehr viel wertvoller,
etwas, das rarer als Fähigkeit ist:
die Fähigkeit, Fähigkeiten zu erkennen!119
Das oben genannte Zitat drückt m.E. in vielfältiger und zutreffender Weise die Problematik
aus, Kinder im Grundschulalltag, in dem die soziale Bezugsnorm dominiert, in der
Entwicklung eines positiven Fähigkeitsselbstkonzepts zu unterstützen. Grenzen, auch
hinsichtlich einer Musicalproduktion, ergeben sich u.a. darin, dass nicht nur wir als Lehrkräfte
oder Bezugspersonen die individuellen Fähigkeiten der Kinder erkennen und fördern
müssen, sondern dass diese auch von den Kindern selbst wahrgenommen werden müssen,
um ein Fähigkeitsselbstkonzept positiv zu beeinflussen. Trotz aller angebotenen und
geschaffenen Lernsituationen, die Erfolgserleben und Selbstwirksamkeitserfahrungen
prinzipiell begünstigen und ungeahnte Fähigkeiten ans Licht bringen können, darf nicht
vergessen werden: Es liegt immer in der Hand des einzelnen Kindes, wie diese Erfahrungen
und selbstbezogenen Informationen letztendlich verarbeitet und in bereits bestehende
kognitive Strukturen integriert werden. Dennoch machen mir meine „Hexenwald-
Erfahrungen“ großen Mut. Hier zeigte sich, dass die Entwicklung eines positiven
Fähigkeitsselbstkonzepts von Kindern selbst in kurzer Zeit gefördert werden kann. Im
vorliegenden Fall wurde die zu erbringende Leistung aus dem gewohnten schulischen
Bewertungskontext herausgelöst, zeigte sich aber trotzdem an ein Endprodukt gebunden,
dessen Qualität von einer Vielzahl von Menschen beurteilt und bewertet wurde.
Zu überdenken bleibt die Frage, unter welchen Bedingungen die angebahnte positive
Entwicklung langfristig gestärkt und unterstützend gefördert werden kann. Werden die im
119
Zitat von Elber G. Hubbard (1859-1915), US-amerikanischer Essayist; vgl. http://www.aphorismen.de/,13.01.2007.
8. Gesamtreflexion
Rahmen des dargestellten Unterrichtsvorhabens gemachten positiven Erlebnisse und
Selbstwirksamkeitserfahrungen nicht gerade bei leistungsschwächeren Kindern im
Unterrichtsalltag sofort wieder von negativen Erfahrungen aufgrund evtl. schulischer
Misserfolgserlebnisse überlagert? Ist so eine Musicalproduktion hinsichtlich der positiven
Fähigkeitsselbstkonzeptgenese deshalb nicht doch nur ein „Tropfen auf dem heißen Stein“?
Ich denke nein! Denn alle gemachten positiven Erfahrungen können sich die Kinder durch
Erinnerung immer wieder vergegenwärtigen. Außerdem hat sich während des
Unterrichtsvorhabens gezeigt, dass der „Hexenwald“ weite Kreise zieht. Dazu drei Beispiele:
Marie sucht sich jetzt einen Chor, weil sie durch die Musicalproduktion entdeckt hat, dass sie
toll singen kann. Diese Fähigkeit möchte sie weiter ausbauen und wird von ihrer Familie, die
auf sie unheimlich stolz ist, darin unterstützt.
Bei der Erarbeitung von Weihnachtsliedern im regulären Musikunterricht meldete sich auf
einmal ein sonst recht unauffälliger und leicht verlegener Junge, der nicht in der Musical-AG
ist und fragte, ob er uns das Weihnachtslied nicht mal alleine, vor der gesamten Klasse,
vorsingen könnte. Waldemar habe ihm mal etwas aus dem Hexenwald vorgesungen und das
habe ihn so beeindruckt, dass er jetzt geübt hätte und uns jetzt alle Strophen des
Weihnachtsliedes auswendig vortragen wolle. Daraufhin wurde ein regelrechter „Solo-Boom“
ausgelöst. Sowohl die Mädchen als auch alle Jungen (!) stellten sich alleine vor die Klasse
und sangen solistisch die Strophen der erarbeiteten Weihnachtslieder vor. Dabei herrschte
eine Ernsthaftigkeit und eine Achtung vor dem Mut und der Leistung der anderen, die mich
wirklich verblüffte. Keiner zog den Vortrag der anderen ins Lächerliche oder veralberte die
Lieder. Die Klassenlehrerin kam nach ein paar Tagen zu mir und sagte: „Kristina, was hast
du mit meiner Klasse gemacht? Mein tollpatschiger Tristan hat sich am Ende der
Deutschstunde hingestellt und uns ein Lied vorgesungen, das hätte der früher nie gemacht!
Und die anderen Kinder haben Michael Krull was in Englisch vorgesungen: Alleine,
nacheinander... Der war völlig baff!“
Die Klassenlehrerin der anderen vierten Klasse erzählte: „Du, Kristina, die Kinder bei mir
müssen jetzt Buchreferate halten, die bewertet werden. Alena hatte davor immer
Bauchschmerzen… Und diesmal: Ich hab` gedacht, da steht ein anderes Kind vor mir!!! Die
hat sich vorne hingesetzt und ganz frei, mit lauter, klarer Stimme ihr Buch vorgestellt. Jetzt
hat sie eine 2 bekommen und ist völlig aus dem Häuschen!“
Diese Beispiele verdeutlichen, auch in Hinblick auf das obige Zitat, dass das Entdecken und
Wahrnehmen von individuellen Fähigkeiten außerordentlich wertvoll und wichtig ist. Das
gewonnene Selbstvertrauen in einem Bereich wirkt einem Gefühl der Hilflosigkeit und auch
Wertlosigkeit in anderen Bereichen entgegen. Es führt zu der auch für andere Lernprozesse
so wichtigen Motivation sowie zur positiven Bestätigung und Bestärkung der eigenen Person
und des eigenen Handelns. Somit ließen sich bei dem Hexenwald-Musical äußerst positive
Auswirkungen auf andere Fächer verzeichnen.
8. Gesamtreflexion
Bei aller Freude über die realistischeren Fähigkeitsselbsteinschätzungen, den
Leistungszuwachs und das gestärkte Selbstwertgefühl der Kinder darf jedoch nicht
vergessen werden, dass innerhalb des kurzen zeitlichen Rahmens des Unterrichtsvorhabens
lediglich einige erste, grundlegende Anbahnungen hinsichtlich der positiven
Fähigkeitsselbstkonzeptgenese geleistet werden konnten. Diese müssen vertieft und
weitergeführt werden.
Zudem möchte ich in Hinblick auf die Realisierung einer Musicalproduktion wie der
dargestellten anmerken, dass man als Lehrkraft hierbei leicht an seine eigene (Leistungs-
)Grenze stoßen kann. Es muss so vieles selbst angeleitet, vorbereitet und organisiert
werden, dass es den „Einzelkämpfer“ sehr viel Kraft und Zeit kostet. Eine Alternative wäre
entweder die Erarbeitung über einen längeren Zeitraum oder der Einbezug vieler Kollegen
und Kolleginnen, um die Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen. Letzteres hätte nicht
nur den Vorteil, dass das gesamte Schulleben und Schulklima noch stärker davon profitieren
könnte (Lehrer und Kinder bündeln ihre Kräfte und ziehen alle gemeinsam an einem Strang),
sondern auch, dass m.E. gerade durch eine fächerübergreifend geprägte Realisierung eines
Musicals die Kinder in noch größerem Ausmaße in die gemeinsame Arbeit eingebunden
werden können und verstärkt - auch fachbezogene -Erfolgserlebnisse erfahren können.
Exemplarisch könnte somit die Förderung einer positiven Fähigkeitsselbstkonzeptgenese im
sprachlichen Bereich erfolgen und dazu beitragen, die Lernmotivation der Kinder im Fach
Deutsch zu erhöhen.
Ausblick
Für mich persönlich war diese Musicalproduktion ein ganz besonderes und sehr schönes
Erlebnis, das mir verdeutlicht hat, dass Kinder durch das Erfolgs- und Kompetenzerleben in
den musisch-kulturellen Fächern in ihrem positiven Fähigkeitsselbstkonzept gestärkt werden
können. Darüber hinaus ist es natürlich notwendig, dass sich Schülerinnen und Schüler auch
in anderen Fächern als kompetent und selbstwirksam erleben. Die für mich wertvollste
Erfahrung, die ich aus der Musicalproduktion „Hexenwald“ mitnehme, ist die, dass meine
positive Einschätzung und Erwartungshaltung hinsichtlich der individuellen Fähigkeiten der
Kinder tatsächlich immens großen Einfluss auf ihre Fähigkeitsselbsteinschätzung gehabt zu
haben scheint (Vgl. Kap. 3.3.). So konnte ich während dieser Arbeit feststellen, dass das
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten bei einigen Kindern zunächst so schwach ausgeprägt
war, dass sie einen externen Anstoß durch mich benötigten, um Eigenleistung anzuerkennen
und Leistungssituationen aufzusuchen. Der englische Choreograf Royston Maldoom weist
entsprechend auf die Bedeutsamkeit eines externen Anstoßes um eigene Fähigkeiten zu
erkennen hin und beschreibt seine erfolgreiche Arbeit mit Schülerinnen und Schülern
folgendermaßen:
8. Gesamtreflexion
„Ich glaube an ihr Potenzial. Ich glaube an etwas in ihnen, das die meisten Menschen mit denen ich arbeite nicht einmal ahnen. Ich glaube an ihre Möglichkeit kreativ zu sein - mit diesem Glauben wecke ich diese Möglichkeiten in ihnen. Und sie spüren diesen Glauben, daher akzeptieren sie, dass ich sie herausfordere, Konzentration, Disziplin und Ausdauer von ihnen verlange.“ (Weser Kurier, 11.11.2006) Daraus ziehe ich schlussfolgernd nachstehende Konsequenz hinsichtlich der Unterstützung
einer positiven Fähigkeitsselbstkonzeptgenese von Kindern im schulischen Alltag:
Interne und externe Faktoren lassen sich von mir als Lehrkraft nur bedingt beeinflussen.
Aber ich kann den Kindern Anregungen geben, die ihnen helfen, im Rahmen ihrer
Möglichkeiten bestmöglichst mit ihren individuellen Bedingungen umzugehen, indem ich bei
ihnen ein Bewusstsein anbahne für die eigenen Stärken und Fähigkeiten.
In diesem Sinne möchte ich die Arbeit mit einem, nach Hilbert Meyer zitierten, kanadischen
Sprichwort abschließen:
„You can`t command the winds. But you can set the sails!“120
120
Meyer, 2004, S. 173
9. Literaturverzeichnis
9. Literaturverzeichnis
Akin, Terri [u.a.]:Selbstvertrauen und soziale Kompetenz. Verlag an der Ruhr: Mülheim a.d. Ruhr 2000. Bastian, Hans Günther: Kinder optimal fördern – mit Musik. 3. Aufl.. Mainz: Schott 2003. Bönsch, Manfred: Beziehungslernen. Pädagogik der Interaktionen. Basiswissen Pädagogik Band 2. Schneider: Hohengehren 2002. Bönsch, Manfred: Unterrichtsmethoden – kreativ und vielfältig. Basiswissen Pädagogik Band 1. 2. Aufl.. Schneider: Hohengehren 2006. Bovet; Huwendiek (Hrsg.): Leitfaden Schulpraxis. Pädagogik und Psychologie für den Lehrberuf. 3. erweiterte und bearbeitete Auflage. Cornelsen: Berlin 2000. Deci, Edward; Ryan, Richard: Handbook of Self-Determination Research. University of Rochester Press: Rochester 2004. Deubelbeiss, Martin; Schmid, Heinz: 10x10 Theaterkicks. Erle: Zofingen 2004. Försterling; Stiensmeier-Pelster; Silny (Hrsg.): Kognitive und emotionale Aspekte der Motivation. Hogrefe: Göttingen 2000. Gage; Berliner: Pädagogische Psychologie. 5. überarbeitete Auflage. Beltz: Weinheim 1996. Gilsdorf, Rüdiger; Volkert, Kathi (Hrsg.): Abenteuer Schule. 1. Aufl. Sandmann: Allig 1999. Ginsburg, H.; Opper, Sylvia: Piagets Theorie der geistigen Entwicklung. Klett-Cotta: Stuttgart 1998. Gudjons, Herbert: Handlungsorientiert lehren und lernen. 6. Auflage. Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2001. Hartinger, Andreas; Fölling-Albers, Maria: Schüler motivieren und interessieren. Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2002. Hierdeis, Helmwart; Schratz, Michael (Hrsg.): Mit den Sinnen begreifen. 10 Anregungen zu einer erfahrungsorientierten Pädagogik. Österreichischer Studienverlag: Innsbruck 1992. Hintz, Dieter; Pöppel, Karl Gerhard; Rekus, Jürgen: Neues schulpädagogisches Wörterbuch. 3., überarb. Aufl.. Weinheim, München: Juventa 2001. 240-245. Holthaus, Klaus; Schmitter-Wallenhorst, Brigitte: Geschichten oder Gedichte werden zu Klangszenen – aber wie? In: Musikpraxis, 88 (2000) 4, 24-30. Jüttner, Kristina: Hexenwald. Ein Kindermusical. 2006. Köck, Peter: Handbuch der Schulpädagogik für Studium, Praxis, Prüfung. Auer: Donauwörth 2000. Krapp; Weidenmann: Pädagogische Psychologie. 4. Auflage. Beltz: Weinheim 2001.
9. Literaturverzeichnis
Kruse, Matthias (Hrsg.): Musiktheater. Band 2. Gustav Bosse Verlag: Kassel 2001. Laskowski, Annemarie: Was den Menschen antreibt. Entstehung und Beeinflussung des Selbstkonzepts. Campus: Frankfurt 2000. Laux, Hermann: Originäres Lernen. Selbstbestimmung der Grundschüler. Basiswissen Grundschule Band 8. Schneider: Hohengehren 2002. Lenzen, Klaus-Dieter: Theater macht Schule – Schule macht Theater. Arbeitskreis Grundschule e.V.: Frankfurt 1990. Maierhofer, Lorenz (Hrsg.): Sim Sala Sing. Das Liederbuch für die Grundschule. Helbling: Rum u.a. 2005. Meyer, Hilbert: Leitfaden zur Unterrichtsvorbereitung. 11. Aufl.. Cornelsen: Berlin 1991. Meyer, Hilbert: Unterrichtsmethoden II. Praxisband. 10. Aufl.. Cornelsen: Berlin 2000. Meyer, Hilbert: Was ist guter Unterricht?. 2. Aufl.. Cornelsen: Berlin 2005. Meyers Taschenlexikon: Musik in 3 Bänden, Ge-Om. Hrsg. und bearb. von der Lexikonred. d. Bibliograph. Inst.. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliographisches Institut AG 1984, 299-300. Michel, Gabriele: Im Tanzen ein neues Ich erfahren. Weser-Kurier, 11.11.2006 Mittag, Waldemar: Selbstkonzept und Informationsverarbeitung. Eine experimentelle Untersuchung zum Selbstschema der Begabung. Inaugural-Dissertation. Berlin 1992. Möller, Jens; Köller, Olaf (Hrsg.): Emotionen, Kognitionen, Schulleistung. Beltz: Weinheim 1996. Mummendey, Hans Dieter: Psychologie des Selbst. Theorien, Methoden und Ergebnisse der Selbstkonzeptforschung. Hogrefe: Göttingen 2006. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für die Grundschule. Schuljahrgänge 1-4. Unidruck: Musik. Hannover 2006. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für die Grundschule. Schuljahrgänge 1-4. Unidruck: Deutsch. Hannover 2006. Niedersächsische Kultusministerium, http://nibis.ni.schule.de/~mk-datei/arbeit-in-der-gs.pdf. S. 2 und 11f, 23.11.2006 Phelan; Schonour: Die 1 2 3 Methode. Konsequent zum Lernen motivieren und Störungen vermeiden. Verlag an der Ruhr: Mühlheim 2005. Rheinberg, Falko: Motivationsdiagnostik. Hogrefe: Göttingen 2004. Rheinberg, Falko; Krug, Siegbert: Motivationsförderung im Schulalltag. 3., korrigierte Aufl.. Hogrefe: Göttingen 2005. Scheller, Ingo: Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis. 2. Aufl.. Cornelsen: Berlin 1999. Scheurlen, H.-J.: Unterrichtsideen: Welch ein Theater! Vier Stücke mit Musik für die Grundschule, 5. Auflage, Leipzig: Klett 1999.
9. Literaturverzeichnis
Schilling, Dianne: Soziales Lernen in der Grundschule. Verlag an der Ruhr: Mülheim a.d. Ruhr 2000. Schmitt, Rainer: Musikalische Kompetenzen. In: Praxis Grundschule, 26 (2003) 6, 4-5. Schoenebeck, Mechthild: Musicals für Kinder und Jugendliche. In: Kruse, Matthias (Hrsg.): Musiktheater. Band 2. Gustav Bosse Verlag: Kassel 2001. S. 18-30. Schoenebeck, Mechthild v.: Das Kindermusical in der Grundschule. In: Grundschule, 31 (1999) 9, 14-16. Spolin, Viola: Improvisationstechniken für Pädagogik, Therapie und Theater.Junfermann: Paderborn 2002. Staub, E.: Entwicklung prosozialen Verhaltens. Urban u. Schwarzenberg: München 1982. Stiensmeier-Pelster, Joachim; Rheinberg, Falko (Hrsg.):Diagnostik von Motivation und Selbstkonzept. Hogrefe: Göttingen 2003. Streblow, Lilian: Bezugsrahmen und Selbstkonzeptgenese. Waxmann: Münster 2004. Vogel, Corinna: Musik und Bewegung – eine natürliche Einheit. In: Praxis Grundschule, 26 (2003) 6, 17-19. Walker, Jamie: Gewaltfreier Umgang mit Konflikten in der Grundschule. Cornelsen: Berlin 2004. Wessel, Sabine: Stärken veröffentlichen. Möglichkeiten des Einsatzes von Portfolios als Beitrag zur Förderung der Selbstwahrnehmung, dargestellt am Beispiel der Arbeit mit dem Bilderbuch „Freunde“ von Helme Heine im Deutschunterricht einer 2. Klasse. Unveröffentlichte Examensarbeit 2005. Wöhl, Helga: Miteinander handeln. Lern- und Sozialverhalten fördern. In: HTW Praxis, 53 (2001) 10, 5-7.
URLs http://www.aphorismen.de/,13.01.2007. http://nibis.ni.schule.de/~mk-datei/arbeit-in-der-gs.pdf. , 23.11.2006 http://www.brock.uni-wuppertal.de/cgi-bin/echo. 15.12.2006 www.tanzundtheaterwerkstatt-ffm.de/tanzstile/musical.html. 28.12.2006 http://www.zit.at/personen/ionesco.html, 13.01.2007 Abbildungsverzeichnis Abb.1: Mummendey, Hans Dieter: Psychologie des Selbst. Theorien, Methoden und Ergebnisse der Selbstkonzeptforschung. Hogrefe: Göttingen 2006. S. 207 Abb.2: Krapp; Weidenmann: Pädagogische Psychologie. 4. Auflage. Beltz: Weinheim 2001. S. 229
Ich erkläre mich damit einverstanden, das meine Hausarbeit anderen Personen zugänglich
gemacht wird.
Wilstedt, den 20. Januar 2007