16
40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie K. Beesdo-Baum, H.-U. Wittchen 40.1 Was sind depressive Störungen? – 880 40.2 Klassifikation und Diagnostik – 881 40.2.1 Klassifikation – 881 40.2.2 Diagnostisches Vorgehen – 881 40.2.3 Diagnostik – 884 40.3 Epidemiologie – 885 40.3.1 Prävalenz – 885 40.3.2 Epidemiologische Risikofaktoren – 886 40.3.3 Assoziierte Merkmale – 888 40.4 Störungsverlauf – 889 40.5 Entstehungsbedingungen – 890 40.5.1 Distale Faktoren – 891 40.5.2 Proximale Faktoren – 892 40.5.3 Psychologische Depressionstheorien – 893 40.6 Interventionsansätze – 898 40.6.1 Prinzipien – 898 40.6.2 Verfahren – 900 40.6.3 Effektivität – 908 40.7 Resümee – 910 Literatur – 911

40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

40

n

40 DepressiveStörungen: MajorDepressionundDysthymie

K.Beesdo-Baum,H.-U.Wittchen

40.1 WassinddepressiveStörungen? –880

40.2 KlassifikationundDiagnostik –88140.2.1 Klassifikation –88140.2.2 DiagnostischesVorgehen –88140.2.3 Diagnostik –884

40.3 Epidemiologie –88540.3.1 Prävalenz –88540.3.2 EpidemiologischeRisikofaktoren –88640.3.3 AssoziierteMerkmale –888

40.4 Störungsverlauf –889

40.5 Entstehungsbedingungen –89040.5.1 DistaleFaktoren –89140.5.2 ProximaleFaktoren –89240.5.3 PsychologischeDepressionstheorien –893

40.6 Interventionsansätze –89840.6.1 Prinzipien –89840.6.2 Verfahren –90040.6.3 Effektivität –908

40.7 Resümee –910

Literatur –911

Page 2: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

880

40

Gutzuwissen

Klinischbetrachtet

FallbeispielFrauM.FrauM.,eine57-jährigeGeschäftsfrauinleitenderPosi-tion,stelltsichauseigenerInitiativezurBehandlungvor,weilsieseiteinigenWochenihrenAlltagnichtmehrbe-wältigenkönne.Sieberichtet,dasssiebereitsindenfrü-henMorgenstundenaufwacheunddanninnerlichange-spanntundunruhigimZimmerständigaufundablaufe.SiefühlesichdenganzenTagüberschlecht,aberamfrühenMorgengingeesihramschlimmsten–siedenkedannsogarzeitweisedaran,sichdasLebenzunehmen.FrauM.gibtan,8–10kgabgenommenzuhaben.IhreMimikiststarr.Siewirktinteressen-undfreudlos.Sieklagtauchdarüber,dasssieihrenHumorverlorenhabe,derinihremLebennormalerweiseeineStützegewesensei.WennihreEnkelkindersiebesuchen,müssesiesichregel-rechtzueinemLächelnzwingen.Siefühlesichinnerlichleerundenergielosundschaffeesnichtmehrwiefrüher,mitdenKindernzuspielen.FrauM.schildertdarüberhinausstarkeSchuldgefühle,dienichtbizarreroderwahn-hafterNatursind.SiefühlesichalstotaleVersagerininallenBereichen–inderArbeit,alsEhefrauundGroßmut-ter.Sieglaubt,ihreFirmaundihreFamilieimStichzulas-senundentschuldigtsichständigdafür,dassesihrimmernochnichtbessergehe.

AufdieFragenachihrerallgemeinenStimmungbe-schreibtsichFrauM.als»innerlichtot«.ObwohlsieschonvieledepressiveEpisodenerlebthabe,seieszuvorniemalssoschlimmgewesen.SelbstnachdemTodihresVaters,zudemsieeinsehrengesVerhältnishatte,seiesihrnichtsoschlechtgegangen.FrauM.falleessehrschwer,ihreGe-fühlezubeschreiben,undsieleideuntereinemschreck-lichenemotionalenSchmerz,densiemitWortenkaumausdrückenkönne. AusderVorgeschichtegehthervor,dassFrauM.mehre-redepressiveEpisodenhatte,dievonrelativkurzerDauerwarenundmaximalnach3–6WochenwiedervollständigohneMedikationoderHospitalisierungremittierten.AlsAuslöserfürdieseEpisodenkonnteFrauM.jeweilspsycho-sozialeStressereignissebenennen.ÄhnlichentwickeltesichauchdieaktuelledepressiveEpisodenacheinergeschäft-lichenNiederlage.AllerdingstratdiesmalkeineBesserungnachderStabilisierungdergeschäftlichenSituationein,sonderneinezunehmendeVerschlechterung,diedasge-samteLebenvonFrauM.überschattete.Innerhalbvon6WochenwaresFrauM.nichtmehrmöglich,ihrenBerufs-undFreizeitaktivitätennachzugehen.SielagdenganzenTagteilnahmslosimBett.

40.1 WassinddepressiveStörungen?

Fast jeder Mensch erlebt hin und wieder vereinzelte depres-sive Symptome wie Traurigkeit, Niedergeschlagenheit oder Antriebslosigkeit, z. B. im Zusammenhang mit belastenden Ereignissen, Erkrankungen oder sozialen Stresssituationen. Von einer behandlungsbedürftigen depressiven Störung spricht man allerdings erst, wenn die Symptome eine be-

stimmte Zeitdauer, Persistenz und Intensität überschreiten. Als Kernmerkmale einer Major Depression, als häufigste Form depressiver Störungen, gelten über mindestens 2 Wo-chen andauernde, d. h. durchgängig bzw. an den meisten Tagen auftretende typische Symptome des depressiven Syn-droms. Hierzu gehören eine niedergeschlagene, depressive oder traurige Stimmungslage sowie der Verlust an Freude und Interesse an nahezu allen Tätigkeiten und Aktivitäten,

DievielenGesichterderDepressionEmotionaleSymptomeGefühlevonTraurigkeit,Niedergeschlagenheit,Ängstlich-keit,Verzweiflung,Schuld,Schwermut,Reizbarkeit,Leere,Gefühllosigkeit.

KognitiveSymptomeGrübeln,Pessimismus,negativeGedanken,EinstellungenundZweifelgegenübersichselbst(»IchbineinVersager«),deneigenenFähigkeiten,seinemÄußeren,derUmgebungundderZukunft,Suizidgedanken,Konzentrations-undGedächtnisschwierigkeiten,schwerfälligesDenken,über-mäßigeBesorgnisumdiekörperlicheGesundheit.

Physiologisch-vegetativeSymptomeEnergielosigkeit,Müdigkeit,Antriebslosigkeit,Weinen,Schlafstörungen,Morgentief,Appetitlosigkeit,Gewichts-verlust,Libidoverlust,innereUnruhe,Spannung,Reizbar-keit,Wetterfühligkeit,allgemeinevegetativeBeschwerden(u.a.MagenbeschwerdenundKopfdruck).

Behaviorale/motorischeSymptomeVerlangsamteSpracheundMotorik,geringeAktivitätsrate,VermeidungvonBlickkontakt,Suizidhandlungen,kraftlose,gebeugte,spannungsloseKörperhaltungodernervöse,zappeligeUnruhe,starre,maskenhafte,traurigeMimik,wei-nerlichbesorgterGesichtsausdruck.

Kapitel40·DepressiveStörungen:MajorDepressionundDysthymie

Page 3: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

40881

die der Person üblicherweise Freude bereiten. Gleichzeitig treten bei einer Major Depression eine kritische Anzahl (s. unten) weiterer, von Person zu Person variabler typischer Symptome auf, wie Appetit- und/oder Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Energieverlust, Konzentrationsstörungen, Verlust des Selbstwertgefühls oder Selbstvertrauens, Sui-zidgedanken oder -handlungen. Treten mindestens 5 der-artige Symptome durchgängig über mindestens 2 Wochen auf, sprechen wir von einer depressiven Episode oder einem depressiven Syndrom. Beim depressiven Syndrom und bei depressiven Störungen handelt es sich also nicht einfach um eine ausgeprägte Traurigkeit, sondern um Störungen des gesamten Organismus; sie sind durch ein typisches Cluster von Symptomen auf der emotionalen, kognitiven, physio-logischen, motorischen, sozial-interaktiven und verhal-tensbezogenen (behavioralen) Ebene charakterisiert (7Kas-ten»Gutzuwissen«).

40.2 KlassifikationundDiagnostik

40.2.1 Klassifikation

Depressive Störungen werden im DSM-IV (APA, 1994, 2000) unter der diagnostischen Hauptgruppe »affektive Störungen« (»mood disorders«) geführt und beinhalten die Major Depression, die dysthyme Störung und die nicht nä-her bezeichnete depressive Störung. Neben den depressiven Störungen (auch mono- oder unipolare Depressionen ge-nannt) umfassen affektive Störungen auch die bipolarenStörungen (früher manisch-depressives Kranksein ge-nannt, heute Bipolar-I-Störung, Bipolar-II-Störung, zyklo-thyme Störung), die zusätzlich durch das Auftreten ma-nischer, hypomaner oder gemischter [= gleichzeitiges Vor-liegen depressiver wie auch (hypo-)manischer Symptome] Episoden charakterisiert sind (7Kap.39). Ferner gehören zu den affektiven Störungen affektive Syndrome, deren Be-ginn und Verlauf entweder auf einen medizinischen Krank-heitsfaktor oder den Einfluss einer psychotrop wirksamen Substanz (Medikamente, Drogen) eindeutig zurückgeführt werden kann.

Bei der diagnostischen Verschlüsselung depressiver und bipolarer Störungen sind eine Vielzahl von weiteren diagnostischen Zusatzkodierungen zu berücksichtigen, die sich auf den aktuellen Schweregrad (Anzahl und Ausprä-gungsgrad der Symptome: leicht, mittel und schwer), das Auftreten weiterer psychopathologischer Symptome (z. B. Vorliegen psychotischer Symptome) sowie den Krankheits-verlauf (z. B. einzelne oder wiederkehrende [rezidivierende] Episoden; chronische Symptomatik) beziehen.

Traditionelle Begriffe wie »neurotische Depression«, »reaktive Depression« oder »endogene Depression« finden

in den moderneren deskriptiv-orientierten Klassifikations-systemen seit der Einführung des DSM-III (APA, 1980) bzw. der ICD-10 (WHO, 1993) aus verschiedenen inhalt-lichen und methodischen Gründen keine Verwendung mehr (7Kap.2), werden aber durchaus noch von vielen Praktikern angewandt.

40.2.2 DiagnostischesVorgehen

Die Diagnose affektiver Störungen beginnt immer mit der Beurteilung des Vorliegens affektiver Episoden. Hierzu gehören die Episode einer Major Depression, die hypomane Episode, die manische Episode und die gemischte Episode. Affektive Episoden stellen aber selbst keine kodierbaren Störungen dar. Erst ihre typische Kombination mit weiteren Merkmalen des Verlaufs sowie differenzialdiagnostische Abgrenzungen unter Beachtung des bisherigen Lebensver-laufs erlauben die Diagnosestellung (.Abb.40.1).

Eine depressive Störung wird nur dann diagnostiziert, wenn im bisherigen Lebensverlauf entweder depressive Episoden (Episode einer Major Depression) oder jahrelang

Wichtig

Zubeachtenist,dassbipolareStörungenausklinisch-therapeutischenGesichtspunktendendepressivenStörungsdiagnosenübergeordnetsind;d.h.,wannim-mermanischeEpisodenirgendwannimStörungsver-laufaufgetretensind,istdieDiagnose»bipolareStö-rung«–ungeachtetderFormderaktuellenSympto-matik–zustellen.Daranwirddeutlich,dassfürdieDifferenzialdiagnoseaffektiverStörungeneinelebens-zeitbezogeneErfassungderBeschwerdendesPatien-tenimmerunerlässlichist.

.Abb.40.1. Überblick–AffektiveStörungenimDSM-IV

40.2·KlassifikationundDiagnostik

Page 4: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

Kapitel40·DepressiveStörungen:MajorDepressionundDysthymie882

40

Wichtig

persistierende dysthyme, depressionsähnliche Symptome (dysthmye Störung) aufgetreten sind, ohne dass die Krite-rien für eine hypomane, manische oder gemischte Episode erfüllt wurden bzw. andere Störungen für das Beschwer-denbild verantwortlich gemacht werden können (z. B. de-pressive Beschwerden bei einer Schizophrenie oder körper-liche Erkrankungen, die ein depressives Störungsbild ver-ursachen und aufrechterhalten können). Die Kriterien der Episode einer Major Depression und der kodierbaren Dia-gnosen Major Depression und dysthyme Störung sind dem 7KastenaufS.883 zu entnehmen.

WirdesinderRevisionvonDSM,demDSM-V,bedeut-sameÄnderungengeben?DieAntwortlautetNeinfürdieMajorDepression.Allerdingswerdenmöglicherwei-sedimensionaleZusatzkodierungen(sog.»specifiers«)aufgenommen,beiderdieDiagnostikeru.a.dasVorlie-gentherapeutischundprognostischbedeutsamerPhä-nomenekodierenkönnen.Hierzugehörenmöglicher-weiseSuizidalitätundAngstsymptome.TiefgreifendereÄnderungenwerdendagegenfürdiedysthymeStörungerwogen:Diskutiertwird,obdepressiveStörungenmiteinerDauervonlängerals2Jahren,d.h.dieDysthymieunddieMajorDepressionmitderZusatzkodierung»chronisch«(vollständigeKriterienfürmindestens2Jah-redurchgehenderfüllt),gemeinsamineinerneuendia-gnostischenKategorie»chronischedepressiveStörung«zusammengefasstwerden.Studienzeigten,dasssichbeideStörungeninBezugaufSymptommuster,demo-graphischeVariablen,familiärePsychopathologieoderAnsprechenaufBehandlungnichtwesentlichvoneinan-derunterscheiden(z.B.McCulloughetal.2008),aberinderartigenVariableninnegativerHinsichtvondepres-sivenStörungenkürzererDauerzudifferenzierensind. InteressiertanDetailsdesaktuellenDiskussions-stands?DanngehenSieeinfachaufdieWebsitehttp://www.dsm5.org.DortfindenSiealleaktuellenIn-formationenübermöglicheÄnderungenundihreBe-gründung.

MajorDepressionDie Diagnose Major Depression ist gekennzeichnet durch eine oder mehrere Episoden einer Major Depression, d. h. einer depressiven Verstimmung oder dem Verlust des Inte-resses bzw. der Freude an fast allen Aktivitäten über einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen. Zudem müssen min-destens vier der folgenden Symptome vorliegen: Gewichts-veränderungen, Schlafstörungen, Unruhe oder Verlang-samung, Müdigkeit oder Energieverlust, Gefühle der Wertlosigkeit oder Schuldgefühle, Konzentrations-/Ent-

scheidungsschwierigkeiten sowie Suizidgedanken, -pläne oder -versuche. In Abhängigkeit von der Anzahl im bishe-rigen Lebensverlauf aufgetretener Episoden einer Major Depression wird unterschieden zwischen einer einzelnen und einer rezidivierenden Major Depression (7Kasten). Ferner wird die Major Depression noch weiter diagnostisch differenziert nach

Schweregrad (leicht, mittel, schwer), Vorliegen weiterer kritischer Symptome (wie z. B. psy-chotischen oder melancholischen Merkmalen) sowie bestimmten vermeintlichen Ursachen (z. B. Post-par-tum-Beginn).

DysthymeStörungKernmerkmal der dysthymen Störung ist eine über mindes-tens 2 Jahre an der Mehrzahl der Tage auftretende depres-sive Verstimmung, ohne dass die vollen Kriterien einer Episode einer Major Depression erfüllt sind. Die für die Diagnose erforderlichen dysthymen Symptome sind oft we-niger persistierend und können stärker fluktuieren; sie um-fassen zusätzlich zumindest zwei der folgenden Symptome: Appetitveränderungen, Schlafstörungen, Energiemangel, geringes Selbstwertgefühl, Konzentrationsschwierigkeiten sowie Gefühle der Hoffnungslosigkeit. Die depressive Symp-tomatik bei der dysthymen Störung erscheint im Quer-schnitt weniger akut schwer ausgeprägt als bei der Major Depression, besteht aber langjährig. Tritt nach einer min-destens 2-jährigen dysthymen Symptomatik eine Episode einer Major Depression auf, so spricht man von »Double Depression«.

NichtnäherbezeichnetedepressiveStörungIn dieser Diagnosekategorie werden alle Störungen kodiert, die depressive Merkmale aufweisen, welche aber nicht die Kriterien einer Major Depression, dysthymen Störung, An-passungsstörung (mit depressiver Verstimmung oder mit gemischter Angst und depressiven Symptomen) erfüllen. Hier sind u. a. zu nennen:

prämenstruelle dysphorische Störung, leichte depressive Störungen (2 Wochen Dauer, aber weniger als fünf der definierten Kriterien) oder eine rezidivierende kurze depressive Störung.

Im DSM-IV sind Zusatzkodierungen vorgesehen, um die diagnostische Genauigkeit zu erhöhen und damit auch die Prognose und die Wahl der Behandlungsmethode zu er-leichtern. So kann die aktuelle bzw. letzte depressive Episo-de bezüglich ihres klinischen Zustandes (leicht, mittel-schwer, schwer mit oder ohne psychotische Merkmale, teilremittiert, vollremittiert) und anderer Merkmale (chro-nisch, mit katatonen, melancholischen oder atypischen Merkmalen, mit postpartalem Beginn) charakterisiert wer-

44

4

44

4

Page 5: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

40.2·KlassifikationundDiagnostik40883

DiagnostischeKriteriendepressiverStörungennachDSM-IV

Schlüsselsyndrom:EpisodeeinerMajorDepressionA. MindestensfünfderfolgendenSymptomesindüber

2Wochenaufgetretenundmindestenseinesist(1)depressiveVerstimmungoder(2)VerlustanInteresseoderFreude:1. depressiveVerstimmunganfastallenTagen,fürdie

meisteZeitdesTages,2. deutlichvermindertesInteresseoderFreudean

(fast)allenAktivitäten,anfastallenTagen,3. deutlicherGewichts-/AppetitverlustoderGewichts-

zunahme/Appetitsteigerung,4. Schlaflosigkeit/vermehrterSchlafanfastallen

Tagen,5. psychomotorischeUnruhe/Verlangsamungan

fastallenTagen,6. Müdigkeit/EnergieverlustanfastallenTagen,7. GefühlevonWertlosigkeit/SchuldanfastallenTagen,8. Konzentrations-undEntscheidungsproblemean

fastallenTagen,9. wiederkehrendeGedankenandenTod,wiederkeh-

rendeSuizidvorstellungenohnegenauenPlan,tat-sächlicherSuizidversuchodergenauePlanungdesSuizids.

B. DieSymptomeerfüllennichtdieKriterienderge-mischtenEpisode.

C. DieSymptomeverursacheninklinischbedeutsamerWeiseLeidenoderEinschränkungen.

D. DieSymptomegehennichtaufdiedirektekörperlicheWirkungvonSubstanzen(z.B.Kokainentzug)odermedizinischeFaktoren(z.B.Hypothyreose)zurück.

E. SymptomesindnichtbesserdurcheinfacheTrauerer-klärbar(d.h.,nachdemVerlusteinergeliebtenPersondauerndieSymptomelängerals2MonateanodersiesinddurchdeutlicheFunktionsbeeinträchtigungen,krankhafteWertlosigkeitsvorstellungen,Suizidgedan-ken,psychotischeSymptomeoderpsychomotorischeVerlangsamungcharakterisiert).

KodierbareDiagnose:MajorDepression,einzelneEpisode(ICD-10:F32.x)A. VorhandenseineinereinzelnenEpisodeeinerMajor

Depression.B. DieEpisodekannnichtbesserdurcheineschizoaffekti-

veStörungerklärtwerdenundüberlagertnichteineSchizophrenie,schizophreniformeStörung,wahnhafteStörungoderpsychotischeStörung.

C. EstratniemalseinemanischeEpisode,einegemischteEpisodeodereinehypomaneEpisodeauf.

KodierbareDiagnose:MajorDepression,rezidivierend(ICD-10:F33.x)A. VorhandenseinvonzweiodermehrerenEpisodeneiner

MajorDepression.(Episodenwerdenalsgetrenntge-wertet,wennineinemmindestens2-monatigenInter-valldieKriterienfüreineEpisodeeinerMajorDepres-sionnichterfülltsind.)

B. DieEpisodekannnichtbesserdurcheineschizoaffek-tiveStörungerklärtwerdenundüberlagertnichteineSchizophrenie,schizophreniformeStörung,wahnhafteStörungodernichtnäherbezeichnetepsychotischeStörung.

C. InderAnamnesegabesniemalseinemanischeEpi-sode,einegemischteEpisodeodereinehypomaneEpisode.Beachte:DieserAusschlussgiltnicht,wennalleeinermanischen,gemischtenoderhypomanenEpisodeähn-lichenSymptombildersubstanz-oderbehandlungs-induziertoderdiedirekteFolgeeinesmedizinischenKrankheitsfaktorswaren.

KodierbareDiagnose:DysthymeStörung(ICD-10:F34.x)A. DepressiveVerstimmung,diediemeisteZeitdesTages

anmehralsderHälfteallerTageübereinen2-jährigenZeitraumandauert.

B. DabeitretenmindestenszweiderfolgendenSymp-tomeauf:1. AppetitlosigkeitoderübermäßigesBedürfniszu

essen,2. SchlaflosigkeitoderübermäßigesSchlafbedürfnis,3. EnergiemangeloderErschöpfung,4. geringesSelbstwertgefühl,5. KonzentrationsstörungenoderEntscheidungser-

schwernis,6. GefühlderHoffnungslosigkeit.

C. Inderbetreffenden2-Jahres-PeriodegabeskeinenZeitraumvonmehrals2MonatenohneSymptome.

D. Indenersten2JahrenderStörungbestandkeineEpi-sodeeinerMajorDepression,d.h.dasStörungsbildwirdnichtbesserdurcheinechronischeoderteilremit-tierteMajorDepressionerklärt.Beachte:EineEpisodeeinerMajorDepressionkannvoreinerdysthymenStörungaufgetretensein,voraus-gesetzt,dasseinevollständigeRemissionerfolgtist(d.h.fürmindestens2MonatekeinebedeutsamenSymptome).Nachdenersten2JahreneinerdysthymenStörungkönnensichEpisodeneinerMajorDepression

6

Page 6: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

Kapitel40·DepressiveStörungen:MajorDepressionundDysthymie884

40

Klinischbetrachtet

den. Bei rezidivierenden depressiven Episoden besteht dar-über hinaus die Möglichkeit, den Langzeitverlauf (mit oder ohne Vollremission im Intervall, mit saisonalem Muster) genauer zu beschreiben.

40.2.3 Diagnostik

Die Diagnosestellung einer depressiven Störung erfordert zunächst die zuverlässige und valide Erfassung der entspre-chenden Symptome inklusive ihrer zeitlichen Auftretens-muster und Intensität. Hierfür sind dimensionale Depres-sionsskalen wie das »Beck Depressions-Inventar« (BDI, Beck, Hautzinger, Bailer, Worall & Keller, 1995; BDI-II, Beck, Hautzinger, Keller & Kühner, 2006) oder die »Hamil-ton Depression Scale« (HAM-D; Hamilton, 1960) allein kein geeignetes Mittel, da sie lediglich den aktuellen Schweregrad des depressiven Syndroms abbilden.

Da aber für Diagnosen depressiver Störungen kom-plexe Entscheidungen zu treffen sind, empfiehlt es sich in der Regel strukturierte (z. B. »Strukturiertes Kli-nisches Interview für DSM-IV«, SKID; Wittchen, Zaudig & Fydrich, 1997) oder standardisierte (z. B. DIA-X; Witt-chen & Pfister, 1997) diagnostische Interviews zur Dia-gnostik einzusetzen (7Kap.16). Diese erlauben es auch, umfassend die zahleichen differenzialdiagnostischen Er-

wägungen sowohl auf der Symptom- als auch auf der Diagnoseebene adäquat abzubilden. Beispielsweise muss für die Diagnose der Major Depression und der dysthymen Störung ausgeschlossen werden, dass es sich um die patho-physiologischen Folgen von somatischen Erkrankungen oder medizinischen Krankheitsfaktoren (z. B. Hyperthy-reose, Schlaganfall, multiple Sklerose) bzw. von Substan-zen (z. B. Alkohol, Drogen), Medikamenten (z. B. Steroide) oder Toxinen handelt. Ferner müssen bipolare Störungen ausgeschlossen werden: So führt das Vorliegen einer manischen, gemischten oder hypomanen Episode in der Lebensgeschichte zur Diagnose einer bipolaren Störung. Bei zeitgleich zur depressiven Verstimmung bestehenden schizophrenen Symptomen und vorausgehenden bzw. nachfolgenden Wahnphänomenen bzw. Halluzinationen ohne vorherrschende depressive Symptomatik ist diffe-renzialdiagnostisch eine schizoaffektive Störung heranzu-ziehen.

Es wird deutlich, dass die Diagnosestellung einer de-pressiven Störung nur durch die Anwendung einer umfas-senden Fragestruktur nach Symptomen, deren Ausprägung und zeitlichem Auftretensmuster und unter Berücksichti-gung von Ein- und Ausschlusskriterien sowie differenzial-diagnostischen Aspekten möglich ist. Diagnostische Kern-fragen stellen in diesem Kontext lediglich einen ersten Ein-stieg in den diagnostischen Prozess dar.

unddysthymenStörungüberlagern(»DoubleDepres-sion«).

E. ZukeinemZeitpunktisteinemanischeEpisode,einegemischteEpisodeodereinehypomaneEpisodeauf-getreten,dieKriterienfüreinezyklothymeStörungwarenniemalserfüllt.

F. TrittnichtausschließlichimVerlaufeinerchronischenpsychotischenStörungauf.

G. DieSymptomegehennichtaufdiedirektekörperlicheWirkungvonSubstanzenodermedizinischeFaktorenzurück.

H. SymptomeverursacheninklinischbedeutsamerWeiseLeidenundEinschränkungen.

FallbeispielFrauM.–DiagnosendiskussionMitFrauM.wurdenachdemErstgesprächeinvollstan-dardisiertesdiagnostischesInterview(CIDI/DIA-X)durch-geführt.DieAuswertungerbrachtedieDiagnoseMajorDepression,rezidivierend,schwer,ohnepsychotischeMerkmale(ICD-10:F33.2).

FrauM.erfülltegegenwärtigdieKriterieneinerEpiso-deeinerMajorDepression.ManischeoderhypomaneSymptomeberichtetesienicht,sodassdieDiagnoseeinerbipolarenStörungausgeschlossenwerdenkonnte.DaFrauM.inderVorgeschichteuntereinerVielzahlvonde-

pressivenEpisodenlitt,zwischendenendieKriterienfüreineMajorDepressionfürmindestens2Monatenichter-fülltwaren,istdieZusatzkodierung»rezidivierend«zuver-geben.ZurBeurteilungdesSchweregradesderaktuellendepressivenSymptomatiksinddieSymptomanzahl,ihrAusprägungsgradunddasAusmaßderBeeinträchtigungheranzuziehen.BeiFrauM.bestehendeutlichmehrSymp-tome,alsfürdieDiagnosestellungerforderlichwären.Dar-überhinausführendieSymptomezueinerdeutlichenBe-einträchtigungderberuflichenLeistungsfähigkeitundderüblichensozialenAktivitätenundBeziehungen.Daauch

6

6

Page 7: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

40885

Klinischbetrachtet

keineHinweiseaufpsychotischeMerkmalevorliegen,istdieZusatzkodierung»schwer,ohnepsychotischeMerk-male«zuvergeben.

DarüberhinauskanndieDiagnosebeiFrauM.durchweitereZusatzkodierungennäherbeschriebenwerden:

SoerfülltFrauM.fürdieaktuelledepressiveEpisodesämtlicheKriterienfürdieZusatzkodierung»mitmelan-cholischenMerkmalen«.SieverlordieFreudeunddasInteresseansämtlichenAktivitäten(KriteriumA1indendiagnostischenKriterienfürdieZusatzkodierung»mitmelancholischenMerkmalen«).SelbstderBesuchihrerEnkelkinder,dieihrnormalerweisevielFreudebereiten,konntesienichtaufheitern(A2).Zudemwürdesichdieak-tuelleEpisodequalitativvonallenanderenbisherigende-pressivenPhasenunterscheiden;siefühlesich»innerlichwietot«,undsogarnachdemToddesgeliebtenVaters

habesienichtannäherndsolcheEmpfindungengehabt(B1).AmfrühenMorgenistdieDepressivitätbesondersschlimm(B2).FrauM.wachtsehrfrühmorgensauf(B3)undeszeigtsicheinedeutlichepsychomotorischeAgitation(B4).SieleidetunterAppetitlosigkeit,Gewichtsverlust(B5)undständigenSchuldgefühlendarüber,dasssieinsämt-lichenLebensbereicheneine»Versagerin«sei(B6).BeiBe-trachtungdesLangzeitverlaufsderrezidivierendenMajorDepressionbeiFrauM.istauchdieZusatzkodierung»mitVollremissionimIntervall«angebracht.Hierfüristaus-schlaggebend,dasszwischendenbeidenzuletztaufge-tretenendepressivenEpisodeneinevollständigeRemissionderdepressivenSymptomatikerreichtwar.

EineergänzendestörungsspezifischeTestuntersuchungmittelsBDIerbrachteeinenPunktwertvon32,wasdemBe-reicheinerschwerenDepressionzuzuordnenist.

6

DiagnostischeKernfragen:SymptomatikeinerMajorDepression5 »GabesinIhremLebeneinmaleineZeitspannevon

2Wochenoderlänger,inderSiesichfasttäglich,diemeisteZeitübertraurig,niedergeschlagenoderdeprimiertfühlten?«

5 »Gabes(jemals)eineZeitspannevon2WochenoderlängerinderSieIhrInteresseanfastallenDin-genverlorenhaben?Ichmeinedamitz.B.Hobbys,Freizeit,ZusammenseinmitFreunden,alsoDinge,dieIhnengewöhnlichFreudebereiten?«

40.3 Epidemiologie

40.3.1 Prävalenz

Depressionen im Sinne einer Major Depression und/oder Dysthymie gehören weltweit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt (Alonso et al. 2004; Andrade et al. 2003; Wittchen & Jacobi, 2005, 7StudienboxS.886); das Le-benszeitrisiko, an einer Depression irgendwann im Lebens-verlauf zu erkranken, wird nach neueren Studien bei Er-wachsenen auf über 20% geschätzt (z. B. Kessler, Berglund, Demler et al. 2005; Kessler, Birnbaum, Bromet et al. 2010). Darüber hinaus liegen aus epidemiologischen Studien Hin-weise darauf vor, dass das Erkrankungsrisiko in den ver-gangenen Jahrzehnten stetig angestiegen ist. Hierfür wird verantwortlich gemacht, dass insbesondere jüngere Geburts-kohorten ein substanziell höheres Risiko aufweisen früher

und häufiger als ältere Geburtskohorten eine Depression zu entwickeln (Kessler et al. 2003; Wittchen & Jacobi, 2006; Wittchen & Uhmann, 2010). In jedem Jahr sind ungefähr 6–8% der Durchschnittsbevölkerung von einer depressiven Störung betroffen. Dabei überwiegt die Major Depression (Lebenszeitprävalenz: 15%, Punktprävalenz: 3,5%), während die dysthyme Störung seltener ist (Lebenszeitprävalenz: 4,5%). In einigen Fällen tritt vor dem Beginn einer Major Depression bereits eine dysthyme Störung auf (in ca. 10% der Fälle mit Major Depression). Es liegen Hinweise darauf vor, dass bei dieser sog. »Double Depression« die Wahrscheinlich-keit für weitere Episoden einer Major Depression erhöht ist.

Die Major Depression ist zumeist eine episodische Er-krankung (. Abb. 40.3); Das heißt, auch ohne professio-nelle Behandlung klingen bei erstmals Erkrankten die Symptome nach 8–12 Wochen zumeist spontan ab. Bei neuerlichen Episoden steigt jedoch die Episodendauer und das Chronizitätsrisiko deutlich an. Bei ca. einem Drittel al-ler von einer Major Depression Betroffenen tritt nur einmal eine Episode im Lebensverlauf auf; bei einem weiteren Drittel finden sich rezidivierende Episoden und bei einem Drittel kann die Depression auch trotz Therapie in eine chronische Erkrankung einmünden (keine Remission oder nur Teilremission).

Depressive Störungen sind nahezu immer mit ausge-prägten akuten Einschränkungen der sozialen und beruf-lichen Rollenaufgaben verbunden sowie mit zumeist gra-vierenden Belastungen für das unmittelbare familiäre und Beziehungsnetzwerk. Nach Untersuchungen von Witt-chen und Zerssen (1987) persistieren die psychosozialen Einschränkungen häufig über das Abklingen einer akuten depressiven Phase hinaus und können einen Rückfallfaktor

40.3·Epidemiologie

Page 8: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

Kapitel40·DepressiveStörungen:MajorDepressionundDysthymie886

40

StudienboxGutzuwissen

für neue Episoden darstellen. Depressionen sind ferner mit einem deutlich erhöhten Mortalitätsrisiko verbunden; ca. 15% der an einer schweren Major Depression Erkrankten versterben letztlich durch Suizid (Paykel, Brugha & Fryers, 2005).

Im ärztlichen Versorgungssystem sowie bei körperlich Kranken ist sogar von einer noch erheblich höheren Präva-lenz depressiver Störungen auszugehen. In der Studie »De-pression 2000« (Wittchen & Pittrow, 2002) konnte gezeigt werden, dass ca. 11% der deutschen Hausarztpatienten an einem Stichtag die Kriterien einer Major Depression erfüll-ten. Allerdings wurde durch die Ärzte nur bei knapp jedem zweiten Patienten die Depression auch erkannt. Das bedeu-tet, dass ein Großteil der Patienten mit Depression nicht diagnostiziert wird, was zwangsläufig mit einer schlechten

oder ausbleibenden Therapiezuweisung verbunden ist (Wittchen, Beesdo & Bittner, 2003; Wittchen et al. 2002).

40.3.2 EpidemiologischeRisikofaktoren

Depressive Störungen sind also häufige und schwerwie-gende Erkrankungen, die unabhängig von Alter, Geschlecht und Status jeden treffen können. .Abb.40.2 zeigt einige Personen, die unter Depressionen litten oder die sich in der Presse zu depressiven Erkrankungen bekannt haben.

AlterDas Ersterkrankungsrisiko depressiver Störungen ist in der Kindheit bis zur Mitte der Adoleszenz eher gering, steigt dann relativ stetig bis ins hohe Erwachsenenalter an (z. B. Andrade et al. 2003; Jacobi et al. 2004; Beesdo et al. 2010). Die Querschnittsprävalenz ist im Erwachsenenalter bis zum 65. Lebensjahr über alle Altersgruppen hinweg relativ stabil mit 12-Monats-Prävalenzen von 6–8% (Wittchen &

IsteineTrauerreaktioneineDepression?NachdemTodeinergeliebtenPersontretenbeinahe-zuallenMenschenSymptomewieSchlafstörungen,AppetitminderungundGewichtsverlustauf.Wielan-geundinwelcherFormeinePersontrauert,isthäufigvomkulturellenHintergrundabhängig.Auchkommtesdurchausvor,dassdieSymptomewochenlangdurchgängigbestehenundsoauchdieKriterieneinerdepressivenEpisodeerfüllen.TrotzdemsprechenwirauchbeischwerstenTrauerreaktionenimklinischenKontextinderRegelnichtgleichvoneinerMajorDepression,selbstdannnicht,wenndietrauerndePersonaufgrundderSymptomeprofessionelleHilfeaufsucht.

DiediagnostischenRegelnimDSM-IVspezifizie-ren,dassmanmitdieserDiagnoseauchbeiErfüllenallerKriterienca.2MonatenachdemVerlusteinergeliebtenPersonwartensollte,obdiedepressivenSymptomespontanremittieren(einfacheTrauerreak-tion;ICD:Z63.4).ErstdanachsolltevoneinerMajorDepressionimSinneeinerkompliziertenTrauerreak-tionausgegangenundeinedepressionsspezifischeBehandlungerwogenwerden.DiesebesonderendiagnostischenRegelnsollensicherstellen,dassmannichtvoreiligdengesellschaftlichnormierten,nor-malenTrauerprozessunddienormaleTrauerarbeiteinerPerson»pathologisiert«undmöglicherweisedurchnichtzwingendindiziertetherapeutischeMaß-nahmenunterbricht.AusnahmenhiervonsindTrauer-reaktionen,diemitSuizidalität,mitpsychotischenMerkmalenoderausgeprägterpsychomotorischerVerlangsamungsowiegravierendenBeeinträchtigun-gendesFunktionsniveauseinhergehen,dieunmittel-barklinischeAufmerksamkeiterfordern.

MajorDepression–DieGrößedesProblemsinEuropaEineReanalyseüberdieDatenvon27epidemiolo-gischenStudienin16europäischenLändernimAuf-tragdesEuropeanBrainCouncilzeigte,dassdieMajorDepressionmiteinemMedianvon6,9%indererwach-senenAllgemeinbevölkerung(18–65Jahre)imvergan-genenJahrdiehäufigstederuntersuchtenpsychischenStörungenwar(Wittchen&Jacobi,2005).WährenddieSchätzungenfürdie12-Monats-Prävalenzzwischen3,1und10,1%variierten,warderInterquartilsrangemit4,8–8,0%bemerkenswerteng,waseinehoheKonver-genzderBefundeüberdieStudiendokumentiertundzeigt,dasseskeineHinweisefürausgeprägteregionaleundkulturelleUnterschiedederPrävalenzgibt.

AufBasisdieserDatenwurdegeschätzt,dassca.18,4Mio.MenscheninderEUindenvergangenen12MonatenaneinerMajorDepressionlitten.DabeibleibtdieMehrzahlallerDepressionen(ca.zweiDrittel)unbehandeltundunerkannt.UnterdenBetroffenen,dieHilfefürihreBeschwerdenaufsuchen,erfolgtamhäufigsteneinereinmedikamentöse,zumeistdurchdenHausarztdurchgeführteTherapie(38%).EinepsychologischePsychotherapiewirdnurbei14%derBetroffenendurchgeführt;einekombiniertepharma-kologischeundpsychologischeBehandlungerhalten33%.Erstaunlichist,dass15%derPersonenmitDepres-sionunbehandeltblieben,obwohlsieaufgrundpsy-chischerBeschwerenHilfeaufsuchten.

Page 9: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

40887

Jacobi, 2005). Überraschenderweise finden sich bei Äl-teren (≥65 Jahre) deutlich geringere 12-Monats-Präva-lenzen (2,6%; Kessler, Birnbaum, Shahly et al. 2010; Kess-ler, Birnbaum, Bromet et al. 2010). Hierfür sind bislang viele Erklärungen vorgebracht worden, von denen keine für sich genommen ausreichend diese niedrigen Raten er-klärt: ungeeignete diagnostische Erhebungsinstrumente, Geburtskohorteneffekte (relative Zunahme depressiver Störungen bei jüngeren Geburtskohorten), Erinnerungs-verzerrungen, verstärkte Konfundierung mit körperlichen Erkrankungen sowie höhere Resilienz im Alter (vgl. auch Wittchen & Uhmann, 2010; Fiske, Wetherell & Gatz, 2009).

GeschlechtFrauen sind im Vergleich zu Männern etwa doppelt so häu-fig von depressiven Störungen betroffen wie Männer. So zeigte sich beispielsweise im Bundesgesundheitssurvey für depressive Störungen eine Lebenszeitprävalenz von 25% bei Frauen im Vergleich zu 12,3% bei Männern (Jacobi et al. 2004). Interessanterweise differenziert sich das erhöhte Er-

krankungsrisiko für das weibliche Geschlecht erst ab der Pubertät heraus (Bebbington, 1998, Wittchen & Uhmann, 2010). Als mögliche Erklärungen für die Geschlechtsunter-schiede ab der Adoleszenz wurden u. a. hormonelle Unter-schiede, Persönlichkeitsfaktoren, soziale bzw. Umweltfak-toren und die Erfahrung von Lebensereignissen sowie die Interaktion dieser Faktoren diskutiert (z. B. Cyranowski, Frank, Young & Shear, 2000).

FamilienstandEpidemiologische Studien fanden recht einheitlich, dass depressive Störungen besonders häufig bei geschiedenen, getrennt lebenden oder verwitweten Personen auftreten (z. B. Kessler et al. 2003); Interaktionen mit dem Geschlecht sind zu beachten. So liegen z. B. Hinweise darauf vor, dass verheiratete im Vergleich zu alleinstehenden Frauen höhere Depressionsraten aufweisen (Paykel et al. 2005), insbeson-dere wenn sie jung sind und Kinder haben (Bebbington, 1998). Ferner ist die Assoziation zwischen Trennung bzw. Scheidung und Depression bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen (Weissman et al. 1996).

AbrahamLincolnPräsidentderUSA

ElisabethEugenieAmalievonWittelsbach,genanntSisiÖsterreichischeKaiserin

ErnestHemingwaySchriftsteller©Friedrich/INTERFOTO

HerrmannHesseSchriftsteller©Karger-Decker/INTERFOTO

PabloPicassoMaler©IMAGNO/INTERFOTO

MarilynMonroeSchauspielerin©Friedrich/INTERFOTO

RayCharlesMusiker©Geraldo/INTERFOTO

KurtCobainMusiker,Bandmitglied»Nirvana«©imago

EricClaptonMusiker©UPIPhoto/imago

RobertEnkeFußballer©SvenSimon/imago

.Abb.40.2. BerühmtePersönlichkeitenmiteinerDepression

40.3·Epidemiologie

Page 10: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

Kapitel40·DepressiveStörungen:MajorDepressionundDysthymie888

40

SozioökonomischerStatusEin geringer sozioökonomischer Status konnte relativ kon-sistent mit erhöhten Raten an depressiven Störungen in Verbindung gebracht werden (z. B. Andrade et al. 2003; Kessler et al. 2003). Allerdings ist noch nicht ausreichend geklärt, ob ein geringerer sozioökonomischer Status ein Ri-sikofaktor für depressive Störungen ist oder eine Konse-quenz oder ob beide Bedingungen durch andere Faktoren verursacht werden. Es gibt jedoch erste Hinweise darauf, dass bereits ein geringerer sozioökonomischer Status der Familie in der Kindheit mit einem erhöhten Depressions-risiko im Erwachsenenalter einhergeht (Gilman, Kawachi, Fitzmaurice & Buka, 2003).

GeographischeRegion:StadtversusLandBezüglich der Verteilung depressiver Störungen über geographische Regionen liegen gemischte Ergebnisse vor. So zeigt sich nur in einigen Studien, dass die Prävalenz depressiver Störungen in städtischen Regionen höher als in ländlichen Gebieten ist (z. B. Alonso et al. 2004; Patten, Stuart, Russell, Maxwell & Arboleda-Flórez, 2003). Als mögliche Erklärung für diese Unterschiede wurden Fak-toren wie Gewalt, Verfügbarkeit von Drogen, Arbeitslosig-keit, mangelnde soziale Unterstützung und stressreiche Lebensereignisse diskutiert.

PsychosozialeStressorenundLebensereignisse(LifeEvents)Episoden einer Major Depression werden häufig mit psy-chosozialen Belastungsfaktoren und Stressoren wie dem Tod einer geliebten Person, Scheidung und Trennung und anderen sog. »Verlustereignissen« in Verbindung gebracht; insbesondere dann, wenn sie in Verbindung mit weiteren chronischen Belastungsfaktoren (finanzielle Probleme, Ar-beitslosigkeit, Isolation) zusammen auftreten (Bifulco, Brown, Moran, Ball & Campbell, 1998; Kendler, Hettema, Butera, Gardner & Prescott, 2003; Paykel et al. 2005). Der-artige psychosoziale Belastungsfaktoren spielen möglicher-weise bei der Auslösung einer ersten depressiven Episode eine größere Rolle als bei späteren Episoden. Darüber hin-aus verweisen einige Studien auch darauf, dass bereits durch sehr früh im Leben auftretende adverse Lebensereignisse und -bedingungen wie Trennungen von den Eltern, Trau-mata, Missbrauchserfahrungen oder Vernachlässigung im Kindesalter, eine Vulnerabilität für die spätere Entwicklung von Depressionen im Erwachsenenalter herausgebildet wird (z. B. Bifulco et al. 1998; MacMillan et al. 2001).

KomorbiditätViele epidemiologische Studien zeigten, dass depressive Störungen mit einer ausgeprägten Komorbidität mit ande-ren psychischen Störungen wie körperlichen Erkrankungen

einhergehen (Paykel et al. 2005; Kessler, Birnbaum, Shahly et al. 2010). Obwohl epidemiologische Studien zeigen, dass diese Störungen zumeist dem Beginn einer Depression vor-ausgehen, können Depressionen auch als Begleiterschei-nung auftreten. Insgesamt konnte recht konsistent gezeigt werden, dass das Vorliegen von komorbiden Störungen oder Erkrankungen mit größeren Beeinträchtigungen und Einschränkungen sowie einer ungünstigeren Prognose (Schweregrad, Persistenz, Rückfälle) einhergeht, sowohl in Bezug auf die depressive Störung als auch in Bezug auf die komorbid auftretenden Störungen bzw. Erkrankungen.

Die höchsten Komorbiditätsraten finden sich für Angststörungen. Diese treten nahezu immer zeitlich pri-mär auf und gelten als machtvoller Risikofaktor für das Auftreten einer Depression, einen schlechteren Depressi-onsverlauf sowie als Faktor für erhöhte Suizidalität. Ähn-liche zeitliche Muster lassen sich für Substanzstörungen und somatoforme Störungen sowie – bei Kindern und Heranwachsenden – für Verhaltens- und emotionale Stö-rungen der Kindheit, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen (ADHD) und Essstörungen beobachten. Neben der Ko-morbidität mit psychischen Störungen hat auch das Auf-treten komorbider körperlicher Erkrankungen bei de-pressiven Störungen im höheren Alter zunehmendes For-schungsinteresse geweckt. So finden sich bei Personen mit Major Depression höhere Raten an körperlichen Beschwer-den und Krankheiten. Ätiologische Verknüpfungen von Depression mit körperlichen Erkrankungen sind für Diabe-tes, koronare Herzerkrankungen, Schlaganfall (z. B. Pieper, Schulz, Klotsche et al. 2008) und neurodegenerative Er-krankungen (Parkinson, Demenz; z. B. Riedel, Klotsche, Spottke et al. 2010) gesichert. Dabei wird allerdings nicht von unidirektionalen, sondern reziproken Wechselwir-kungen ausgegangen. Außerdem konnte für verschiedene körperliche Erkrankungen ein ungünstiger Verlauf bei Vor-liegen einer komorbiden Depression nachgewiesen werden (z. B. Lett et al. 2004).

40.3.3 AssoziierteMerkmale

BeeinträchtigungenundEinschränkungendersozialenundberuflichenRollenEine Vielzahl von Studien konnte zeigen, dass Depressi-onen besonders belastende, oft langfristig beeinträchti-gende und folgenreiche Erkrankungen sind (Kessler et al. 2003). Neben der individuellen Belastung, die Betroffene durch die Symptomatik einer depressiven Störung erleiden, sind Depressionen auch für Familie und Angehörige mit erheblichem Leid verbunden; Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen oder der Partnerschaft sowie im schulischen bzw. beruflichen Kontext treten nahezu regelhaft auf. So

Page 11: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

40889

kann es zu Eheproblemen (z. B. Scheidung), beruflichen Problemen (z. B. Arbeitsplatzverlust) oder Problemen in der Ausbildung (z. B. Schuleschwänzen, Notenverschlech-terungen) kommen, die den Verlauf der Erkrankung zu-sätzlich aggravieren können. Dabei ist zu beachten, dass derartige Probleme oft auch über die Remission der depres-siven Episode hinaus persistieren.

SuizidalitätDie schwerwiegendste Folge einer Episode einer Major Depression besteht in einem versuchten (20–60%) oder voll-endetem Suizid (15%) bei schwerer Depression (Paykel, Brugha & Fyers, 2005). Vereinzelte oder wiederkehrende Gedanken an den Tod bzw. wiederkehrende Suizidvor-stellungen werden sehr häufig von Betroffenen mit Major Depression berichtet (40–80%). Eine Vorhersage, ob und wann eine von Major Depression betroffene Person einen Suizidversuch begehen wird, ist kaum möglich. Als Hinweise auf eine ernsthafte Suizidgefährdung gilt die genaue Planung des Suizids durch die Betroffenen, die u. a. die Festlegung von Ort, Zeit und Art des Suizides sowie die Beschaffung der notwendigen Materialien (z. B. Seil oder Waffe) beinhaltet. Ein erhöhtes Suizidrisiko ist bei Betroffenen mit psychotischen Merkmalen oder gleichzeitigem Substanz-gebrauch sowie bei vergangenen Suizidversuchen oder Suiziden in der Familie gegeben; ebenso zeigen sich höhere Suizidraten bei älteren Menschen und bei männlichem Geschlecht, wobei Suizidversuche bei Frauen überwiegen. Das Suizidmotiv besteht bei von Major Depression Betroffenen häufig darin, den schmerzhaften, als endlos andauernd wahrgenommenen Gefühlszustand zu beenden oder aufgrund unüberwindbar erscheinender Hindernisse aufzugeben.

40.4 Störungsverlauf

MajorDepressionErstauftretenDepressive Episoden können sehr variabel beginnen. Ein akuter Beginn (quasi »über Nacht«) ist ebenso möglich (wenn auch selten!) wie ein schleichender Beginn über Wo-chen oder Monate. In der Regel ist bei einer unbehandelten ersten Episode mit einer Episodendauer von ca. 3–4 Mo-naten zu rechnen bis es zu einer Remission kommt (d. h., es bleiben keine Symptome einer Major Depression zurück und die vor Eintreten der Episode bestehende Leistungs-fähigkeit wird wieder erreicht).

Eine erste Episode einer Major Depression kann in je-dem Lebensalter auftreten. Das mittlere Erstauftretensalter liegt in Bevölkerungsstudien mit Erwachsenen bei 25–35 Jahren. Epidemiologische Studien verweisen darauf,

dass sich in den letzten Jahrzehnten das mittlere Alter bei Auftreten der ersten Episode nach vorn verlagert hat. Häu-fig gehen psychosoziale Belastungsfaktoren (z. B. schu-lische, berufliche oder interaktionale Probleme, Tod einer geliebten Person) einer Episode einer Major Depression voraus. Allerdings sind Ereignisse an sich nur selten eine hinreichende und ausreichende Bedingung. Sie entfalten ihre pathogene Wirkung zumeist im Zusammenhang mit anderen Faktoren, wie z. B. einer vorbestehenden Angststö-rung oder medizinischen Krankheitsfaktoren, insbesonde-re wenn sie mit Schmerz, Leiden und drohender Behinde-rung oder Tod einhergehen.

WeitererVerlauf

Die Major Depression ist zumeist eine episodische, d. h. phasenhaft verlaufende Störung. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen tritt nur eine einzige Episode auf, bei einem Drittel findet sich ein rezidivierender Verlauf mit vollstän-digen Remissionen im Intervall, und ein weiteres Drittel weist einen chronischen, langjährigen Verlauf ohne Remis-sion (Zusatzkodierung »chronisch«) oder mit nur teilwei-sen Remissionen auf (Paykel et al. 2005). Mit zunehmender Anzahl bereits aufgetretener Episoden einer Major Depres-sion steigt die Wahrscheinlichkeit für weitere Episoden von ca. 60% bei einer abgelaufenen Episode, auf ca. 70% bei zwei und ca. 90% bei drei abgelaufenen Episoden.

Rezidivierende Störungsverläufe können sehr unter-schiedlich sein. So treten bei einigen Betroffenen die Episo-den gehäuft in relativ kurzer Zeit auf, während bei anderen nur vereinzelt Episoden und zwischenzeitlich jahrelange symptomfreie Intervalle zu finden sind. Häufig ist zu beob-achten, dass mit höherem Alter und mit zunehmender Epi-sodenanzahl die Episodenschwere größer wird sowie die Episodendichte bei kürzer werdenden symptomfreien In-tervallen zunimmt. Wittchen und Uhmann (2010) konnten bei jungen Betroffenen häufigere Episoden von kürzerer Dauer (<10 Wochen) nachweisen, bei älteren Personen eher lange (≥21 Wochen) Episoden.

Als Bedingungsfaktoren für einen ungünstigen Verlauf einer Major Depression in Bezug auf Episodendauer und Rezidivneigung sind ein frühes Erstauftretensalter, ein grö-ßerer Schweregrad depressiver Episoden, nur teilweise Re-missionen zwischen den Episoden, eine vorausgehende dysthyme Störung (Double Depression), eine familiär be-dingte Prädisposition zu depressiven Störungen sowie ko-morbide Angststörungen, Substanzstörungen und medizi-nische Krankheitsfaktoren zu nennen.

Ob sich nach einer Episode einer Major Depression eine manische, hypomane oder gemischte Episode zeigt (ca. 5–10% der Betroffenen), was mit einem Diagnosenwechsel zu einer bipolaren Störung verbunden ist, ist schwer vorherzu-sagen. Ein erhöhtes Risiko hierfür scheint bei jüngeren

40.4·Störungsverlauf

Page 12: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

Kapitel40·DepressiveStörungen:MajorDepressionundDysthymie890

40

Wichtig

Menschen (<17 Jahre) mit einer akut einsetzenden schwe-ren Episode einer Major Depression gegeben zu sein (vgl. Beesdo et al. 2009), insbesondere wenn dabei psychotische Symptome oder psychomotorische Verlangsamung auftre-ten und keine präpubertären psychopathologischen Auffäl-ligkeiten bekannt sind.

DysthymeStörungErstauftretenDie dysthyme Störung zeigt häufig einen frühen Beginn in der Kindheit, der Adoleszenz oder im jungen Erwachse-nenalter. Tritt die dysthyme Symptomatik vor dem 21. Le-bensjahr auf, so ist im DSM-IV die Zusatzkodierung »frü-herBeginn« vorgesehen; tritt sie danach ein, so ist »späterBeginn« zu vermerken.

WeitererVerlauf

Die dysthyme Störung verläuft zumeist chronisch und lang-jährig. Spontanremissionen bei einer unbehandelten dys-thymen Störung treten nur in ca. 10% der Fälle pro Jahr auf. Die Betroffenen haben ein erhöhtes Risiko, im weiteren Stö-rungsverlauf eine Major Depression zu entwickeln (in Pa-tientenstichproben bis zu 75% innerhalb von 5 Jahren). Die Wahrscheinlichkeit für spontane Vollremissionen zwischen späteren Episoden einer Major Depression ist dann gerin-ger und die Wahrscheinlichkeit für eine höhere Frequenz nachfolgender Episoden erhöht. Personen mit einem frü-hen Beginn der dysthymen Symptomatik (d. h. vor dem

21. Lebensjahr) weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit für das Eintreten dieser sog. Double Depression auf.

Eine stark vereinfachte graphische Veranschaulichung über die typischen Verlaufsformen affektiver Störungen über den Lebensverlauf gibt .Abb.40.3.

40.5 Entstehungsbedingungen

Angesichts der Heterogenität der Erscheinungsformen, des Ersterkrankungsalters und des Verlaufs depressiver Stö-rungen kann es eigentlich kaum überraschen, dass es bis-lang keine einheitliche Störungstheorie der Depression gibt. Aus einer entwicklungsbezogenen Perspektive lässt sich das Entstehen einer Depression am besten im Rahmen von Vulnerabilitäts-Stress-Modellen beschreiben.

GemäßeinesVulnerabilitäts-Stress-Modellswirdan-genommen,dassprädisponierendekonstitutionelleFaktorengenetischerbzw.familiengenetischerArtundfrüheadversesozialeundumweltbezogeneEr-eignisseundBedingungenzurAusbildungeinerer-höhtenVulnerabilitätbeitragen,diesichwiederumüberentwicklungsbiologische,psychologischeundsozialeProzesseweiterakzentuierenoderabschwä-chenkann.

.Abb.40.3. TypischeVerläufeaffektiverStörungenüberdenLebensverlauf

Page 13: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

40891

Der Ausbruch einer depressiven Episode wird vor dem Hintergrund dieser Vulnerabilitätskonstellationen zumeist über auslösende kritische (zumeist stressreiche) Lebenser-eignisse bzw. deren Kombination mit weiteren passenden proximalen Belastungskonstellationen erklärt. Diese ätiolo-gischen Faktoren wirken über biochemische und psycholo-gische Prozesse bei der Ausbildung des depressiven Syn-droms zusammen; für den weitere Verlauf und die Schwere der Depression werden z. T. ähnliche, z. T. andere aufrecht-erhaltende und ausgestaltende Faktoren verantwortlich ge-macht.

Das in .Abb.40.4 dargestellte, für Forschung und Pra-xis wertvolle heuristische Ätiologiemodell der Depression ist durch eine Vielzahl von Untersuchungen in Teilkompo-nenten gut belegt, auch wenn sich die Vielgestaltigkeit der Faktoren und ihre Interaktion auch auf Dauer einer voll-ständigen Aufklärung entziehen wird. Ebenso ist nicht aus-reichend geklärt, inwieweit es sich um depressionsspezi-fische Vulnerabilitäten und Risikofaktoren handelt. Im Folgenden werden einige der relevanten distalen (früh im Lebensverlauf auftretenden) und proximalen (initial auslö-senden) Faktoren diskutiert. Dabei werden neurobiolo-gische und Transmittertheorien mit Hinweis auf 7Kap.7,8,9und 10 nicht einbezogen.

40.5.1 DistaleFaktoren

FamiliäreBelastungundGenetikEs ist aus epidemiologischen und klinischen Studien gut belegt, dass Kinder depressiver Eltern ein erhöhtes Depres-sionserkrankungsrisiko aufweisen. Der Übertragungsweg ist noch unzureichend geklärt (7unten), aber zweifellos spielen genetisch verankerte Risikokomponenten neben familiären und Umweltkomponenten eine Rolle, deren ab-solute Beiträge bislang noch nicht bestimmt werden kön-nen. Zwillingsstudien (z. B. Kendler et al. 1995) belegen eine moderate Heritabilität, die nur bei bipolar verlau-fenden Depressionen ausgeprägt erscheinen (McGuffin et al. 2003). Der genetische Übertragungsmodus ist unsicher, aber es ist wahrscheinlich, dass genetische Effekte über ver-schiedene, zumeist indirekte Mechanismen, zum Tragen kommen (Silberg et al. 1999). Dabei scheinen genetische Faktoren ihre pathogene Bedeutung sowohl a) über passive Gen-Umwelt-Interaktionen durch die

Vermittlung erhöhter Vulnerabilität bei Konfrontation mit nicht kontrollierbaren adversen Lebensereignissen zu entfalten, wie auch

b) über die Vermittlung einer erhöhten allgemeinen An-fälligkeit für die Herbeiführung depressionskritischer Lebensereignisse (z. B. Trennung von Partner, Schul- und Ausbildungsabbruch) im Sinne einer aktivenGen-Umwelt-Interaktion.

.Abb.40.4. KonzeptuellesÄtiologiemodellderDepression

40.5·Entstehungsbedingungen

Page 14: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

Kapitel40·DepressiveStörungen:MajorDepressionundDysthymie892

40

Studienbox

FamiliäreBelastungundDepressionLieb,Isensee,Höfler,PfisterundWittchen(2002)konn-tenz.B.aneinerepidemiologischenStichprobevonüber2000Kindernnachweisen,dassbiszum28.Le-bensjahrKinderdepressiverElterneinnahezu3-malsohohesRisikoaufweisen,aucheinedepressiveEpisodezuentwickelnwieKindervonElternohneeineDe-pressioninderVorgeschichte.Fernerkonntensiezei-gen,dassfamiliäreDepressionensichfrühererstmalsmanifestierenundgehäufteineähnlicheSymptom-gestaltundeinenähnlichenVerlaufnehmenwiedieDepressionderEltern.Jedochistbemerkenswert,dassdiesesÜbertragungsrisikonurteilweisedepressions-spezifischist,dennKinderdepressiverElternhattenaucherhöhteRisikenfürbestimmteAngststörungenundSuchterkrankungen;umgekehrterwiessichindie-serStudieauch,dasselterlicheSucht-undAngststörun-gendasDepressionsrisikoihrerKindererhöhenkönnen.

TraumaundfrüheadverseEreignisseRetrospektive und prospektive Studien haben seit vielen Jahren darauf hingewiesen, dass Depressionen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit assoziiert sind, frühe Trau-mata und adverse Entwicklungsbedingungen in der Kind-heit zu erleben. Unter diesen Begriffen wird ein Bündel sehr heterogener Bedingungen zusammengefasst, die von De-privation, über Vernachlässigung, Trennungs- und Verlust-erlebnissen bis hin zu schwerwiegenden Krankheitser-fahrungen (z. B. bestimmte Viruserkrankungen) von der perinatalen bis Kindheitsphase reichen können. Die funda-mentale Bedeutung, die derartige Erfahrungen für ver-schiedene Psychopathologien einschließlich der Depression haben können, ist bereits seit den frühen psychoanaly-tischen Modellen bekannt und seither unter verschiedenen wissenschaftlichen Modellperspektiven diskutiert worden. Hierzu gehören insbesondere verschiedene Formulie-rungen der Bindungstheorien sowie in der jüngeren Zeit neuro- und stressbiologische Konzepte. Während Bowlbys Bindungstheorie (Bowlby, 1969) die phänomenologischen Implikationen gestörter Mutter-Kind-Bindungsstrukturen für eine gestörte psychologische Weiterentwicklung des Kindes in den Vordergrund stellte, ist durch stressbiolo-gische Tier- und Humanuntersuchungen der letzten Jahre deutlich geworden, welche neurobiologischen Prozesse die-ser Störungsdynamik unterliegen. Dabei steht die Hypo-these im Vordergrund, dass frühe traumatische und adverse Ereignisse eine persistierende Entwicklungsstörung der Funktionsweise der Hypothalamus-Hypophysen-Neben-nierenrinden-Achse (HPA) bedingen, die im späteren Le-

ben zu einer veränderten und dysfunktionalen Stress-regulation führen. Derart dauerhaft erhöhte HPA-Achsen-Aktivität ist nicht nur mit erhöhten autonomen und endokrinen Antworten auf Stressreize, sondern auch mit vielfältigen Folgen für die kognitive Weiterentwicklung sowie mit einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit verbun-den (7Kap.8). Es wird vermutet, das die Adaptation an diese Traumen im Sinne eines biologischen »Priming« mit neurobiologischen und insbesondere Transmitter-veränderungen assoziiert ist, die das Individuum dauer-haft anfällig gegenüber Stress sowie möglicherweise auch depressionsspezifischen Auslöserkonstellationen machen können.

TemperamentundPersönlichkeitFamiliengenetische und traumatische Ereignisse können auch depressionsförderlich durch die Effekte werden, die sie auf die Ausformung von Temperament und Persönlich-keit einschließlich des kognitiven Stils haben. Frühe kogni-tive und verhaltensbezogene Dispositionsstile wie Verhal-tenshemmung und Affektlabilität in der Kindheit sind als signifikante Risikofaktoren für eine Depressionsentwick-lung gut etabliert (z. B. Goodyer, Asby, Altham, Vize & Cooper, 1993). Weniger gut ist der Status von Persönlich-keitseigenschaften als eindeutig der Erkrankung vorausge-hender Risikofaktor belegt, da sich mit den üblichen Ska-len nicht hinreichend sichern lässt, inwieweit z. B. eine neurotische Disposition vor dem Erkrankungsbeginn be-stand.

40.5.2 ProximaleFaktoren

LebensereignisseundchronischeBelastungenWährend in den 80er Jahren, das Konzept der »stressful life events« im Sinne von Brown und Harris (1989) als wichtigs-te Erklärung für das Auftreten von Depressionen angeführt wurde, hat sich diese Sichtweise inzwischen unter Betonung der Rolle von Vulnerabilitätsfaktoren deutlich relativiert. Zweifellos gehen dem Ausbruch einer Depression gehäuft stressreiche Lebensereignisse – oft in Kombination mit chronisch belastenden Lebensbedingungen – voraus. Jedoch haben epidemiologische Studien gezeigt, dass selbst schwer-wiegendste Ereignisse (z. B. Trennung, Tod eines Eltern-teils) nur bei einer Minderzahl der Betroffenen auch zum Ausbruch einer psychischen Störung führen; umgekehrt finden sich bei nahezu einem Drittel aller Depressionen überhaupt keine kritischen Lebensereignisse (Goodyer, Cooper, Vize & Asby, 1993). Es ist von einem komplexen Zusammenspiel von Vulnerabilitäts- und Risikofaktoren auszugehen. So zeigten Zimmermann und Kollegen (2008), dass adverse Ereignisse (frühe Trennungen von den Eltern,

Page 15: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

40893

Gutzuwissen

schwere Traumata) nur bei gegebener Vulnerabilität (Eltern mit depressiver Störung) mit einem statistisch erhöhten Ri-siko für Depressionen einhergehen. Die Untersuchungen von Caspi et al. (2003) legen in Übereinstimmung mit die-sen Befunden nahe, dass vor allem vulnerable Personen mit einem bestimmten Serotonintransportergenotyp und traumatischen bzw. adversen Ereignissen in der Kindheit ein erhöhtes Risiko für Depression aufweisen (7 Kap. 4). Der Genotyp war übrigens trotz kritischer Lebensereignisse kein Prädiktor, wenn die Kinder in einer behüteten und ungestörten familiären Umgebung aufwuchsen.

TrauereinRisikofaktor?AlseinnaheliegendesModellderDepressionsentste-hungwirdhäufigdieTrauerreaktionangeführt.Diesistnursehreingeschränktzutreffend.TrauerkannalseinangeborenesprimäresGefühlcharakterisiertwerden,dasnachTrennungundVerlustvonBindungenbeina-hezuallenKulturenundallenhöherenSäugernauftritt.EvolutionsgeschichtlichwirdTraueralspsychobiolo-gischeReaktionzurAufrechterhaltungvonGruppen-bindungeninterpretiert,mitdemAufforderungscha-rakter,sichdemTrauerndenzuzuwendenundneueBindungenzuknüpfen.BirbaumerundSchmidt(2006)weisendaraufhin,dassdiekurzfristigenhormonellenundphysiologischenFolgenderTrauerEnergiekonser-vierendeEffekte,langfristigaberpathophysiologischeEffektehaben,ähnlichdemParadigmaderHilflosigkeit(7unten).ImGegensatzzurTrauerreaktionhandeltessichbeiderunipolarenDepressionumeinwesentlichkomplexeresMischgefühl,dasnebenTrauerauchGe-fühlewieEkel,Wut,Angst,Furcht,SchuldundSchamenthält.DiezeitlicheDynamikderTrauerundderDe-pressionistzumeistauchrechtunterschiedlich.DieDSM-IV-KriterienspezifizierendieseUnterschiedeundgebenRegelnan,wiephänomenologischundinhalt-lichTrauer,komplizierteTrauerundunipolareDepres-siondifferenziertwerdenkönnen(7oben).

SozialeundpsychologischeFaktorenNichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass Verlustereignisse z. B. durch Auflösungen von Bindungen an Menschen mit einem erhöhten Risiko an depressiven Störungen einherge-hen. Entscheidend für die Intensität und Dauer der depres-siven Reaktion ist offensichtlich die Effizienz der sozialen und kognitiv-affektiven Bewältigung von stressreichen Er-eignissen. Wenn keine ausreichenden Bewältigungsstrate-gien (z. B. Verdrängen, Umdeuten, Habituation, Reattribu-ierung) gelingen, können sich später dysfunktionale Erwar-tungshaltungen entwickeln, die bei zukünftigen Erlebnissen

eine erfolgreiche Bewältigung unwahrscheinlicher werden lassen. Aus dieser Perspektive werden folgende übergrei-fende sozialpsychologische Risikokonstellationen als be-sonders kritisch für Depressionen diskutiert: a) äußere Umstände, die den Betroffenen wenig oder kei-

ne Kontrolle bzw. Kontrollwahrnehmung ermöglichen (langfristige Arbeitslosigkeit, schlechte Lebensbedin-gungen, begrenzte Handlungsspielräume) und

b) starre und unflexible Kognitions- und Handlungsmus-ter (z. B. hohes Anspruchsniveau, Abhängigkeit von anderen).

PsychopathologischeFaktorenNeuere prospektiv-longitudinale epidemiologische Studien legen nahe, neben den oben genannten Faktoren auch psy-chopathologische Symptomkonstellationen als zeitlich der Depression vorausgehende Risikofaktoren für depressive Störungen zu berücksichtigen (z. B. Pine, Cohen & Brook, 2001; Woodward & Fergusson, 2001). Diese Überlegungen gehen darauf zurück, dass die überwiegende Mehrzahl depressiver Störungen sich erstmals sekundär nach ande-ren psychischen Störungen entwickelt. Am häufigsten ge-hen Depressionen Angsterkrankungen unterschiedlicher Form und Intensität voraus (Wittchen, Beesdo, Bittner & Goodwin, 2003; Wittchen, Kessler, Pfister & Lieb, 2000). .Abb.40.5 zeigt, dass bei Vorliegen einer Angststörung vor dem 14. Lebensjahr das Risiko für die Entwicklung einer Depression ab dem 14. Lebensjahr deutlich erhöht ist.

Weiterführende Untersuchungen legen nahe, dass die Ausprägung der Risikokonstellation abhängig ist von der Schwere der Angsterkrankung, der Anzahl der Angst-erkrankungen sowie dem Auftreten von Panikattacken (z. B. Bittner et al. 2004; Beesdo et al. 2007). Neben der Hy-pothese, dass langjährige Angsterkrankungen zu einer de-pressionskritischen neurobiologischen und neurokogni-tiven Sensitivierung führen können, wird auch diskutiert, inwieweit sekundäre Depressionen eine Demoralisations-komplikation durch Anhäufung von depressionskritischen Risikofaktoren sein könnten.

40.5.3 PsychologischeDepressions- theorien

Es lassen sich grob drei genuin psychologische Depres-sionstheorien unterscheiden. Sie sind mit Ausnahme der »Theorie der erlernten Hilflosigkeit« eher als Theorien der Aufrechterhaltung und weniger des ätiologischen Bedin-gungsgefüges bei der Erstmanifestation depressiver Stö-rungen zu verstehen. Nichtsdestotrotz sind sie aber insbe-sondere für psychotherapeutische Behandlungsansätze besonders relevant.

40.5·Entstehungsbedingungen

Page 16: 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymiecontent.schweitzer-online.de/static/catalog_manager/live/... · 40 n 40 Depressive Störungen: Major Depression und Dysthymie

Kapitel40·DepressiveStörungen:MajorDepressionundDysthymie894

40

Verstärker-Verlust-TheorienachLewinsohnLewinsohn (1974) postuliert ein lernpsychologisch-ver-stärkungstheoretisches Erklärungsmodell für Depressi-onen, das von der gut belegten Beobachtung ausgeht, dass die depressive Symptomatik mit einer geringen Rate ver-haltenskontingenter positiver Umweltverstärkung, insbeson-dere bzgl. sozialer Interaktionen, assoziiert ist (.Abb.40.6). Dabei wird angenommen, dass die geringe Rate reaktions-kontingenter positiver Verstärkung als unkonditionierter Stimulus für das Auftreten der depressiven Symptomatik wirkt. Die niedrige Gesamtrate potenzieller Verstärker kann unterschiedlich bedingt sein: 1. geringe Anzahl und niedrige Qualität potenziell ver-

stärkender Ereignisse und Aktivitäten (z. B. aufgrund schlechter sozioökonomischer Bedingungen oder alters-spezifischer Prozesse wie z. B. Isolation im höheren Alter),

2. mangelnde Erreichbarkeit bzw. Verfügbarkeit von Ver-stärkern (beeinflusst durch verschiedene situative und temporäre Merkmale, z. B. bei Scheidung, Arbeitsplatz-verlust, Umzug),

3. ein defizitäres instrumentelles Verhaltensrepertoire, das mit einer niedrigen Verstärkungsrate assoziiert ist (z. B. mangelnde soziale Kompetenz).

Depressives Verhalten (z. B. Klagen, Inaktivität) wird also als eine Reaktionsform und Konsequenz einer niedrigen Verstärkerrate angesehen. Kurzfristig wird die depressive Symptomatik durch soziale Verstärkung aus der Umge-bung (z. B. Aufmerksamkeit, Empathie, Hilfestellung durch Angehörige) intensiviert und aufrechterhalten.

Langfristig hat jedoch depressives Verhalten negative Kon-sequenzen. So werden z. B. depressive Menschen durch andere eher gemieden, was mit einem weiteren Verstär-kungsverlust verbunden ist und die Depression verstärken kann. Ein von Depression Betroffener ist also nach dieser Theorie lang anhaltenden Löschungsbedingungen ausge-setzt; er befindet sich in einer abwärts gerichteten Depres-sionsspirale.

Es gilt als bestätigt, dass Menschen mit Depressi-onen Defizite im Sozialverhalten zeigen (z. B. mangeln-der Blickkontakt, leise und monotone Stimmlage, Ver-meidung sozialer Interaktionen), die auch mit negativen Reaktionen auf Seiten der sozialen Umwelt verbunden sind. Während dies die Aufrechterhaltung der Depres-sion durch weiteren Verstärkerverlust gut erklären kann, so mangelt es jedoch an empirischen Befunden aus längsschnittlich angelegten Untersuchungen, die man-gelnde soziale Fertigkeiten auch mit der Entstehung depressiver Störungen in Verbindung bringen. Die »The-orie« von Lewinsohn ist also eher deskriptiv und sie kann nicht als eine kausale und experimentell begründete The-orie eingeordnet werden; nichtsdestotrotz ist sie für die Therapie heuristisch wertvoll (s. unten).

ModellderdysfunktionalenKognitionenundSchematanachBeckAaron T. Beck (1970, 1974) sieht als Basis depressiver Störungen dysfunktionale kognitive Schemata (stabile kognitive Muster und Denkstrukturen, z. B. die Grundan-nahme: »Ich muss perfekt sein«) an, welche die Wahrneh-mung und Interpretation der Realität negativ verzerren

.Abb.40.5. ErhöhenAngststörungendasRisikofürdieEntwicklungeinerDepression?(BefundederEarlyDevelopmentalStagesofPsycho-pathology-Studieanüber2000Personen)