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Die heilende Kraft der Achtsamkeit Jon Kabat-Zinn und Saki SantoreIli im Gespräch mit Petra Meibert und Angelika Wild-Regel jon Kabat-Zinn Jon Kabat-Zlnn, Ph. D., ehemaliger Mole- kularblologe und Anatomieprofessor, Ist Meditationslehrer, Schriftsteller. Wissen- schaftler. Er lehrte und arbeitete als Pro- fessor (emeritiert) an der medizinischen Universität von Massachusetts, wo er als geschäftsführender Direktor an der Gründung des Zentrums für ..Mindfulness in Medlcine, Health Care and Soclety" und dessen ..Stress Reduction Clinie" maßgeblich beteiligt war. Er ist Mitorga- nisator des Academic Consortium on In- tegrative Medlcine In den USAund Autor verschiedener Bücher. Saki SantoreJli Prof. Dr. Sakl SantoreIli ist Direktor der ..Stress-Reduction Clinie" und des ..Cen- ter for Mindfulness". Dr. SantoreIli leitet zudem die klinischen und pädagogischen Dienste Im Zentrum für Achtsamkeit In Medizin, Gesundheitsvorsorge und Ge- sellschaft. Er ist seit zwanzig jahren Im Bereich der Geist-Körper-Medizln sowie der integrativen Medizin tätig. jon Kabat-Zinn entwickelte 1979 ein achtwöchiges Trainingsprogramm zur Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit (MBSR - Mindfulness-Based Stress Reduction) mit acht Gruppensit- zungen und einem ganztägigen Schwei- ge-Seminar. Verschiedene formale Medi- tationspraktiken bilden den Kern des Programms wie Sitz- und Gehmeditation, Yoga und Körpermeditation. Neben der formalen Praxis kommt der Kultivierung der Achtsamkeit im täglichen Leben gro- ße Bedeutung zu. PiD: Prof. Kabat-Zlnn. wie sind Sie selbst dazu gekommen. Meditation zu praktizie- ren und welche Erfahrungenhaben Sie da- mit gemacht? J. Kabat-Zinn: Ich habe schon früh eine Sehnsucht in mir verspürt, die Welt nicht nur so zu verstehen, wie man es von mir erwartete, also in Begriffen der Naturwis- senschaften oder der Geisteswissenschaf- ten. So habe ich bereits in jungen jahren nach einer integrativen Möglichkeit des Verständnisses der Welt gesucht, in der sich unterschiedliche Ansichten und Möglichkeiten, die Welt zu betrachten, vereinigen und habe schließlich die Me- ditation entdeckt Ich habe verschiedene Wege ausprobiert und schließlich 1966 mit formaler Meditation in der Zen-Tra- dition begonnen. Ich habe diese Medita- tionsform geliebt und praktiziere sie noch immer. Prof. Kabat-Zlnn.was hat Sie motiviert, die Achtsamkeitspraxis In einem Acht-Wochen- Kurs für chronisch kranke Menschen anzu- bieten? j. Kabat-Zinn: Nun, je mehr ich selbst in die Erfahrung der Meditati9n eindrang, desto mehr wollte ich sie für mich zu ei- ner Lebensweise machen. Ich begann Rüdiger Standhardt & Dr. Comelia Löluner www.giessener-forum.de mich also zu fragen, wie ich einen Beruf daraus machen könnte, der es mir erlau- ben würde. das, was ich entdeckte, mit a.nderen Menschen zu.teilen, mit Men- schen, die chronisch krank sind und möglicherweise sehr viel durch die Medi- tation gewinnen könnten. Schließlich hatte ich die Vision, die Meditation im Rahmen eines achtwöchigen Programms in der Klinik anzubieten, in der ich arbei- tete. Und damit wurde es möglich, Men- schen zu erreichen, die ansonsten durch die Lücken unseres Gesundheitssystems fallen würden. Ich wollte ihnen etwas an- bieten, das sie selber für sich tun konn- ten, auf der Grundlage einer Art intensi- ven Schulungsprogramms in Medita- tionsübungen, einschließlich des achtsa- men Hatha-Yoga. Ich hoffte, dass dies un- gemein hilfreich für diese Menschen sein könnte. Ich war also 35 jahre alt, als ich das Stressreduktionsprogramm ins Leben rief als Ergebnis der Suche danach, was meine Aufgabe auf diesem Planeten ist. Nun, ich glaube, ich habe sie gefunden. Prof. Santorelli. welcher Personenkreis nimmt an den Achtsamkeitsschulungen teil und was bringt Menschen dazu, während des achtwöchigen Programms Jeden Tag 45 Minuten zu üben? S. SantoreIli: Die Menschen, die zu uns kommen, haben entweder eine Krank- heitsdiagnose wie etwa chronische Schmerzen oder sie kommen, weil sie sich nicht wohl fühlen oder nicht "sie selbst" sind. Manche der Probleme, die Menschen bewegen, an einem MBSR-Kurs teilzu- nehmen, haben also mit dem körperli- chen Wohlbefinden zu tun, andere mit der eigenen Identität. Und dann kommen da natürlich noch Menschen zu uns, die 1

Die heilende Kraft der Achtsamkeit...2013/02/01  · Die Praxis der Achtsamkeit ist das Herz der buddhistischen Meditation und die-ser Weg ist im Grunde die Arbeit eines ganzen Lebens

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Page 1: Die heilende Kraft der Achtsamkeit...2013/02/01  · Die Praxis der Achtsamkeit ist das Herz der buddhistischen Meditation und die-ser Weg ist im Grunde die Arbeit eines ganzen Lebens

Die heilende Kraft der AchtsamkeitJon Kabat-Zinnund Saki SantoreIli im Gespräch mit Petra Meibert und Angelika Wild-Regel

jon Kabat-Zinn

Jon Kabat-Zlnn, Ph. D., ehemaliger Mole-kularblologe und Anatomieprofessor, IstMeditationslehrer, Schriftsteller. Wissen-schaftler. Er lehrte und arbeitete als Pro-fessor (emeritiert) an der medizinischenUniversität von Massachusetts, wo er alsgeschäftsführender Direktor an derGründung des Zentrums für ..Mindfulnessin Medlcine, Health Care and Soclety"und dessen ..Stress Reduction Clinie"maßgeblich beteiligt war. Er ist Mitorga-nisator des Academic Consortium on In-tegrative Medlcine In den USAund Autorverschiedener Bücher.

Saki SantoreJli

Prof. Dr. Sakl SantoreIli ist Direktor der..Stress-Reduction Clinie" und des ..Cen-ter for Mindfulness". Dr. SantoreIli leitet

zudem die klinischen und pädagogischenDienste Im Zentrum für Achtsamkeit InMedizin, Gesundheitsvorsorge und Ge-sellschaft. Er ist seit zwanzig jahren ImBereich der Geist-Körper-Medizln sowieder integrativen Medizin tätig.

jon Kabat-Zinn entwickelte 1979 einachtwöchiges Trainingsprogramm zurStressbewältigung durch die Praxis derAchtsamkeit (MBSR - Mindfulness-BasedStress Reduction) mit acht Gruppensit-zungen und einem ganztägigen Schwei-ge-Seminar. Verschiedene formale Medi-tationspraktiken bilden den Kern desProgramms wie Sitz- und Gehmeditation,Yoga und Körpermeditation. Neben derformalen Praxis kommt der Kultivierungder Achtsamkeit im täglichen Leben gro-ße Bedeutung zu.

PiD: Prof. Kabat-Zlnn. wie sind Sie selbstdazu gekommen. Meditation zu praktizie-ren und welche Erfahrungenhaben Sie da-mit gemacht?J. Kabat-Zinn: Ich habe schon früh eineSehnsucht in mir verspürt, die Welt nichtnur so zu verstehen, wie man es von mirerwartete, also in Begriffender Naturwis-senschaften oder der Geisteswissenschaf-

ten. So habe ich bereits in jungen jahrennach einer integrativen Möglichkeit desVerständnisses der Welt gesucht, in dersich unterschiedliche Ansichten undMöglichkeiten, die Welt zu betrachten,vereinigen und habe schließlich die Me-ditation entdeckt Ich habe verschiedeneWege ausprobiert und schließlich 1966mit formaler Meditation in der Zen-Tra-

dition begonnen. Ich habe diese Medita-tionsform geliebt und praktiziere sienoch immer.

Prof. Kabat-Zlnn.was hat Sie motiviert, dieAchtsamkeitspraxis In einem Acht-Wochen-Kurs für chronischkranke Menschen anzu-bieten?

j. Kabat-Zinn: Nun, je mehr ich selbst indie Erfahrung der Meditati9n eindrang,desto mehr wollte ich sie für mich zu ei-

ner Lebensweise machen. Ich begann

Rüdiger Standhardt & Dr. Comelia Lölunerwww.giessener-forum.de

mich also zu fragen, wie ich einen Berufdaraus machen könnte, der es mir erlau-ben würde. das, was ich entdeckte, mita.nderen Menschen zu.teilen, mit Men-schen, die chronisch krank sind undmöglicherweise sehr viel durch die Medi-tation gewinnen könnten. Schließlichhatte ich die Vision, die Meditation imRahmen eines achtwöchigen Programmsin der Klinik anzubieten, in der ich arbei-tete. Und damit wurde es möglich, Men-schen zu erreichen, die ansonsten durchdie Lücken unseres Gesundheitssystemsfallen würden. Ich wollte ihnen etwas an-bieten, das sie selber für sich tun konn-ten, auf der Grundlage einer Art intensi-ven Schulungsprogramms in Medita-tionsübungen, einschließlich des achtsa-men Hatha-Yoga. Ich hoffte, dass dies un-gemein hilfreich für diese Menschen seinkönnte.

Ich war also 35 jahre alt, als ich dasStressreduktionsprogramm ins Lebenrief als Ergebnis der Suche danach, wasmeine Aufgabe auf diesem Planeten ist.Nun, ich glaube, ich habe sie gefunden.

Prof. Santorelli. welcher Personenkreisnimmt an den Achtsamkeitsschulungen teilund was bringt Menschen dazu, währenddes achtwöchigen Programms Jeden Tag45 Minuten zu üben?S. SantoreIli: Die Menschen, die zu unskommen, haben entweder eine Krank-heitsdiagnose wie etwa chronischeSchmerzen oder sie kommen, weil siesich nicht wohl fühlen oder nicht "sieselbst" sind.

Manche der Probleme, die Menschenbewegen, an einem MBSR-Kurs teilzu-nehmen, haben also mit dem körperli-chen Wohlbefinden zu tun, andere mitder eigenen Identität. Und dann kommenda natürlich noch Menschen zu uns, die

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Prof. Kabat-Zinn und Prof. SantoreIli

zum gegenwärtigenZeitpunktkeineof-fenkundigen medizinischen Symptomeerkennen lassen, die aber das zu spürenbeginnen,was wir dieLast des Lebens aufdiesem Planeten im21. Jahrhundert nen-nen könnten. Ein Le-bensstil, durch den das Tempo und derDruck so intensiv wurden, dass es nichtleicht ist, damit Schritt zu halten undtrotzdem ein gewisses Maß an Geistes-klarheit und Wohlbefinden aufrechtzuer-halten. Diese Menschen suchen eine Ant-

wort auf die Frage: "Wie kann ich mitdiesem Stress besser umgehen lernen,ohne dass ich krank werde?"

J. Kabat-Zinn: Wir hatten die Idee, in-nerhalb eines relativ beschränkten Zeit-rahmens mithilfe der AchtsamkeitspraxisMenschen einen Weg zu zeigen, ihreSelbstheilungskräfte sowie tiefen innerenRessourcen der Gesundung und derTransformation zu mobilisieren undzwar nicht nur während der acht Wo-chen, sondern während ihrer gesamtenLebenszeit.

Begriff "Stress" auf die aIltägliche Situa-tion des Menschen hin und auf den Um-gang mit Angst, Belastungen, Kummer

und diesem grundle-genden Unbefriedigt-Sein, was heutzutageviele Menschen erle-

ben. Wir wollten mög-lichst viele Menschen ansprechen, weilStress, also der Umgang mit unangeneh-men, belastenden Gefühlen und Geistes-zuständen eines der grundlegendenProbleme der Menschen ist.

Nun, es gibt viele Dinge, die kurzfristigStress reduzieren können - etwa Sporttreiben, ein Kinobesuch, in Urlaub fahrenoder Ablenkungen ganz allgemein.

Wenn wir unser Programm Stressre-duktion durch die Praxis der Achtsamkeitnennen, dann deutet das darauf hin, dasses im MBSR mehr darum geht, eine Hal-tung des Annehmens zu kultivieren undeine Art Bewusstseinswandel zu initiie-ren, also einen grundlegend anderen Um-gang mit unserenSchwierigkeiten, beidem wir eine Ver-trautheit kultivierenmit dem Stress. Wirerkennen dadurch, wie wir durch einenMangel an Gewahrsein oder durch dieAktivitäten unseres Geistes, unser Leidenselbst erzeugen oder es intensivieren.

Die Praxis der Achtsamkeit ist das Herzder buddhistischen Meditation und die-

ser Weg ist im Grunde die Arbeit einesganzen Lebens und nicht etwas, das

Stress ist eines der grund-

legenden Probleme derMenschen.

Prof. Kabat-Zinn.Sie haben das ProgrammwStressbewältigung durch Achtsamkeit"(wMindfulness-BasedStress Reduction") ge-nannt. Was bedeutet der Begriff "Stress"für Sie?J. Kabat-Zinn:Stressist ein sehr allgemei-ner Begriffund gleichzeitigein universel-les Phänomen. das jeder kennt, und vieleMenschen leiden darunter. So weist der

Wir lehren, die alten auto-matischen Verhaltensmus-ter achtsam anzunehmen.

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man in acht Wochen erledigen könnte.

Das Programm ist also so etwas wieeine Startrampe, von der aus die Men-schen auf eine neue Art und Weise mit

ihrem eigenen Leben und der Welt in Be-ziehung kommen können. Etwas, das ih-nen ein größeres Maß an Freiheit ermög-licht, um Eigenschaften wie Friedfertig-keit, Selbstakzeptanz, Geduld, Klarheitund Geistesruhe zu entwickeln. Aber

auch um all jene gegensätzlichen Geis-teszustände wie Verblendung, Eifersucht,Zorn, Hass und aIles, in das wir uns ver-stricken, annehmen zu können.

So geht es für uns nicht darum, dassnach der Teilnahme an einem MBSR-Pro-

gramm alle negativen Gefühle ver-schwunden sind, sondern wir lehren. diealten automatischen Verhaltensmusterachtsam anzunehmen und dann damitzu arbeiten. Wenn Sie nämlich diese

grundlegenden Aspekte Ihres Seins ver-nachlässigen, dann können Sie einfachkein gesundes oder heiles, also "ganzes"Leben führen, weil es tiefe Aspekte IhresLebens gibt, denen Sie sich nicht steIlen.

So eröffnet die Kraft der Meditation,

bei der es um den gegenwärtigen Augen-blick geht sowie darum, nicht zu urteilen,den Teilnehmern Möglichkeiten, eineNähe zu sich selbst zu kultivieren, die inder Tat heilend und transformierend ist.Zumindest ist es meine tiefe Überzeu-

gung, dass dem so ist, und wir versuchenauch Forschungsarbeit zu leisten, die soobjektiv wie möglich die Auswirkungender Achtsamkeitsschulung auf körperli-che und geistige Gesundheit belegt.

Prof. Santorelll. wie können Achtsomkeits-übungen. die den Menschenzunächst emp-findsamer für sich und seine Umwelt ma-chen. letztendlich zu seiner Genesung undHeilung beitragen?S. Santore1li: Der Prozess der Achtsam-

keitspraxis hat etwas Rezeptives. DerÜbende entwickelt eine Bereitschaft, in-

nezuhalten und die

Dinge anzusehen. DieMenschen werdensensibler und feinfüh-

liger. Lassen Sie michdies am Beispiel der Migräne erläutern:Die Übenden beginnen subtile Signale imKörper zu erkennen, bevor die Kopf-schmerzen auftreten, Signale, die sie zu-vor nicht wahrgenommen haben, undkönnen dann entsprechend reagieren.Oder: Eine Person mit einer Panikstörungwird durch das regelmäßige Praktizieren

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Die Menschen werden

sensibler und feinfühliger.

Sitzmeditation

von Achtsamkeitsübungen schon eineWeilevor dem EinsetzeneinerPanikatta-ckeauf die Empfindungenim Körperauf-merksam werden, die den GefühlenvonAngstoder Panikvorausgehen.

Es ist nicht so, dass diese SignaleundFrühwarnsymptomezuvor nicht da wa-ren. Es ist vielmehr so, dass die Men-schen dafür nicht so sensibilisiertwaren,wie sie es durch diePraxis der Achtsam-keit sind. Und wennsie für diese Signaleempfanglicher werden, dann beginnensie auch die Beziehungenzwischen Er-eignissen im Geist und Ereignissen imKörperzu erkennen. Das ermöglicht ih-nen eine Art von, nun, ich würde nichtunbedingt sagen Kontrolle,doch zumin-dest einen gewissen Einflussauf etwas,das zuvor ein konditionierter, automa-tisch ablaufender Prozesszu sein schien.DieÜbendenerkennen,dass sie sich tat-sächlich in diesen Prozess einschaltenkönnen in dem Sinne,dass sie mit die-sem konditioniertenProzessauf eine Artund Weise umgehen können, die nichtmehr konditioniert und automatisch ist,weil es zu einer Art von Bewusstseins-wandel gekommenist.

Prof. SantoreIli, es gibt ein Achtsamkeits.programm. das speziell für Menschen ent-wickelt wurde. die schon mehrmals Depres-sionen erlitten haben, die sog. achtsam-keitsbasierte kognitive Therapie (MBCT),um einenerneutendepressivenRückfallzu

Gedanken verlieren ihre

Energie und werden wieSeifenblasen.

vermelden oder anders damit umzugehen.Hält die Achtsamkeitspraxisjetzt auch Ein.zug in die Psychotherapie und wo liegt derUnterschiedzwischender MBCT und demMBSR-Programm?S. SantoreIli: Es gibt eine große Überlap-pung zwischen dem MBSR-und demMBCf-Programm. Ich glaube, dass MBSRdie Kognitive Verhaltens therapie auf eine

Weise beeinflussenkann, die das Potenzi-al für eine tief greifen-de Änderung in der

therapeutischen Haltung beinhaltet. Esgibt z.B. erste Forschungsergebnisse, diezeigen, dass ein akzeptierender, anneh-mender und bewusst wahrnehmender

Umgang mit Gedanken und Gefühlen inschwierigen Situation deutlich vorteil-hafter ist als eine Strategie des Ersetzensvon negativen Gedanken durch positive,so wie man es in der Kognitiven Verhal-tenstherapie bisher machen würde.

Ich glaube,dass MBSR einen gewissensynergetischen Effekt haben kann unddie Frage aufwirft,wie Achtsamkeit und

Verhaltenstherapie inWechselwirkung mit-einander treten kön-nen, was eine große Chance beinhaltet.

j. Kabat-Zinn: Vielleicht kann ich nochein oder zwei Dinge hinzufügen. Ichkomme gerade von einem internationa-len Kongress für Kognitive Therapie inGöteborg, wo der Dalai Lama mit Verhal-tenstherapeuten ins Gespräch kam; dabei

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stellte sich heraus, dass es tatsächlichÜberschneidungen gibt. Das liegt zumTeil daran, dass es in der Tradition destibetischen Buddhismus die analytischeMeditation gibt. Dabei wird der Verstandeingesetzt und äußerst scharfe Logik,unddiese Methode hat in der Tat viel mit der

Veränderung von Gedanken zu tun. Manlöscht Gedanken und Gefühle aus, diemit Zorn, Hass und Gier zu tun haben,und nährt Gedanken, bei denen es umdas Wohlergehen anderer geht, und setztsie an ihre Stelle.

Dies ist unserer Erfahrung nach etwas,das in der westlichen Kultur sehr leichtmissverstanden werden kann, weshalbwir diesen Ansatz im MBSR-Programmnicht benutzen. Man kann auf diese Artleicht in Wunschdenken abdriften und in

das Bemühen, etwas Unangenehmes ein-fach loswerden zu wollen.

Hinzu kommt noch ein anderer Grunddafür, dass wir das Ersetzen von Gedan-ken im MBSR-Ansatz nicht verwenden,was ihn von der traditionellen kognitivenVerhaltenstherapie unterscheidet. Es gibtin den meditativen Traditionen etwas tief

Ergreifendes, das mit dem Gewahrseinselbst in Bezug auf Gedanken und Gefüh-le zu tun hat. Dieses Gewahrsein wird aufeine Weise kultiviert, die stabil undnicht-urteilend ist und die Gedanken sobetrachtet, dass man nicht an ihnen haf-tet, sondern lernt, sie einfach als Ereig-nisse im Feld des Gewahrseins zu identi-

fizieren. So ist es möglich. eine tiefgrün-dige Erkenntnis der Vergänglichkeit vonGedanken zu gewinnen. Im Allgemeinenhalten wir unsere Gedanken für dieWahrheit, anstatt zu sehen, dass sie einProdukt des Geistes sind, das aus reinerGewohnheit eine solche Macht über unshat. Wenn man beginnt, die Gedankenauf die beschriebene Weise zu sehen,dann verlieren sie ihre Energie und wer-den einfach wie Seifenblasen. Wenn sie

diese mit dem Finger berühren, lösen siesich auf. Wenn das Gewahrsein die Ge-

danken oder die Ge-fühle auf eine solcheWeise wahrnimmt,dann können sie sichauflösen. Zumindest

aber halten wir sie nicht mehr für die

ganze Wirklichkeit, und das ist das be-freiende und heilende Potenzial.

Natürlich ist dies ein Weg und die Fä-higkeit entfaltet sich deshalb mit derZeit. Es ist nicht etwas, das man ein fürallemal erlangt. Jedermann verstrickt

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Yoga

sich in seine Gedanken und Gefühle. Da

gibt es. soweit ich weiß, keine Ausnah-men. Aber wie sehr wir uns verstricken,wie schnell wir uns verstricken und wie

lange wir verstrickt bleiben, das sindDinge, auf die wir enorm großen Einflusshaben können, wenn wir auf diese Weisepraktizieren. Ich glaube. wir haben imMoment die Chance zu einer tief greifen-den Veränderung in unserer Haltung zuKrankheit und psychischen Problemensowie zu einer wirklichen Rückbesin-

nung auf das eigene Innere und das tiefePotenzial für Heilung und Transformati-on, das der Achtsamkeitspraxis inne-wohnt.

Wir können das westliche Verständnis

des Geistes und Körpers mit den Jahrtau-sende alten kontemplativen Traditionendes Ostens zusammenführen und von ih-nen lernen. Wenn MBSR dazu beitragenkönnte, wäre das sehr gut. Diese Erfah-rungen auf die eine oder andere Weisezu trivialisieren, indem wir sie einfach ir-gendwie zusammenrnischen, ohne sie intiefer innerer Erfahrung persönlich er-kundet zu haben, würde bedeuten, dasswir eine großartige Gelegenheit versäu-men.

Wir bedanken uns für das Gespräch.

Weiterführende

literatur

1 Allmen F v. Die Freiheit entdecken. Vipassana

Meditation im Westen. Berlin: Theseus Vertag,

1990

2 Goldstein J. Vipassana-Meditation. Freiamt:

Arbor Verlag, 1999

3 Kabat-Zinn J. Gesund durch Meditation.

München: O. W. Barth, 2001

4 Kabat-Zinn J. Im Alltag Ruhe finden. Freiburg:

Herder Spektrum, 1998

5 Kabat-Zinn J. Zur Besinnung kommen. Freiamt

Arbor Verlag, 2006

6 Meibert P, Michalak J. Heidenreich T. Achtsam-

keitsbasierte Stressreduktion - Mindfulness-

Based Stress Reduetion (MBSR) nach Kabat-

Zinn. In: Heidenreich T. Michalak J (Hrsg):

Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychothe-

rapie - ein Handbuch. Tübingen: Deutsche

Gesellschaft für Verhaltenstherapie, 2004:

142-191

7 SantoreIli S. Zerbrochen und doch ganz.

Freiamt Arbor Verlag, 1999

(Die heilende Kraft der Achtsamkeit. Jon Kabat-Zinn und Saki SantoreIli im Gespräch mit Petra Meibert und

Angelika Wild-Regel. In: Psychotherapie im Dialog 7 (2006) 3, S. 318-321)

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