Transcript

Was bringt Menschen mitpsychischen Störungen besser in Arbeit?

Der internationale Stand der Forschung.

Fachtagung, 8.1.2014, Berlin

Steffi G. Riedel-Heller, Leipzig

Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Medizinische Fakultät, Universität Leipzig Philipp-Rosenthal-Straße 55, 04103 Leipzig Telefon: +49 341 15 406, Fax: +49 341 15 409, www.isap.uniklinikum-leipzig.de/

Die wichtigsten Bedürfnisse der Patienten

Baer et al., 2000 Psychiatrieplanung BL: 287 RehaklientInnen in 12 Institutionen s.a. Reker et al., 1996; Angermeyer et al., 1999; Secker et al., 2001

„normale“ Arbeit

Partner EigeneWohnung

„normal“sein

soziale Kontakte

Arbeit ist wichtig! � Für die meisten von uns ist Arbeit ein Teil unserer Identität.

� Arbeit gibt Struktur und feste Abläufe.

� Sie ist ein Weg, einen Beitrag zu leisten – etwas von Bedeutung zu schaffen.

� Ein Einkommen gibt uns mehr Möglichkeiten, darüber zu entscheiden, was wir kaufen, wo wir wohnen und erlaubt es uns, Rücklagen zu bilden.

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Berufliche Situation chronisch schizophren Erkrankter: Datengrundlage 1983-1993 (BADO)

mit der politischen Wende verringerte sich der Anteil der Beschäftigten von 50% auf 7%

Selbstbeurteilung:Problemzentrierte Interviews, qualitative Auswertung

Herr D., 37 Jahre

„Man ist einfach weg vom Fenster, durch das Rentendasein abgestempelt………

Wenn man von sich selbst nichts mehr erwartet, äh und in Rente rumgeistert – ich erwarte

eigentlich von mir auch nix mehr jetzt, weil das, was ich wollte, ist alles gestorben…..

Man stottert – da gibt‘s ein schönes Lied: ich stottere meine Lebensrunden ab“

Riedel SG et al.. Psychiatr Prax. 1998 Nov;25(6):286-90..

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„Erwachsene mit psychischen Erkrankungen

sind eine der am stärksten ausgeschlossenen

Gruppen der Gesellschaft.

Obwohl viele arbeiten wollen, arbeitet

weniger als ein Viertel von ihnen – das ist die

niedrigste Beschäftigungsquote aller großen

Gruppen von Menschen mit Behinderung.“

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Die Situation in Deutschland

1) Wenige Menschen mit (schweren) psychischen Störungen auf dem ersten Arbeitsmarkt

2) Geschützte Arbeit: Werkstätten für Behinderte als„Auffangbecken“

3) Frühberentung

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Beschäftigungsraten für Menschen mit Schizophrenie, vs. Behinderungen (alle Arten) vs. schwere körperliche Behinderung

- Mehr Psychisch Kranke in geschützter Arbeit (WfbM)

Werkstätten als “Auffangbecken”

http://www.bagwfbm.de/category/34

Frühberentung nach ausgewählten Diagnosegruppen

(Statistiken der Deutschen Rentenversicherung in Zeitreihen 2010)

Mehr Frühberentungen durch psychische Störungen

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Die Situation in Deutschland

1) Wenige Menschen mit schweren psychischen Störungen auf dem ersten Arbeitsmarkt

2) Geschützte Arbeit: Werkstätten für Behinderte als „Auffangbecken“

3) Frühberentung

Das Ziel einer wirklichen Inklusion ist für viele

psychisch Kranke verfehlt

= vorbereitende Ausbildung und/oder vorübergehende Arbeit unter beschützten Bedingungen vor der Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt

„Berufsvorbereitungs-training (PVT)“

= schnelle Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt ohne längere Vorbereitung; Unterstützung am neuen Arbeitsplatz durch spezialisierte Dienste (job coaches); zeitlich unbefristet

„unterstützte Beschäftigung“ (SE)

Entwickelt in den 80er Jahren in den USA

Was bringt Menschen mit schweren psychischen Störungen in den Arbeitsmarkt?

2 Strategien: „first train then place“ vs. „first place then train“

Der deutsche Ansatz!

„First train then place“ – der dt. AnsatzRPKBTZBFW BBW…………..

Verschiedene Angebote

Regionale Unterschiede in Dienstleistungsangebot

Teilnahmekriterien

Zutrittsbarrieren (besonders die Prognose bzgl. der Eingliederung in den Arbeitsmarkt)

…aber auch „Mischformen“, 2009 §38a SGBIX zur unterstützten Beschäftigung Leistungen für behinderte Menschen nach SE-ähnlichem Prinzip rechtlich normiert

„ First place than train“Unterstützte Beschäftigung/ Supported EmploymentSechs Prinzipien

1. Die Eignung basiert auf der Wahl der Klienten. Niemand, der teilnehmen möchte, wird ausgeschlossen.

2. Unterstützte Beschäftigung ist in eine Behandlung integriert. Job Coaches koordinieren die Abläufe gemeinsam mit einem Behandlungsteam: Fallmanager, Therapeuten, Psychiater, etc.

3. Kompetitive Beschäftigung ist das Ziel. Der Fokus liegt auf Arbeitsplätzen in der Gemeinde, auf die sich jeder bewerben kann und die mit Mindesteinkommen oder höher bezahlt sind (Teilzeit- und Vollzeitjobs).

4. Die Arbeitsplatzsuche beginnt, sobald der Klient sein Interesse an Arbeit bekundet hat. Das Absolvieren umfangreicher Auswahlverfahren und Trainings ist keine Bedingung.

5. Die begleitende Unterstützung ist fortlaufend. Individuelle Betreuungen zur Sicherung des Arbeitsplatzes enden erst auf Wunsch des Klienten.

6. Die Klienten-Präferenzen sind maßgeblich. Alle Entscheidungen bezüglich Arbeit und Unterstützung basieren auf den individuellen Vorstellungen, Stärken und Erfahrungen des Klienten.

WWW.DGPPN.DE

Psychosoziale Therapien bei schweren

psychischen Erkrankungen – Praxisleitlinie

S3-Leitlinie: Evidenz- und konsensbasiert

Querschnittsthemen

Systeminterventionen

Einzelinterventionen

• Milieutherapie • Empowerment• Recovery• Peer-to-peer-Ansätze• Selbsthilfe

• Multiprofessionelle gemeindepsychiatrische teambasierte Behandlung

• Case management• Arbeitsrehabilitation und

Teilhabe am Arbeitsleben• Wohnangebote

• Psychoedukation• Training von Alltags- und

sozialen Fertigkeiten • Künstlerische Therapien • Ergotherapie• Sport- und

Bewegungstherapie

DGPPN-S3-Praxisleitlinie psychsosozialeTherapien

Systematische Recherche

Leitlinien-Entwicklung:

Empfehlungen

Wie Leitlinien entstehenWie Leitlinien entstehen

Wie bringt man Menschen mit psychischen Störungen

besser in Arbeit?

Wie bringt man Menschen mit psychischen Störungen

besser in Arbeit?

Bessere Ergebnisse in der

Arbeitsrehabilitation

Bessere Ergebnisse in der

Arbeitsrehabilitation

ERGEBNISSE DER BASISRECHERCHE

Einschluss: 3 Reviews, 4 RCTs sowie MA der NICE-LL Schizophrenie

Ergebnisse der Datenbanksuche: 989 Treffer

Auslese doppelter & irrelevanter Abstracts: 938

Screeningergebnis: 51 Treffer sowie 12 Treffer aus Handsuche

Ausschluss: 56� 8 keine Interventionen untersucht � 17 Interventionen entsprechen nicht der Fragestellung� 5 Fragestellung nicht relevant� 3 Übersichtsartikel� 14 bereits in anderen Reviews eingeschlossen� 4 zu alt � 1 Stichprobe entspricht nicht den Suchkriterien� 1 kein RCT bzw. methodische Mängel � 3 Ergebnisse redundant aufgrund mehrerer Artikel

Was funktioniert besser?

Reviews

Crowther 2001

(Cochrane

Rev.)

NICE LL

Schiz.

2009

Twamley

2003

Bond

2008

Campbell

2009

↑ Beschäftigung auf allgemeinem Arbeitsmarkt

++ ++ ++ ++ ++

↑ Wochen/Jahre beschäftigt ++ ++

↑ Ø monatliche Arbeitszeit ++ ++ ++

↑ Ø monatlicher Verdienst ++

↓ Zeit bis zur ersten Beschäftigung

+

↑ Job-Haltedauer ~ ++

↑ Arbeitszufriedenheit

Im Vergleich zum Berufsvorbereitungstraining bewirkt unterstützte Beschäftigung:

• Starken Anstieg der Quote kompetitiver Beschäftigung (Ia)

• höhere monatliche Arbeitszeit (Ia)

• höherer monatlicher Verdienst (Ib)

• mehr Wochen pro Jahr auf dem ersten Arbeitsmarkt (Ia-Ib)

• Keine signifikante Überlegenheit von unterstützter Beschäftigung in nicht arbeitsbezogenen Zielparametern

SE vs. PVT

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Bessere „Modelltreue“, bessere Ergebnisse

Was funktioniert besser?

(Bond GR, Drake RE, Becker DR. 2008, update Drake, Bond, & Becker, 2012)

Quoten kompetitiver Beschäftigung in 16 RCTs zu unterstützter

Beschäftigung

Unterstützte Beschäftigung Kontrolle Kontrolle 2

20

Evidenz aus Europa: EQOLISE

Diskussion: EQUOLISE

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

London Ulm Rimini Zurich Groningen Sofia

IPS

PVT

[%]* * * *

Stärkung der Lebensqualität und Eigenständigkeit von Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen durch unterstütze Beschäftigung

Burns, Catty, Becker et al. 2007, Lancet

RCT in 6 europäischen Zentren:

‘place and train’ (IPS) vs. ‘train

and place’ (PVT)

Stichprobe: Patienten mit

Psychosen, arbeitslos seit ≥ 1

Jahr, N=300, 50 je Zentrum

Erhebungszeitpunkte: Baseline, 6, 12 und 18 Monate

Hauptzielgröße: Beschäftigung

auf dem ersten Arbeitsmarkt

Hoffmann H, Jäckel D, Glauser S, Kupper Z: A randomized controlles trial of the efficacy of supported employment. Acta Psychiatr Scand 2012; 125: 157-167.

SE (n=46)

TVRP (n=54)

Neue Ergebnisse: Berner Job Coach Projekt

Monatliche Quoten kompetitiver Beschäftigung für unterstützte Beschäftigung (SE) und konventionelle beruflicher Rehabilitationsprogramme (TVRP)

* Im Berner JCP, ein auf Schweizer Verhältnisse angepasstes IPS, werden signifikant mehr Menschen mit schweren psychischen Störungen nachhaltig in die freie Wirtschaft integriert als mit traditionellen Eingliederungsmaßnahmen.

* Menschen mit schweren psychischen Störungen mussten in einem Zeitraum von fünf Jahren signifikant weniger (teil)stationär behandelt werden, wenn sie einer Arbeit in der freien Wirtschaft nachgingen.

* Menschen mit schweren psychischen Störungen geben eine signifikant höhere Lebensqualität an, wenn sie einer Arbeit in der freien Wirtschaft nachgehen.

Hoffmann H, Jäckel D, DGPPN 2013

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Bond GR, Drake RE, Becker DR. Generalizability of the Individual Placement and Support (IPS) model of supported employment outside the US. World Psychiatry. 2012 Feb;11(1):32-9.

“The overall competitive employment rate for IPS clients in US studies was significantly higher than in non-US studies (62% vs. 47%). The

consistently positive competitive employment outcomes strongly favoring IPS

over a range of comparison programs in a group of international studies

suggest that IPS is an evidence-based practice that may transport well into new settings as long as programs achieve high fidelity to the IPS model”

Neue systematische Übersicht: Funktioniert supported employment auch außerhalb der USA?

Ja

Viering S, Bärtsch B, Obermann C, Rüsch N, Rössler W, Kawohl W. The effectiveness of individual placement and support for people with mental illness new on social benefits: a study protocol. BMC Psychiatry. 2013 Jul 24;13:195. doi: 10.1186/1471-244X-13-195.

Weitere Studien sind im Gange…..

Und nun?

Der (lange) Weg vom Wissen in die Praxis Historisches BeispielVasco da Gama segelte ums Kap der guten Hoffnung 1497, 100 von 160 Seeleuten starben an Skorbut

Der erste “trial”: 1601, Kapitän James Lancaster segelte von England nach Indien mit 4 Schiffen 1 Schiff - 3 Teelöffel Zitronensaft pro Tag: Kein einziger war auf der halben Strecke gestorben 3 Schiffe - kein Zitronensaft-Supplement: 40% starben auf halber Strecke

Was passierte bei der British Navy?

Nichts.Trial wurde 146 Jahre später wiederholt (James Lind, 1747)British Navy veränderte weitere 48 Jahre nichts.d.h. Keinen praktischen Impact auf die Segelflotte der British Navy für weitere 264 Jahre……

FazitArbeit für psychische Kranke – es gibt Handlungsbedarf in Deutschland.

Evidenz-basierte Maßnahmen sind verfügbar: “first place then train“ – Unterstützte Beschäftigung/ Supported employment bringt psychisch Kranke besser in Arbeit.

“Modeltreue” ist wichtig - Programme mit hohen Werten auf der “supported employment fidelity scale” weisen besserearbeitsbezogene Ergebnisse auf.

Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis auflösen: ImplementierungVerbreitung – Anreize für Arbeitgeber, Finanzierungsmodelle, unbefristete! Begleitung durch job coachs………

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

DGPPN- S3-Praxisleitlinien-Team:Thomas Becker, Günzburg/Ulm

Steffi Riedel-Heller, Leipzig

Stefan Weinmann, Berlin

Katrin Arnold, Günzburg

Esra-Sultan Ay, Günzburg

Uta Gühne, Leipzig


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