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DAHIN SIND ALL DIE MEINEN. - Karlsruhe

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DAHIN SIND ALL DIE MEINEN. IHR HABT NICHT HERRSCHER MEHR, UND ICH BIN ELTERNLOS. AUCH EUER JAMMER IST SO WIE DER MEINE GROSS.

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IPHIGENIE AUF TAURISIPHIGÉNIE EN TAURIDETragédie in vier Akten von Christoph Willibald GluckLibretto von Nicolas-François GuillardIn französischer Sprache mit deutschen & englischen Übertiteln

Iphigenie KATHARINE TIER**

Thoas SEUNG-GI JUNG** / LUCIA LUCAS**

Orest ANDREW FINDEN** / ARMIN KOLARCZYK**

Pylades STEVEN EBEL** / JESUS GARCIA a. G.**

1. Priesterin MASAMI SATO** / CAMELIA TARLEA**

2. Priesterin CORNELIA GUTSCHE** / NICOLE HANS**

Ein Skythe YANG XU*/**

Der Tempeldiener MEHMET ALTIPARMAK*/**

Eine Griechin CONSTANZE KIRSCH*/**

Gestrandete ASYLBEWERBER AUS DEM LANDKREIS KARLSRUHE * Mitglied des Opernstudios ** Rollendebüt *** ehrenamtliche Mitwirkung

Doppelbesetzungen in alphabetischer Reihenfolge

Musikalische Leitung CHRISTOPH GEDSCHOLDRegie ARILA SIEGERTBühne THILO REUTHERKostüme MARIE-LUISE STRANDTChor STEFAN NEUBERTLicht RICO GERSTNERDramaturgie RAPHAEL RÖSLER, MICHAEL W. SCHLICHTTheaterpädagogik MAGDALENA FALKENHAHN

BADISCHE STAATSKAPELLE, BADISCHER STAATSOPERNCHOR STATISTERIE DES BADISCHEN STAATSTHEATERS

PREMIERE 13.6.15 GROSSES HAUSAufführungsdauer ca. 2 ¼ Stunden, eine Pause Aufführungsrechte Bärenreiter-Verlag Kassel-Basel-London-New York-Praha

DAHIN SIND ALL DIE MEINEN. IHR HABT NICHT HERRSCHER MEHR, UND ICH BIN ELTERNLOS. AUCH EUER JAMMER IST SO WIE DER MEINE GROSS.

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Regieassistenz & Abendspielleitung ANJA KÜHNHOLD Musikalische Assistenz & Einstudierung ALISON LUZ, JULIA SIMONYAN, DANIELE SQUEO Studienleitung STEVEN MOORE Bühnenbildassistenz SANDRA DENNINGMANN Kostümassistenz MARA WEDEKIND Einrichtung Übertitel ACHIM SIEBEN Sprachcoach PASCAL PAUL-HARANG Soufflage ANGELIKA PFAU Inspizienz UTE WINKLER Leitung der Statisterie OLIVER REICHENBACHER Koordination „Gestrandete“ KOMALA DOGRAL, ERIKA PODUBECKY

Technische Direktion HARALD FASSLRINNER, RALF HASLINGER Bühneninspektor RUDOLF BILFINGER Bühne MARGIT WEBER, EKHARD SCHEU Leiter der Beleuchtungsabteilung STEFAN WOINKE Leiter der Tonabteilung STEFAN RAEBEL Ton HUBERT BUBSER, JAN PALLMER Leiter der Requisite WOLFGANG FEGER Werkstättenleiter GUIDO SCHNEITZ Malsaalvorstand GIUSEPPE VIVA Leiter der Theaterplastiker LADISLAUS ZABAN Schreinerei ROUVEN BITSCH Schlosserei MARIO WEIMAR Polster- und Dekoabteilung UTE WIENBERG

Kostümdirektorin CHRISTINE HALLER Gewandmeister/-in Herren PETRA ANNETTE SCHREIBER, ROBERT HARTER Gewandmeisterinnen Damen TATJANA GRAF, KARIN WÖRNER, ANNETTE GROPP Waffenmeister MICHAEL PAOLONE, HARALD HEUSINGER Schuhmacherei THOMAS MAHLER, BARBARA KISTNER, VALENTIN KAUFMANN Modisterei DIANA FERRARA, JEANETTE HARDY Kostümbearbeitung ANDREA MEINKÖHN Chefmaskenbildner RAIMUND OSTERTAG Maske MELISSA DÖBERL, FREIA KAUFMANN, NIKLAS KLEIBER, MARION KLEINBUB, MELANIE LANGENSTEIN, INKEN NAGEL, SOTIRIOS NOUTSOS, SANDRA OESTERLE, DOROTHEE SONNTAG-MOLZ, NATALIE STRICKNER, ANDREA WEYH, KERSTIN WIESELER

WIR DANKENder Kunst- und Theatergemeinde Karlsruhe e. V. & dem Karlsruher Verkehrsverbund GmbH für die besondere Unterstützung der Produktion

und der Privatbrauerei Hoepfner GmbH für die Unterstützung der Premierenfeier.

Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind.

Katharine Tier

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ZUM INHALT

VERSCHLEPPTE

Vorgeschichte

Agamemnon, König von Mykene, führt das griechische Heer in den Trojanischen Krieg. Ungünstige Winde in Aulis hindern die Flotte am Auslaufen. Das Orakel verspricht Abhilfe, wenn Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfert. Doch Göttin Diana* ver-hindert die Opferung und verschleppt die Königstochter nach Tauris. Dort dient Iphi-genie als Priesterin im Tempel der Diana und muss Menschenopfer durchführen.

1. Akt

Sturm auf Tauris. Iphigenie und die anderen Priesterinnen flehen zu den Göttern. Sie wollen nicht mehr das Blut unschuldiger Menschen vergießen. Der Sturm legt sich, doch Iphigenie ist immer noch bedrückt. Sie berichtet ihren Gefährtinnen von einem

Traum, dessen Bilder sie nicht loslassen: Ihr Vater Agamemnon flüchtet blutüber-strömt vor Klytämnestra, seiner Gattin und Iphigenies Mutter. Sie drückt Iphigenie einen Dolch in die Hand, mit dem sie im Traum wider Willen ihren Bruder Orest ersticht.

Iphigenie ist des Lebens und des Schick-sals müde. Sie bittet Diana, sterben zu dürfen und dem Skythenkönig Thoas nicht mehr dienen zu müssen.

Von der Angst vor seinen Rächern getrie-ben, befiehlt Thoas Iphigenie, jeden Frem-den zu töten, der die Insel betritt. Auch die beiden Griechen, Orest und sein Freund Pylades, die gerade aufgegriffen wurden, sollen durch Iphigenies Opfermesser ster-ben. Die Geschwister Iphigenie und Orest erkennen sich nicht. Sie wurden als Kinder getrennt.

* Diana ist in der römischen Mythologie unter anderem die Göttin der Jagd sowie die Beschützerin der Frauen. Ihre Entsprechung in der griechischen Mythologie ist die Göttin Artemis mit weiteren Kompetenzen. Gluck verwendet in seiner Vertonung des Iphigenie-Stoffes durchgängig den römischen Namen.

GETRIEBENE&

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2. Akt

Die beiden Gefangenen warten auf den Tod. Orest ist von Schuldgefühlen geplagt und dem Wahnsinn nahe: Er ermordete seine Mutter und ihren Liebhaber, um deren Mord an seinem Vater Agamemnon zu rächen. Seitdem hetzt er von Rachegöttinnen, den Eumeniden, verfolgt durch die Welt. Ein Orakelspruch schickte ihn nach Tauris, um die geraubte Diana-Statue nach Griechen-land zurückzubringen. Ihn bedrückt, dass er seinen Freund Pylades in diese ausweglose Situation gebracht hat und sie nun beide sterben sollen.

Man bringt Pylades fort. Orest bleibt allein zurück. Ruhig sieht er dem nahen Tod ent-gegen und schläft ein. Doch im Traum ver-folgen ihn die Eumeniden und drohen mit Vergeltung für den Muttermord.

Als Iphigenie zu ihm tritt, meint Orest, in ihr seine Mutter zu sehen. Nicht ahnend, dass Iphigenie seine Schwester ist, berichtet Orest von den blutigen Ereignissen im gemeinsamen Elternhaus: vom Mord an Agamemnon, den Klytämnestra und Aigisthos, ihr Geliebter, begangen haben. Er erzählt auch von der Rache, die an den beiden geübt wurde. Dass er selbst der Rächer und Muttermörder ist, verschweigt er. Stattdessen behauptet er, Orest sei tot. Iphigenie beklagt den Verlust der Eltern und den Tod ihres Bruders.

3. Akt

Iphigenie plant, einem der beiden Gefan-genen zur Flucht zu verhelfen. Der Befreite soll ihrer Schwester Elektra eine Nachricht überbringen. Die beiden Freunde möchten jeweils für den anderen ihr Leben herge-ben. Iphigenie bestimmt Orest zum Boten. Doch Orest möchte für Pylades die Freiheit und droht, sich selbst zu töten. Schließlich willigt Iphigenie ein. Pylades soll den Brief überbringen. Aber dieser sinnt zuallererst darauf, den Freund zu retten.

4. Akt

Iphigenie bereitet sich auf das Opfer des unerkannten Bruders vor. Das von Thoas auferlegte Morden ist ihr eine unerträgli-che Last. Als Orest sich der Schwester zu erkennen gibt, verweigert Iphigenie jedes weitere Opfer. Thoas hat inzwischen von Pylades’ Flucht erfahren. Als Iphigenie sich seinem Befehl widersetzt, ihren Bruder zu töten, richtet Thoas das Messer gegen Iphigenie. Pylades erscheint mit Gefolge und verhindert den Mord. Iphigenie ver-wandelt sich in Göttin Diana und stoppt das Blutvergießen. Es soll endlich Frieden herrschen.

GETRIEBENE&

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Als 2014 der 300. Geburtstag von Christoph Willibald Gluck mit Aufführungen und CD-Aufnahmen, mit umfangreichen Artikeln in den Feuilletons und anderen Publikatio-nen gefeiert wurde, mangelte es nicht an überschwänglichen Huldigungen an den deutschen Komponisten: Der 1714 im ober-pfälzischen Erasbach geborene Gluck war ein „Star“ des 18. Jahrhunderts, den es „in die Welt“ zog. Und wie selbstverständlich war er der „Opernreformer“, der 1762 in Wien mit seiner Azione teatrale Orfeo ed Euridice „die barocke Opera seria zu Grabe getragen“ habe. Man war sich anschei-nend einig, dass Gluck mit diesem Werk einen reformierten Opernstil etablierte, den er in den Folgewerken, vor allem in den beiden für Paris komponierten Opern Iphigénie en Aulide von 1774 und Iphigénie en Tauride von 1779, zum Höhepunkt führte. Doch was war der Grund, dass man im 18. Jahrhundert einen Weg suchte, die Oper zu reformieren? Und: War Gluck tatsächlich der Revolutionär und Neuerer, der alles

anders machte als seine Vorgänger und Zeitgenossen?

Es scheint uns eine selbstverständliche Theaterkonvention, dass Sänger auf der Opernbühne stehen, Figuren verkörpern und durch ihrem Gesang innere Gemüts-zustände und äußere Handlungen aus-drücken. Doch seit den Anfängen der Oper im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert stellten sich Komponisten und Musiktheo-retiker die Frage, warum überhaupt – und vor allem wie – in der Oper gesungen werden sollte. Der musikdramatische Ge-sang um 1600 war verglichen mit späteren Zeiten eine unspektakuläre Kunstform, in der singend rezitiert wurde. Diese höhere Art des Sprechens („recitar catando“) galt als realistisch; eine dramatische Erzählung mit strophischem, liedhaftem Gesang wurde hingegen als unrealistisch empfunden. „Verosimiglianza“, deutsch „Wahrscheinlichkeit“, war das Stichwort und ein wichtiges Kriterium. Doch schon

ZUM KOMPONISTEN

Katharine Tier, Damen des Staatsopernchors, Gestrandete

VON DER

KUNSTWÜRDE

DER

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WÜRDE

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bei Monteverdi und seiner Favola in musica L’Orfeo von 1607 wurde der rezitativische Gesang um ariose Abschnitte erweitert. In der Folge entwickelte sich mit der Opera seria in Italien ein Typus, in dem Rezitativ und Arie musikalisch und dramaturgisch klar voneinander abgegrenzt waren. Der rezitativische, d. h. der formal offene, an die Sprachmelodie angelehnte und vom Basso continuo begleitete Gesang stand für die äußeren Handlungsvorgänge; die formal geschlossenen Arien mit vollem Orchester für die Dimension des inneren Gefühls, den Affekt. In Frankreich beschritt man mit der Tragédie lyrique eines Lully oder Rameau einen anderen Weg: Der Gesang in der Académie Royale de Musique war nahe an der Deklamation des Sprechtheaters; eine strikte Trennung zwischen Rezitativ und Arie sucht man vergebens. Stattdessen wurde das musikdramatische Geschehen durch Ballette und instrumentale Divertis-sements, Chor- und Tanzsätze zum effekt-vollen Spektakel erweitert.

Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten sich reformatorische Tendenzen und die Theorie des musikalischen Dramas erfuhr eine grundlegende Neuerung, die sich glei-chermaßen auf Text und Musik erstreckte und die für die weitere Entwicklung des Gesamtkunstwerks Oper neue Maßstäbe setzte. Die Barockoper – sowohl italie-nischer als auch französischer Prägung – galt vielen als überholt. Wortführer und Wegbereiter eines reformierten Opernstils waren der geistliche Akademiker und lei-denschaftliche „Gluckist“ Abbé François Arnaud (1721–1784), der Universalgelehrte Francesco Algarotti (1712–1764) sowie Friedrich Melchior Baron von Grimm (1723–1807), der neben seiner Tätigkeit als Diplomat und Kritiker auch an Diderots Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des

sciences, des arts et des métiers mitwirkte.

Die zentralen Schlagworte, über die rege debattiert wurde, waren die bereits erwähnte „verosimiglianza“ bzw. die „vraisemblance“ sowie „simplicité“ (Ein-fachheit) und „clarté“ (Reinheit). Arnaud forderte 1754 in seiner Lettre sur la musi-que, dass Librettisten und Komponisten sich auf den Hauptcharakter der Handlung konzentrieren sollten. Es ging ihm um eine Klarheit der Dichtung, in der die zentralen Handlungszüge im Vordergrund zu stehen hätten. Der dramatische Konflikt sollte – im Gegensatz zur mitunter verworrenen Opera seria – ohne komplizierte Nebenhandlun-gen entwickelt und auf schnellem und di-rektem Wege gelöst werden.

Francesco Algarotti beleuchtete in seinem Traktat Saggio sopra l’opera in musica, der kurz nach der Erstveröffentlichung 1755 in mehrere Sprachen übersetzt wurde, das Verhältnis von Text und Musik: Sein Ideal war die musikalisch vorgetragene Tragödie („tragedia recitata per musica“), in der sich die Musik dem Text unterzuordnen habe. Stein des Anstoßes bzw. Kern seiner Kritik war die dominierende italienische Opern-arie in ihrer dramaturgisch wenig begrün-deten Form mit Wiederholungen, Koloratu-ren, Verzierungen und anderem virtuosen Beiwerk, die darüber hinaus mit einem als unangemessen bewerteten Geltungsbe-dürfnis der Sänger einherging. Algarottis Lösungsansatz bestand unter anderem darin, die Trennung von Arie und Rezitativ aufzuheben und die beiden Formen einan-der anzunähern.

Baron von Grimms Argumentation hatte eine ähnliche Schlagrichtung: 1765 formu-lierte er in seinem Artikel „Poème lyrique“ in der Encyclopédie eine dezidierte Kritik

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und sowohl für den musikalischen als auch für den szenischen Bereich explizite Forderungen. Beispielsweise plädierte er einerseits für eine freiere, unsymmetrische Gestaltung der Arien, eine einfache, natür-liche und schlichte Handlungsdramaturgie und einen nachahmenden bzw. pantomimi-schen Charakter der Ballette. Für die Szene forderte er andererseits einen reduzierten Einsatz der Bühnentechnik. Im Gegenzug trat er dafür ein, „le merveilleux“, d. h. das „Wunderbare“, nicht mit aufwendigem Bühnenspektakel, sondern durch Gesang und Gestik darzustellen. Das gestische Mo-ment war ihm so wichtig, dass er vorschlug, szenische und musikalische Darstellung zu trennen und das Schauspiel von stummen Mimen ausführen zu lassen.

Einer der ersten, der diese Anregungen um-setzte, den französischen und italienischen Opernstil verband und auf diese Weise eine neue Ästhetik auslotete, war Tommaso Traetta (1727–1779) mit seiner Oper Ippolito e Aricia von 1759 – wohlgemerkt drei Jahre vor Glucks Orfeo. Auch in Traettas 1763 entstandenen Oper Ifigenia in Tauride ist der Geist der Innovation zu spüren. Ein an-derer „Reformkomponist“ war der Italiener Niccolò Jommelli (1714–1774), der in seinen späten Bühnenwerken für Herzog Carl Eugen von Württemberg in Stuttgart ebenfalls Elemente der italienischen und französischen Tradition verband und beispielsweise ver-stärkt auf das orchesterbegleitete Accom-pagnato-Rezitativ setzte.

Und Gluck, der Opernreformer, der rastlos durch Europa reiste und der Nachwelt 55 Bühnenwerke hinterließ? Blickt man in seinen Werkkatalog, hatte sich Gluck, bevor er mit seinem Orfeo neue Wege ging, sowohl den französischen als auch den italienischen Opernstil angeeignet und als

deutscher Komponist in beiden Fächern reüssiert. Seine ersten Schritte auf der Opernbühne machte er als Komponist von italienischen Drammi per musica auf Texten von Metastasio. Aber auch die französische Operntradition war ihm vertraut: Zum einen hatte Gluck die Opern Lullys und Rameaus ausgiebig studiert, zum anderen hatte er sich mit Werken wie Cythère assiégée die Gattung der Opéra comique zu eigen ge-macht.

Seine Azione teatrale per musica Orfeo ed Euridice, 1762 auf italienisch in Wien und 1774 in einer überarbeiteten französi-schen Fassung als Orphée et Eurydice in Paris, stellt in seinem Schaffen tatsächlich einen Wendepunkt dar. In der Widmung des Orphée an Marie-Antoinette, seine ehemaligen Gesangsschülerin und spätere Mäzenin, schreibt Gluck: „Der Stil, den ich einzuführen versuche, scheint mir der Kunst ihre ursprüngliche Würde zurückzu-geben.“ Weiter heißt es: „Die Musik wird nicht mehr auf die kalten Schönheiten der Konvention beschränkt sein, an denen die Tonsetzer festzuhalten sich verpflichtet fühlten.“ Neben Neuerungen in den Chor-sätzen fällt vor allem auf, dass Gluck das Secco-Rezitativ reduziert und die Akte als große Tableaus konzipiert, die nicht mehr in einzelne Nummern zerteilt sind.

Es ist bezeichnend, dass Glucks neuer Stil 1769 im Vorwort seines Librettisten Ranieri de’ Calzabigi zu seiner zweiten Reformoper Alceste nicht nur theoretisch begründet, sondern darin die erwähnte Abhandlung von Algarotti zum Teil wörtlich zitiert wurde. Im Werk selbst setzt Gluck die Forderungen nach „simplicité“ und „clarté“ musterhaft um: kaum Nebenhandlung, keine effekt-volle Virtuosität barocker Arien, sondern Accompagnati und Ariosi, die mit abwechs-

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lungsreichen Motiv-, Tonart- und Tempo-wechseln ineinander übergehen, und eine vereinfachte Affektstruktur.

Mit Iphigénie en Aulide stellte sich Gluck 1774 erstmals in Frankreich vor. Die eigens für das Pariser Publikum komponierte Oper basiert auf einem Libretto von Marie-François-Louis Lebland du Roullet. Von du Roullet, der auf eine Tragédie von Racine zurückgriff, gingen weitere Impulse aus: Sein Grundsatz war laut dem Vorwort des Librettisten der „accord parfait entre la Poësie et la Musique“, also die perfekte Harmonie zwischen Text und Musik. Ein bekannter Stoff solle unter Eliminierung von zu vielen Nebenpersonen und Berücksichti-gung von Einfachheit sowie einem raschen Verlauf für die Opernbühne aufbereitet werden. Auch er diskutierte hinsichtlich der Dramaturgie des Werkes den Begriff der Wahrscheinlichkeit. Seiner Ansicht nach war das in der barocken Oper übliche „Happy End“ (lieto fine) auch weiterhin unumgänglich, um das von der tragischen Handlung erschütterte Gemüt des Zuschau-ers zu beruhigen. Doch – anders als die Konvention es vorsah – forderte du Roullet eine positive Wendung des Geschehens, die nicht von unrealistischen Gottheiten herbeigeführt werden solle. Und tatsäch-lich ist es in seiner Adaption des antiken Iphigenie-Stoffes der „menschliche“ Seher Calchas, der den Verzicht der Göttin Diana auf das Opfer Iphigenies aufgrund ihrer Tapferkeit verkündet, und nicht die Göttin selbst. Die Idee war gut, doch das Publi-kum anscheinend noch nicht bereit: An diesem Kunstgriff wurde erhebliche Kritik geübt, die Gluck dazu veranlasste, in seiner Überarbeitung den Schluss der Oper abzu-ändern und der Konvention anzupassen: In der zweiten Fassung trat Diana als Dea ex machina auf einer Wolke auf und gebot der

Opferung Iphigenies Einhalt.

Mit den Folgewerken Armide von 1777, Echo et Narcisse und Iphigénie en Tauride, beide von 1779, hatte Gluck in Paris großen Erfolg. Der bereits erwähnte Abbé Arnaud schreibt im Dezember 1777 an Padre Martini, Glucks Musik sei „weit entfernt, die Worte in eine Unzahl von Tönen zu begraben“. Er fährt fort: „Die Töne aber, die er gewählt hat, sind stets wahr, leidenschaftlich und von der Natur sanctioniert.“ Dass er sich in Frankreich nicht nur Freunde machte, zeigt der epochemachende Streit zwischen den Anhängern des italienischen Opernkom-ponisten Niccolò Piccini (1728–1800) und denen Glucks in den Jahren vor der Fran-zösischen Revolution. Auch der von Gluck angestrebte Aufführungsstil wurde kritisch hinterfragt. Gluck forderte von den Sängern einen realistischen Vortrag, den teilweise sogar Gluckisten als übertrieben empfan-den. Die musikalische und szenische Inten-sität, die Gluck in den für damalige Zeiten ungewohnt langen Probenphasen erreichte, sorgte beim Publikum für starke Reaktionen. Berichte von Zeitzeugen dokumentieren, wie sehr Gluck mit seiner Kunst aufwühlte, verstörte und die Zuschauer zu Tränen rührte.

So verbirgt sich hinter dem „Weltstar“ Gluck, der in den Spätwerken seinen eige-nen Stil mit den Innovationen von Algorotti, Traetta und Jomelli verband, ein origineller Dramatiker, der einen reformierten Opern-stil vielleicht nicht „erfand“, der jedoch mit großem Geschick und kreativer Dynamik aktuelle Tendenzen aufgriff und weiter-entwickelte. Aus seiner Musik spricht ein feuriger, energiegeladener Pathos, der mit seiner unverstellten Unmittelbarkeit bis heute ergreift.

Raphael Rösler

Armin Kolarczyk, Steven Ebel

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ZUM WERK

Die Mythen des antiken Griechenlands mit ihrer überbordenden Vielzahl an Sagen-wesen und den überhaupt nicht göttlichen Göttern fasziniert die Menschen seit der Antike bis heute. Insbesondere die grau-samen Begebenheiten um die Nachfahren des Tantalos haben Künstler, Dichter und Musiker zu einer Vielzahl an Werken inspi-riert, in denen Teile der Tantaliden-Sage und einzelne unter dem Familienfluch ste-henden Figuren auf unterschiedliche Weise neu interpretiert wurden.

Die vielleicht reichhaltigste Rezeptionsge-schichte weist die Figur der Iphigenie auf, Tochter des Agamemnon und der Klytäm-nestra, Schwester von Elektra, Chrysotemis und Orest. Nach den epischen und mytho-grafischen Berichten über das Schicksal Iphigenies beispielsweise von Homer und Hesiod sind die beiden nicht erhaltenen Tragödien von Aischylos und Sophokles die ersten dramatischen Adaptionen. Die frühesten erhaltenen Schauspiele sind

Iphigenie bei den Taurern (412 v. Chr.) und Iphigenie in Aulis (405 v. Chr.) von Euripides. Die weitere Rezeption – auch wenn man sich in den Jahrhunderten von Euripides zunehmend emanzipierte – weist in vielen Fällen die charakteristische Aufteilung der tragischen Geschichte der mykenischen Königstochter in diese zwei meist separat behandelte Erzählungen auf: Zum einen Iphigenies durch Diana verhin-derte Opferung auf Aulis, mit der ihr Vater Agamemnon einem Orakelspruch folgend seine Ausfahrt in den Trojanischen Krieg ermöglichen wollte. Zum anderen ihre sich daran anschließenden Jahre als Priesterin im Artemis- bzw. im Diana-Tempel auf Tau-ris, wo sie nach langer Trennung ihrem vor den Eumeniden flüchtenden Bruder Orest wiederbegegnet.

In der Renaissance erwachte mit der lateinischen Übersetzung der aulischen Iphigenie des Euripides von Erasmus von Rotterdam 1506 nach einer längeren

RUHEVOR DEM

STURM

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Unterbrechung wieder das Interesse an dem Stoff. Den diversen weiteren Über-setzungen von Euripides’ Dramen – unter anderem ins Französische und ins Deut-sche – folgte 1640 Jean de Rotrou, der mit seiner Iphigénie en Aulide eine erste eigenständige Schauspielfassung vorlegte. Auch Jean Racine versuchte, sich in dem Drama Iphigénie von 1674 für den Hof von Versailles von der Vorlage zu lösen. Neben der Hinzufügung der in der mythologischen Überlieferung und auch in den bisherigen Fassungen nicht vorkommenden Figur des Eriphile erfand der französische Dramatiker eine originelle Schlusswendung, die er in seinem Vorwort unter Berücksichtigung der Glaubwürdigkeit („vraisemblance“) und der Schicklichkeit („bienséance“) begründete. Wegen Unschicklichkeit schloss er eine Opferung Iphigenies ebenso aus wie den als unglaubwürdig bewerteten Auftritt der Artemis/Diana als Dea ex machina. Bei Racine ist es letztlich der Seher Calchas und nicht die Göttin, die Iphigenie rettet, was Gluck in seine Iphigénie en Aulide übernahm (vgl. S. 10).

Im 18. Jahrhundert erlebte der Iphigenie-Stoff auf der Theaterbühne in Frankreich, Italien und Deutschland eine Blütezeit; die bekannteste deutschsprachige Fassung ist die bis heute viel gespielte Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang von Goethe (1779 in Prosa, 1787 als Schauspiel). Auch für die Opernbühne ist das 18. Jahrhundert reich an Adaptionen. Die erste Iphigenie-Oper stammt jedoch aus dem 17. Jahrhun-dert: Es ist das Singspiel Iphigenia von Johann Jakob Löwe auf einen Text von Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfen-büttel aus dem Jahr 1661. Auch ein Zeitge-nosse Händels, der Direktor der Hamburger Gänsemarktoper Reinhard Keiser, nahm sich 1699 mit dem Singspiel Die wunderbar

errettete Iphigenia des Stoffes an. Für den Bereich der italienischen Oper ist – neben den Iphigenie-Opern von Antonio Caldara und von Giuseppe Maria Orlandini – vor allem Tommaso Traettas innovative Ifigenia in Aulide von 1763 zu nennen (vgl. S. 9).

Auch Christoph Willibald Gluck begeisterte sich für das Sujet und befasste sich bereits 1765 in Form eines nicht erhaltenen Ballet-tes mit dem Stoff. An seine 1774 uraufge-führte Iphigénie en Aulide knüpfte er 1779 mit der Fortsetzung Iphigénie en Tauride an, einem Werk, das den Höhepunkt seines Schaffens markiert. Die Textgrundlage die-ser vorletzten Oper Glucks ist ein Libretto von Nicolas-François Guillard, der wieder-um auf das gleichnamige Schauspiel von Claude Guimond de La Touche zurückgriff. Die Uraufführung am 18. Mai 1779 in der Pa-riser Académie royale in Anwesenheit der französischen Königin und Widmungsträge-rin Marie-Antoinette war ein großer Erfolg: Bis 1829 sind am Uraufführungsort über 400 Aufführungen belegt. In den Folgejahren wurde das Werk, das Gluck am 23. Okto-ber 1781 am Wiener Burgtheater in einer deutschen Fassung von Johann Baptist von Alxinger – u. a. mit einem überarbeiteten Schluss des 2. Aktes und einigen sprach-bedingten Änderungen in Melodik und Rhythmik – präsentierte, auch im deutsch-sprachigen Raum positiv aufgenommen: Johann Gottfried Herder beispielsweise lobte die „heilige Musik“ und Friedrich Schiller schrieb 1800 an Christian Gottfried Körner: „Dagegen hat mir Glucks Iphigenia auf Tauris einen unendlichen Genuss ver-schafft, noch nie hat eine Musik mich so rein und schön bewegt als diese, es ist eine Welt der Harmonie, die geradezu zur Seele dringt und in süßer hoher Wehmut auflöst.“Was ist das Besondere an diesem Werk, das im Gegensatz zu den vielen anderen

VOR DEM

STURM

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vergessenen Iphigenie-Opern ins Reper-toire einging und bis heute gespielt wird? Anders als Goethes klassizistische Anmut und Größe begegnen einem bei Gluck ein brennender Pathos der Figuren, die mit gro-ßer Intensität leben, leiden und sich gegen ihr Leid auflehnen. Mit Feingefühl und Ge-schick statten Gluck und sein Librettist die Protagonisten in Text und Musik mit einer psychologischen Tiefe aus, die ihresglei-chen sucht. Die facettenreiche Musik wirkt wie ein Mikroskop, das tief ins Innere von Iphigenie, Thoas und Orest schaut und ihre Seelenzustände und Konflikte beleuchtet.

Themen wie die Freundschaft zwischen Pylades und Orest, die Menschlichkeit Iphi-genies, die in der Fremde dem verhassten Skythenherrscher Thoas dienen muss, die töten muss, aber nicht töten will, ihr Heim-weh, die Traumata der Vergangenheit, die auf Iphigenie und Orest lasten, und Thoas’ Verfolgungswahn, erhalten in der Komposi-tion großes Gewicht. Anders als die zerris-senen Protagonisten früherer Barockopern, die einer Folge von wechselnden Affekten unterlagen, die sie letztlich für Gluck und andere Reformdenker unglaubwürdig machten, sind Glucks Opernfiguren mit einem beständigen Charakter ausgestattet. Aus dem jähen Affektwechsel des Barock wurde stetige Entwicklung. Iphigenie strahlt unter extremen Lebensumständen und in großer Trauer eine konstante Güte und Menschlichkeit aus. Auch Orest wird in seinem Pathos nicht von Affekten hin- und hergerissen, sondern tritt als konsistenter Charakter in Erscheinung.

Die einheitlich konzipierten Charaktere ge-hen einher mit einem einheitlichen Tonfall in der Musik. Der „hymnische Liedton“, den die Musikwissenschaftlerin Anna Amalia Abert feststellte, wird getragen von einer

Emphase und Simplizität, die charakteris-tisch ist für den späten Gluck. Iphigenies große Arie im 1. Akt „Ô toi, qui prolongeas mes jours“ („O du, die mich einst gerettet“), mit der sie die Göttin Artemis bzw. Diana bittet, sie sterben zu lassen, ist von einer schlichten und edlen Einfachheit gezeich-net. Doch wer hier Langeweile vermutet, wird eines Besseren belehrt: Die Anfangs-phrase der A-Dur-Arie, die nach dem ba-rocken Da-Capo-Schema A-B-A aufgebaut ist, lässt sich in 1 ½ + 1 ½ + 1 Takte gliedern. Der regelmäßige Aufbau der Melodie wird durch unregelmäßige Betonungen – Sforzati – gestört. Regularität und Irregula-rität stehen nebeneinander und erzeugen in der Ruhe eine Unruhe, die in einem Septimsprung aufwärts ihren befreienden Abschluss findet.

Das Gegensatzpaar von Ruhe und Unruhe findet sich auch in der zweiten Arie des Orest im 2. Akt „Le calme rentre dans mon cœur“ („Die Ruhe kehrt in mein Herz zu-rück“). Am Ende der Arie schläft Orest, der nach langer Irrfahrt in der bevorstehenden Hinrichtung seinen Frieden zu finden sucht, laut Szenenanweisung „erschöpft ein“. Sein Gesang ist geprägt von einer ruhigen Melodie mit wenigen Sekundschritten und hypnotisierenden Tonwiederholungen. Gluck unterlegt die gedehnte Melodie mit einem unregelmäßig pulsierenden Orgel-punkt auf a, mit synkopierten und mit durch Sforzati unregelmäßig betonten Tonwieder-holungen, die wiederum neben den ruhigen Wiegefiguren der Streicher stehen. Diese Ruhe ist spannungsgeladen und trügerisch: eine Ruhe vor dem Sturm. Und tatsächlich: Gluck geht ohne Unterbrechung („attac-ca“) in die berühmte Szene, in der Orest im Schlaf von Verwünschungen aussto-ßenden Rachegöttinnen, den Eumeniden, heimgesucht und an seine Bluttat erinnert

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wird – für das damalige Publikum ein Effekt von bislang ungekannter schockierender Wirkung.

Wie schon in den Vorgängerwerken ten-diert Gluck auch in seiner Iphigenie en Tauride zur Durchkomposition. Mit Aus-nahme der beiden formal geschlossenen Da-capo-Arien für Iphigenie („Ô toi, qui prolongeas mes jours“) und Orest („Dieux qui me poursuivez“/„Götter, die ihr mich verfolgt“), und dem Da-capo-Duett („Ah mon ami, j’implore ta pitié“/„Mein Freund, ich flehe um Mitleid“) für Pylades und Orest verbindet er kurze, meist kontrastierende Abschnitte und konstruiert daraus große Szenenkomplexe. Die erste Szene des 1. Aktes gibt davon ein Beispiel. Anstatt mit einer konventionellen Ouvertüre zu beginnen, setzt Gluck mit einer ungewohnt kurzen Einleitung ein, die unmittelbar in die erste Szene übergeht. Mit „Le calme“ („Die Stille“) überschrieben, wiegt sich die Musik zunächst im ⅜-Takt. Die Stimmung wechselt und steigert sich in vier Stufen zum Sturm, der vom unmittelbar einsetzenden Gesang Iphigenies – gefolgt von den Wiederholun-gen der Priesterinnen – abgelöst wird. Wie drei gleichberechtigt handelnde Personen wechseln sich Iphigenie, der Frauenchor und instrumentale Sturmritornelle ab. Der Sturm beruhigt sich und es schließt sich – wiederum ohne Unterbrechung – ein vom Orchester begleitetes Accompagnato-Re-

zitativ sowie ein formal freies Arioso an, in der Iphigenie von den schrecklichen Traum-bildern der letzten Nacht berichtet.

Die erste Zäsur, die den musikalischen Fluss unterbricht und die wie eine Schrecksekun-de als Reaktion auf Iphigenies Erzählung wirkt, setzt Gluck erst nach 300 Takten. Es folgt ein erster formal geschlossener Chor-satz der Priesterinnen: Mit harmonisch auf-geladenen parallel geführten Tritoni in den Außenstimmen kommentieren Iphigenies entsetzten Gefährtinnen das Gehörte. Ihren Höhepunkt findet die erste Szene nach einem weiteren Accompagnato-Rezitativ in der bereits erwähnten großen Da-capo-Arie der Iphigenie. Das Ergebnis von Glucks Technik, Einleitung, lange verschachtelte Sequenz, Chorsatz und formal geschlossene Arie zu verbinden, ist eine klar konzipierte zusammenhängende Szene, die Iphigenies Schicksal mit einer großen musikdrama-tischen Kraft vor Aug und Ohr führt. Hier zeigt sich der Theatermann Gluck, der mit einer klaren künstlerischen Intention die bestehenden Gesetze von Form und Har-monik bricht und dadurch ein packendes Musikdrama erschafft. Klassizisten lehnten seine aperiodische, moderne und offene Musik, in der die Intention über der Form steht, ab. Doch das ist letztlich einer der Gründe, weshalb Glucks Musik bis heute gehört wird.

Raphael Rösler

16 Armin Kolarczyk, Steven Ebel, Seung-Gi Jung, Mehmet Altiparmak, Herren des Staatsopernchors, Statisterie

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ZUM MYTHOS

FRAUEN

Das alte Griechenland, das ist vor allem die Zeit der Tempel, Statuen und des Theaters: die Wiege der europäischen Kultur und De-mokratie, auch wenn diese eigentlich eine Oligarchie war, in der 5–10% der Bevölke-rung die Geschicke des Staates „demokra-tisch“ gelenkt haben. Der Rest waren be-kanntlich Frauen und Sklaven, mehrheitlich besiegte Barbaren. Aber auch die Griechen waren nicht die ursprünglichen Einwohner der Region. Nicht einmal tausend Jahre vor der sogenannten klassischen Zeit zwischen 600 und 400 vor Christus eroberten sie das Land. Es waren nomadisierende Hirten aus dem Steppengebiet östlich des Kaspischen Meeres, die die ansässige bäuerliche Be-völkerung unter ihre Herrschaft zwangen. Dass das äußerst brutal vonstatten ging, darf wohl unterstellt werden, obwohl es keine schriftlichen Zeugnisse aus der Zeit gibt.

Auf der religiös-philosophisch-mythologi-schen Ebene ging es dabei hauptsächlich um die Ablösung matriarchaler Strukturen durch patriarchale. Wie Ernest Borne-

manns in Das Patriarchat darlegt, war bei allen sesshaften Völkern das Matriarchat die ursprüngliche, sozusagen „natürliche“ Gesellschaftsform. Durch die unzweideuti-ge Zugehörigkeit der Kinder zu ihren Müt-tern waren diese die Zentren der Familien und der Macht.

Das Nomadisieren vieler Völker führte zu Auseinandersetzungen und Kriegen. Dank ihrer größeren körperlichen Kraft und ihrer nicht von Schwangerschaften und Still-zeiten unterbrochenen Kampfbereitschaft waren die Männer den Frauen überlegen. In allen nomadisierenden, Land erobernden und besetzenden Völkern übernahmen deshalb die Männer die Macht. Um diese zu sichern – schließlich waren sie bei der Weitergabe der Macht an ihre Kinder auf Treu und Glauben angewiesen! – erfanden sie das Recht.

Die Götterwelt der Griechen ist wohl die vielgestaltigste aller polytheistischen Göt-terwelten. Schon vor dem Einzug von Zeus und seinem Gefolge auf dem Olymp ist sie

Katharine Tier

SANKTIONIERENDASPATRIARCHAT

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nicht gerade übersichtlich. Menschlich sind und werden zunehmend nicht nur ihre sich immer stärker individualisierenden Eigenschaften, sondern vor allem auch ihre Kämpfe untereinander.

Immer waren es sowohl männliche als auch weibliche Gottheiten, denen geopfert wurde. Dominiert haben in der griechischen Götterwelt aber die männlichen. Wieweit die Vorstellungen weiblicher Gottheiten aus dem matriarchalen-vorgriechischen Bauernglauben in den patriarchalen der Griechen eingeflossen sind, lässt sich nicht zweifelsfrei klären.

Artemis z. B. steht als dreifache Mondgöttin nicht nur für die Jagd, mit deren Attributen sie meistens dargestellt wird, sondern auch für die Fruchtbarkeit und den Erhalt allen Lebens. Ihre römische Entsprechung Diana (von „dies“ = „Tag“ abgeleitet) ist dann hauptsächlich noch Göttin der Jagd und des Lichts bzw. des Tages.

Ähnlich aus dem Rahmen olympischer Zuordnungen heraus fallen die Erinnyen bzw. Eumeniden, die Orest als Rachegöt-tinnen und deutlich matriarchal orientierte Personifizierungen schlechten Gewissens verfolgen.

Bei der Durchsetzung des Patriarchats in Griechenland haben Frauen bemerkens-werte Rollen gespielt: Elektra, Iphigenie und Athene. Sie taten dies im Rahmen einer der bekanntesten Mythen wohl nicht nur Griechenlands, sondern der Welt: Der Atri-den- oder Tantaliden-Geschichte.

Mit Tantalos beginnt die Sage, mit Atreus bzw. seinen Söhnen beginnt deren dramati-sche Darstellung. Tantalos war ein mit einer menschlichen Frau gezeugter Göttersohn,

der wegen seiner Klugheit am Tisch der Götter speisen durfte. Hier stahl er eines Tages Nektar und Ambrosia, welche den Göttern unsterbliche Jugend verliehen. Deshalb vom Olymp verstoßen, lud er die Götter an seinen irdischen Tisch. Zu seiner Überraschung kamen alle. Und entweder, weil es zu wenig Fleisch gab oder weil er die Allwissenheit der Götter auf die Probe stellen wollte, schlachtete er seinen Sohn Pelops und setzte diese Speise seinen göttlichen Gästen vor. Nur Demeter aß irrtümlich ein Stück Schulter. Die anderen erkannten den Frevel und verbannten Tantalos in den tiefsten Kreis der Hölle, wo er die sprichwörtlichen Qualen erleiden musste: Das Wasser, in dem er stand, wich immer zurück, wenn er trinken wollte, ge-nauso wie die Früchte über ihm, wenn er von ihnen essen wollte.

Pelops wurde von den Göttern wieder zusammengesetzt, wobei sie die fehlende Schulter durch eine aus Elfenbein ersetz-ten. Doch verflucht blieb die ganze Sippe. Pelops herrschte über die griechische Halbinsel, die nach ihm Peloponnes ge-nannt wurde. Um seine Frau Hippodameia zu bekommen, tötete er deren Vater Oino-maos auf trickreiche Weise. Sie gebar ihm zwei Söhne: Atreus und Thyestes. Diese hassten sich abgrundtief. Nach Pelops’ Tod gelangte Atreus auf den Thron. Doch damit nicht genug: Um seinen Bruder zu demüti-gen, schlachtete er dessen Söhne und ließ ihn sie essen. Ein Seherspruch wies dem verzweifelten Thyestes den Weg zur Rache: Er vergewaltigte seine eigene Tochter und erzog den so gezeugten Sohn Aigistos zu einer „Kampfmaschine“, der es mit sieben Jahren gelang, seinen Onkel Atreus zu er-morden.

Die Söhne des Atreus, Agamemnon und

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Menelaos, wurden die mächtigsten Männer Griechenlands: Agamemnon als Herrscher Mykenes und oberster Kriegsherr, Menela-os in Lakedaimon, dem späteren Sparta, als reichster Mann des Landes. Als solcher heiratete er die schönste Frau, Helena, die, von Paris geraubt, zum Anlass oder Vorwand für den Trojanischen Krieg wurde. Agamemnon nahm sich deren Schwester Klytämnestra, indem er ihren ersten Mann samt kleinem Kind ermordete. Dass daraus keine glückliche Ehe wurde, leuchtet ein. Klytämnestra gebar Agamemnon Iphigenie, Elektra, Chrysothemis und Orest. Mit dem Trojanischen Krieg beginnt das beson-dere Schicksal der Iphigenie. Sie wurde ins Feldlager nach Aulis gelockt, wo eine Windstille, verursacht durch die Freveltat ihres Vaters an einer der Artemis heiligen Hirschkuh, durch ihren Opfertod beendet werden sollte. Das gelang auch, allerdings mit der Besonderheit, dass die Göttin ihr Opfer in einer Wolke entführt und gerettet hat. Im fernen Tauris wuchs dann das Kind Iphigenie zur Priesterin der Artemis heran. Als solche musste sie, dem lokalen Brauch folgend, Fremde, die sich nach Tauris verirrt hatten, der Göttin opfern. Nach Ende des zehnjährigen Krieges kehrte Agamemnon nach Mykene zurück, wo Klytämnestra inzwischen mit Aigistos, der einst Aga-memnons Vater getötet hatte, zusammen war. Beide brachten Agamemnon vor den Augen Elektras um. Diese schwor, ihren Vater zu rächen, was schließlich Orest, in der Fremde erzogen, in die Tat umsetzte. Als Muttermörder von den Eumeniden ver-folgt, befragte er das delphische Orakel, was zu tun sei. Apoll ließ ihm sagen, dass er nach Tauris fahren solle, um von dort die Schwester zu holen. Das bezog man auf Apolls Schwester Artemis, deren Standbild in Tauris verehrt wurde. Nur bei Goethe wird der offensichtliche Doppelsinn dieses

Orakels dahingehend aufgeklärt, dass in Wahrheit Orests eigene Schwester Iphi-genie aus Tauris heimzubringen sei. Aber auch bei Euripides und Gluck endet die Iphigenie-Geschichte versöhnlich.

Die Geschichte der Atriden bzw. Tantaliden geht jedoch weiter. Noch immer von den Eumeniden verfolgt, stellt sich Orest in Athen einem klassischen Scherbengericht: Was ist als Rachetat eher verzeihlich: der Gattenmord Klytämnestras oder der Mut-termord Orests? Die Eumeniden klagen Orest an, Apoll verteidigt ihn. Es kommt zur Stimmengleichheit. Da mischt sich Athene ein, die dem Gericht vorsitzt, und gibt ihre Stimme zugunsten von Orest ab mit der Begründung, dass der Mann als Hort der Familie höher zu achten sei als die Frau, die seinen Samen ja „nur“ austrage. (Dass ausgerechnet Athene dieses Urteil fällt, ist insofern bemerkenswert, als sie selbst ohne den Umweg über einen Mutterschoß direkt dem Haupt des Zeus entsprungen sein soll ... )

Drei Frauen waren es also, die den über Jahrhunderte schwelenden Kampf zwi-schen Matriarchat und Patriarchat mit ei-nem Sieg des letzteren beenden halfen:

Elektra, die Rächerin, die den eigentlich unbeteiligten Orest zum Muttermord, der vormals größten aller Sünden, überredet.

Iphigenie, die, zum Opfer bestimmt und von der Göttin gerettet, den archaischen Opfer-brauch überwindet und so die Begnadigung des Muttermörders ermöglicht.

Athene, die als Vorsitzende im Prozess ge-gen Orest den Ausschlag zu seinen Gunsten und damit zugunsten des Patriarchats gibt.

Michael Winrich Schlicht

Folgeseiten Damen des Staatsopernchors

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Aus den Konzeptionsgesprächen mit Arila Siegert (AS), Thilo Reuther (TR), Marie-Luise Strandt (MLS) und Michael Winrich Schlicht (MWS)

AS An Glucks Musik interessiert mich das Expressive. Sie markiert den Übergang von der alten Form zu etwas, das das Musiktheater des 19. Jahrhunderts schon ahnen lässt. MWS Iphigenie auf Tauris gehört zu den ersten Opern, in denen die Trennung zwischen Rezitativen und Arien oder En-sembles aufgehoben ist. Insofern könnte man fast sagen, dass Gluck „moderner“ ist als der eine Generation jüngere Mozart.AS Und inhaltlich ist es für mich als Regis-seurin der Übergang von einem fatalisti-schen bzw. von Göttern bestimmten Welt-bild zur Selbstbestimmung und Selbstver-antwortung des Menschen. Orest schleppt noch die fluchbeladene Geschichte seiner Familie mit sich, und Iphigenie befreit ihn davon. Dieses neue Denken ist für mich der Kern des Stücks.

MLS Ist es nicht Diana, die die Tragödie abwendet? AS Ja, schon. MWS Ich denke, wir sollten, anders als Gluck, lieber von Artemis sprechen. Die beiden Göttinnen sind ja durchaus ver-schieden, und die Geschichte unseres Stücks ist nun mal ein Teil der griechischen und nicht der römischen Mythologie. AS Gut. – Vielleicht ist es nur eine Konven-tion, dass Iphigenie nicht selber ausspre-chen darf, was sie denkt und will. Könnte man sie nicht auch den Schluss, also die Partie der Diana bzw. Artemis singen las-sen? MWS Das geht. Es ist die gleiche Stimm-lage. Und für deinen Grundansatz, dass es hier um ein neues, letztlich emanzipiertes Denken geht, zu dem Iphigenie sich durch-ringt, wäre es sehr hilfreich, wenn es Iphi-genie ist, die den Konflikt löst. AS Dann lass uns das in Karlsruhe so ma-chen.

ZUR INSZENIERUNG

AN DERGESTRANDETEINSEL DES TODES

Armin Kolarczyk, Steven Ebel

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TR Mich erinnert die Geschichte sehr an eine Nachkriegssituation: In einem frem-den Land herrscht ein Diktator. Sehr abge-schottet von der Welt.AS Suchen wir dafür ein inneres System, wo alles unheimlich ist, Räume sich veren-gen usw., oder wählen wir eine reale Si-tuation? Auch in der könnten dann ja viel-leicht Menschen durch Wände gehen ... TR Eine gute Frage. Beides wäre sicher möglich. AS Der Anfang muss meines Erachtens im Zentrum spielen. Und das Zentrum ist der Opferplatz. Ein Gefängnis natürlich auch. Seine Größe könnte von oben bestimmt sein, mal hoch, mal niedrig. Es besteht immer die Gefahr des Absturzes, und zwar sowohl für die Täter als auch für die Opfer. Der Boden ist dünn, die Realität fragil. Al-les kann sich ständig ändern. Vielleicht ist, trotz der Größe der Bühne, alles eng. Wege sind nicht frei, sondern vorgeschrieben wie in einem Korsett ... Für Iphigenie, aber auch für Orest, geht es doch hauptsächlich darum: Wie kann man mit einem Schicksal wie dem ihren überleben? TR Ich werde versuchen, ein unsicheres Terrain zu erfinden. MLS Wenn man die Statik aushebeIn könn-te. Oder was Gedeckeltes, wogegen man machtlos ist ... TR Wie wenn Hochhaus-Arbeiter auf dem Gerüst mit Stahlträgern balancieren ... Zerstörung als Dauerzustand. MLS Diese leer geschossenen Hochhäuser sehen für mich immer aus wie tote Augen. AS Und mit so einem Bild übersetzen, was in uns passiert.

TR Ich weiß noch nicht so genau, wo wir ansetzen: Bei Iphigenie? Beim System? Bei den Menschenopfern? In welcher Zeit spielt das?

AS In keiner bestimmten. – Mir geht es vor allem darum, die Entwicklung Iphigenies in einer disparaten Welt zu zeigen. TR Du meinst, wie sie zu ihrer Entschei-dung kommt, aktiv zu werden und damit die Welt zu verändern? AS Genau. MWS Sie erkennt, wie die Welt funktio-niert, und nutzt ihre Machtposition aus. AS Daneben ist natürlich das Töten ein Zentrum des Stücks. Der Sturm am Anfang ist ein innerer der Frauen. Sie halten das Opfern nicht mehr aus, sind aber gezwun-gen, weiter zu töten. Deshalb ist Tauris für mich auch eine Toteninsel. Alle, besonders Orest und Pylades, aber auch Iphigenie und mit ihr die Priesterinnen sehnen den Tod herbei. Nur Thoas hat Angst vor ihm. MLS Sie sind irgendwie alle traumatisiert. Das ist doch ein heute oft diagnostiziertes Krankheitsbild, bei dem Angst zu Misstrau-en und schließlich zu Gewalt führt. TR Und wenn aus der Traumatisierung Staatsraison wird, wird das Töten in Ritu-ale eingebaut. MWS Man sollte deshalb die Opferungen nicht als Morde zeigen. Die schützen sich mit den Toten und machen aus ihnen Sym-bole für die eigene Sicherheit. AS In Indien und im Iran gibt es diese Türme des Schweigens, die Dakhmahs. Das sind hohe, zylinderförmige Gebäude. Auf die werden die Toten gelegt, damit die Geier sie fressen. MWS Auf diese Weise soll eine Verschmut-zung der vier heiligen Elemente Luft, Was-ser, Erde und Feuer vermieden werden. Also auch ein Angst bändigender Ritus.

TR Iphigenie funktioniert ja zunächst gut in diesem Thoas-System. Sie opfert Frem-de oder lässt sie opfern. Die Kraft, das System zu sprengen, bekommt sie erst

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im Kontakt zu ihrer alten Welt, also wenn Orest vor ihr auf dem Opferblock liegt. AS Man muss in so einer Extremsituation eine Zeit lang mitmachen, sonst ist man gleich tot. Das kennen wir aus der DDR, aber natürlich auch aus dem Dritten Reich. MWS Und dabei ist Thoas durchaus kein starker Mann. Er hat Angst und lässt sein Handeln von der Weissagung bestimmen, ein Fremder werde ihn töten. AS Wahrscheinlich ist er auch noch in Iphigenie verliebt. Sie nutzt aber ihre Vor-rechte als Priesterin und hält ihn hin. MWS Das wird bei Euripides und Gluck allenfalls angedeutet. Goethe rückt das dann ins Zentrum seiner Iphigenie. AS Thoas wehrt sich wohl auch dagegen, dass Tauris zu einer griechischen Kolonie wird. Deshalb hat er sich die Artemis-Statue – wie auch immer – als eine Art Trophäe ins Land geholt. Sie soll ihm als Bollwerk dienen, weil sie ihm ein Teil der stärkeren griechischen Kultur zu sein scheint. TR Und jetzt braucht er Iphigenie, um den geraubten Kult richtig zu nutzen. Für die geklaute Maschine fehlte ihm noch der richtige Ingenieur, der sie zum Laufen bringt. MWS Thoas verbindet den Griechenkult mit seinem Menschen-Opfer-System und sichert damit seine Macht. AS Die Mächtigen sind immer auch irgend-wie halbe Götter. Man muss ihnen dienen. Diese Hörigkeit resultiert daraus, dass der Herrscher mit Gott verbunden scheint, auch wenn der Gott nur der Dollar ist. Aber mit Iphigenie hat Thoas ein Kuckucksei in seinem Tempel. TR Thoas handelt absolut im Rahmen der Normalität. Leben heißt töten, um zu über-leben. MWS Das haben die griechischen Götter selbst vorgemacht und damit legitimiert.

AS Aber Iphigenie dreht den Schlüssel rum, zeigt, dass es auch ohne Töten geht. Eine echte Befreiungstat. Aufklärung im Sinn des 18. Jahrhunderts. TR Wenn wir an die ertrinkenden Flücht-linge im Mittelmeer denken, verhalten wir uns genauso wie Thoas: Wir töten die Fremden bzw. lassen sie sterben, weil wir Angst haben. AS Thoas praktiziert das „Ausländer raus!“ von heute.

TR Die Idee, Flüchtlinge in die Inszenierung zu integrieren, finde ich hervorragend! AS Ich würde das wie ein Zitat einbauen, als roten Faden sozusagen zum Stichwort „Heimatlosigkeit“. Iphigenie sehnt sich zurück in ihre Heimat, obwohl sie da nur knapp dem Tod entgangen ist. Das wür-de ich gern in Beziehung setzen zu dem Schicksal der Asylanten in Deutschland. Es wäre schön, die Flüchtlinge – aber viel-leicht sollten wir sie besser „Gestrandete“ nennen – nicht von der Statisterie spielen zu lassen, sondern von Menschen, die ihre eigene Fremdheit mit einbringen. MWS Das würde künstlerisch Sinn ma-chen und den Asylanten die Möglichkeit einer Beschäftigung und eines gewissen Verdienstes eröffnen. Das wäre ein gutes Signal in einer Zeit, in der das Flüchtlings-problem täglich brisanter wird. Denn auch, wenn wir diese Problematik in unserem Stück nicht direkt kommentieren können und nur allgemein mit dem Anderssein dieser Menschen arbeiten, entstehen emotionale Bezüge. Und außerdem helfen wir ihnen.

AS Fassen wir noch mal zusammen: Iphi-genie ist nicht nur Opfer. Als Priesterin ist sie auch Mörderin.

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MWS Sie ist Opfer in der einen Welt, Mör-derin in einer anderen. Bei den Griechen wechseln sich Gewalttaten und diese rä-chende Morde ab, besonders natürlich in der Familiengeschichte von Orest und Iphi-genie, wo diese zum Opfer wurde. Bei den Skythen ist es ein angstgeborenes Opfer-ritual, innerhalb dessen Iphigenie morden muss, und das natürlich nicht weniger Tote produziert. Aus diesem Opfer-Mörder-Spannungsfeld befreit Iphigenie sich, in-dem sie am Schluss zur selbstbestimmten Täterin wird. AS Ich stelle mir einen albtraumhaften Anfang vor, der erst langsam in die Realität des Geschehens übergeht. Alle, die die Altäre berühren, sind Todgeweihte. Wir spielen das Stück in einem Leichenfeld, und Iphigenie vollzieht die Opfer gleichsam an sich selbst. MWS Bei Gluck wird Thoas von Pylades

erschlagen. Du willst, dass Iphigenie et-was früher einschreitet als Artemis und ihn so rettet. AS Ja. Ihre Emanzipation ist human. Dazu passt kein getöteter Feind, nicht mal ein getöteter Diktator. MWS Und die Skythen? Verbrüdern sie sich mit den Griechen gegen Thoas? AS Vielleicht. Jedenfalls ist erst mal Schluss mit den Menschenopfern. MLS Um das zu erreichen, verwandelt sich Iphigenie in die Göttin? AS Sie sollte zum Menschen werden und nicht zur Göttin. Artemis, der bisher ge-opfert wurde, wird jetzt selbst geopfert. Iphigenie tut das, um Orest zu retten, also der Menschen wegen!

(Die Gespräche wurden von Georg-Fried-rich Kühn protokolliert; ausgewählt und bearbeitet von Michael Winrich Schlicht.)

UNGLÜCKLICHE HEIMAT,AN DIE UNSER HERZ IMMER NOCH GEFESSELT IST,ZU DIR FUHRT UNS KEIN WEG MEHR ZURUCK!

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UNGLÜCKLICHE HEIMAT,AN DIE UNSER HERZ IMMER NOCH GEFESSELT IST,ZU DIR FUHRT UNS KEIN WEG MEHR ZURUCK!

Katharine Tier

30 Steven Ebel, Gestrandete

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CHRISTOPH GEDSCHOLD Dirigent

Christoph Gedschold studierte Klavier und Dirigieren in Leipzig und in Hamburg bei Christof Prick. Seit der Spielzeit 2009/10 ist er 1. Kapellmeister am STAATSTHEATER KARLSRUHE. Mit großem Erfolg bei Publi-kum und Presse übernahm er die Musikali-sche Leitung von Die griechische Passion, Euryanthe, La Gioconda und der deutschen Erstaufführung von Die Passagierin sowie der Ballett-Premiere Siegfried. Er dirigierte u. a. das Gewandhausorchester Leipzig, das Museumsorchester Frankfurt, das Na-tionaltheaterorchester Mannheim, die Bay-erische Staatsphilharmonie Nürnberg, das Basler Sinfonieorchester sowie das New Japan Philharmonic in Tokio. In der Spiel-zeit 2014/15 war Christoph Gedschold als Gastdirigent am Theater Basel und an der Oper Leipzig zu erleben. Im Mai 2015 folgte sein Nordamerika-Debüt beim Orchestre symphonique de Montréal. Ab der Spielzeit 2015/16 wechselt er als Kapellmeister an die Oper Leipzig.

ARILA SIEGERT Regie

Arila Siegert erhielt ihre künstlerische Ausbildung bei Palucca in Dresden. Erste Engagements führten sie zu Tom Schilling ans Tanztheater der Komischen Oper Berlin unter Walter Felsenstein. Als Erste Solistin wechselte sie an die Semperoper Dresden. 1987 gründete sie am dortigen Staatsschau-spiel ihr erstes eigenes Tanztheater. Solo-abende mit eigenen Choreografien führten sie um die ganze Welt. Abendfüllende Ballette entstanden in Berlin, Leipzig, Köln und Wien. Sie arbeitete mit Ruth Berghaus und Peter Konwitschny und leitete die Bau-hausbühne Dessau. Ihre erste Opernregie war 1998 Verdis Macbeth in Ulm. Seitdem entstanden über vierzig weitere Inszenie-rungen. 2014 gab sie mit der Zauberflöte in Florida ihr Regiedebüt in den USA. Sie erhielt den Tanzpreis der Kritiker, das Bun-desverdienstkreuz und ist Mitglied der Aka-demien der Künste in Berlin und Dresden. In Karlsruhe inszenierte sie 2011/12 Romeo und Julia auf dem Dorfe von Frederick Delius.

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THILO REUTHER Bühnenbild

Thilo Reuther absolvierte sein Bühnenbild-studium bei Achim Freyer an der Hoch-schule der Künste Berlin und schloss als Meisterschüler ab. Seit 1994 ist er als Büh-nen- und Kostümbildner sowie als Licht- und Videodesigner für Oper, Schauspiel und Tanz tätig. In den letzten Jahren arbeitete er u. a. mit Sebastian Baumgarten, Her-mann Schmidt-Rahmer, Karin Henkel, Has-ko Weber und den Choreografinnen Anna Huber und Sasha Waltz in Berlin, Hamburg, Essen, Düsseldorf, Stuttgart, Zürich, Paris und St. Petersburg. 2008 und 2013 war er für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert. 2013 erfolgte die Einladung zum 50. Theatertreffen nach Berlin mit der Pro-duktion Die heilige Johanna der Schlacht-höfe in der Regie von Sebastian Baum-garten. 2014 wurde er mit dem Lichtdesign von Le Sacre du Printemps am Marijnski-Theater St. Petersburg (Choreografie Sasha Waltz) für den Russischen Theaterpreis „Goldene Maske“ nominiert.

MARIE-LUISE STRANDT Kostümbild

Ihre Theaterarbeit begann – nach einem Modestudium an der Hochschule der Küns-te Berlin – als Theatermalerin an der Deut-schen Staatsoper, wo sie von Ruth Berg-haus entdeckt wurde. Gemeinsame Arbei-ten führten sie an die großen Opernhäuser Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie nach Paris und London. Die Zusam-menarbeit mit Arila Siegert begann 1996 mit Tanztheaterprojekten am Bauhaus Dessau. Ihre erste gemeinsame Opernproduktion war 1998 Macbeth in Ulm. Neben ihrer Theaterarbeit ist sie durch Lehraufträge im Fach Mode und Bühne in Berlin, Dresden und Zürich verpflichtet. In letzter Zeit schuf Marie-Luise Strandt u. a. die Kostüme für Lohengrin am Theater Basel, für Alvaro Schoecks Inszenierung von Tod in Venedig am Pfalztheater Kaiserslautern sowie mit Arila Siegert für Agrippina, Jenůfa und Georg Philipp Telemanns Otto. Zukünftige Projekte führen sie an die Opernhäusern in Sofia, Lyon und Freiburg.

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KATHARINE TIER IphigenieAls ehemaliges Mitglied des Adler Fellowship Programs der San Fran-cisco Opera war die australische Mezzosopranistin weltweit u. a. als Carmen, Charlotte in Werther, Rossinis Tancredi und in Liederabenden zu hören. Seit 2011 ist sie Ensemblemitglied des STAATSTHEATERS KARLS-RUHE. 2015/16 gestaltet sie u. a. Brangäne in Tristan und Isolde.

SEUNG-GI JUNG ThoasDer koreanische Bariton studierte in Seoul und Karlsruhe. Engagements führten ihn u. a. nach Bern, Augsburg, zum Menuhin-Festival nach Gstaad und ans Théâtre du Capitole in Toulouse. 2011 debütierte er als Marcello in La Bohème am Teatro La Fenice. In der Spielzeit 2015/16 ist er u. a. als Kurwenal in Tristan und Isolde und als Macbeth zu erleben.

LUCIA LUCAS ThoasDie Bariton-Sängerin war Mitglied des Studios der Santa Fe Opera und Stipendiatin der Deutschen Oper Berlin. Gastspiele führten sie nach Tu-rin, Chicago, Santa Barbara, Sacramento und mit dem STAATSTHEATER KARLSRUHE nach Daegu. In Karlsruhe singt sie u. a. Ford in Falstaff und Escamillo in Carmen.

ANDREW FINDEN OrestDer australische Bariton studierte in Sydney und London, wo ihm an der Guildhall School of Music and Drama 2009 der Harold Rosenthal Preis verliehen wurde. Seit 2011/12 ist er Ensemblemitglied am STAATSTHEATER KARLSRUHE. In der Spielzeit 2015/16 singt er u. a. Graf d‘Oberthal in Der Prophet, Papageno in Die Zauberflöte sowie Schaunard in La Bohème.

ARMIN KOLARCZYK OrestDer in Trento (Italien) aufgewachsene Bariton gehörte zehn Jahre dem Theater Bremen an, bevor er ans STAATSTHEATER KARLSRUHE kam. Hier gestaltete er neben den großen Mozart-Partien Wagners Wolfram und Beckmesser und John Adams Doctor Atomic. Zukünftige Partien sind Hig-gins in My Fair Lady und Kurwenal in Tristan und Isolde.

STEVEN EBEL PyladesEbel war Teilnehmer des Jette Parker Young Artists Programme am Royal Opera House in London, wo der Tenor sein Debüt als Victor / Gaston in Korngolds Die tote Stadt hatte. Dem STAATSTHEATER KARLSRUHE gehört er seit der Spielzeit 2011/12 an. Er sang u. a. Don Basilio in Die Hochzeit des Figaro und Steuermann in Der fliegende Holländer.

JESUS GARCIA a. G. PyladesDer Amerikaner erhielt etliche Auszeichnungen, z. B. den Tony Award als Ro-dolfo in einer Broadway-Produktion von La Bohème. Gastengagements führ-ten ihn u. a. an die Berliner und die Hamburgische Staatsoper, nach Houston und Marseille. Als neues Karlsruher Ensemblemitglied wird er 2015/16 als Macduff in Macbeth und als Tebaldo in I Capuleti e i Montecchi zu sehen sein.

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MASAMI SATO 1. PriesterinDie Sopranistin studierte Gesang in Nagoya und Hamburg, wo sie für den NDR-Chor tätig war. Seit 2001 ist sie Mitglied des BADISCHEN STAATS-OPERNCHORES. 2011 war sie als Solistin im Rahmen der Nachtklänge in „Musik aus Japan“ zu erleben und sang diverse Solopartien u. a. in Ro-meo und Julia auf dem Dorfe.

CAMELIA TARLEA 1. PriesterinDie rumänische Sängerin sang bereits während ihres Studiums Partien wie Susanna und Barbarina in Die Hochzeit des Figaro oder Corinna in Rossinis Il viaggio a Reims. Sie gastierte an der Deutschen Oper am Rhein als Erster Knabe in Die Zauberflöte und als Kinderstimme in Die Frau ohne Schatten. Seit 2011 ist sie Mitglied im BADISCHEN STAATSOPERNCHOR.

CORNELIA GUTSCHE 2. PriesterinCornelia Gutsche studierte an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden und ist seit 1996 festes Mitglied im BADISCHEN STAATSOPERNCHOR. Sie übernahm mehrere solistische Partien, wie z. B. Eléonore in Ritter Blaubart sowie Glücksradfrau, Zweite Bäuerin in Romeo und Julia auf dem Dorfe und das Sopran-Solo in Peter Grimes.

NICOLE HANS 2. PriesterinDie Sopranistin studierte in Aachen und Würzburg Gesang und schloss ihr Konzertexamen mit Auszeichnung ab. Neben zahlreichen Liederabenden und Oratorien wirkte sie bei Liedaufnahmen des SWR sowie bei CD-Ein-spielungen mit. Am STAATSTHEATER KARLSRUHE singt sie seit vielen Jah-ren im STAATSOPERNCHOR und war in diversen Solopartien zu erleben.

YANG XU Ein SkytheDer Bassbariton absolvierte sein Studium in Peking. Seit 2013/14 ist er Mit-glied des Karlsruher OPERNSTUDIOS und verkörperte am STAATSTHEA-TER KARLSRUHE bereits Graf Ribbing in Ein Maskenball und den Hahnkerl in der Kinderoper Wo die wilden Kerle wohnen. In der Spielzeit 2015/16 singt er u. a. Mordec in Knight Crew und Alcindoro in La Bohème.

MEHMET ALTIPARMAK Der TempeldienerDer junge Bariton studierte an der Mimar-Sinan-Universität in Istanbul bei Payam Koryak. Meisterkurse bei Elena Filipova, Amelia Felle und Christa Ludwig ergänzten seine Ausbildung. 2014 ging er als Gewinner aus dem 14. Siemens Gesangswettbewerb in Istanbul hervor und gehört somit seit 2014/15 dem OPERNSTUDIO am STAATSTHEATER KARLSRUHE an.

CONSTANZE KIRSCH Eine GriechinDie Sopranistin studierte von 2006 bis 2010 bei Marga Schiml an der Hoch-schule für Musik Karlsruhe und anschließend am Institut für Musiktheater bei Christiane Libor. Nachdem sie 2013 bei den Osterfestspielen in Baden-Baden und 2014 am Nationaltheater Mannheim gastierte, ist sie seit 2014/15 Mitglied des OPERNSTUDIOS am STAATSTHEATER KARLSRUHE.

36 Katharine Tier, Armin Kolarczyk

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38 Armin Kolarczyk, Katharine Tier, Staatsopernchor, Gestrandete

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BILDNACHWEISE

TITELFOTO Felix GrünschlossPROBENFOTOS, PORTRAITS GESTRANDETE Falk von Traubenberg

IMPRESSUM

HERAUSGEBER BADISCHES STAATSTHEATERKARLSRUHE

GENERALINTENDANT Peter Spuhler

VERWALTUNGSDIREKTOR Michael Obermeier

OPERNDIREKTOR Michael Fichtenholz

LEITENDER DRAMATURG OPERCarsten Jenß

REDAKTIONRaphael Rösler

KONZEPT DOUBLE STANDARDS BERLIN www.doublestandards.net

GESTALTUNGKristina Schwarz

DRUCK medialogik GmbH, Karlsruhe

BADISCHES STAATSTHEATER KARLSRUHE 2014/15, Programmheft Nr. 258www.staatstheater.karlsruhe.de

TEXTNACHWEISE

Statistiken: Ministerium für Integration Baden-Württemberg

Die Texte sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.

Sollten wir Rechteinhaber übersehen haben, bitten wir um Nachricht.

Armin Kolarczyk, Katharine Tier

RUHE KEHRT IN MEIN HERZ ZURUCK.