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G. Rokita, Vorlesung Sozialrecht SOZIALRECHT Inhalts-Übersicht I. Materieller und formeller Begriff des Sozialrechts (S. 5- 6) Vorgaben der Verfassung - Das Sozialgesetzbuch II. Allgemeine Prinzipien des Sozialrechts - SGB I - (S. 6 - 12) A. Grundsätze Die sozialen Rechte §§ 1-10 Erstes Buch des Sozialgesetzbuches (SGB I) B. Das Sozialrechtsverhältnis 1. Allgemeine Voraussetzungen Rechtsanspruch / Ermessensleistungen (§ 38 SGB I) 2. Pflichten des Leistungsträgers aus dem Sozialrechtsverhältnis Auskunft - Beratung - Entgegennahme des Antrags ( §§ 13-17 SGB I) - Untersuchungsgrundsatz - rechtliches Gehör -Akteneinsicht -Wahrung des Sozialgeheimnisses - Entscheidungspflicht (Grund- sätze des Verwaltungsverfahrens geregelt in SGB X §§ 8-52) 3. Pflichten des Antragstellers (§§ 60 - 65 SGB I) Angabe von leistungsrelevanten Tatsachen, Mitteilung über eingetretene Veränderungen - persönli- ches Erscheinen -Pflicht zur Bereitschaft, sich ärztlich untersuchen zu lassen, sich einer Heilbehand- lung zu unterziehen, an berufsfördernden Maßnahmen teilzunehmen ("Rehabilitation vor Rente") 4. Folgen der Pflichtverletzung durch den Antragsteller (Leistungsempfänger) Berechtigung des Leistungsträgers zu Versagung oder Entzug der Leistung (§ 66 SGB I) 5. Folgen der Pflichtverletzung durch den Leistungsträger Grundregel: Bei Verletzung allgemeiner Verfahrensvorschriften kein Anspruch auf Aufhebung der bis- herigen Entscheidung, wenn in der Sache keine andere Entscheidung getroffen werden könnte (§ 42 SGB X). Bei Verletzung von Beratungs- und Aufklärungspflichten: sozialrechtlicher Herstellungsanspruch 6. Aufhebung von Verwaltungsakten (§§ 44 - 48 SGB X) III. Die Sozialversicherung (S. 12-13) Ziele - Probleme - Strukturprinzipien

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G. Rokita, Vorlesung Sozialrecht

SOZIALRECHT

Inhalts-Übersicht

I. Materieller und formeller Begriff des Sozialrechts (S. 5- 6) Vorgaben der Verfassung - Das Sozialgesetzbuch

II. Allgemeine Prinzipien des Sozialrechts - SGB I - (S. 6 - 12) A. Grundsätze

Die sozialen Rechte §§ 1-10 Erstes Buch des Sozialgesetzbuches (SGB I) B. Das Sozialrechtsverhältnis 1. Allgemeine Voraussetzungen Rechtsanspruch / Ermessensleistungen (§ 38 SGB I)

2. Pflichten des Leistungsträgers aus dem Sozialrechtsverhältnis

Auskunft - Beratung - Entgegennahme des Antrags ( §§ 13-17 SGB I) - Untersuchungsgrundsatz - rechtliches Gehör -Akteneinsicht -Wahrung des Sozialgeheimnisses - Entscheidungspflicht (Grund-sätze des Verwaltungsverfahrens geregelt in SGB X §§ 8-52)

3. Pflichten des Antragstellers (§§ 60 - 65 SGB I) Angabe von leistungsrelevanten Tatsachen, Mitteilung über eingetretene Veränderungen - persönli-ches Erscheinen -Pflicht zur Bereitschaft, sich ärztlich untersuchen zu lassen, sich einer Heilbehand-lung zu unterziehen, an berufsfördernden Maßnahmen teilzunehmen ("Rehabilitation vor Rente")

4. Folgen der Pflichtverletzung durch den Antragsteller (Leistungsempfänger)

Berechtigung des Leistungsträgers zu Versagung oder Entzug der Leistung (§ 66 SGB I)

5. Folgen der Pflichtverletzung durch den Leistungsträger Grundregel: Bei Verletzung allgemeiner Verfahrensvorschriften kein Anspruch auf Aufhebung der bis-herigen Entscheidung, wenn in der Sache keine andere Entscheidung getroffen werden könnte (§ 42 SGB X).

Bei Verletzung von Beratungs- und Aufklärungspflichten: sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

6. Aufhebung von Verwaltungsakten (§§ 44 - 48 SGB X)

III. Die Sozialversicherung (S. 12-13)

Ziele - Probleme - Strukturprinzipien

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IV. Das Sozialversicherungsverhältnis - SGB IV (S. 13 - 19) 1. Grundsätze 2. Regelungen über Arbeitsentgelt und sonstiges Einkommen 3. Geringfügige Beschäftigung 4. Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis 5. Allgemeine Grundsätze des Beitragsrechts 6. Die verschiedenen Funktionen von Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit

V. Die Krankenversicherung - SGB V (S. 19 - 23) 1. Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit 2. Beginn und Ende der Leistungsansprüche 3. Die Leistungen der Krankenversicherung 4. Zentrale Begriffe der Krankenversicherung 5. Krankengeld 6. Allgemeine Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung 7. Finanzierungsprobleme

VI. Die Unfallversicherung – SGB VII (S. 24 - 33)

A. Vor- und Umfeld der gesetzlichen Unfallversicherung 1. Der historische Ausgangspunkt 2. Grundsätze der sozialen Unfallversicherung 3. Spätere Erweiterungen der Unfallversicherung 4. Gegenwärtige Bedeutung 5. Kreis der Versicherten 6. Organisation und Beitragsentrichtung 7. Die Unfallarten

B. Der Arbeitsunfall mit Nebenformen 1. Begriff 2. Der Ursachenzusammenhang 3. Weitere Kausalitätsfragen 4. Eigenwirtschaftliche Tätigkeiten 5. Gemischte Tätigkeiten 6. Der Wegeunfall 7. Berufskrankheiten 8. Sonderproblem Alkohol und Arbeitsunfall

C. Die Leistungen

1. Leistungsarten im Überblick 2. Einzelne Leistungen 3. Nähere Bestimmungen zum Umfang der Geldleistungen

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D. Die Haftung des Unternehmers und der Unternehmensangehörigen (§§ 104 bis 113) E. Übergangsbestimmungen für das Beitrittsgebiet

VII. Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI (S. 33 - 54)

Übersicht über den Gesetzesaufbau Prinzipien der Rentenversicherung nach dem SGB VI A. Rentenarten B. Rentenrechtliche Zeiten

1. Beitragszeiten 2. Beitragsfreie Zeiten 3. Berücksichtigungszeiten

C. Die Wartezeitregelungen D. Die Höhe der Renten

1. Zur Abhängigkeit der Rentenhöhe vom Arbeitsverdienst 2. Der Einfluß der Lebensbeschäftigungszeit 3. Rentenart 4. Aktueller Rentenwert 5. Zugangsfaktor 6. Rentenformel

E. Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit F. Finanzierung der Renten G. Neuere Rentenreformgesetze

a) Altersvermögensgesetz („Riesterrente“) b) Altersvermögensergänzungsgesetz (Reform des Hinterbliebenenrentenrechts) c) Ehegatten-Rentensplitting d) Gesetz über die bedarfsorientierte Grundsicherung

Anhänge (S. 48 - 57)

Anhang 1 Gesetzesmaterialien Anhang 1a Altersvermögensgesetz („Riesterrente“) Anhang 1b Altersvermögensergänzungsgesetz (Reform des Hinterbliebenen-Rentenrechts) Anhang 1c Ehegatten-Rentensplitting Anhang 2 Rechengrößen 2002, 2001

VIII. Arbeitsförderung - SGB III (S. 54-61)

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A. Allgemeines - Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit B. Leistungsrecht

1. Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld 2. Arbeitslosigkeit 3. Erfüllung der Anwartschaftszeit 4. Meldung und Antragstellung 5. Höhe des Arbeitslosengeldes 6. Das Ruhen von Leistungen a) andere Sozialleistungen b) Arbeitsentgelt und Urlaubsabgeltung c) Entlassungsentschädigung d) Sperrzeit e) Arbeitskämpfe

7. Erlöschen des Anspruchs 8. Teilarbeitslosengeld 9. Arbeitslosenhilfe

IX. Grundförderung für Arbeitsuchende - SGB II (61-66) I. Allgemeines II. Materialien

X. Die soziale Pflegeversicherung - SGB XI (S. 66 - 68)

A. Prinzipien und Merkmale der Pflegeversicherung 1. Einrichtung eines neuen Zweiges der Sozialversicherung 2. Privatwirtschaftliche Leistungserbringer 3. Die Pflegekassen 4. - 7.

B. Die Grundsätze der Pflegeversicherung C. Leistungsberechtigter Personenkreis (§§ 20-27) D. Versicherungspflichtiger Personenkreis E. Leistungen der Pflegeversicherung F. Organisation G. Finanzierung H. Beziehungen der Pflegekassen zu den Leistungserbringern I. Pflegevergütung J. Private Pflegeversicherung

XI. Hinweise zur Klausurbearbeitung (S. 69-70)

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SOZIALRECHT

I. Materieller und formeller Begriff des Sozialrechts (SR) Abgrenzungen: nicht: - sozialgeprägtes Recht („soziales Recht“) - rechtliche Ordnung des Sozialen (= Recht überhaupt) Vorläufiger Begriff aus dem Alltagsverständnis von ,,sozial“ (von lat.: socialis = kameradschaftlich, also: einan-der zur Seite stehen, dem anderen - Bedürftigen - helfen): Sozialrecht ist ein Regelungssystem, das darauf abzielt, dem Bedürftigen mit den Mitteln des Rechts zu helfen und Defizite (Schwächen) auszugleichen Mittel der Hilfe: Zahlungen, Zahlungsbefreiungen, Sachleistungen, Schutzvorschriften, Herkunft der Mittel:

a) Selbsthilfegedanke ==>Versicherung b) Fremdhilfe ==>staatliche Gewährungen

Arten der Mittelgewährung:

a) Versicherungsleistungen b) Versorgungs- und Entschädigungsleistungen c) Fürsorgeleistungen d) Ausgleichs- und Förderungsleistungen f) Schutzleistungen

Weitere Prägung des Sozialrechts durch

a) verfassungsrechtliche Vorgaben („Sozialstaatsprinzip“) b) internationale Regelungen (hier maßgebender Begriff: „soziale Sicherheit“, „social security“), europ. Ge-

meinschaftsrecht zu a)

Verfassungsrechtliche Vorgaben: Sozialstaatsprinzip Ansatz in Art. 20 und 28 GG. Art. 20 Abs. 1: Die BR Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG: Die verfassungsmäßi-ge Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats entsprechen. Aus diesen Formulierungen (sozialer Bundesstaat und sozialer Rechtsstaat) haben Rechtswissenschaft und Rspr., insbes. die des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) den Sozialstaatsgrundsatz entwickelt. Dabei handelt es sich um - eine Staatszielbestimmung: Alles staatliche Handeln muß sich an diesem Ziel orientieren. Die Sozialstaat-lichkeit ist eines der "tragenden Prinzipien unseres Staates" (BVerfGE 3,381); - eine Handlungsermächtigung: Der Gesetzgeber ist befugt, leistend (und wenn nötig auch eingreifend) und sozialgestaltend tätig zu werden; - ein Handlungsauftrag: Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, "soziale Gerechtigkeit" herzustellen (5,198), die staatlichen Organe dazu, "für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“ (22,204). Sie haben "sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und um die Herstellung erträgli-cher Lebensbedingungen für alle zu bemühen" (BVerfGE 1,97,105). Der Staat hat für ein menschenwürdiges Existenzminimum für jedermann zu sorgen, hat Hilfe gegen Not und Armut bereitzustellen (1,159 ff.). Das Sozialstaatsprinzip verlangt insbes. staatliche Vorsorge und Fürsorge für einzelne oder Gruppen der Ge-

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sellschaft, die aufgrund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligungen in ihrer per-sönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind (45,376.387). Drei Punkte sind hervorzuheben: Einmal: Die genannten internationalen Normen enthalten Mindeststan-dards, die zum einen ausbaufähig sind, zu andern aber nichts über die inhaltliche Ausgestaltung des Sozial-rechts insgesamt und der einzelnen Sozialrechte aussagen. Zum anderen: Die Rspr des BVerG läßt dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum und schreibt nicht im einzelnen konkrete Inhalte bestimm-ter sozialer Rechte vor.'' Schließlich: Die internationale Entsprechung des deutschen Begriffs des "Sozial-rechts" ist derjenige der "Sozialen Sicherheit"; er findet sich auch in der deutschen Gesetzessprache.

Stellung des Sozialrechts in der Rechtsordnung: im wesentlichen dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Rege-lungsinstrument: Der Verwaltungsakt (im Unterschied zum Privatrecht: Vertrag). Schwierigkeit, sämtliche Gesichtspunkte in einer umfassenden Definition zusammenzufassen (grundlegender Begriff: ,,Bedarfssituation“, „Bedarfslage“). Deshalb: Formaler Begriff des Sozialrechts: Zum Sozialrecht zählen diejenigen Rechtsgebiete, die der Gesetzgeber selbst so bezeichnet, also im wesentlichen Begriffsverbindungen mit „Sozial-“. Formales Sozialrecht ist zusammengefaßt in den Büchern des Sozialgesetzbuches (erste „Kodifizierung“ seit dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900). II. Die Formulierung der Sozialen Rechte und die Ausgestaltung allgemeiner Prinzipien des Sozialrechts im SGB I A. Grundsätze Die sozialen Rechte (§§ 1 bis 10 SGB I) - Konkretisierung der Grundrechte als Teilhaberechte („soziale Rechte“ in den §§ 1 bis 10 SGB I) - § 11: Begrenzung der Sozialen Rechte auf die im Sozialgesetzbuch vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geld-

leistungen. - Beschreibung der einzelnen Sozialleistungen und einzelnen „Leistungsträger“ (§§ 18 bis 29). - Zuordnung einzelner Leistungsgesetze zum Gesamtsozialgesetzbuch durch Definition dieser Gesetze als

„besondere Teile des Sozialgesetzbuches“, z.B. frühere Reichsversicherungsordnung (RVO mit den Teilen Krankenversicherung [jetzt: SGB V], Rentenversicherung [jetzt: SGB VI] und Unfallversicherung [jetzt: SGB VII]); Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), Arbeitsförderungsgesetz (AFG, ersetzt und eingeglie-dert in das SGB seit 1.1.1998 als SGB III), Schwerbehindertengesetz (SchwbG - ersetzt und eingegliedert in das SGB seit 1.7.2001 als SGB IX), Bundesversorgungsgesetz (BVG), Bundessozialhilfegesetz (BSHG, nunmehr SGB XII) u.a. (SGB I § 68).

Konsequenz dieser Definition: Die allgemeinen Vorschriften des SGB I und des (wichtig!) SGB X gelten auch für diese Gesetze. B. Das Sozialrechtsverhältnis (SozRVh) 1. Allgemeine Voraussetzungen

Das SozRVh ist im wesentlichen ein Leistungsverhältnis zwischen dem Leistungssuchenden (denjenigen, die

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sich in einer Bedarfslage befinden) und dem Leistungsträger (der staatlichen Körperschaft, welche die Mittel verwaltet). Auf Sozialleistungen besteht - wenn im Gesetz nicht anders bestimmt - ein Rechtsanspruch (§ 38 SGB I). Un-terschied zu Ermessensleistungen (§ 39 SGB I): Behörde kann zwischen mehreren Möglichkeiten wählen, a-ber: Willkürverbot (Ermessen muß fehlerfrei ausgeübt werden). Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen, so-bald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen erfüllt sind (§ 40 SGB I). Folge: Es bedarf in der Regel keines Antrags, es sei denn, im Gesetz selbst wird ein Antrag gefordert (s. u.). Sachleis-tungen in der Kranken- und der Unfallversicherung werden prinzipiell ohne Antrag erbracht. Rechtsanspruch zwingt zu Bestimmung

a) des Inhalts und Begrenzung b) der Voraussetzungen der Leistungen, weil zwar der Bedarf, aber nicht die Mittel unbegrenzt sind.

Strukturelle Konsequenzen:

a) Strikte Bindung der Behörde an das Gesetz ermöglicht Vorhersehbarkeit der Entscheidung b) Leistungen kann sofort verlangt werden, sobald die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.

c) Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung bei Ablehnung. Allgemeine Informationspflicht der Leistungsträger - § 13 SGB I - als Voraussetzung für die Einleitung des SozRVh (macht die Bevölkerung mit den Möglichkeiten des SR bekannt). 2. Pflichten des Leistungsträgers aus dem Sozialrechtsverhältnis # Vorbereitungsstadium a) Auskunft (§ 14 SGB I) b) Beratung (§ 15 SGB I - Stichworte: kompetent, sachgerecht, richtig, vollständig, verständlich) c) Pflicht zur Entgegennahme des Antrags (§ 16 SGB I)

- mündlicher Antrag muß schriftlich festgehalten und mit Datum versehen werden; - bei Unzuständigkeit: Weiterleitung an die richtige Stelle; - Hinwirken darauf, daß der Antrag klar und sachdienlich gestellt wird (der Bedienstete muß erfragen, was die Antragsteller wirklich wollen)

Exkurs zur Bedeutung des Antrags: Trotz Entstehens des Anspruchs von Gesetzes wegen, ist der Antrag vielfach Leistungsvoraussetzung (z.B. § 99 SGB VI: Rentenantrag erforderlich ab dem 4. Monat nach Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen; abwei-chend z.B.: Sachleistungen wie Heilbehandlungen können vom Arzt - ohne Antrag - unmittelbar in Anspruch genommen werden). Antrag kann prinzipiell mündlich gestellt werden. Rückwirkende Leistungsgewährung ist nur in Ausnahmefällen möglich. # Bearbeitungsstadium Grundsätze (sind in SGB X - „Verwaltungsverfahren“ - geregelt): a) Untersuchungsgrundsatz (§ 20 SGB X, § 106 Sozialgerichtsgesetz - SGG)

Ausprägung der Prinzipien des Rechtsstaates (nur die gesetzliche Leistung soll gewährt werden) und des Sozialstaates (auch Unbeholfene sollen die ihnen zustehende Leistung erhalten). Von besonderer prakti-

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scher Bedeutung ist die Kostenfreiheit der Ermittlungen (z.B.: die Betroffenen müssen keine Gutachten-Kosten tragen - wesentlicher Unterschied zum Zivilverfahren, wo stets ein Kostenvorschuss einzuzahlen ist. Ausnahme in § 109 SGG: ein „Arzt des Vertrauens“ kann dem Gericht als Sachverständiger benannt werden. Allerdings müssen zuvor die voraussichtlichen Kosten vorgestreckt werden. Erstattung nur, wenn das Gutach-ten neue Erkenntnisse gebracht hat. Praktische Bedeutung hat die Vorschrift dann, wenn die bisherigen Gut-achten „negativ“ ausgefallen sind).

b) Gewährung von rechtlichem Gehör und Akteneinsicht (§§ 24 und 25 SGB X, § 62 SGG) Antragsteller soll im Interesse der sachlichen Richtigkeit mitwirken können (nicht über dessen „Kopf hinweg“ entscheiden).

c) Wahrung des Sozialgeheimnisses (§§ 35 SGB I, 67 bis 78 SGB X). Spannung zwischen Recht auf informa-tionelle Selbstbestimmung und dem Zwang, persönliche Daten als Leistungsvoraussetzungen (!) offenbaren zu müssen. Grundsatz: (§ 67 SGB X): Offenbarung ist nur zulässig: - bei Einwilligung - wenn sie zur Leistungsgewährung notwendig ist, aber stets begrenzt auf den Ermittlungszweck

d) Entscheidungspflicht. Behörde muß auf einen Antrag durch „Bescheid“ reagieren, der das Verfahren ab-

schließt. Er muß eine Rechtsmittelbelehrung enthalten. Nach Ablauf von sechs Monaten ist eine sog. „Untä-tigkeitsklage“ beim Sozialgericht zulässig (gerichtet auf die Verurteilung der Behörde einen Bescheid über-haupt zu erteilen, zunächst gleichgültig, welchen Inhalts. Gegen einen die beantragte Leistung ablehnenden Bescheid ist (innerhalb eines Monats) bei der Behörde Widerspruch einzulegen, gegen den (die Leistung er-neut ablehnenden) Widerspruchsbescheid ist (ebenfalls innerhalb eines Monats) die Klage beim örtlich zu-ständigen Sozialgericht möglich.

Grundregel für die Folgen der Verletzung von Verfahrensvorschriften: Die Aufhebung der Entscheidung kann nicht verlangt werden, wenn in der Sache richtig entschieden ist (§ 42 SGB X); Ausnahme: Ist vor dem Eingriff in eine bestehende Rechtsposition (z.B.: bisher bewilligte Rente wird eingestellt) die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt worden, dann ist der Be-scheid unheilbar fehlerhaft und kann durch das Gericht aufgehoben werden (bei Rückzahlungspflichten können Fristen endgültig abgelaufen sein, so daß der Betroffene die u.U. zu Unrecht erhaltenen Leistung endgültig be-halten darf). Aber: Gem. § 41 Abs. 2 SGB X können bestimmte Fehler des Verwaltungsverfahrens, insbesonde-re eine unterbliebene Anhörung bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsge-richtlichen Verfahrens (d.i. das jeweilige Landessozialgericht - LSG - oder Oberverwaltungsgericht - OVG - nachgeholt („geheilt“) werden. 3. Pflichten der Antragsteller aus dem Sozialrechtsverhältnis (§§ 60 bis 65 SGB I) - § 60 Pflicht zur Angabe von Tatsachen, Nennung der Beweismittel und - wichtig - Mitteilung der Änderung von leistungsrelevanten Umständen (z.B. Erzielung von Einkommen, das anzurechnen ist);

- § 61 Persönliches Erscheinung (d.h. persönliche Vorsprache beim Amts auf dessen Verlangen; - § 62 Pflicht, sich untersuchen zu lassen (bei gesundheitsabhängigen Leistungen, zB. wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit); - § 63 Pflicht, sich einer Heilbehandlung zu unterziehen: - § 64 Pflicht, an berufsfördernden Maßnahmen teilzunehmen (z.B. wenn jemand verletzungs- oder arbeits-marktbedingt seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben kann). zu §§ 63 und 64: Ausprägung des Grundsatzes: „Rehabilitation vor Rente“; - § 65: Grenzen der Mitwirkungspflicht bei Unzumutbarkeit

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4. Folgen der Pflichtverletzung durch Antragsteller (Leistungsempfänger) - § 66 Behörde kann die Leistung versagen oder entziehen (sie muß es nicht und hat eine Ermessensentschei-dung zu treffen), aber nur, wenn sie dies vorher schriftlich angekündigt hat. 5. Folgen der Pflichtverletzung durch den Leistungsträger Hauptfall: Verletzung von Aufklärungs- und Beratungspflichten Grundsatz der ,,Staatshaftung" in Art. 34 GG und § 839 BGB festgelegt: Bei Verletzung einer Amtspflicht trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat. Ersatz des Schadens erfolgt ausschließlich durch Geldleistung. Nachteile: - Nachhaltige Störungen des Sozialrechtsverhältnisses können oft nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten durch Geld ausgeglichen werden (z.B. Verlust der Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse);

- Schuldhafte Amtspflichtverletzung muß bewiesen werden; - Prozeß muß vor dem Zivilgericht (Landgericht) geführt werden mit Gerichts- und Anwaltskostenrisiko (Anwalts-zwang).

Deshalb: Von der Rechtsprechung der Sozialgerichte entwickelter sozialrechtlicher Herstellungsanspruch: Bei Verlet-zung von Beratungs- und Aufklärungspflichten ist derjenige Zustand herzustellen, der bestünde, wenn die Bera-tung (Aufklärung) korrekt erfolgt wäre, z.B. Wiederherstellung der Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse trotz an sich gegebener Unwiderruflichkeit des Austritts; Möglichkeit der Nachzahlung von Beiträgen trotz Fristablaufes, Gewährung einer Leistung, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind, diese jedoch zum Zeitpunkt der Falschberatung erfüllt waren. Vorteile: - Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes; - Gericht muß den maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen ermitteln (Gerichtsermittlungsgrundsatz); - kein Kostenrisiko (keine Gerichtskosten und kein Anwaltszwang in der Sozialgerichtsbarkeit). 6. Die Aufhebung von Verwaltungsakten (Bescheiden) - §§ 44 bis 48 SGB X Bereits bestandskräftige Bescheide können nach §§ 44 bis 48 SGB X aufgehoben werden. Wichtig ist die Un-terscheidung zwischen begünstigenden und belastenden Verwaltungsakten sowie ihrer Mischform (ein Bescheid gewährt zwar die beanspruchte Leistung [begünstigend] aber nicht in der erwarteten Höhe [belastend]). Bei den §§ 44 und 45 SGB X wird vorausgesetzt, daß sie von Anfang an rechtswidrig (falsch) waren, § 48 SGB X regelt die Fälle, in der eine ursprünglich richtige Entscheidung - wegen Änderung der Verhältnisse - nachträglich falsch geworden ist. § 44 SGB X gestattet die Rücknahme von belastenden Bescheiden, § 45 SGB X von be-günstigenden rechtswidrigen VAen. Die §§ 46 und 47 beinhalten den Widerruf belastender bzw. begünstigen-der VAe und § 48 SGB X regelt die Aufhebung eines VA mit Dauerwirkung bei wesentlicher Änderung der Ver-hältnisse. Im einzelnen: a) § 44 SGB X.

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Soweit sich im Einzelfall ergibt. daß bei Erlaß eines VA das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachver-halt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der VA, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies ist die Grundregel des § 44 Abs. 1 Satz l SGB X. Ausnahmen hiervon normiert § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB X (Beruhen des VA auf Angaben, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Zu beachten ist, daß § 44 Abs. 1 SGB X nur für sog. Leistungs- bzw. Beitragsbescheide gilt. Die Aufhebung von rechtswidrigen nicht begünsti-genden Nichtleistungsbescheiden (außer von Beitragsbescheiden) ist in § 44 Abs. 2 SGB X geregelt. Danach gilt als Grundsatz die zwingende Aufhebung (nur) für die Zukunft, aber auch die Möglichkeit, nach Ermessen die Regelung auch für die Vergangenheit aufzuheben. Voraussetzung für die Aufhebung nach § 44 SGB X ist jedoch, daß der VA bereits bei seinem Erlaß rechtswidrig war. Er muß für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Hinsichtlich der Rücknahme als solcher (bei Nicht-leistungsbescheiden für die Zukunft) hat die Verwaltung kein Ermessen. Auch ein zwischen den Beteiligten bin-dend gewordenes Urteil hindert nicht, den VA bei Vorliegen der Voraussetzungen von § 44 SGB X zurückzu-nehmen.

b) § 45 SGB X

45 SGB X dient der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden VA. Seine Anwendung ist davon abhän-gig, daß der betroffene VA bei Erlaß rechtswidrig war. § 45 Abs. 1 SGB X normiert zunächst, daß der betreffende VA auch nach Unanfechtbarkeit zurückgenommen werden darf, allerdings nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise für die Zukunft oder die Vergangenheit. Hier stehen einander die beiden Verfas-sungsprinzipen des Vertrauensgrundsatzes (es soll so bleiben, wie einmal - wenn auch falsch - entschieden) und der Grundsatz der Gesetzesmäßigkeit der Verwaltung (Rechtsstaatsprinzip: die Verwaltung muß nach der Gesetzeslage entscheiden und notfalls korrigieren) gegenüber. Die Regelung bezweckt einen Ausgleich dieser im Einzelfall einander widerstreitenden Prinzipien. Soweit - was wohl die Regel sein dürfte - der Begünstig-te auf den Bestand des VA vertraut hat, ist eine Abwägung des öffentlichen (auf Korrektur) mit dem privaten (auf Bestand gerichteten) Interesse vorzunehmen um festzulegen, ob das Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des VA schutzwürdig ist. In der Regel ist dies dann der Fall, wenn der Begünstigte erbrachte Leistun-gen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Eine solche Disposition wäre z.B. die (vorzeitige) Aufgabe des Arbeitsplat-zes im Vertrauen auf die zugebilligte Sozialleistung oder die Investition der Geldleistung in ein Eigenheim. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte jedoch nicht berufen, soweit er den VA durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, der VA auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder er die Rechtswidrigkeit des VA kannte oder bloß infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Die grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 45 Abs. 2 SGB X, die in der Nr. 3 des Satzes 3 nochmals gesetzlich umschrieben ist, richtet sich jedoch nach der persön-lichen Urteils- und Kritikfähiqkeit des Begünstigten, seinem Einsichtsvermögen und den sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalles, ist damit also nicht nur nach objektiven Kriterien, sondern eben auch unter den sub-jektiven Besonderheiten des Betroffenen zu ermitteln. Selbst wenn jedoch alle Rücknahmevoraussetzungen erfüllt sind, bedeutet das noch nicht die zwingende Auf-hebung der fehlerhaften Entscheidung. Die Behörde hat vielmehr das ihr eingeräumte Ermessen (der Verwal-tungsakt „darf“ zurückgenommen werden) auszuüben. Hier ist auf alle Besonderheiten des Einzelfalles abzustel-len. So ist z.B. zu berücksichtigen, ob die Behörde selbst ein mitwirkendes Verschulden an dem Fehler trägt, oder ob die Betroffenen Anspruch auf eine andere öffentlich-rechtliche Leistung gehabt hätten, die sie nun nicht mehr (für die Vergangenheit ) erlangen können (z.B. Sozialhilfe, die grundsätzlich nicht rückwirkend gezahlt

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wird). Eine praktisch bedeutsame Sonderregelung findet sich für das Arbeitsförderungsrecht (§ 330 SGB III): In den Fällen fehlenden Vertrauensschutzes muß der VA zurückgenommen werden (also: kein Ermessen). § 45 Abs. 3 SGB X betrifft VAe mit Dauerwirkung. Dies sind alle Rentenbescheide oder sonstige VAe, die ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom VA abhängiges Rechtsverhältnis begründen oder ändern (z.B. auch die VAe, die die Bundesagentur für Arbeit erläßt, um über die Gewährung laufender Leistungen zu entscheiden). Laufende Leistungen sind im Arbeitsförderungsrecht aufgrund gesetzlicher Definition z.B. Unter-haltsgeld , Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, im Rentenrecht alle Rentenarten, in der Krankenversicherung das Krankengeld. Solche VAe mit Dauerwirkung können auch bei Vorliegen der Voraussetzungen nach Abs. 2 des § 45 SGB X nur bis zum Ablauf von 2 Jahren nach ihrer Bekanntgabe zurückgenommen werden. Längere Rücknahmefristen normieren die Sätze 2 und 3 des § 45 SGB X. VAe ohne Dauerwirkung können dagegen grundsätzlich ohne zeitliche Beschränkung zurückgenommen werden, sofern die allg. Voraussetzungen vorliegen. Zu beachten ist jedoch hierbei wiederum die Grundnorm von § 45 Abs. 2 SGB X unter dem Aspekt, daß die Schutzwürdigkeit des Vertrauens um so mehr wachsen wird, je länger der VA bestehen blieb. Nimmt die Behörde trotz Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen den VA nicht zurück, dann kann das Rücknahmerecht wegen der für die Rücknahme für die Vergangenheit gelten-den besonderen Jahresfrist von § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X verloren gehen. Sofern eine Rücknahme nach § 45 SGB X nicht erfolgen kann, ist § 48 Abs. 3 SGB X einschlägig, der bestimmt. daß eine Änderung zugunsten des Betroffenen solange nicht wirksam wird, wie die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgeht, der dem Berechtigten rechtmäßig zustehen würde, wenn nicht die Bestands-kraft des - rechtswidrigen - VA eingriffe. Dies bedeutet, daß sich z.B. Rentenerhöhungen erst dann auswirken können, wenn die richtig berechnete Rente unter Berücksichtigung der jeweiligen Erhöhungssätze den Betrag, der rechtswidrig bewilligt wurde, erreicht hat (sog. „Abschmelzung“ des rechtswidrigen Zustandes). c) Der Anwendungsbereich der §§ 46 und 47 SGB X ist eher gering. d) § 48 SGB X Besondere Bedeutung hat jedoch § 48 SGB X. Er regelt die Aufhebung bzw. Änderung von Bescheiden (Ver-waltungsakten) bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse. Anzuwenden ist diese Bestimmung jedoch nur in dem Fall, daß der VA ursprünglich "bei seinem Erlaß“ rechtmäßig war. Die nachträgliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen muß wesentlich sein. Wesentliche Änderung bedeutet, daß sie für die streitige Leistung von Bedeutung und nicht nur minimal, also gesichert feststellbar ist. Eine Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) z.B. im Bereich der Unfall-versicherung bzw. des „Grades der Behinderung“ (GdB) im Schwerbehindertenrecht von nicht mehr als 5% ist nicht wesentlich, da dort eine MdE unter 10% als nicht meßbar angesehen wird. Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen liegt nur vor, wenn sich der objektive Sachverhalt, nicht aber, wenn sich bloß die subjektive Auffassung der Behörde über den Sachverhalt ändert. In rechtlicher Hinsicht muß die Änderung auf Gesetz, Rechtsverordnung oder Satzung beruhen, bzw. muß - so § 48 Abs.2 SGB X als Spezi-alvorschrift - der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in „in ständiger Rechtsprechung“ die Vorschrift nachträglich anders auslegen, als die Behörde dies bei Erlaß des VA tat, und es muß sich dies zugunsten des Berechtigten auswirken.

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Für den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Aufhebung gilt folgende Grundregel: Für die Zukunft „ist“ zwingend aufzuheben, für die Vergangenheit „soll“ aufgehoben werden. „Soll“ bedeutet hier (und allgemein): im Regelfall „muß“, Ausnahmefälle (sog. „atypische“ Fälle) sind aber möglich. Auch hier Sonderregel in § 330 SGB III: es muß stets aufgehoben werden. Wichtig ist allen diesen die Bestandskraft durchbrechenden Entscheidungsverfahren, daß dann, wenn die Ent-scheidung den Bürger belasten würde, die Anhörungspflicht von 24 SGB X zu beachten ist. Unterbleibt diese Anhörung (und liegt auch keiner der dort geregelten Ausnahmegründe vor und wird die Anhörung auch nicht bis zum Abschluß der letzten Tatsacheninstanz des Gerichtsverfahrens nachgeholt (s.o. S. 4), dann müßte die Ent-scheidung, möge sie auch im übrigen (materiellrechtlich) noch so rechtmäßig sein, in einem nachfolgenden ge-richtlichen Verfahren aufgehoben werden (als Ausnahme von dem Grundsatz, daß ein Verwaltungsakt nicht allein wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben werden darf, wenn in der Sache selbst nicht anders zu ent-scheiden wäre - § 42 SGB X mit der Ausnahme in Satz 2). § 50 Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistung Ist - unter Beachtung der oben dargestellten Einschränken und Schutzvorschriften ein begünstigender VA (be-standskräftig) aufgehoben worden, dann „sind“ die erbrachten Leistungen (zwingend) zurückzuerstatten. Ein-wände sind nur mehr begrenzt möglich (z.B.: es werde mehr zurückgefordert als im Aufhebungsbescheid steht) .Da es aber Fälle gibt, in denen Leistungen ohne vorhergehenden VA zu Unrecht erbracht wurde, ist dafür eine Sonderregelung erforderlich, weil sich - wenn kein Bescheid existiert, der aufzuheben ist - die (Schutz-)Vorschriften der §§ 45 und 48 nicht unmittelbar anwenden lassen. Deshalb sind diese Regelungen „entspre-chend“ anzuwenden (d.h.: man geht so vor, als wäre ein VA aufzuheben). Abs. 2 wirkt der Absicht entgegen, wider besseres Wissen zu prozessieren, um Zeit für die Rückzahlung zu ge-winnen (Effekt: zinsloses Darlehen): Der Rückforderungsbetrag ist banküblich zu verzinsen.

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III. Die Sozialversicherung Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung sind die drei „klassischen" Sozialversicherungen. Versicherte Risi-ken: Krankheit, dauernder Körperschaden, Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit beruhend auf vorüberge-henden oder dauernden körperlichen Beeinträchtigungen. Gemeinsames Ziel: Wiederherstellung der Gesund-heit und Absicherung des Einkommens während der Zeit der Beeinträchtigung (Arbeitslosenversicherung: Teil-Gemeinsamkeit: Einkommenssicherung; Unterschied: Risiko vielfach nicht individuell-körperlich sondern ge-samtwirtschaftlich - Konjunkturlage ! - bedingt.) Gemeinsames Problem: Aufbringung der Mittel Lösungsmöglichkeiten: 1. total private Vorsorge: jeder sammelt Rücklagen und hilft sich selbst; 2. total staatliche Versorgung mit staatlichem Gesundheitswesen (Ambulanzen und staatlicher Volksrente); 3. private Gemeinschaftssicherung auf Selbsthilfebasis: freiwillige Zusammenschlüsse zu Versichertengemein-

schaften („Solidargemeinschaft“); 4. „Mittellösung“: Versicherung mit staatlich geregelter Versicherungspflicht. Einwände gegen die a) private Lösung: die „Einkommensschwachen“ und „Unvernünftigen“ vermögen nicht für sich selbst zu sorgen; b) staatliche Lösung: Umverteilung der Steuergelder zu Lasten der „Leistungswilligen“ und ,,Leistungsstarken"

(Schlagwort: ,,Leistung lohnt nicht mehr“). In Deutschland seit 1881: Versicherungssystem mit Versicherungspflicht und einkommensabhängigen (nicht unmittelbar: risikoabhängigen) Beiträgen. In letzter Zeit jedoch auch hier Tendenz zur „Privatisierung“ (s. das „Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvor-sorgevermögens (Altersvermögensgesetz - AVmG“ - v. 26.6.2001, BGBl. I S. 1310). Funktion der Pflichtversicherung: - breitere Finanzierungsbasis - Sicherung auch der Einkommensschwachen - Selbsthilfegedanke: nicht staatliches Geschenk, sondern eigene Leistung - Orientierung des Einzelbeitrags nicht an Risikohöhe sondern Finanzkraft mit Umverteilungswirkung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Sozialversicherung und Privatversicherung, insbesonde-re: das "Soziale" der Sozialversicherung im Unterschied zur Privatversicherung? Ausgang vom Begriff des Sozialrechts im materiellen Sinn (Leistungen in bestimmen Bedarfssituationen, Ausgleichsgedanke, Gedanke des Füreinander- Einstehens): Es besteht Versicherungspflicht. Leistungen werden nach dem Sachleistungsprinzip gewährt, es braucht also nichts unmittelbar gezahlt zu werden. Die Beiträge richten sich nach dem Einkommen und nicht nach dem Risiko. In der Rentenversicherung werden die Leistungen der aktuellen Einkommensentwicklung angepaßt. Das „Soziale“ dieser Regelungen besteht im wesentlichen in der Umverteilungsfunktion des Solidaritätsprinzips (diejenigen, die über dem Durch-schnitt verdienen, finanzieren - mit ihren überdurchschnittliche hohen Beiträgen - diejenigen, die weniger ver-dienen), ferner darin, daß die Leistung im Bedarfsfall sichergestellt ist (auch durch das Mittel des Versiche-rungszwanges) und - was Heilbehandlung und Reha-Maßnahmen betrifft) infolge des Sachleistungsprinzips unabhängig von der Höhe der zuvor erbrachten Beiträge (in der UV: [für den Arbeitnehmer] beitragsfrei) er-bracht wird. Insbesondere in der Familien-Krankenversicherung zeigt sich die soziale Schutzfunktion (kin-derreiche Familien werden bevorzugt). Dieses „Soziale“ macht zugleich auch den wesentlichen Unterschied

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zur (deswegen nicht „unsozialen“) Privatversicherung aus. Die wesentlichen Gemeinsamkeiten: Bildung ei-ner Versichertengemeinschaft, Beteiligung an dieser durch Zahlung von Beiträgen, Abhängigkeit der Leistung vom Eintritt des Versicherungsfalles, Leistungsausschluß für Versicherungsfälle, die sich vor dem Zeitpunkt des Eintritts in die Versichertengemeinschaft ereignet haben (davon zu unterscheiden: chronische Vorerkran-kung mit aktuellem Krankheitsschub: kann - muß aber nicht - bei der priv. Krankenversicherung ausge-schlossen sein, bei der gesetzlichen Krankenversicherung nicht).

IV. Das Sozialversicherungsverhältnis

Die allg. Bestimmungen, die sowohl für die drei „klassischen“ Versicherungsbereiche gemeinsam gelten also auch (mit Ausnahmen) für das Arbeitsförderungsrecht (SGB III), sind im SGB IV geregelt. 1. Grundsätze Grundregeln über den Personenkreis, der von der Versicherungspflicht erfaßt wird (§§ 1 bis 6 SGB IV): VERSI-CHERUNGSPFLICHTIG SIND DIE IM BUNDESGEBIET ABHÄNGIG BESCHÄFTIGTEN Ausnahmen: a) für durch gesetzliche Regelung in ein anderes Versorgungssystem Miteinbezogene (Richter, Beamten, Solda-

ten u.a.): von vornherein versicherungsfrei; b) bei Nachweis, daß ein entsprechendes Versorgungssystem vergleichbaren Schutzumfangs für freiwilligen

Beitritt zur Verfügung steht (z.B. berufsständische Versorgungssysteme der Ärzte und Rechtsanwälte): Be-freiungsmöglichkeit;

c) für geringfügig Beschäftigte: versicherungsfrei weil Schutzbedürfnis fehlt; d) für Personen, die (aus dem Ausland kommend) im Bundesgebiet nur vorübergehend eine Beschäftigung aus-

üben: werden vom inländischen Regelungssystem nicht erfaßt. NICHT UNTER DIE VERSICHERUNGSPFLICHT FALLEN ALLE ANDEREN (insbesondere die Selbständigen oder überhaupt die nicht Berufstätigen; beachte: die erst vor kurzem eingeführ-ten Regelungen von § 7 Abs. 4 SGB IV a.F. zur sog. „Scheinselbständigkeit“ sind wieder aufgehoben worden. Es gilt nun das sog. „Anfrageverfahren“ gem. § 7a SGB IV: die Betroffenen können eine schriftliche Entscheidung der Bundesanstalt für Angestellte in Berlin - „BfA“ - darüber verlangen, ob die Rechtsbeziehung eine abhängige [und damit beitragspflichtige] oder eine selbständige Tätigkeit darstellt). Folge: Wer nicht versicherungspflichtig ist, kann auch nicht sozialversichert werden. Ausnahmen: a) für gleich schutzbedürftige Selbständige in wirtschaftl. Abhängigkeit (z.B. Heimarbeiter, Hauslehrer) oder mit

unsicherer ökonomischer Basis (Künstler, Handwerker in Sonderversicherungssystemen): von vornherein versicherungspflichtig;

b) ausgeschiedene früher Pflichtversicherte: Beitrittsmöglichkeit; c) bei Überschreiten der Versicherungspflichtgrenze (in der Krankenversicherung): freiwillige Weiterversicherung; d) Personen, die einen Arbeitsvertrag mit einem inländischen Unternehmen haben, aber (vorübergehend) im

Ausland beschäftigt sind: versicherungspflichtig wie im Inland Beschäftigte. 2. Regelungen über Arbeitsentgelt und sonstiges Einkommen (§§ 14 bis 18e SGB IV) # Grundsatz: Versicherungspflichtig ist nur die entgeltliche Beschäftigung (vgl. § 1 Abs. 2 Nr.1: Personen, die

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gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind). Regelungen hauptsächlich erforderlich zur Bestimmung: a) des Vorliegens von Versicherungspflicht überhaupt; b) der Grundlage für die Bemessung der Beiträge; c) von Beitragsbemessungsgrenzen (Kranken- und Rentenvers.); d) der Leistungshöhe bei einkommensabhängigen Sozialleistungen (Grenzen des Hinzuverdienens oder Anrech-

nung eigenen Einkommens bei bestimmten Renten oder andren Sozialleistungen). # Arbeitsentgelt bei abhängig Beschäftigten (§ 14): Grundsätzlich alles, was mit dieser Tätigkeit zutun hat: Problem: Behandlung von Sachleistungen, einmalige Zahlungen, geringfügige Zuwendungen ==> § 17: Er-mächtigung an den Sozialminister zum Erlaß von Sachbezugsverordnung (Pauschalierungen) und Arbeits-entgeltverordnung (Ausnahmeregeln zu dem Grundsatz).

# Arbeitseinkommen bei Selbständigen (§ 15): Grundsätzlich der gesamte Gewinn aus der selbständigen Tätigkeit. Gewinnermittlung nach steuerrechtlichen Grundsätzen (zwei Methoden: Überschuß/Verlustrechnung aus abgelaufenen Kalenderjahr oder Vermögensvergleich: Wert Ende laufendes Jahr / Wert Vorjahr).

# Gesamteinkommen (§ 16): Summe aller steuerrechtlich relevanten Einkünfte, insbesondere: Summe aus Arbeitsentgelt + Arbeitseinkommen (Bedeutung u.a. für „geringfügige Beschäftigung“ und Anspruch auf Fami-lienversicherung gem. § 10 SGB V)

# Bezugsgröße (§ 18): Durch die Zahlen 7, 10 und 12 teilbare Recheneinheit, gebildet aus dem durchschnittli-chen Arbeitsentgelt aller Versicherten des vorvergangenen (statistische Vorlaufzeit) Kalenderjahres. Zweck: Dynamische Größe, die an einer Stelle festgelegt wird, und auf die an vielen Gesetzesstellen Bezug genom-men werden kann, ohne diese ändern zu müssen. Aktueller Wert 2008 West: 29.820 EUR jährl. /2.485 EUR mtl.; 2007: 29.400 EUR jährl. /2.450 EUR mtl. 2005:unverändert wie 2004: 28.980 EUR / 2414 EUR mtl., Ost: 25.200 EUR jährl. 2.100 EUR mtl.: 2007: 25.200 / 2.100; 2005: unverändert wie 2004: 24.360 EUR / 2.030 EUR (2003: 28.560 EUR West/ 23.940 EUR Ost jährlich, 2.380 EUR West, 1.995 EUR Ost mtl.; West 2001: 53.760 DM jährl. bzw. 4.480 DM mtl.; 2000: 53.760 DM jährl. bzw. 4.480 DM mtl.; Ost 2001: 45.360 DM jährl., 3.780,00 DM mtl.; 2000: 43.680,00 DM jährl., 3.640,00 DM mtl.). Die Veränderung der Be-zugsgröße spiegelt die wirtschaftliche Entwicklung wider. Dass sie seit 2002 nur wenig erhöht hat, zeigt die Stagnation der Wirtschaftentwicklung an.

# Sonderregelungen (§ 18a bis § 18e) für Einkommensanrechnung bei Hinterbliebenenrenten. 3. Geringfügige Beschäftigung (§ 8) # Regelungszweck: Es werden diejenigen Personen von der Sozialversicherung nicht erfaßt, deren soziale Si-tuation durch die Beschäftigung nicht so nachhaltig geprägt wird, daß eine Versicherungspflicht gerechtfertigt wäre. Folge: Versicherungsfreiheit.

Zwei Arten der Geringfügigkeit: a) Entgeltliche Geringfügigkeit: Arbeitsentgelt nicht höher als monatlich 400 EUR [früherer Regelung bis

31.12.2002: nicht mehr als 15 Stunden Arbeitszeit wöchentlich bei einem Verdienst von nicht mehr als 325 € mtl.);

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b) zeitliche Geringfügigkeit (,,kurzfristige" Arbeit): im laufenden Kalenderjahr voraussichtlich entweder: Arbeit beschränkt auf zwei Monate in Folge bei mindestens 5-Tage-Woche oder: bei unzusammenhängendem Ar-beitzeitraum: nicht mehr als 50 Arbeitstage im Jahr; dies gilt nicht, wenn die Beschäftigung berufsmäßig ausgeübt wird und ihr Entgelt 400 € mtl. übersteigt (dann liegt keine geringfügige Beschäftigung vor).

# Regeln: - Es kommt stets darauf an, wie es voraussichtlich sein wird; ändert sich die Erwartung, weil die Grenzen über-schritten werden, dann Versicherungspflicht ab diesem Zeitpunkt (nicht rückwirkend!);

- bei schwankenden Einkommen wird ein Durchschnitt errechnet: - mehrere geringfügige Beschäftigungen (bei verschiedenen Arbeitgebern) und entgeltlich geringfügige Beschäf-tigungen mit nicht geringfügigen Beschäftigungen werden zusammengezählt mit Ausnahme einer dieser ge-ringfügigen Beschäftigungen, die unberücksichtigt bleibt: aber: nur jeweils entgeltlich geringfügige miteinander und zeitlich geringfügige miteinander (nicht gemischt).

- Die Regeln sind entsprechend auf selbständige Tätigkeiten anzuwenden (aber nicht im Recht der Arbeitsförde-rung).

# Besonderheit in § 27 Abs. 2 und § 119 Abs. 3 SGB III: Keine Addition geringfügiger und nicht geringfügiger Beschäftigung (Zweck: Kein Arbeitslosengeld, wenn eine geringfügige Beschäftigung aufgegeben wird). Ar-beitslosigkeit besteht (weiter), wenn eine Beschäftigung (unabhängig von der Höhe des Entgelts) weniger als 15 Stunden wöchentlich ausgeübt wird. Teilarbeitslosengeld für diejenigen, die eine versicherungspflichtige Beschäftigung (mehr als 15 St. wöchentlich) verloren haben, die sie neben einer anderen Arbeit ausgeübt ha-ben - SGB III § 150).

4. Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis ,,Beschäftigung" ist ein („der“) zentraler Begriff des Sozialversicherungsrechts, insbesondere zur Bestimmung von Versicherungs- und Beitragspflicht: Allgemeine Bestimmung: § 2 Abs. 2 Nr. 1 SGB IV Krankenversicherung: §§ 5 Abs. 1 Nr. 1; 186 Abs. 1, 190 Abs. 2 SGB V Rentenversicherung: § 1 Nr. 1 SGB VI Unfallversicherung: § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII (früher: § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO) Arbeitslosenversicherung: § 119 Abs. 1 SGB III: Bestimmung der Arbeitslosigkeit. Sonst ersetzt durch das Versi-cherungspflichtverhältnis, das weiter gefaßt ist als das Arbeitsverhältnis und z.B. Zeiten des Bezugs von Entgeltersatzleistungen umfaßt, § 24 Abs. 1: In einem Versicherungspflichtverhältnis stehen Personen, die als Beschäftigte versicherungspflichtig sind, es beginnt mit dem Tag des Eintritts in das Beschäftigungsverhältnis; ferner § 123: Erfüllung der Anwartschaftszeit durch Zeiten eines Versicherungspflichtverhältnisses.

Zentrale Norm: § 7 SGB IV: Beschäftigung ist die unselbständige Arbeit insbesondere in einem Beschäftigungs-verhältnis. - Beschäftigung „ist ... Arbeit": Gewicht liegt auf einem tatsächlichen Geschehen. - Beschäftigung ist Arbeit „in einem Arbeitsverhältnis": Der Beschäftigung liegt regelmäßig ein Arbeitsvertrag zugrunde.

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- „... insbesondere in einem Arbeitsverhältnis": Beschäftigung ist nicht auf Arbeitsverhältnis beschränkt, son-dern reicht weiter.

- „Anhaltspunkte“ für eine Beschäftigung sind „eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Organisation des Weisungsgebers“ - § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV)

Kennzeichen des Arbeitsvertrages: Vereinbarung über: 1. Bereitschaft zu einer (vertraglich fest umrissenen) Arbeitsleistung; 2. Bereitschaft zur (vertraglich genau bestimmten) Arbeitsentgeltzahlung; 3. Bereitschaft der einen Seite („Arbeitnehmer“), sich in persönliche Abhängigkeit von der anderen Seite („Arbeit-

geber“) zu begeben, insbesondere, sich einem „Direktionsrecht" (Weisungsrecht) des Arbeitgebers zu un-terwerfen.

Im Regelfall stimmen Arbeitsverhältnis und Beschäftigungsverhältnis überein. Das Beschäftigungsverhältnis ist die sozialversicherungsrechtliche Ausprägung des Arbeitsverhältnisses. Prototyp des Beschäftigungsverhältnis-ses ist die entgeltliche Beschäftigung als Arbeiter und Angestellter (Arbeitnehmer) bei einem Arbeitgeber. Arbeitsgeprägte Abhängigkeitsverhältnisse außerhalb eines arbeitsrechtlichen Arbeitsvertrages: 1. Öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis der Richter, Beamten und Soldaten; 2. Kirchen und Religionsgesellschaften, geistliche Genossenschaften; 3. Arbeit innerhalb eines Familienbetriebs, wenn der familienhafte Zusammenhalt im Vordergrund steht. Aber:

Auch echtes Arbeitsverhältnis möglich ("Fremdvergleich“) 4. Lehr- und Ausbildungsverhältnis; 5. Arbeits- und sozialtherapeutische Verhältnisse, Arbeit innerhalb eines „besonderen Gewaltverhältnisses“ z.B.

Strafgefangener im Gefängnis (aber: sog. „Freigänger“ geht normales Arbeitsverhältnis ein); 6. sonstige Arten arbeitsteiligen Zusammenwirkens, bei denen man sich „technischen Weisungen“ unterwirft,

ohne sich in ein arbeitnehmertypisches Abhängigkeitsverhältnis zu begeben (z.B.: Bauhelfer weist den selb-ständigen Kranunternehmer auf der Baustelle ein)

Kennzeichen der unselbständigen Arbeit (Abgrenzung selbständig / unselbständig): - Eingliederung in einen fremden Betrieb; - Unterwerfen unter fremde Verfügungsbefugnis (Weisungsrecht, kann je nach Position sehr reduziert sein, z.B. Chefarzt einer Klinik);

- persönliche Abhängigkeit (z.B. Arbeitsbeginn, Urlaub); - fremdnütziges und fremdbestimmtes Arbeiten ohne unmittelbaren Einfluß auf Arbeitsweise und Betriebsergeb-nis (kann im Einzelfall insbesondere je nach Position unterschiedlich sein);

- besonders wichtig: kein (unmittelbares) Gewinn- und Verlustrisiko; Abgrenzungsschwierigkeiten insbesondere bei: freier Rundfunkmitarbeiter, Regisseur, Fotomodell, Firmenrepräsentant, häufig: Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH: Grundregel: wer über die Mehrheit der Gesellschaftsan-teile verfügt, kann nicht zugleich abhängig Beschäftigter dieser GmbH sein, weil ihm niemand Weisungen ertei-len kann. Ausnahmen: - Nach dem Prinzip der Maßgeblichkeit des Tatsächlichen kommt es auf die faktischen Verhältnisse an: ein 20%-Geschäftsführer, der tun und lassen kann, was er will, weil ihn die Mehrheit gewähren läßt und alle seine Beschlußvorlagen absegnet ist selbständig tätig (auch wenn er einen Arbeitsvertrag vorweisen kann und Bei-träge abführt). Hält ein Gesellschafter dagegen (z.B. als sog. „Strohmann“) für einen Dritten die Mehrheit der Gesellschaftsanteile und unterliegt er tatsächlich (auch aufgrund interner Vereinbarung) dessen Weisungen, dann kann dennoch eine abhängige Beschäftigung bestehen.

- Sieht der Gesellschaftsvertrag für Beschlüsse ein höheres Quorum als bloß > 50% vor (z.B. 70 %), dann kann

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man zwar auch mit 60 % der Anteile nicht in der GmbH allein bestimmen, andererseits kann man aber auch jeden ungenehmen Beschluß verhindern. Eine abhängige Beschäftigung des Mehrheitsgesellschafters wird nur bei Vorliegen weiterer Umstände (s. oben) gegeben sein.

# Probleme bei Arbeitsvertragsirregularitäten 1. Arbeitsvertrag unwirksam, aber Arbeitsleistung erbracht: maßgebender allgemeinsozialrechtlicher Grundsatz:

es kommt auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Arbeitsrecht: „faktisches Arbeitsverhältnis“ Zweck des Grundsatzes: Schutz desjenigen, der wie ein Arbeitnehmer abhängig arbeitet und Durchsetzung sozialpoliti-scher Ziele gegen private Abmachungen, die diesem Ziel zuwider laufen (Versuch der Gesetzesumgehung zu Lasten der meist schwächeren Arbeitnehmer). Arbeitsrechtliche Folge: Bestehen eines Entgeltanspruchs; Sozialrechtliche Folge: Bestehen der sozialrechtli-chen Rechte (Versicherungsschutz) und Pflichten (Beitragspflicht).

2. Abweichungen vom Prinzip der Maßgeblichkeit des Tatsächlichen:

a) Fortbestehen des Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisses ohne Arbeitsleistung: - Sonn- und Feiertage, Urlaub, Krankheit (insofern nicht „irregulär“; - unbezahlter Urlaub; - Arbeitsfreistellung bei unwirksamer Kündigung (wenn Arbeitnehmer weiterhin Arbeitskraft anbietet), wenn Arbeitgeber auf Arbeit trotz Lohnfortzahlung verzichtet und im Konkurs;

- vorübergehende Betriebsstillegung; - gewerkschaftlich organisierter Streik (Beschäftigungsverhältnis wird „suspendiert“, aber nicht aufgelöst).

b) Kein Beschäftigungsverhältnis trotz Arbeitsleistung :

- in der Krankenversicherung: früher: sog. „mißglückter Arbeitsversuch“ (inzwischen aufgegeben). - gesetzes- und sittenwidrige Arbeitsverträge (wenn von beiden Vertragspartnern so gewollt); - Strafgefangene (umstrittene) sozialrechtliche Folge: kein Versicherungsschutz.

5. Allgemeine Grundsätze des Beitragsrechts # Die Mittel für die benötigten Leistungen sind allein durch Beiträge und sonstige Einnahmen zu erbringen (Ver-bot der Kreditaufnahme; in der Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung bei Liquiditätsproblemen: Bundeszuschuß);

# Beiträge sind je zur Hälfte von Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu tragen; Ausnahmen: Bei Personen, die geringfügig beschäftigt sind, trägt der ArbG einen Beitragsanteil zur Renten-versicherung iHv 15 % des Arbeitsentgelts, im übrigen (den Rest auf 19,5%) vom Versicherten (§ 168 Abs. 1 Nr. 1b SGB VI). Freiwillig Versicherte tragen ihre Beiträge selbst (§ 171 SGB VI).

# Beitragssätze sind gesetzlich festgelegt in % -Sätzen des Brutto-Arbeitsentgelts (Arbeitnehmer- und Arbeitge-beranteil insgesamt). Sätze unverändert für 2004 - 2005 und - 2006; 2008: Rentenversicherung : 19,9 % (Knappschaft: 25,9 %), Arbeitslosenversicherung 3,3 %, Pflegevers: 1,7 %. Ausnahme: Krankenkassen legen die Beitragssätze selbst fest, amtlicher Durchschnitt z.Zt. 14 %, aber

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Schwankungen zwischen 13% und 15% (bei AOK meist am höchsten, bei Betriebskrankenkassen am güns-tigsten). Der amtliche durchschnittliche allgemeine Beitragssatz aller Krankenkassen gilt gem. § 247 SGB V als Bemessungsgröße für den Beitrag zur Rentnerkrankenversicherung. Die Beitragshöhe ist so festzuset-zen, daß die zu erwartenden Ausgaben von den Einnahmen bestritten werden können. Es bestehen insoweit keine Unterschiede zwischen West und Ost.

# Beitragsbemessungsgrenzen 2008 (2006, 2005, 2004, 2003, 2000): Kranken- und Pflegevers.: 3.600 mtl. (3.562,50 EUR 3.525,00 EUR, 3.487,50 EUR mtl. 3.450 / 3.450 EUR mtl.; 2000: West: 6.450 DM / Ost: 5.400 DM mtl. - SGB V §§ 6 Abs. 1 Nr. 1, 223 Abs. 3, 309 Abs. 1; SGB XI § 55), Renten- und Arbeitslosen-vers.(West/Ost): 63.600 EUR jährl., 5.300 EUR mtl. / 54.000 EUR jährl., 4.500 EUR mtl. (63.000 EUR / 52.800 EUR jährl., 5.250,00 / 4.400,00 EUR mtl.; 2005: 62.400,00 / 52.800,00 EUR; 2004: 61.800 / 52.200 , 5.150 / 4.350 EUR mtl.; 2003: 61.200 / 51.000 EUR jährl., 5.100 / 4.250 mtl. 2000: 8.600 DM / 7.100 DM mtl. - SGB VI §§ 159, 275a, SGB III § 341 Abs. 4).

# Schuldner des gesamten Beitrags ist allein der Arbeitgeber, er hat aber das Recht, den Arbeitnehmer-Anteil vom Lohn einzubehalten (§ 28e Abs. 1, 28g SGB IV);

# ,,Einzugsstelle" für alle Versicherungszweige ist die jeweilige Krankenkasse (§ 28h SGB IV). # Folgen unterbliebener Abführung der Beiträge: In Kranken- und Unfallversicherung für den Arbeitnehmer keine (Schutz mit Aufnahme der Beschäftigung), in Rentenversicherung: u.U. geringere Rente (s. § 197 SGB VI über die Wirksamkeit von Beiträgen [Koppelung mit der Verjährungsvorschrift von § 25 SGB IV [vier Jahre] u. § 203 über die Glaubhaftmachung der Beitragszahlung). Der Arbeitgeber darf nur 3 Monatsbeiträge rückwirkend einbehalten, ist er mehr schuldig geblieben, dann muss er auch den Arbeitnehmer-Anteil voll zah-len (§ 28g S. 3 SGB IV).

6. Die verschiedenen Funktionen von Versicherungspflicht, Versicherungsfreiheit, Versicherungsberech-tigung und Befreiung von der Versicherungspflicht innerhalb der Sozialversicherung.

Die Versicherungspflicht der abhängig Beschäftigten ist die Regel. Sie unterstellt eine generelle Schutzbedürftig-keit. Versicherungsfrei sind diejenigen Personen, bei denen wegen der Zugehörigkeit zu einem anderen Siche-rungssystem eine derartige Schutzbedürftigkeit nicht besteht oder für die wegen der Höhe ihres Einkommens ein Versicherungszwang sozialpolitisch nicht erforderlich ist. Freiheit bedeutet aber zugleich, daß die betreffenden von diesem sozialen Sicherungssystem ausgeschlossen sind. Im Gegenzug dazu steht die freiwillige Versiche-rung: diejenigen, die aus der Versicherungspflicht ausgeschieden sind (in der Krankenversicherung z.B. weil ihr Gehalt - etwa wegen einer Erhöhung oder im Zuge eines Arbeitsplatzwechsels - die Versicherungspflichtgrenze überschritten hat, aber auch solche, die überhaupt eine [abhängigen] Beschäftigung aufgegeben haben) sind, haben Anspruch darauf, weiterhin der Sozialversicherung anzugehören (besonders bedeutsam in der Familien-versicherung der Krankenversicherung: die ist - jedenfalls bei mehreren Kindern - in der Regel billiger als eine private Versicherung). Versicherungsberechtigung ist der Gegenbegriff einerseits zur Versicherungspflicht - eine an sich ausgeschlossene Person darf sich versichern (der Gesetzgeber vermutet ein bestimmtes Maß an Schutzbedürftigkeit, überläßt es aber der Selbsteinschätzung) - und andererseits zur Befreiung von der Versi-cherungspflicht (diejenigen, die nach ihrer eigenen Einschätzung nicht schutzbedürftig sind, können sich dem "Zwangsschutz" entziehen; wichtig aber auch für solche, die einen jahrelangen relativ billigen privaten Versiche-rungsschutz aufgebaut haben, den sie bei einem Ausscheiden einbüßen würden. Erhöht sich später das Gehalt wieder, dann wären - entsprechend dem nun wesentlichen höheren Eintrittsalter - entsprechend höhere Beiträge zu zahlen).

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V. Die Krankenversicherung (SGB V) 1. Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit Es gelten die allgemeinen Regelungen der §§ 1 bis 6 SGB I und die besonderen der §§ 5 bis 10 SGB V. Zu un-terscheiden sind: a) Versicherungspflicht (§ 5) Es werden 12 Personengruppen erfaßt. Wichtig: Beschäftigte (Nr.1), Leistungsempfänger nach dem SGB III (Nr. 2, hauptsächlich: Personen, die Arbeitslosengeld beziehen und Teilnehmer am Bildungsmaßnahmen), Behin-derter in anerkannten Werkstätten und Anstalten für Behinderte (Nr. 7 u. 8), Studenten und Praktikanten (Nr. 9 u.10), Rentner (Nr. 11 u. 12); b) Versicherungsfreiheit (§ 6) Erfaßt sind 8 Personengruppen, davon: Beschäftigte, deren Jahresarbeitsentgelt 75 % der Beitragsbemessungs-grenze nicht übersteigt (Nr. 1), Personen, die in ein Kranken-Beihilfesystem einbezogen sind (Beamte, Richte, Soldaten; Geistliche: bestimmte Privatschullehrer, Nrn. 2, 4 bis 7), Studenten, die während des Studiums gegen Entgelt beschäftigt sind (Nr. 3); c) Befreiung von der Versicherungspflicht (§ 8) Erfaßt werden u.a.: Personen, die erst aufgrund der jährlichen Erhöhung der Jahresarbeitsentgeltgrenze (Nr. 1) durch den Bezug u.a. von Arbeitslosengeld (Nr. 1a) versicherungspflichtig werden, Studenten, die erst durch die Immatrikulation versicherungspflichtig werden (Nr. 5), beachte aber Abs. 2: Die einmal erfolgte Befreiung kann später nicht widerrufen werden! d) Freiwillige Versicherung (§ 9) Erfaßt sind u.a. Personen, die aus der Versicherungspflicht ausgeschieden sind, sofern sie eine bestimmte Vor-versicherungszeit aufweisen (Nr. 1); Personen, die aus der Familienversicherung (s.u.) ausscheiden (Nr.2); e) Familienversicherung (§ 10) Grundsatz: Die Krankenversicherung (nur diese!) erfaßt prinzipiell auch die Familienangehörigen, sofern diese nicht schon selbst sozialversichert sind (Vorrang!), oder von vornherein versicherungsfrei (z.B. Beamte) oder (nachträglich) befreit wurden, wenn ihr Gesamteinkommen (§ 16 SGB IV) eine bestimmte Höhe (regelmäßig im Monat ein siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV) nicht übersteigt (z.B. Kind erbt von Großel-tern ein Vermögen, dessen Erträgnisse diesen Betrag übersteigen; auf vorhandenes Vermögens - z.B. wertvol-les Gemälde - kommt es nicht an). 2. Beginn und Ende der Leistungsansprüche § 19 Abs. 1: Verknüpfung von Leistungsanspruch mit Mitgliedschaft bei der Krankenkasse: Anspruch nur, so-

lange Mitgliedschaft besteht. § 186 : Mitgliedschaft versicherungspflichtig Beschäftigter beginnt mit dem Tag des Eintritts in die Beschäfti-gung (Abs. 1), diejenige von Arbeitslosen mit dem Tag an, für den Alg (bzw. Arbeitslosenhilfe oder Unterhalts-geld) bezogen wird (Abs. 2a).

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§ 190 Abs. 2: Mitgliedschaft endet mit Ablauf des Tages, an dem das Beschäftigungsverhältnis endet. § 192 Abs. 2: Mitgliedschaft bleibt erhalten (trotz Ende der Beschäftigung), u.a solange Anspruch auf Kran-

kengeld besteht (dazu § 44 Abs. 1: Anspruch auf Krankengeld, wenn und solange die Krankheit Versi-cherte arbeitsunfähig macht oder jemand stationär behandelt wird) oder Erziehungsgeld bezogen oder El-ternzeit* in Anspruch genommen wird. * Erwerbstätige Mütter und Väter, die ihr Kind selbst betreuen und erziehen, haben Anspruch auf sog. „El-ternzeit“ (früher: „Erziehungsurlaub“) nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz für drei Jahre je Kind .

§ 19 Abs. 2: Fortdauer des Leistungsanspruchs für längstens einen Monat nach Ende der Mitgliedschaft. § 9 Abs. 1: Möglichkeit der freiwilligen (Weiter-)Versicherung nach Ausscheiden aus der Mitgliedschaft (Nr. 1)

bzw. dem Erlöschen der Familienversicherung (Nr. 2). Beispiel:

A wird zum 31.12.2007 gekündigt. Bereits am 12.10.2007 wird er arbeitsunfähig krank. Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit am 31.3.2008. Lohnfortzahlung bis 22.11.2007 anschließend Krankengeldbezug und da-mit Fortsetzung der Mitgliedschaft bis 31.3.2008. Nachfrist gem. § 19 Abs. 2 SGB V bis 30.4.2004. Eine Erkrankung am 28.3. wäre noch versichert, eine am 4.4. nicht mehr. Möglichkeiten der Fortsetzung der Versicherung: Arbeitslosmeldung zum 1.4.2008 (Versicherungs-schutz aber nur bei Anspruch auf Arbeitslosengeld § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB V) oder freiwillige Weiterversiche-rung nach § 9 Nr. 1 SGB V (falls die Voraussetzungen dafür erfüllt sind): Der Beitritt ist innerhalb von 3 Monaten nach Beendigung (hier: nach dem 31.3.2008) anzuzeigen (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V).

3. Die Leistungen der Krankenversicherung a) Leistungsarten (§ 11 SGB V):

Leistungen zur - Verhütung von Krankheit sowie zur Empfängnisverhütung, bei Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch; - Früherkennung von Krankheit; - zur Behandlung bei Krankheit (s. §§ 27 bis 43a) durch Gewährung von ärztlicher Behandlung einschließlich Psychotherapie, zahnärztliche Behandlung, Krankenhausbehandlung, Rehabilitationsmaßnahmen, Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln als Sachleistungen

- Gewährung von Krankengeld, Sterbegeld und Fahrkosten, ferner die Erstattung von Kosten für selbstbe-schaffte Kräfte zur Krankenpflege und Haushaltshilfe sowie Kostenerstattung bei kieferorthopädischer Be-handlung und Zahnersatz als Geldleistungen.

b) Weitere Leistungen: - Vorsorgekuren (§ 24) - Empfängnisverhütung (§ 24a) - Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation (§ 24b) Beachte § 11 Abs. 4: Kein Anspruch auf Leistungen durch die Krankenkasse, wenn die Leistungen als Fol-ge eines Arbeitsunfalls (oder Berufskrankheit) durch die gesetzliche Unfallversicherung zu erbringen sind.

c) Die zwei wichtigsten Leistungen sind : - Behandlung bei Krankheit durch niedergelassenen Arzt oder im Krankenhaus - Zahlung von Krankengeld

4. Zentrale Begriffe des Rechts der Krankenversicherung:

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- Krankheit - Behandlungsbedürftigkeit - Arbeitsunfähigkeit - Versicherungsfall / Leistungsfall - Ruhen des Anspruchs auf Leistungen* - Sachleistungsprinzip - Wirtschaftlichkeitsgebot * Anmerkung: Begriff des Ruhens:

Ansprüche auf Sozialleistungen können ruhen. Dies bedeutet, daß sie nicht geltend gemacht werden können, obgleich der Anspruch infolge Eintritts aller seiner Voraussetzungen entstanden ist und als sog. „Stammrecht“ besteht. Das Ruhen dient idR dazu, bei Ansprüchen auf Geldleistungen das Gel-tendmachen von Einzelansprüchen aus einem bestehenden Stammrecht (teilweise oder vorüberge-hend) auszuschließen, etwa um funktionsidentische oder Sozialleistungen bei fehlender Bedarfssitua-tion zu verhindern (zB Lohnfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit oder bei Freistellung von der Arbeits-pflicht, was die Arbeitslosmeldung ermöglicht und prinzipiell zu einem Anspruch auf Arbeitsentgelt führt; eine Rente aus der Rentenversicherung wird insoweit nicht geleistet, als sie mit einer Rente aus der Unfallversicherung zusammentrifft, § 93 SGB VI). Es soll die Zahlung von Entgeltersatzleis-tungen in den Fällen verhindert werden, in denen es nichts zu ersetzen gibt (Lohn wird weitergezahlt; es wird bereits eine Rente - Entgeltersatzleistung! - gezahlt). Obgleich das Ruhen kraft Gesetzes ein-tritt, bedarf es der (teilweisen) Aufhebung des früheren Bewilligungsbescheides und der (deklaratori-schen) Neufeststellung die häufig auch rückwirkend ab Änderung statthaft sind.

5. Krankengeld (§§ 44 bis 51) a) Voraussetzungen (§§ 44 und 45):

krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit oder stationärer Krankenhausaufenthalt oder Behandlung in Vorsor-ge oder Reha-Einrichtung oder Betreuung eines erkrankten/ versicherten/ weniger als 12 Jahre alten Kindes

b) Entstehung des Anspruchs (§ 46): - Bei Aufenthalt in Krankenhaus, Vorsorge- oder Reha-Einrichtung: von Beginn an - sonst: ab 1. Tag nach ärztlicher Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (sog. „Karenztag“, politisch immer um-stritten)

c) Ruhen des Anspruchs (§ 49) # bei Bezug von: - Arbeitsentgelt (Nr. 1) -Entgeltersatzleistungen wie z.B. Verletztengeld (bei unfallbedingter Krankheit), Arbeitslosengeld u.a. so-wie ausländischen staatlichen Entgeltersatzleistungen (Nr. 3 u.4)

# solange - der Erziehungsurlaub dauert (Nr. 2) - die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird (Nachholen innerhalb der ersten 7 Tage möglich);

d) Dauer des Anspruchs (§ 48) - Grundsatz: ohne zeitliche Begrenzung - Einschränkungen: für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit: innerhalb von jeweils 3 Jahren 78 Wochen lang ("Blockfrist") für die folgenden 3-Jahres-Blöcke: entweder: 78 Wochen des vorangegangenen Blocks nicht ausgeschöpft (weil nicht solange arbeitsunfähig

oder mehrere kürzere Krankheiten): --+ neuer 3-Jahres-Block beginnt;

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oder: 78 Wochen des vorangegangenen Blocks ausgeschöpft: neuer 3-Jahres-Block beginnt nur, wenn: > mit Anspruch auf Krankengeld versichert > zwischen Ende der letzten und Eintritt der neuen Arbeitsunfähigkeit für wenigstens sechs Monate = nicht wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig und = erwerbstätig oder (weil arbeitslos) der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden.

e) Höhe des Krankengeldes (§ 47):

70% des letzten abgerechneten Brutto-Arbeitsentgelts („soweit es der Beitragsrechnung unterliegt“); Berechnung erfolgt tageweise (1/7 bei Wochen-. 1/30 bei Monatsbemessung); jährliche Dynamisierung im Umfang der Ren-tenerhöhung. 6. Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung:

- Allgemeines Ziel der Krankenversicherung ist die Behebung und Überbrückung von Bedarfssituation, die auf voraussichtlich vorübergehenden Beeinträchtigungen (Störungen) des Gesundheitszustandes beruhen (Un-terschied zur Unfall- und Rentenvers.: Dauerbeeinträchtigungen, zur Arbeitslosenvers.: zwar ebenfalls vo-rübergehend, aber nicht krankheitsbedingt); -Leistungsanspruch entsteht bereits mit (dem Tag der) Auf-nahme der Beschäftigung, ohne Rücksicht darauf, ob bereits Beiträge entrichtet wurden;

- Der Leistungsanspruch ist unabhängig von der Ursache des Bedarfs; aber: § 52: Kostenbeteiligung (nicht: Versagung der Leistung) bei Selbstverschulden möglich (Ermessen!);

- Anspruch auch für solche Leistungen, die bereits vor Versicherungsbeginn vorlagen (Unterschied zur priv. Vers.);

- „Einheitlichkeit des Versicherungsfalles“: ist eine behandlungsbedürftige Krankheit eingetreten, dann bildet eine neu hinzutretende Krankheit keinen neuen „Versicherungsfall" (wichtigste Folge: es gilt die Rechtslage zur Zeit des Auftretens der ursprünglichen Erkrankung);

- Leistungen werden grundsätzlich (mit Ausnahmen) als Sachleistungen gewährt („Sachleistungsprinzip"), Kostenerstattung nur in Ausnahmefällen (s. § 13; Hauptfälle: unaufschiebbare Sachleistung wird nicht rechtzeitig erbracht, Abs. 3 und Behandlung im europäischen Ausland, Abs. 4);

- Leistungsanspruch ist grundsätzlich auf die Zeit der Mitgliedschaft beschränkt, auch wenn Behandlungsbe-darf fortbesteht (s.o. Nr. 2);

- Kein Leistungsausschluß, keine „Aussteuerung" : Anspruch auf Leistungen besteht für die gesamte Behand-lungsdauer, sofern die Mitgliedschaft erhalten bleibt (s. § 19 SGB V: Erlöschen des Leistungsanspruchs mit dem Ende der Mitgliedschaft aber: Sonderregelung bei Krankengeld § 192 Abs. 2: Fortdauer der Mitglied-schaft bei Bezug von Krankengeld längstens für 78 Wochen, danach freiwillige Weiterversicherung);

- Freie Arztwahl unter den zugelassenen Kassenärzten (§ 76, Ausnahme in Abs. 2) - Beitrag ist stets allein abhängig von der Höhe des Brutto-Arbeitsentgelts, nicht von den Risikokosten (§ 220, Unterschied zur priv. Vers.); er wird zur Hälfte von Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen (§ 249);

- (unmittelbarer) Beitragsschuldner ist der Arbeitgeber, der den Arbeitnehmeranteil (rückwirkend längstens für drei Monate) vom Lohn einbehalten darf (§§ 28e u. 28g SGB IV: bei länger zurückliegenden Beitragsrück-ständen muß der Arbeitgeber beide Anteile selbst begleichen).

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7. Finanzierungsprobleme a) Probleme bei der Finanzierung der Krankenversicherungsleistungen sind aus mehreren Gründen unver-meidbar: - Gesundheit ist unabdingbarer Bestandteil des individuellen Lebensglücks. Niemand wird und braucht darauf zu verzichten. Dann aber werden im Zweifel immer mehr als weniger Leistungen beansprucht werden.

- Zwar müssen auch Rentner Beiträge zahlen. Diese decken aber nur einen Bruchteil der durch diese Perso-nengruppe verursachten Kosten. Die Hauptlast liegt bei den Berufstätigen. Dafür aber steht im wesentli-chen nur die Zeit vom 16. bis zum 65. Lebensjahr zur Verfügung. Wenn aber die Lebenserwartung ständig zunimmt, dann muß von dieser im wesentlichen konstanten Gruppe die stetig wachsende Gruppe der über 65-jährigen finanziert werden;

- Nicht zu bewältigende Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau senkt das Beitragsaufkommen, der Umfang der Erkrankungen aber bleibt;

- Die Medizintechnik und Pharmazie macht - erwünscht! - unaufhörlich Fortschritte, die bezahlt werden müs-sen. Hüftgelenksersatz z.B. - auch im höheren Alter - ist zur Routine geworden, die größere Häufigkeit macht sie aber nicht billiger;

- Erweiterte Diagnosemöglichkeiten drängen unausweichlich zu ihrer - erweiterten - Nutzung. Eine ungenutzt gelassene Untersuchungsmethode setzt den Arzt dem Vorwurf eines Behandlungsfehlers aus („Verrechtli-chung“ der Arzt-Patient-Beziehung).

b) Den Umfang der zu erbringenden medizinischen Leistungen bestimmen nicht diejenigen, die ihn zu bezahlen haben - die Kranken - weil sie dies nicht beurteilen können, sondern diejenigen, die zugleich den wirtschaftli-chen Vorteil eines größeren Leistungsumfang haben. Der unvermeidliche Beurteilungsspielraum wird des-halb stets tendenziell in Richtung Leistungserweiterung genutzt werden. Die Kontrollmöglichkeiten sind be-grenzt (bei Ärzten: z.B. sog. „Wirtschaftlichkeitsprüfung“ § 106 SGB V: Auffälligkeits- und einzelfallbezogene Zufälligkeitsprüfung).

c) Möglichkeiten der Kostenbegrenzung:

- Deckelung der Arzthonorare durch Festbeträge, die von den Krankenkassen an die Kassenärztlichen Ver-einigungen gezahlt werden;

- Selbstbeteiligung der Versicherten; - „Allerweltserkrankungen“ (z.B. Erkältung) muß jeder selbst zahlen; - Reduzierung der Höhe des Krankengeldes (gesundheitlich ungefährlich) auf freiwilliger Basis gegen Bei-tragssenkung;

- Pauschalierung von Krankenhausleistungen aufgrund von Erfahrungsdurchschnitten (z.B. Festbetrag für Herzoperation oder Hüftgelenksersatz);

- verstärktes „Qualitätsmanagement“ d) Fragen der Umverteilung Nach der ursprünglichen Konzeption sollen Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Leistungen der gesetzlich Sozial-versicherung paritätisch tragen. Personalabbau führt zu einer Verringerung der Beitragseinnahmen und Lohnkos-tendruck verhindert ein Ansteigen der Beiträge an das an sich erforderliche Niveau (s. z.B. KfZ-Haftpflichtversicherung: Steigen der Prämien bei negativem Schadensverlauf). Insbesondere erzielten Unter-nehmen ihre Gewinne mit immer weniger Personal und zahlen deshalb entsprechend weniger Beiträge. Eine teilweise Finanzierung der Krankheitskosten durch Steuer könnte hier einen Ausgleich schaffen. Leitgedanke: Eine gesicherte Gesundheitsvorsorge und - Krankenversorgung der arbeitenden Bevölkerung dient dem Interes-se der Allgemeinheit.

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VI. Die Unfallversicherung (SGB VII) Bisher: Drittes Buch der Reichsversicherungsordnung (RVO) §§ 537-1160 (mit Ergänzungen in den §§ 1546-1587 u. 1735-1772 RVO über das Verfahren), seit 1.1.1997: Siebentes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). A. Vor- und Umfeld der gesetzlichen Unfallversicherung 1. Der historische Ausgangspunkt

Industrielle und rechtliche Situation des 19. Jahrhunderts:

- unzureichende und gefahrenträchtige Arbeitsbedingungen - Übermüdung und Überforderung der Arbeiter durch lange Arbeitszeiten und Kinderarbeit („höchstens 10 Stun-den täglich“ ; kein Mutterschutz)

- Haftung des Unternehmers nur bei (nachgewiesenem ) Verschulden führt zu Beweisnot des Verletzten (Ar-beitskollegen müßten gegen den Unternehmer aussagen).

Rechtliche Alternative zur Verschuldenshaftung: Gefährdungshaftung Verschuldensunabhängige Haftung aufgrund der Verursachung eines Schadens durch den Betrieb einer gefah-renträchtigen Einrichtung (Vorbild: Eisenbahnen); wurde von den Unternehmern bekämpft (Furcht vor zu starken finanziellen Einbußen). Gefundene Lösung: Staatliche Zwangsversicherung der Unternehmen Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 § 5: "Ersatz des Schadens, der durch Körperverletzung oder Töd-tung entsteht" (Verursachungsprinzip!), § 10: Aufbringung der Mittel allein durch die Unternehmer; von den Ge-werkschaften abgelehnt wegen Schlechterstellung gegenüber zivilrechtlichen Ansprüchen: kein voller Scha-densersatz, kein Schmerzensgeld, keine freie Arztwahl. Vorteile: stets zahlungsfähiger Leistungsträger, „neutra-le“ Organisation ermittelt - auf eigene Kosten (für die Verletzten kostenfrei!) - die Umstände des Unfalls, gesetz-lich gewährleistete Gleichbehandlung . 2. Grundsätze der sozialen Unfallversicherung

- Zusammenschluß der Unternehmen zu branchenspezifischen „Berufsgenossenschaften“; - Versicherungsschutz der Beschäftigten (und anderer Versicherter) vom Zeitpunkt der Aufnahme der Tätigkeit an (unabhängig davon, ob bereits Beiträge gezahlt wurden);

- Zahlung der Beiträge - gestaffelt nach Häufigkeit und Schwere der Unfälle (Gefahrenklassen) - allein durch die Unternehmen, aber: paritätische Besetzung der Selbstverwaltungsorgane;

- Zahlung lohnabhängiger (maßgebend: sog. „Jahresarbeitsverdienst“) Dauerleistungen (Verletztengeld, Verletz-tenrente, Hinterbliebenenrente ); - Gewährung der Leistungen abhängig vom Bestehen eines Ursachenzusammenhangs zwischen dem Verlet-zungsvorgang (dem „Unfall“) und versicherter Tätigkeit, i.d. Regel die Beschäftigung (sog. „haftungsbegrün-dende Kausalität", auch als „innerer Zusammenhang“ bezeichnet) und zwischen Verletzungsvorgang und Um-fang der Verletzungsfolgen („haftungsausfüllende Kausalität"), weitgehender Ausschluß der privatrechtlichen Haftung des Unternehmers oder von Arbeitskollegen auch bei Fehlen eines sozialrechtlichen Schutzes für den Verletzten ( § 104 SGB VII, § 633 RVO, Ausnahme: vorsätzliche Verursachung des Unfalls);

- Unfallschutz auch bei eigenem Verschulden des Verletzten; § 7 Abs. 2 SGB VII: verbotswidriges Handeln schließt einen Versicherungsfall nicht aus. Ausnahme: in Extremfällen von "selbstgeschaffener Gefahr " (z.B. Sonnenbad auf Tanklastwagen während der Fahrt; Ausnahme von der Ausnahme: die Selbstgeschaffene

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Gefahr hat ihren Ursprung in betrieblichen Bedingungen, z.B. Unfall durch stark überhöhte Geschwindigkeit, um einen bestimmten Termin einzuhalten); Leistungsausschluß für Hinterbliebene, die den Tod des Versi-cherten vorsätzlich herbeigeführt haben, oder dann, wenn der Unfall bei einer Straftat eingetreten ist , § 101 Abs. 1 u. 2 SGB VII ).

3. Spätere Erweiterungen der Unfallversicherung - Ausdehnung auf

* alle Beschäftigungsverhältnisse überhaupt * Schüler und Studenten * bestimmte gemeinnützige Tätigkeiten und solche, die auf behördliche Aufforderung hin erfolgen * Kleinunternehmer

* diejenigen, die „wie" sonst Versicherte (RVO) bzw. - ab SGB VII - „wie Beschäftigte“ tätig geworden sind. - Einbeziehung von Berufskrankheiten (seit 1925) sowie der Wege vom und zum Arbeitsplatz (sog. „Wegeunfall“), - Sonderregelungen für landwirtschaftliche und See-Unfallversicherung neben der „allgemeinen" Unfallversiche-rung.

4. Gegenwärtige Bedeutung (die Zahlen bleiben über Jahre hindurch im wesentlichen konstant mit Tendenz zur Verringerung der Leistungsfälle) Sozialbudget Bundesrepublik 1999 insgesamt: 1,306 Billionen DM (667,747 Mrd. EUR) 2002: 685 091 Mrd. EUR - 2003: 694, 427 Mrd. EUR - Unfallversicherung 2002: 11, 253 Milliarden EUR 2003: 11, 344 Mrd EUR Anteil der Unfallversicherung: 20,816 Milliarden DM (I,59 %) Sozialbudget Ostdeutschland 1999 insgesamt: 247,791 Milliarden DM Anteil der Unfallversicherung: 3,697 Milliarden (1,49 %) Daten für 1999 (1991) Deutschland: Anzahl der Versicherten: 43,2 Millionen Leistungen: 23,36 Mrd. DM (davon 1,2 Mrd. für Prävention) Beitragssatz (für Arbeitgeber): 1,33% des Arbeitsentgelts Rentenbestand insgesamt: 0.748 Millionen (1,193 Millionen) - davon Witwen- und Witwerrenten: 131.172 (147.607) angezeigte Unfälle insgesamt: 1,56 Millionen, davon 1.293 tödlich (2,02 Millionen), - davon angezeigte Wegeunfälle : 248.324, davon 855 tödlich (245.127) angezeigte Berufskrankheiten: 83.738, davon anerkannt: 19.402 (1995 angezeigt: 91.000). Insgesamt zeigt sich - im Unterschied zur Krankenversicherung - eine rückläufige Tendenz infolge verbesserten Unfallschutzes und des Rückgangs manueller Tätigkeiten. Die Unfallhäufigkeit ist 2004 bei den Arbeitsunfällen auf 30 Arbeitsunfälle pro 1.000 Beschäftigten gesunken. Die Arbeitsunfälle mit tödlichem Ausgang sind 2004 gegenüber dem Vorjahr um 7,8% zurückgegangen und sind mit 949 Fällen erstmals seit 1991 unter 1.000 ge-sunken. Ebenso sank 2004 im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit um 1,6% auf 63.812 Anzeigen.

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Bestand der Renten in 1000 am Jahresende Jahr insgesamt Verletzte und Witwen und Waisen Jahr insgesamt Verletzte und Witwen und Waisen

Erkrankte Witwer Erkrankte Witwer

Gewerbliche Berufsgenossenschaften Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften

1950 376,6 265,5 74,8 34,7 1950 193,3 163,9 20,2 9,0

1955 515,1 384,4 92,8 36,3 1955 233,4 203,9 21,0 8,3

1960 598,5 457,1 105,5 34,7 1960 233,1 204,7 21,2 7,1

1965 684,7 520,8 119,2 43,3 1965 239,0 209,0 21,7 8,2

1970 704,4 534,1 124,7 44,9 1970 227,7 199,0 '20,7 7,9

1975 721,1 547,4 126,0 47,0 1975 213,0 187,0 19,4 6,6

1980 725,9 560,6 122,1 42,6 1980 197,4 174,5 17,5 5,4

1985 710,3 564,5 113.8 31,5 1985 180,7 161,7 15,3 3,6

1990 682,5 557,9 103,3 20,7 1990 187,1 169,7 15,2 2,2

1991 902,9 762,6 119,5 20,5 1991* 188,2 170,9 15,1 2,2

1995 896,5 758,9 117,5 20,0 1995 179,2 162,8 14,2 2,2

2000 873,0 742,8 112,0 18,2 2000 164,7 150,3 12,5 1,9

2001 866,1 737,4 110,6 18,1 2001 163,1 148,9 12,3 1,9

2003 847,8 722,2 108,1 17,5 2003 157,7 144,1 11,7 1,9

2004 838,9 715,0 107,0 16,9 2004 155,2 141,9 11,5 1,8

Jahr insgesamt Verletzte und Witwen und Waisen Jahr insgesamt Verletzte und Witwen und Waisen

Erkrankte Witwer Erkrankte Witwer

Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand insgesamt

1950 66,4 47,2 14,6 9,1 1950 636,3 471,6 109,6 52,7

1955 81,2 60,6 16,0 8,1 1955 829,7 645,0 129,9 52,6

1960 84,3 66,5 15,9 5,5 1960 916,0 724,4 142,7 47,2

1965 87,2 68,8 16,5 4,9 1965 1010,9 795,5 157,4 56,4

1970 86,1 56,9 15,7 4,5 1970 1018,2 798,8 161,1 57,3

1975 84,0 ' 51,1 14,7 4,8 1975 1018,1 798,7 160,0 58,5

1980 81,3 63,2 13,7 4,4 1980 1004,5 798,3 153,3 52,3

1985 75,9 60,5 12,2 3,3 1985 966,9 786,7 141,3 38,4 1990 76,7 63,7 10,9 2,1 1990 946,3 791,3 129,6 25,0

1991 95,8 81,6 11,6 2,6 1991* 1186,8 1015,1 146,2 25,2

1995 108,7 93,5 12,7 2,5 1995 1184,4 1015,2 144,4 24,7

2000 ' 105,5 91,7 11,7 2,1 2000 1143.0 984,8 136,0 22,2

2001 104,1 90.8 11,3 2,0 2001 1133,3 977,1 134,2 22,0

2002 102,8 89,8 11,0 2.0 2002 1121.7 967,7 132,3 21,7

2003 101,1 88,4 10,7 2,0 2003 1106,6 954,7 130,5 21,4

2004 99,0 86,6 10,5 1,9 2004 1093,1 943,5 129,0 20,6

5. Kreis der Versicherten (§§ 2 - 6 SGB VII) Versicherung kraft Gesetzes oder Satzung - Versicherungsfreiheit - freiwillige Versicherung. Wichtig: In der ge-setzlichen Unfallversicherung sind die Betroffenen bereits und allein aufgrund der jeweils bestimmten ausgeüb-ten Tätigkeit - und nur für diese und während dieser - versichert. Es besteht keine Versicherungspflicht. a) Versicherung kraft Gesetzes oder Satzung:

- Hauptgruppe : Die aufgrund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten sowie Kleinunter-nehmer (Landwirte, Küstenschiffer) bzw. - kraft Satzung - Unternehmer (sog. "echte" Unfallversicherung);

- „unechte“ Unfallversicherung nach dem Grundgedanken des Schutzes für diejenigen * die für das Gemeinwohl tätig sind (Blutspender, Nothelfer), * die sich aufgrund gesetzlicher Vorschrift in bestimmten Einrichtungen aufhalten (Zeugen, meldepflichtige Arbeitslose ),

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* die aus anderen sozial- und wirtschaftspolitische Motiven in die Unfallversicherung einbezogen werden (Schüler, Studenten, Entwicklungshelfer).

b) Versicherungsfreiheit - für diejenigen Beschäftigten, die in ein vergleichbares Schutzsystem einbezogen sind (Beamten, Soldaten, Richter, Geistliche ),

- Verwandte von Unternehmern (wichtig: auch geringfügig Beschäftigte sind versichert und nicht etwa „versi-cherungsfrei“!).

c) freiwillige Versicherung - im wesentlichen für die Unternehmer

6. Organisation und Beitragsentrichtung

- Träger der (allgemeinen) Unfallversicherung sind die 35 Berufsgenossenschaften (s. Liste der Anlage 1 zu § 114 SGB VII [§ 646 Abs. 1 RVO]). Die Selbstverwaltung richtet sich nach den allg. Regeln des SGB IV (§§ 29-90): Vertreterversammlung , Vorstand und Geschäftsführer (s. § 31 SGB IV).

- Beitragsschuldner sind allein die Unternehmer. Die Beitragshöhe richtet sich nach der Lohnsumme und der Gefahrenklasse (berechnet nach dem Grad der Unfallgefahr in dem jeweiligen Unternehmen, § 152-163 SGB VII).

7. Die Unfallarten (§§ 7-13 SGB VII) - Arbeitsunfall - darunter Wegeunfall als besondere Ausformung der versicherten Tätigkeit (zum sog. „Betriebsweg“ (kein We-

geunfall) s.u. bei B. Nr. 6: Wegeunfall); - Berufskrankheit; - Arbeitsgeräteunfall: - Arbeitsunfall in der See- und Binnenschiff-Fahrt; - Schädigung des Embryos durch Unfall. B. Der Arbeitsunfall mit Nebenformen 1. Begriff (§ 8 SGB VII): Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). „Von außen“ bedeutet dabei nur: nicht auf innerer Ursache beruhend (z.B. Sturz infolge eines Herzinfarkts). 2. Der Ursachenzusammenhang:

a) Versichert ist nicht ein Status sondern eine Tätigkeit. Die konkrete Tätigkeit muß mit dem versicherten all-gemeinen Tätigkeitsfeld (als Beschäftigter, Blutspender, Zeuge, Schüler) in einem inneren Zusammen-hang stehen.

b) Mehrere Ursachenzusammenhänge erforderlich: * sowohl zwischen der konkreten Tätigkeit und dem Unfallereignis als auch zwischen Unfallereignis und Verletzung: haftungsbegründende Kausalität (schadhafte Leitersprosse führt zu Sturz des Lagerarbeiters mit Knieverletzung Folge)

* zwischen dem Unfallereignis und dem Umfang der Verletzungsfolgen: haftungsausfüllende Kausalität (Sturz von der Leiter und spätere Kniegelenksarthrose: ist die Knieerkrankung in vollem Umfang Folge des Sturzes und/oder wirkt eine körpereigener Erkrankung mit - Abgrenzung z.B. durch Vergleich mit dem unverletzten Knie);

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c) Regelmäßig geht ein Erfolg auf mehrere "Ursachen" zurück. Die Bestimmung der relevanten Ursache er-folgt im Sozialrecht nach der Theorie der "wesentlichen Mitbedingung" im Unterschied zur Adäquanz - bzw . Äquivalenztheorie . Es ist erforderlich aber auch ausreichend, daß eine Ursache in den Zusammenhän-gen nach b) - u. U. neben anderen - wegen ihrer besonders engen Beziehung zum Erfolg „wesentlich“ zu dessen Eintritt beigetragen hat; sie braucht nicht die „Hauptursache“ gewesen zu sein (z.B. Kurzsichtiger ohne Brille stolpert über Werkzeugkasten). Die wesentliche Ursache muß auch nicht die „überwiegende“ sein (auch eine Beteiligung etwa zu 20 % kann noch wesentlich sein), die Grenze liegt dort, wo man nach der Lebensanschauung sagt, die andere Einwirkung sei praktisch unbedeutend (z.B. kleine Vereisungs-stelle auf der Fahrbahn bei Trunkenheitsfahrt mit 120 km/h).

3. Weitere Kausalitätsfragen

a) Schutz für mittelbar verursachte Schäden (z.B. häuslicher Sturz infolge arbeitsbedingter Beinamputation); b) kein Schutz für indirekte Schäden (z.B. wegen Verletzung kann bestimmte Nebentätigkeit nicht mehr aus-

geübt werden); c) kein Schutz bei Wirksamwerden von sog. „Gelegenheitsursachen“ (neuerdings „Anlaßgeschehen“ ge-

nannt): Verletzung (Schädigung) tritt nur zufällig bei der versicherten Tätigkeit auf (z.B. Bandscheibenvor-fall, Archillessehnenabriss beim Anheben eines Gegenstands mit Alltagsgewicht, etwa einer Bierkiste). Aber: wenn ungewohnt schwere Arbeit ursächlich, dann versichert (z.B. Tragen eines Metallgegenstandes von 120 kg im Rückwärtsgang eine Wendeltreppe hinauf);

d) Ursachen des täglichen Lebens sind versichert. Die Gefahr braucht nicht „arbeitsplatzspezifisch“ zu sein (z.B. Stolpern, Ausrutschen, Insektenstich);

e) "innere Ursachen" (z.B. Herzinfarkt, epileptischer Anfall) fallen nicht unter den Unfallbegriff (von außen wir-kendes Ereignis). Aber: Schutz, wenn betriebliche Umstände mitwirken (z.B. Bauarbeiten bei drückender Hitze, aufregende Auseinandersetzung mit Arbeitskollegen mit nachfolgendem körperlichen Zusammen-bruch) oder den Schaden vergrößern (z. B. Augenverletzung durch Sturz auf spitzes Werkzeug nach Herzanfall).

4. Eigenwirtschaftliche Tätigkeiten Bei Tätigkeiten, die privaten Zwecken dienen (finale Betrachtungsweise!), fehlt von vornherein der "innere Zu-sammenhang" mit der versicherten Tätigkeit. Bestand aber ein solcher zuvor, dann tritt während der eigenwirt-schaftliche Tätigkeiten eine Unterbrechung (bei Fortsetzung nach deren Ende) bzw .eine "Lösung vom Betrieb" (keine Wiederaufnahme an diesem Tag) ein. Aber: bloß geringe Unterbrechungen heben den Schutz nicht auf (z.B.: Verkäufer verläßt den Laden, um im Kiosk auf der gegenüber liegenden Straßenseite ein Zeitung zu kau-fen, anders bei etwa zehnminütigem Einkauf). Von einzelnen Betriebsangehörigen veranstaltete Feiern aus be-trieblichem Anlaß nach Arbeitsschluß stehen zwei Stunden lang unter Versicherungsschutz, danach Übergang in die unversicherte Privatsphäre. Anders: Von Unternehmer organisierte Feiern oder Gemeinschaftsveranstal-tungen (z.B. Betriebssportgruppen). Bei privater Tätigkeit während Arbeitspausen und nach Arbeitsschluß kein Versicherungsschutz, es sei denn, eine besondere betriebliche Gefahr wird wirksam (z.B. Sturz ins Treppenhaus wegen zu niedrigen Geländers). 5. Gemischte Tätigkeiten Handlungen, bei denen private und versicherte Belange untrennbar verbunden sind. Es besteht regelmäßig Versicherungsschutz, außer, die versicherte Tätigkeit erfolgt nur gelegentlich der privaten und wird nebenbei miterledigt (z.B. privater Kauf von Büromaterial, darunter ein Zeichenstift für betriebliche Zwecke). Kriterium: Wäre die Tätigkeit genau so auch ohne den privaten Zweck durchgeführt worden, dann versichert.

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6. Der "Wegeunfall" (§ 8 Abs. 2 SGB VII; früher § 550 RVO): Versicherte Tätigkeit ist auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittel-baren Weges „nach und von dem Ort der Tätigkeit". Erfaßt ist der gesamte öffentliche Verkehrsraum. Unfälle auf Wegen, die im Rahmen der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden, sind nicht Wege- sondern Arbeitsunfälle (z.B. bei Fahrt eines Monteurs zum Kunden), doch kommt es nach neuern Recht auf diese Unterscheidung nicht mehr an, da das Gesetz nunmehr den Weg von und zur versicherten Tätigkeit selbst als versicherte Tätigkeit bestimmt.

a) Normaler Ausgangs- und Rückkehrpunkt: Hausaußentür. Wegstrecke: Freie Wahl eines geeigneten (nicht zwingend: des kürzesten) Weges. Endpunkt: Erreichen des Betriebsgeländes (von da ab bis zum Arbeitsplatz: versicherte Beschäftigung)

b) Umwege aus privaten Interessen sind nicht versichert; Ausnahmen: Versichert bleiben: - unerhebliche Umwege (Verlängerung der üblichen Wegstrecke oder Dauer um nicht mehr als etwa ein Viertel; im Einzelfall ist hier vieles zweifelhaft );

- (erhebliche) Umwege oder Abwege aus Anlaß von Kinderbetreuung oder der Bildung von Fahrgemein-schaften (§ 8 2 Nr 2 Buchst. a und b SGB VII: versichert ist auch der aus diesem Grund vom unmittelba-ren Weg abweichende Weg, um mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen).

Beispiel: A ist kaufmännische Angestellte. Ihr Bekannter, ein Rechtsanwalt (R), hat seine Kanzlei in dersel-ben Straße ihrer Arbeitsstätte im Westen der Ortschaft. Dieser wohnt aber etwa 500 m östlich von ihrer Wohnung. Seit einiger Zeit bilden sie eine Fahrgemeinschaft, A muss deshalb aber, um ihn ab-zuholen, entgegengesetzt von ihrem eigentlichen Ziel, fahren, rechtlich gesehen also einen – an sich unversicherten - Abweg einschalten. Kommt es auf dem „Abweg“ zu einem Unfall, dann behält A (!) den Versicherungsschutz. R ist als Selbständiger nicht mit einbezogen, es sei denn, er erfüllt eine der Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 SGB VII (z.B. Nr. 13: Hilfe bei Unglückfällen, oder Nr. 11 Buchst. b: Zeuge.

c) Abwege (Wegstrecken mit selbständigem Ziel aus privaten Interessen ohne Zusammenhang mit der versi-cherten Tätigkeit) sind stets - auch bei Unerheblichkeit - unversichert; Aufleben des Versicherungsschut-zes bei Rückkehr zur "normalen" Wegstrecke. Faustregel für die Unterscheidung zwischen Umweg und Abweg: Umweg: Der Bewegungsvektor zeigt noch in Fahrtrichtung, der Weg beschreibt einen Bogen (die Sehne stellt den unmittelbaren Weg dar), Abweg: Der Vektor hat den 90°-Winkel zur Sehne überschritten und zeigt tendenziell in die vom versicherten Wegziel (i. d. Regel der Arbeitsort) entgegengesetzte Rich-tung.

d) Drittort: Fahrten von oder zu einem anderen als dem Ort der Familienwohnung in Zusammenhang mit ei-ner versicherten Tätigkeit sind versichert, falls dadurch das Wegerisiko nicht unverhältnismäßig vergrößert wird. Abgrenzung unscharf .

e) Unterbrechungen des Weges für private Zwecke heben für ihre Dauer den Versicherungsschutz auf, die Fortsetzung des Weges ist wieder versichert. ABER: Nach Ablauf von zwei Stunden ist der Weg von der Arbeitsstätte (nach Hause) endgültig beendet, die dann folgende Fortsetzung des (Rück-)Weges ist nicht mehr versichert. Es handelt sich dann nicht mehr um den von der Arbeitsstätte (zurück) sondern um einen Weg vom Ort der Unterbrechung (z.B. Kaufhaus) zurück, der auch zu einem beliebig anderen Zeitpunkt hätte aufgesucht werden können (der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit ist durch die mehr als zweistündige Unterbrechung erloschen). Aber: Weg zur versicherten Tätigkeit ist auch nach

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mehrstündiger Unterbrechung ab deren Ende versichert, dagegen ist der Weg zum Ort der Unterbrechung dann nicht versichert, wenn die längere Unterbrechung von vornherein geplant war. Es kommt auf die sog. „Handlungstendenz“ an.

Beachte: - Unfälle, die sich auf Wegen innerhalb des Betriebsgeländes ereignen, ferner solche auf einem Weg von

einem Betriebsteil zu einem anderen Betriebsteil an einem anderen Ort (z.B. Fahrt von Zweigstelle zur Hauptstelle, ferner alle Fahrten, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der betrieblichen Arbeit stehen (sog. Dienstreisen, Transport-Fahrten u.a.) sind keine Wegeunfälle (s. u. Nr. 6) sondern „normale“ Ar-beitsunfälle (es gelten also nicht die Sonderregelungen über Umweg, Abweg, Unterbrechung);

- Versichert ist immer nur die konkrete Tätigkeit, nicht ein Status. Wer studiert, muss zu Studiums-zwecken den Weg zurücklegen (z.B. Lehrbuch in der Buchhandlung kaufen), ohne diese Zweckrichtung bleibt die Person unversichert (z.B. Zeuge besichtigt das ihm unbekannte Gerichtsgebäude aus privater Neugier und stürzt dabei: kein Versicherungsschutz).

7. Berufskrankheiten (§ 9 SGB VII) Berufskrankheiten sind solche Erkrankungen, die in der Berufskrankheiten-Verordnung vom 20.6.1968 im einzel-nen genannt sind („Listenprinzip“) und die Versicherte bei einer versicherten Tätigkeit (s.o. A 4) erleiden. Leitge-danke: Schädigung wird durch solche Einwirkungen verursacht, denen eine bestimmte Personengruppe bei ihrer Arbeit typischer Weise in erheblich höherem Grade ausgesetzt ist, als die übrige Bevölkerung. Beispiele: Lärm-schwerhörigkeit, Silikose, Asbesterkrankungen. Sofern neuere Erkenntnisse vorliegen, sollen von den Berufsge-nossenschaften Leistungen auch dann erbracht werden, wenn die Krankheit (noch) nicht als Berufskrankheit in den Katalog aufgenommen ist, deren Merkmale aber gegeben sind (Abs 2). 8. Sonderproblem Alkohol und Arbeitsunfall Das Problem tritt auf, wenn alkoholbedingte Leistungsbeeinträchtigung als wesentliche (Mit)Ursache in Betracht kommt. Grundregel: Vollständige Unfähigkeit zur Verrichtung der versicherten Tätigkeit löst den Zusammenhang mit dieser bzw verhindert dessen Zustandekommen. Im übrigen kommt es darauf an, ob neben dem Alkohol andere Ursachen wesentlich mitgewirkt haben. Maßgebend ist die sozialrechtliche Kausaltheorie der „wesentli-chen Bedingung“ (s.o.). Alkohol und Straßenverkehr a) Bei Vollrausch entfällt der Versicherungsschutz. b) Versicherer (Berufsgenossenschaft) muß die absolute Fahruntüchtigkeit beweisen (durch Alkoholtest oder

durch andere Anzeichen). Bei einem BAK von 1,0 ‰ gilt die absolute Fahruntüchtigkeit als bewiesen. Ver-letzte (Hinterbliebene) müssen dann ihrerseits die Existenz weitere wesentlicher Mitursachen beweisen. Ge-lingt dies nicht, dann gilt die Alkoholisierung als die Alleinursache des Unfalls. Faustregel für Alkohol als Al-leinursache: Ohne Alkoholgenuß wäre der Unfall nicht passiert.

c) Kann absolute Fahruntüchtigkeit nicht bewiesen werden, dann bleibt Versicherungsschutz bestehen, wenn andere Umstände als Ursachen (z.B. Glatteis) in Betracht kommen (es genügt Wahrscheinlichkeit und bloße Mitursächlichkeit). Ist jedoch absolute Fahruntüchtigkeit, nicht aber das Vorliegen anderer mitwirkender Um-stände bewiesen, dann entfällt der Versicherungsschutz.

In allen Fällen trägt der Versicherungsträger die Beweislast für die Ursächlichkeit des Alkoholgenusses, und die Verletzten für das jedenfalls Mitwirken anderer Umstände. C. Die Leistungen nach Eintritt eines Versicherungsfalles (SGB VII Drittes Kapitel §§ 26 - 103 SGB VII)

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1. Leistungen im Überblick a) Heilbehandlung einschl. Arznei-, Heil- u. Hilfsmittel sowie häusliche Krankenpflege (§§ 27-33), Berufsför-

dernde Leistungen zur Rehabilitation (§§ 35- 38), Leistungen zur sozialen Rehabilitation und ergänzende Leistungen (§§ 39-43), Leistungen bei Pflegebedürftigkeit (§ 44), Ausstattung mit Hilfsmitteln und Berufs-hilfe zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, Geldleistungen (§§ 45-52), Sonderregelungen für See-fahrt und Landwirtschaft (§§ 53-55).

b) Renten und sonstige Leistungen in Geld an Verletzte oder deren Hinterbliebene: (§§ 56-80 SGB VII). 2. Einzelne Leistungen

a) Heilbehandlung (§§ 27-34 SGB VII, §§ 557-559 RVO): - ambulante und stationäre ärztliche Behandlung - Arznei- und Verbandmittel - Krankengymnastik, Bewegungstherapie - und andere Therapiearten - Ausstattung mit Körperersatzstücken - Belastungserprobung und Arbeitstherapie - Stellung einer Pflegekraft

b) Berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation (§ 35 SGB VII) - Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes - Berufsvorbereitung - berufliche Anpassung, Ausbildung, Fortbildung und Umschulung - sonstige Hilfen der Arbeits- und Berufsförderung (Leistungen an Arbeitgeber und in einer Werkstatt für Behinderte).

c) Geldleistungen -Verletztengeld (§§ 45-48, 52 SGB VII); es entspricht seiner Funktion nach dem Krankengeld. Für die Hö-he gilt § 47 Abs. 1 u.2. SGB V entsprechend mit der Ausnahme, dass 80% des Entgelts (Krankengeld: 70% gezahlt) werden.

- Übergangsgeld während der Teilnahme an einer berufsfördernden Maßnahme (§§ 49-52 SGB VII); - Leistungen der sozialen Rehabilitation (u.a. Kraftfahrzeug-, Wohnungs- Haushaltshilfe, Kosten im Zu-sammenhang mit berufsfördernden Maßnahmen [Prüfung, Lernmittel, Arbeitskleidung, Fahrkosten] §§ 39-43);

- besondere Unterstützung in Härtefällen (§ 39 Abs. 2 SGB VII); - Leistungen bei Pflegebedürftigkeit (§ 44 SGB VII).

d) Renten und andere Geldleistungen -Verletztenrente (§§ 56-62 SGB VII) - Schwerverletztenzulage (§ 57 SGB VII); - Erhöhung der Rente bei Arbeitslosigkeit (neu eingeführt durch § 58 SGB VII);

- Witwer-/Witwen-, Waisen-, Elternrenten (§§ 65- 71 SGB VII); - [Überbrückungshilfe für Überlebende Ehegatten (Weiterzahlung der Rente an Ehegatten für drei Monate, § 591 RVO) ist in der Neufassung gestrichen.]

- Geschiedenenwitwen-/ Witwerrenten (§ 66 SGB VII) - einmalige oder laufende Beihilfe an Hinterbliebene (§ 71 SGB VII);

- Abfindungen (Rentenkapitalisierungen §§ 75-80 SGB VII, Wiederaufleben bei Verschlimmerung des Leidens § 77 SGB VII).

3. Nähere Bestimmungen zum Umfang der Geldleistungen

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a) Verletztengeld wird für die Dauer der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit oder so lange gezahlt, wie wegen einer Maßnahme der Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausgeübt werden kann. Die Höhe entspricht im wesentlichen derjenigen des Krankengeldes (§§ 45-48 SGB VII iVm § 47 SGB V, die beim Krankengeld ab 1.1.1997 vorgenommene Absenkung von bisher 80% auf nunmehr 70 % ist vom SGB VII nicht übernommen worden).

b) Jahresarbeitsverdienst (§§ 81-93 SGB VII) als allg. Berechnungsgrundlage für Rentenleistungen: der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen der Verletzten iSv § 14 u. 15 SGB IV in den 12 Kalendermonaten vor dem Monat des Eintritts des Arbeitsunfalls § 82 SGB VII). Jährliche Anpassungen nach Maßgabe des aktuellen Rentenwerts der Rentenversicherung (§ 95 SGB VII).

c) Die Höhe der Verletztenrente richtet sich nach dem Grad der körperlichen Beeinträchtigung gemessen in %-Sätzen der "Minderung der Erwerbsfähigkeit" ("MdE"). Vollrente bei 100% MdE (z.B. bei Blindheit, Ver-lust beider Hände oder eines Armes und eines Beines) beträgt 2/3 des Jahresarbeitsverdienstes (§ 56 SGB VII, § 581 RVO). Erforderlicher Mindestgrad: 20% MdE (bei Vorschädigung aus früherem Unfall: min-destens je 10% ). Vorschädigung geht in die Bewertung ein, ein unversicherter „Nachschaden“ nicht (z.B. : Einäugiger verliert durch Arbeitsunfall das zweite Auge: 100% MdE. Normalsichtiger verliert ein Auge: 30% MdE; bei späterem Verlust des zweiten Auges durch Privatunfall bleibt es bei 30% ).

d) Bei besonderer beruflicher Betroffenheit: Erhöhung des MdE-Satzes um 10-20%-Punkte (zB: Fingerver-lust bei Geiger, Fußverletzung bei Vertragsfußballspieler - § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII).

e) Beginn der Rente: Zahlung von dem Tag an, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletzten-geld endet, oder (wenn ein solcher Anspruch nicht besteht) an dem der Versicherungsfall eingetreten ist (§ 72 SGB VII in Abweichung vom früheren Recht: Beginn mit dem Tag des Endes der Arbeitsunfähigkeit, frühestens ab der 14. Woche nach dem Arbeitsunfall (§ 580 RVO). Bei noch nicht abgeschlossenem Hei-lungsprozeß: Festsetzung einer vorläufigen Rente, die - falls nicht anders festgesetzt - spätestens drei Jahre nach dem Unfall zur Dauerrente wird (§ 62 SGB VII; nach altem Recht betrug die Dauer zwei Jahre § 622 Abs. 2 iVm § 1585 Abs. 2 RVO). Bei Änderung der Verhältnisse (Besserung oder Verschlechterung der Unfallfolgen): Neufestsetzung gem. § 48 SGB X. Änderung zuungunsten der Verletzten nur in Jahres-abständen möglich (§ 74 SGB VII).

f) Leistungen an Hinterbliebene: Die Witwen- /Witwerrente beträgt bis zum 45. Lebensjahr 3/10, danach 4/10 des Jahresarbeitsverdienstes; die Halbwaisenrente 2/10, die Vollwaisenrente 3/10 des Jahresar-beitsverdienstes (§§ 65 u. 68 SGB VII).

g) Die bisherige Regelung über die Frist für die Anmeldung eines Anspruchs, die innerhalb von zwei Jahren nach dem Unfall erfolgen mußte mit der Folge, daß bei späterer Anmeldung die Leistung erst ab dem An-tragsmonat begann (§ 1546 RVO), ist in das neue Recht nicht übernommen worden.

D. Die Haftung des Unternehmers und der Unternehmensangehörigen (§§ 104 bis 113 SGB VII) Es gilt der Grundsatz: Haftung nur, wenn sie den Unfall vorsätzlich herbeigeführt haben. Ausnahme: Unfälle, die ein Unternehmer oder Unternehmensangehöriger bei der Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr (auch schuldlos) verursacht haben, werden nach den allgemeinen Regelungen entschädigt. Grund: Für diesen Bereich besteht die allgemeine Verkehrshaftpflicht, welcher der Vorrang vor der Unfallversicherung eingeräumt wird. ins-besondere wegen des u. U. zu zahlenden Schmerzensgeldes ist dies für die Verletzten günstiger . Die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit des Verursachers besteht nicht, weil die (zahlungskräftige und rückversicherte) Haft-pflichtversicherung der Verursacher eintritt. Diese muß den vorleistungspflichtigen Sozialleistungsträgern die entstandenen Kosten erstatten (§ 110 SGB VII).

VII. Gesetzliche Rentenversicherung

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Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch (SGB VI)

Inhaltsübersicht Erstes Kapitel: Versicherter Personenkreis (§§ 1 - 8) Zweites Kapitel: Leistungen (§§ 9 - 124) Drittes Kapitel: Organisation und Datenschutz (§§ 125 - 152) Viertes Kapitel: Finanzierung (§§ 153 - 227) Fünftes Kapitel: Sonderregelungen (§§ 228 - 319a) Sechstes Kapitel: Bußgeldvorschriften (§ 320) Anlagen 1 - 23

Erstes Kapitel

Versicherter Personenkreis

Erster Abschnitt: Versicherung kraft Gesetzes (§§ 1 - 6) Zweiter Abschnitt: Freiwillige Versicherung (§ 7) Dritter Abschnitt: Nachversicherung und Versorgungsausgleich (§ 8)

Zweites Kapitel

Leistungen

Erster Abschnitt: Rehabilitation (§§ 9 - 32) Zweiter Abschnitt: Renten (§§ 33 - 105) Dritter Abschnitt: Zusatzleistungen (§§ 106 - 108) Vierter Abschnitt: Rentenauskunft (§§ 109, 109a) Fünfter Abschnitt: Leistungen an Berechtigte im Ausland (§§ 110 - 114) Sechster Abschnitt: Durchführung (§§ 115 - 124)

Drittes Kapitel

Organisation und Datenschutz

Erster Abschnitt: Organisation (§§ 125 - 146) Zweiter Abschnitt: Datenschutz (§§ 147 - 152)

Viertes Kapitel

Finanzierung

Erster Abschnitt: Finanzierungsgrundsatz und Rentenversicherungsbericht (§§ 153 - 156) Zweiter Abschnitt: Beiträge und Verfahren (§§ 157 - 212) Dritter Abschnitt: Beteiligung des Bundes, Finanzbeziehungen und Erstattungen (§§ 213 - 227)

Fünftes Kapitel

Sonderregelungen

Erster Abschnitt: Ergänzungen für Sonderfälle (§§ 228 - 299) Zweiter Abschnitt: Ausnahmen von der Anwendung neuen Rechts (§§ 300 - 319a)

Sechstes Kapitel

Bußgeldvorschriften

§ 320 Bußgeldvorschriften Erstes Kapitel

--- Zweites Kapitel

Leistungen

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Erster Abschnitt: Rehabilitation

Erster Unterabschnitt: Voraussetzungen für die Leistungen (§§ 9 - 12) Zweiter Unterabschnitt: Umfang und Ort der Leistungen (§§ 13 - 32) Erster Titel: Allgemeines (§§ 13 - 14) Zweiter Titel: Medizinische und berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation (§§ 15 - 19) Dritter Titel: Übergangsgeld (§§ 20 - 27) Vierter Titel: Ergänzende Leistungen (§§ 28 - 30) Fünfter Titel: Sonstige Leistungen (§ 31) Sechster Titel: Zuzahlung bei medizinischen und bei sonstigen Leistungen (§ 32)

Zweiter Abschnitt: Renten * Erster Unterabschnitt: Rentenarten und Voraussetzungen für einen Rentenanspruch (33 - 34) Zweiter Unterabschnitt: Anspruchsvoraussetzungen für einzelne Renten (§§ 35 - 62) Dritter Unterabschnitt: Rentenhöhe und Rentenanpassung (§§ 63 - 88) Vierter Unterabschnitt: Zusammentreffen von Renten und von Einkommen (§§ 89 - 98) Fünfter Unterabschnitt: Beginn, Änderung und Ende von Renten (§§ 99 - 102) Sechster Unterabschnitt: Ausschluß und Minderung von Renten (§§ 103 - 105)

* Zweiter Abschnitt: Renten

Erster Unterabschnitt: ... Zweiter Unterabschnitt: Anspruchsvoraussetzungen für einzelne Renten (§§ 35 - 62) ** Erster Titel: Renten wegen Alters (§§ 35 - 42) Zweiter Titel: Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (§§ 43 - 45) Dritter Titel: Renten wegen Todes (§§ 46 - 49) Vierter Titel: Wartezeiterfüllung (§§ 50 - 53) Fünfter Titel: Rentenrechtliche Zeiten (§§ 54 - 62) Dritter Unterabschnitt: Rentenhöhe und Rentenanpassung (§§ 63 - 88) ***

Erster Titel: Grundsätze (§§ 63) Zweiter Titel: Berechnung und Anpassung der Renten (§§ 64 - 69) Dritter Titel: Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte (§§ 70 -78) Vierter Titel: Knappschaftliche Besonderheiten (§§ 79 -87) Fünfter Titel: Ermittlung des Monatsbetrags der Rente in Sonderfällen (§ 88) ** Zweiter Unterabschnitt: Anspruchsvoraussetzungen für einzelne Renten (§§ 35 - 62)

Erster Titel: Renten wegen Alters (§§ 35 - 42) § 35 Regelaltersrente § 36 Altersrente für langjährig Versicherte § 37 Altersrente für schwerbehinderte Menschen § 38 aufgehoben

§ 39 aufgehoben

§ 40 Altersrente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute § 41 Altersrente und Kündigungsschutz § 42 Vollrente und Teilrente Zweiter Titel: Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (§§ 43 - 45) § 43 Rente wegen Erwerbsminderung § 44 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (aufgehoben)

§ 45 Rente für Bergleute Dritter Titel: Renten wegen Todes (§§ 46 - 49) § 46 Witwenrente und Witwerrente § 47 Erziehungsrente § 48 Waisenrente § 49 Renten wegen Todes bei Verschollenheit Vierter Titel: Wartezeiterfüllung (§§ 50 - 53) § 50 Wartezeiten

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§ 51 Anrechenbare Zeiten § 52 Wartezeiterfüllung durch Versorgungsausgleich, Rentensplitting unter Ehegatten und Zuschläge an Ent-

geltpunkten für Arbeitsentgelt aus geringfügiger versicherungsfreier Beschäftigung § 53 Vorzeitige Wartezeiterfüllung Fünfter Titel: Rentenrechtliche Zeiten (§§ 54 - 62) § 54 Begriffsbestimmungen § 55 Beitragszeiten § 56 Kindererziehungszeiten § 57 Berücksichtigungszeiten § 58 Anrechnungszeiten § 59 Zurechnungszeit § 60 ... § 61 ... § 62 ... *** Dritter Unterabschnitt: Rentenhöhe und Rentenanpassung (§§ 63 - 88)

Erster Titel: Grundsätze (§§ 63) § 63 Grundsätze Zweiter Titel: Berechnung und Anpassung der Renten (§§ 64 - 69) § 64 Rentenformel für Monatsbetrag der Rente

§ 65 Anpassung der Renten § 66 Persönliche Entgeltpunkte

§ 67 Rentenartfaktor § 68 Aktueller Rentenwert und Rentenniveausicherung § 69 ... Dritter Titel: Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte (§§ 70 -78) § 70 Entgeltpunkte für Beitragszeiten § 71 Entgeltpunkte für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten (Gesamtleistungsbewertung) § 72 Grundbewertung § 73 Vergleichsbewertung § 74 - § 76 § 77 Zugangsfaktor § 78 Zuschlag bei Waisenrenten Prinzipien der Rentenversicherung nach dem SGB VI Vorbemerkung: Die folgenden Texte sind als Orientierung und Materialsammlung gedacht. Klausurrele-vant ist nur das Verstehen der Grundzüge (das „Funktionieren“ des Systems), Einzelheit und Details werden nicht erwartet!

A. Rentenarten §§ 35 - 49 Unterschiedliche Rentenarten je nach den drei Grund-Bedürfnislagen: - verminderte Leistungsfähigkeit (verminderter Erwerbsfähigkeit) - Alter - Todes der Person, die bisher für den Unterhalt gesorgt hat Allgemeine Leistungsvoraussetzungen: - Zugehörigkeit zur Versichertengemeinschaft durch Beitragszahlungen - Erfüllung der Mindestdauer der Zugehörigkeit (Wartezeit) - Eintritt einer der Bedürfnislagen 1. Verminderte Leistungsfähigkeit § 43 (ab 1.1.2001): zweistufige Rente)

> bisheriges Recht (für Altfälle, die am 31.12.2000 Renten bezogen): a) Rente wegen Berufsunfähigkeit

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b) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit > neues Recht (ab 1.1.2001) zweistufige Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

2. Alter (§§ 35 - 42)

a) Regelaltersrente ab dem 65. Lebensjahr b) Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 63. Lebensjahr c) Altersrente für körperlich Beeinträchtigte (Schwerbehinderte) ab 64. Lebensjahr (mit Möglichkeit ab 61. Le-

bensjahr) d) Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeitarbeit ab 60. Lebensjahr und Altersrente für Frauen

ab dem 60. Lebensjahr (Sonderregelungen für die Geburts-Jahrgänge vor 1952, §§ 237, 237a; ab 1.1.2000 aufgehoben, s. aber Übergangsregelungen §§ 237, 237a)

§ 42: Die Altersrenten können als Voll- oder als Teilrenten in Anspruch genommen werden 3. Renten wegen Todes (§§ 46 - 49)

a) Witwen- und Witwerrente nach dem Tode des Ehegatten (§ 46) b) Erziehungsrente nach dem Tode des geschiedenen Ehegatten (§ 47) c) Waisenrente nach dem Tode eines Elternteils bis zum 18. (allgemein) bzw. 27. Lebensjahr (bei Ausbildung oder Behinderung) (§ 48).

B. Rentenrechtliche Zeiten §§ 54 - 62 Sie haben hauptsächlich Bedeutung für : 1. Erfüllung der Voraussetzungen für eine Rente:

>Erfüllung der Wartezeit > bei bestimmten Renten über die Wartezeit hinaus Erfüllung weiterer zeitlicher Voraussetzungen, die zumeist in der Nähe des Rentenbeginns liegen müssen (z.B. bei Rente wegen verminderter Erwerbsfähig-keit: außer der Wartezeit auch noch drei Jahre Versicherungszeiten innerhalb der letzten fünf Jahre vor Ein-tritt des Versicherungsfalles; frühere Rente wegen Arbeitslosigkeit: in den letzten 10 Jahren vor Beginn der Rente acht Jahre mit Pflichtbeiträgen und in den letzten eineinhalb Jahren 52 Wochen arbeitslos) und

2. für die Höhe der Rente. Faustregel: Je mehr rentenrechtliche Zeiten um so höher die Rente. Die kleinste rentenrechtliche Einheit ist der Kalendermonat. Ein einziger Tag mit Versicherungsbeiträgen macht ihn zu einer Beitragszeit. Gemischte Kalendermonate, in denen sowohl Tage mit Beiträgen als auch bei-tragsfreie Tage (als Anrechnungs-, Zurechnungs- oder Ersatzzeit) auftreten, sind sog. „beitragsgeminderte Zei-ten“. Für sie gelten für die Berechnung der Höhe des auf ihn entfallenden Entgeltpunktes (s.u.) besondere (kom-plizierte, nur für die Fachkraft verständliche) Regelungen (§§ 71 - 74). Es gibt drei Arten rentenrechtlicher Zeiten: 1. BEITRAGSZEITEN § 55 a) Zeiten mit Beiträgen aus Versicherungspflicht (Pflichtbeitragszeiten) b) Zeiten mit Beiträgen aus freiwilliger Versicherung c) für Kindererziehungszeiten nach § 56 gelten unter bestimmten Voraussetzungen Pflichtbeiträge als nach a)

gezahlt (Fiktion!) 2. BEITRAGSFREIE ZEITEN § 54 Abs. 4 sind Kalendermonate mit

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a) Anrechnungszeiten (§ 58) mit im wesentlichen vier Gruppen von Zeiten der Schwangerschaft / Mutter-schutz - krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit - Arbeitslosigkeit - Berufsausbildung (gemeinsamer Grund: Zeiten unverschuldeter oder im Allgemeininteresse liegender Verhinderung der Er-werbstätigkeit sollen nicht verloren gehen).

b) Zurechnungszeiten gem. § 59 (werden - wenn Vers. noch nicht 60 Jahre alt - bei Renten wegen vermin-derter Erwerbsfähigkeit oder Todes den oft wenigen Beitragszeiten hinzugerechnet, um eine höhere Ren-te zu ermöglichen; sie erfüllen die Funktion von Beitragszeiten)

c) Ersatzzeiten gem. § 250 (im wesentlichen Zeiten der kriegsbedingten einer Erwerbstätigkeit wie z.B. Kriegsdienst, Gefangenschaft, Vertreibung, Internierung. Grundgedanke: Der Staat trägt die Verantwor-tung für dieses vom einzelnen erbrachte Opfer, deswegen soll ihm keine Nachteil bei der Rentenhöhe ent-stehen. Ersatzzeiten "ersetzen" die fehlenden Beiträge)

ACHTUNG: Beitragsfreie Zeiten (- man hätte an sich zahlen sollen und wollen, war aber verhindert und deshalb frei -) sind ausschließlich die oben aufgezählten. Sie werden in das Versicherungssystem mit einbezogen, ob-gleich keine Beiträge gezahlt wurden, weil die Betroffenen unfreiwillig an der Beitragszahlung gehindert wurden. Andere Zeiten dagegen, in denen jemand ohne jede Beziehung zur Rentenversicherung stand und auch gar nicht die Absicht hatte, in eine solche Beziehung einzutreten (z.B. weil er selbständig tätig war oder "privatisiert" hatte), gehören nicht etwa deshalb zu den beitragsfreien Zeiten, weil sie frei von Beiträgen sind, sie sind viel-mehr beitragslose Zeiten, die sich jedoch – negativ - bei der Berechnung der durchschnittlichen Rentenpunkte (s.u.) auswirken können. 3. BERÜCKSICHTIGUNGSZEITEN (§ 57) Zeiten der Kindererziehung bis zum 10. Lebensjahr; Bedeutung nur im Zusammenhang mit anderen renten-rechtlichen Regelungen (z.B. Verlängerung des Fünf-Jahres-Zeitraums bei der Rente wegen verminderter Er-werbsfähigkeit, innerhalb dessen drei Pflichtbeitragsjahre liegen müssen). ACHTUNG: Die Wartezeiten (s.u.) sind keine rentenrechtlichen Zeiten im Sinne der §§ 54 - 62. C. Die Wartezeitregelungen (§§ 50 - 53) Rentenleistungen sollen nur diejenigen erhalten, die während einer Mindestzeit der Versichertengemeinschaft angehört und sich durch Zahlung von Beiträgen an der Finanzierung der Leistungen an andere Mitglieder der Gemeinschaft beteiligt haben. Das Wesen der Wartezeit besteht darin, daß während dieser Zeit eigene Leistun-gen (die Versicherungsbeiträge) erbracht werden müssen, ohne (noch) Anspruch auf Gegenleistung (z.B. Ren-te) zu haben. Es gibt Wartezeiten unterschiedlicher Dauer, je nachdem, welche Rente „erwartet“ wird. Faust-regel: Je besser die Rentenleistungen, desto länger die Wartezeit. Für die Mindestversorgung muß die Mindest-wartezeit von 60 Monaten erfüllt sein. Ausnahme (sog. "vorzeitige Wartezeiterfüllung") bei Erwerbsunfähigkeit u.a. infolge Unfall oder Wehrdienstbeschädigung (§ 53). Dauer der Wartezeit: 1. Allgemeine Wartezeit von 5 Jahren für a) Regelaltersrente b) Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit c) Rente wegen Todes

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2. Wartezeit vom 15 Jahren (außer Kraft getreten seit 1.1.2000; s. aber Übergangsregelungen §§ 237, 237a) a) Altersrente wegen Arbeitslosigkeit b) Altersrente für Frauen 3. Wartezeit von 20 Jahren (§ 50 Abs. 2) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (bzw.: voller Erwerbsminderung), wenn die allg. Wartezeit bei Eintritt des

Versicherungsfalles noch nicht erfüllt war. 4. Wartezeit von 25 Jahren (§ 50 Abs. 3) bestimmte Renten für Bergleute 5. Wartezeit vom 35 Jahren (§ 50 Abs. 4)

a) Altersrente für langjährig Versicherte b) Altersrente für Schwerbehinderte

Die Wartezeiten werden nur erfüllt durch Monate mit:

> Beitragszeiten > Ersatzzeiten (§ 250: i.w. Zeiten des Militärdienstes und der Verfolgung)

> § 52: Wartezeiterfüllung durch Versorgungsausgleich, Ehegattensplitting und geringfügiger versicherungsfreier Beschäftigung

AUSNAHME: Auf die Wartezeit von 35 Jahren werden alle rentenrechtlichen Zeiten angerechnet! ACHTUNG: Neben der Wartezeit gibt es bei den Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit einen weiteren Zeitraum - die letzten fünf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung -, in denen insgesamt drei Jahre mit Pflicht-beiträgen liegen müssen, ferner muß vor Eintritt des Versicherungsfalles die allg. Wartezeit erfüllt sein. Folge: kein Rentenanspruch, wenn a) in den letzten Jahren nur freiwillige Beiträge gezahlt wurden z.B. durch nicht Berufstätige, die sich feiwillig weiterversichert haben) b) die Zeiten der Berufstätigkeit, mit denen die Wartezeit erfüllt wurde, länger als fünf Jahre zurückliegt. Zweck: Ausschluß von Personen, die in späteren Jahren leidend geworden sind, sich aber längst vorher aus dem Erwerbsleben (einer versicherungspflichtigen Beschäftigung) zurückgezogen haben. Bei der Rente wegen Arbeitslosigkeit (§ 237) müssen innerhalb der letzen 10 Jahre vor Rentenbeginn 8 Jahre mit Pflichtbeiträgen belegt sein. D. Die Höhe der Renten §§ 63 - 88 Folgende Faktoren sind maßgebend:

1. Höhe des Arbeitsverdienstes (ausgedrückt in Entgeltpunkten) 2. Dauer der gesamten Lebens-Beschäftigungszeit und der Anrechnungszeiten 3. Art der Rente 4. Aktueller EUR-Wert der erworbenen Entgeltpunkte 5. Zugangsfaktor 6. Rentenformel (gebildet aus Nr. 1 bis 5)

1. Zur Abhängigkeit der Rentenhöhe vom Arbeitsverdienst: Maßgebend ist das Verhältnis des innerhalb eines bestimmten Jahres tatsächlich erzielten (beitragspflichtigen) Arbeitsentgelts zu dem (jeweils aufgrund von Statistiken ) amtlich festgestellten durchschnittlichen Jahresver-dienst aller Versicherten. Stimmen beide genau überein, so ergibt dies 1 Punkt für dieses Jahr. Ab dem vollende-

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ten 16. Lebensjahr bis zum vollendeten 65. Lebensjahr sind dann 49 Punkte zu erzielen. War der Verdienst stets eineinhalb so hoch wie der Durchschnitt so ergibt dies (49 x 1,5 =) 73,5 Rentenpunkte (aber alles, was über der Bemessungsgrenze liegt, zählt nicht!). Machte das Arbeitsentgelt nur die Hälfte des Durchschnitts aus, ergeben sich 24,5 Punkte. Die Verhältniszahlen aus persönlichem Arbeitsverdienst/ Durchschnitts-Arbeitsverdienst wer-den Jahr für Jahr errechnet und die Einzelwerte addiert. Wurde in einem Jahr z.B. nur acht Monate lang verdient, dann ergibt sich (nur) aus dieser Summe (8 x 1/12) das persönliche Jahresarbeitsentgelt, das (vielleicht hohe) Einzelmonatsentgelt wird nicht für die fehlenden Monate auf einen Jahresdurchschnitt "hochgerechnet". Es kommt also nicht auf den absoluten Betrag des Verdienstes an, sondern nur auf die Relation zum Durchschnitts-verdienst dieses Jahres aller Versicherten. Daß vor 30 Jahren das Verdienst (und damit die Beitragsleistung) wesentlich geringer war als heute, wirkt sich auf die Rente nicht aus (anders als bei einer privaten Lebensversi-cherung: je geringer die Prämie, um so geringer die auszuzahlende Versicherungssumme oder Rente). Ein Jah-resverdienst von 4.000 DM im Jahre 1951 bringt mehr Entgeltpunkte als 20.000 DM im Jahre 1981 (s. die Tabel-le in Anlage 1 zu SGB VI). Beispiel: amtliches Durchschnittsentgelt 1981: 30.900 DM persönliches Monatsarbeitsentgelt vom 1.1. bis zum 31.12.1981: 3.000.- DM, Jahresarbeitsentgelt demnach: 36.000.- DM. Verhältnis 36.000 ./. 30.900 ergibt 1,1650 Punkte für 1981. Wurde nur in den Monaten Januar bis April und August bis November Arbeitsentgelt (von 3.000.- DM mtl) erzielt, also insgesamt 8 x 3.000 = 24.000, dann ergibt 24.000 das Verhältnis 24.000 ./. 30.900 die Zahl von 0,7767 Punkten 2. Einfluß der Lebensbeschäftigungszeit (§§ 70 - 76): Die Regelungen sind im einzelnen kompliziert, deshalb hier bloß folgende Faustregel: Je mehr Jahre mit Beitragsmonaten ("Beitragszeiten") und damit mit anrechenbaren (beitragspflichti-gen) Arbeitsentgelt, um so höher die Gesamtpunktezahl, denn auf diese Gesamtpunktezahl kommt es letztlich an. Problem: Wie werden beitragsfreie Zeiten bewertet, in denen ja kein Arbeitsentgelt erzielt wurde? Lösung: Die-sen Monaten wird der Durchschnitt der Beitragszeiten aus dem gesamten Arbeitsleben für die belegbare Zeit zugrundegelegt. Beispiel 1: Eintritt in die Versicherung mit dem 21. Lebensjahr, Alterrente ab 61. Lebensjahr; Belegungsfähiger Zeitraum: 40 Jahre (480 Monate), davon 30 Jahre (360 Monate) mit Arbeitsentgelt, das stets im Durchschnitt lag, 10 Jahre (120 Monate) mit Anrechnungszeiten (Krankheit, Arbeitslosigkeit). Berechnung des Beitragsdurchschnitts: Anzahl der Punkte aus den Beitragszeiten ---------------------------------------------------------------------------- = durchschn. Punktezahl Belegungsfähiger Zeitraum abzüglich beitragsfreie Zeiten pro Jahr 30 30 --------------------------- = --- = 0,08333 Punkte/Monat x 12 = 1 Punkt/Jahr (40 x 12) - (10 x 12) 360 Die beitragsfreien Zeiten werden in diesem Fall genau gleich wie die Beitragszeiten bewertet. Also 30 Punkte für 30 Beitragsjahre und (0,0833 x 120 =) 10 Punkte für 10 beitragsfreie Jahre, insgesamt 40 Punkte

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Beispiel 2: Daten wie in Beispiel. 1, aber: nur 20 Jahre mit (im Gesamtdurchschnitt liegenden) Arbeitsentgelt, 10 Jahre mit Anrechnungszeiten (Krankheit, Arbeitslosigkeit), weitere 10 Jahre ohne versicherungsrechtlichen Bezug (z.B. Selbständig, Auslandaufenthalt, von privatem Vermögen lebend usw.). Anzahl der Punkte aus Beitragszeiten: 20 Punkte Belegungsfähiger Zeitraum: 40 Jahre (480 Monate) Beitragsfreie Zeiten: 10 Jahre (120 Monate) 20 20 --------------------------- = --- = 0,0555 Punkte/Monat x 12 = 0,6666 Punkte/Jahr (40 x 12) - ( 10 x 12) 360 Die 10 beitragsfreien Jahre erhalten insgesamt (nur) 6,6666 Punkte (in Bsp. 1: 10 Punkte). Insgesamt sind (20 + 6,666 =) 26,666 Punkte für die Rente gesammelt. Ergebnis: Die 10 beitragslosen (nicht: "beitragsfreien") Jahre ohne Bezug zur Rentenversicherung drücken den Durchschnitt, weil es auf den belegungsfähigen Zeitraum ankommt, der in beiden Fällen gleich lang ist. Wer mehr Beitragsjahre hat, sammelt nicht nur mehr Punkte (im Beispiel: 30 statt nur 20), er hebt auch die Durch-schnittspunktzahl für die beitragsfreien Monate (im Beispiel: 10 statt nur 6,666). 3. Art der Rente § 67 Je nach Rentenart besteht ein unterschiedlicher "Rentenartfaktor", mit dem die erzielten Entgeltpunkte multipli-ziert werden. Faustregel: Bei der Mehrzahl der Renten beträgt der Faktor "1", verändert also die Zahl der Ent-geltpunkte nicht. Für die Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung beträgt er 0,5, halbiert also die Rente. Bei der bisherigen Rente wegen Berufsunfähigkeit machte er noch 0,6667 aus, reduziert also die Punktezahl (nur) um ein Drittel (Faktor bei Rente wegen Erwerbsunfähigkeit: 1). Ergebnis: Diese Rente ist um ein Drittel niedriger als eine vergleichbare Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Ferner bei Halbwaisenrente: 0,1; Vollwaise: 0,2. 4. Aktueller Rentenwert § 68 Die gesammelten Punkte müssen einen Wert in Geld erhalten, den sog. aktuellen Rentenwert, nach dem sich die Höhe der monatlichen Rente richtet. Er wird in der Regel jährlich zum 1. Juli neu festgelegt. 2003 bis 2006 blieb er vier Jahre unverändert. Zum 1. Juli 2007 und zum 1. Juli 2008 gab es Anpassungen um 0,54 und 1,1 Prozent. Solange noch unterschiedliche Einkommensverhältnisse in den alten und neuen Bundesländern herrschen, gel-ten unterschiedliche Rentenwerte. Seit 1. Juli 2008 sind das 26,56 EUR in den alten Bundesländern und 23,34 EUR in den neuen Bundesländern. Das ist der Monatsbetrag, der sich nach einem Jahr Durchschnittsverdienst als monatliche Altersrente ergibt (er betrug sab 30.6.2003 26,13 EUR West, 22,97 EUR Ost; 2002: 25,86 € bzw. 22,70 €; im Jahre 2004 gab es keine Erhöhung). Dieser Wert ist für sämtliche Renten und sämtliche Rentenbe-zieher gleich, ist also unabhängig davon, wie viel jemand an Beiträgen eingezahlt oder wie viel jemand verdient hat. Der Wert verändert sich durch die jährlichen Rentenanpassungen. Das Maß der Veränderungen wird bestimmt durch - „Nachhaltigkeitsfaktor“ (Verhältnis Beitragszahler / Rentenempfänger); - Verhältnis der Brutto-Löhne und von Brutto-Lohn zu Netto-Lohn (Arbeitsentgelt-Nettoquote) jeweils bezogen

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auf die Veränderung von vergangenem zu vorvergangenem Jahr; - die Renten-Nettoquote (Minderung der Rente durch Krankvers.-Beiträge und Steuern): - die durchschnittliche Lebenserwartung der 65jährigen aufgrund der Periodensterbetafel des Statistischen Bun-desamtes (die Anwendung dieses Faktors als solchen darf nicht zu einer Verringerung des aktuellen Renten-wertes führen. Eine steigende Lebenserwartung bremst aber auf jeden Fall eine Rentenerhöhung ).

Veränderung ABL: 1992/1993/1994: von 41,44 DM auf 42,63 DM und auf 46,00 DM). Wert ab 1.7.2001: 49,51 DM, ab 1.7.2002: 25,86 € Veränderung NBL in DM: 1.1.1992-1.7.1994: 23,57 - 26,57 - 28,18 - 32,17 - 33,34 - 34,49 Wert ab 1.7.2001: 43,15 DM; ab 1.7.2002: 22,70 €. 5. Zugangsfaktor § 77 Er spielt ab dem Jahre 2001 eine Rolle, seit es möglich ist, bestimmte Renten bereits vor dem 65. oder erst nach dem 65. Lebensjahr in Anspruch zu nehmen. Je nachdem wird dann (ähnlich wie bei Rentenartfaktor) die Zahl der Entgeltpunkte durch Multiplikation mit einem Faktor gleich, kleiner oder größer als 1 verändert (z.B.: je später die Rente in Anspruch genommen wird, ergeben sich bei einem Faktor größer als 1 um so mehr Entgeltpunkte). Bei Rente genau ab Vollendung des 65. Lebensjahres ist der Faktor 1, die Zahl der Entgeltpunkte und damit die Höhe der Rente bleibt unverändert. Bei Renten wegen Alters z.B., die vorzeitig in Anspruch genommen werden, ist der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat um 0,003 niedriger als 1,0 und für jeden späteren Rentenbeginn um 0,005 mtl. (also 0,06 jährlich) höher (Amortisation also erst im 82. Lebensjahr! ohne Verzinsung). 6. Rentenformel § 64 Monatsrente: R Zahl der insgesamt erworbenen persönlichen Entgeltpunkte (unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors): P Rentenartfaktor: F Aktueller Rentenwert: W R = P x F x W Beispiel: erworbene Entgeltpunkte: 34,5678 Rentenartfaktor: 0,6667 (Rente wegen Berufsunfähigkeit , Beginn vor dem 1.1.2001) Aktueller Rentenwert (1.7.2001): 43,15 DM (49,51 DM) Höhe der Monatsrente: 34,5678 x 0,6667 = 23,06 x 43,15 (49,51) = 994,45 (1.141,025) DM 7. Verfassungsrechtliche Aspekte Da der Anspruch auf Rente als Versicherungsleistung auf eigenen Beiträgen beruht, ist er verfassungsrecht-lich als Eigentum gem. Art. 14 GG gegen Verschlechterungen geschützt. Laufende und künftige Leistungen aus einem bereits erworbenen Anspruch dürfen nicht gekürzt werden. Neuregelungen sind daher stets nur für solche Ansprüche zulässig, die vom Zeitpunkt des Inkrafttretens neu entstehen. Deshalb reichen Übergangsvorschriften weit in die Zukunft hinein. Auch die Beitragsbemessungsgrenze beruht auf verfassungsrechtlichen Erwägun-gen. Beschäftigte dürfen zwar ohne Rücksicht auf die Höhe (ausgenommen: geringfügig Beschäftigte) zur Ren-tenversicherung herangezogen werden, die Mittel (Zwangsbeitrag!) dürfen aber nicht unbegrenzt gebunden wer-den. Es muss den einzelnen überlassen bleiben, sich mit einem Höchstbetrag der Alterssicherung zufrieden zu geben, oder andere Wege der Sicherung (z.B. – vererbbare! – Immobilien) einzuschlagen. Jährliche Beitragsbe-messungsgrenze: 63.600 € West, 54.000 € Ost. Sie übersteigt die Bezugsgröße gem. § 18 SBG IV (= Durch-schnittseinkommen aller Rentenversicherungspflichtigen) von 29.820 € (West) um mehr als das Doppelte. Damit

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wird aber zugleich die Höhe der Rente begrenzt, da diese nur vom beitragspflichtigen Teil des Arbeitsentgelts berechnet wird E. Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit 1. Überblick Die Regelungen zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nur angewandt, wenn eine Rente ab dem In-Kraft-Treten der Reform d.h. ab dem 1. Januar 2001, beginnt. Für Versicherte, die am 31. Dezember 2000 bereits Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sind, wird das derzeit gelten-de Recht beibehalten. Mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, das am 16. November 2000 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde und zum 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist, wird eine Korrektur der im Rentenreformgesetz 1999 vorgesehenen Neuordnung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor-genommen. Die frühere Aufteilung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsren-ten ist durch eine zweistufige Erwerbsminderungsrente ersetzt worden mit

- voller Erwerbsminderungsrente bei einem Restleistungsvermögen auf dem allgemeinem Arbeitsmarkt von unter 3 Stunden, - halber Erwerbsminderungsrente bei einem Restleistungsvermögen auf dem allgemeinem Arbeitsmarkt von 3 bis unter 6 Stunden.

Die arbeitsmarktbedingten Erwerbsminderungsrenten, die nach den bisherigen Plänen wegfallen sollten, wer-den wegen der ungünstigen Arbeitsmarktsituation beibehalten. Versicherte, die noch mindestens 3, aber nicht mehr 6 Stunden täglich arbeiten, das verbliebene Restleistungsvermögen wegen Arbeitslosigkeit aber nicht in Erwerbseinkommen umsetzen können, erhalten eine volle Erwerbsminderungsrente. Versicherte, die bei In-Kraft-Treten der Reform das 40. Lebensjahr vollendet haben, haben weiterhin einen Anspruch auf Teilrente wegen Berufsunfähigkeit. Sie erhalten eine halbe Erwerbsminderungsrente auch dann, wenn sie in ihrem bisherigen oder einem zumutbaren anderen Beruf nicht mehr 6 Stunden täglich arbeiten können. 2. Einzelheiten Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung hat, wer

• - teilweise oder voll erwerbsgemindert ist, • - die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt und • - in den letzten fünf Jahren vor Eintritt des Leistungsfalles mindestens 36 Pflichtbeiträge hatte.

Der Leistungsfall ist der Tag, an dem das Ereignis eingetreten ist, das zur Verminderung der Erwerbsfähigkeit führte (i. d. R. der Beginn der letzten andauernden Arbeitsunfähigkeit). Renten wegen Erwerbsminderung werden grundsätzlich nur als Zeitrenten bewilligt. Sie werden längstens bis zum vollendeten 65. Lebensjahr gezahlt, danach werden sie in eine Altersrente umgewandelt. Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung hat auch, wer bereits vor Erfüllung der Wartezeit voll erwerbsgemindert war, und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert ist, wenn für 20 Jahre Beiträge ge-zahlt wurden. Durch das Vorschaltgesetz wurde das Recht der gesundheitsbedingten vorzeitigen Berentung zum 01.01.2001 vollständig verändert. An die Stelle der bis zum 31.12.2000 geltenden Systems der Berufs- und Erwerbsunfähig-keitsrenten ist die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit getreten. Die folgenden Ausführungen gelten für

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Renten mit einem Rentenbeginn ab dem 01.01.2001. Für Renten wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit , auf die am 31.12.2000 ein Anspruch bestand, gilt das alte Recht weiter. Erwerbsminderung im Sinne der Rentenversicherung liegt vor, wenn die Leistungsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt ist. Hierbei wird zwischen einer teilweisen und einer vollen Erwerbsminderung unter-schieden. Die Einstufung, ob teilweise oder volle Erwerbsminderung vorliegt, hat Auswirkungen auf die Höhe der Rente. Da bei einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund des Gesundheitszustandes regelmäßig keine Erwerbs-tätigkeit mehr ausgeübt werden kann, hat die Rente die Aufgabe, den Lebensunterhalt des Versicherten auf Dauer zu sichern. Sie ist daher so hoch wie eine Altersrente. Die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung hingegen ist darauf ausgerichtet, dass der Versicherte mit dem verbliebenen Restleistungsvermögen noch eine Erwerbstätigkeit ausübt. Sie ist demzufolge nur als Ausgleich für den Minderverdienst durch eine Teilzeittätigkeit oder eine geringer entlohnte Tätigkeit gedacht und beträgt nur die Hälfte einer Rente wegen voller Erwerbsmin-derung. Teilweise erwerbsgemindert ist, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit im Rahmen einer 5-Tage-Woche zwar mindestens 3 Stunden, jedoch nicht mehr als 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein kann. Voll erwerbsgemindert ist, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Selbständige sind von einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht ausgeschlossen. Bei einem Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden ist die Arbeitsmarktlage zu beachten. Liegt neben der eingeschränkten Leistungsfähigkeit Arbeitslosigkeit vor, ist der in Betracht zu ziehende Teilzeitarbeitsmarkt als verschlossen anzusehen. Es ist dem Versicherten nicht möglich, das reduzierte Leistungsvermögen in eine Er-werbstätigkeit umzusetzen. Der als verschlossen geltende Teilzeitarbeitsmarkt hat zur Folge, dass die teilweise Erwerbsminderung zu einem Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung durchschlägt. Das Risiko der Berufsunfähigkeit wird für Versicherte, die vor dem 2.1.1961 geboren sind, weiterhin abgesi-chert. Für die Berufsunfähigkeit muss das Leistungsvermögen in dem erlernten bzw. auf Dauer ausgeübten Beruf aufgrund von Krankheit oder Behinderung gegenüber einer gesunden Vergleichsperson auf weniger als 6 Stun-den gesunken sein. Der Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ist nur dann zu prüfen, wenn eine Leistungsminderung im bisherigen Beruf auf weniger als 6 Stunden attestiert wird, im Übrigen aber eine mindestens 6-stündige Leistungsfähigkeit für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vorliegt. Kann der bisherige Beruf oder eine zumutbare Verweisungstätigkeit noch mindestens 6 Stunden täglich ausge-übt werden, liegt Berufsunfähigkeit nicht vor. 36 Pflichtbeiträge in den letzten fünf Jahren Um eine Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit zu erhalten, ist es notwendig, dass in den letzten fünf Jahren vor Eintritt des Leistungsfalles für mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge gezahlt worden sind. Beispiel:

Seit dem 15.11.2000 liegt volle Erwerbsminderung vor.

In der Zeit vom 15.11.1995 bis 14.11.2000 müssen 36 Pflichtbeiträge gezahlt worden sein.

Der Zeitraum verlängert sich um Anrechnungszeiten (z.B. Schule, Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug, Krank-heit usw.) und Berücksichtigungszeiten. Wurden nicht genug Pflichtbeiträge gezahlt, kann u. U. trotzdem ein Rentenanspruch entstehen. Dann muss jedoch vor dem 01.01.1984 (in den neuen Bundesländern 01.01.1992) die allgemeine Wartezeit be-reits erfüllt gewesen sein und seither jeder Monat mit einem Pflicht-, freiwilligen Beitrag oder einer anderen ren-tenrechtlichen Zeit belegt sein. Eine Lücke von nur einem Monat erhält den Rentenanspruch nicht mehr aufrecht. Diese lückenlose Belegung kann z. B. durch die Zahlung eines freiwilligen Mindestbeitrages erreicht werden.

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Befristung der Rente Renten wegen Erwerbsminderung werden grundsätzlich als Zeitrenten geleistet. Die Befristung erfolgt für längs-tens drei Jahre nach dem Rentenbeginn und kann wiederholt werden. Unbefristet werden sie nur gezahlt, wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Hiervon wird ausge-gangen, wenn die Gesamtdauer der Befristungen bereits neun Jahre beträgt. Nach Ablauf der neun Jahre ist bei weiterem Vorliegen der Erwerbsminderung grundsätzlich eine unbefristete Rente zu leisten. Eine unbefristete Rente kommt jedoch nicht in Betracht, wenn der Anspruch von der Arbeitsmarktlage abhängig ist. In diesen Fäl-len wird immer nur eine befristete Rente gewährt. Befristete Renten beginnen am Ersten des siebten Kalendermonats nach Eintritt der Erwerbsminderung, sofern der Rentenantrag rechtzeitig gestellt wird. Der Antrag ist rechtzeitig gestellt, wenn er innerhalb von sieben Kalen-dermonaten nach Eintritt der Erwerbsminderung beim Rentenversicherungsträger eingeht. Wird der Rentenan-trag nach Ablauf der sieben Kalendermonate gestellt, beginnt die Rente mit dem Ersten des Antragsmonats. Besondere Wartezeit von 20 Jahren Versicherte, die bereits vor Erfüllung der Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, haben einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung erst, wenn sie für 20 Jahre Beiträge gezahlt haben. Auf diese 20 Jahre werden auch Ersatzzeiten und Zeiten aus einem Versor-gungsausgleich angerechnet. Wer z.B. seit Geburt schwerbehindert ist, hat grundsätzlich keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, da die Behinderung vor Erfüllung der Wartezeit von fünf Jahren eingetreten ist. Durch diese Sonderregelung entsteht nach 20 Jahren Beitragsleistung dennoch ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die erforderlichen Beiträge können z.B. aufgrund einer Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte oder als freiwillige Beiträge geleistet werden. F. Finanzierung der Renten 1. Allgemeines: Die Finanzierung der Renten erfolgt im sog. Umlageverfahren (die jeweils eingehenden Beiträge der Beschäf-tigten werden unmittelbar zur Zahlung der Renten verwendet). Es wird also kein Kapital (Vermögen) ange-häuft. Weitere Einnahmen stammen aus dem Bundeszuschuß (§ 213), den der Bund u.a. zur Finanzierung der (beitragslosen) Ersatzzeiten leistet (Übernahme der Verantwortung für die Kriegsfolgen). Die Beitragshöhe (%-Satz des Arbeitsentgelts muß so bemessen sein, daß die voraussichtlichen Rentenlasten des kommenden Jah-res daraus bezahlt werden können. Die Rentenversicherungsträger dürfen keine Schulden auf dem Geldmarkt machen. Der Bund garantiert die Liquidität (Zahlungsfähigkeit) der Rentenversicherungsträger (sog. Liquidi-tätssicherung und Bundesgarantie, § 214). 2. Finanzierungsprobleme: Durch die längere Lebenserwartung, die Reduzierung der Kinderanzahl in den Familien, die Reduzierung der Arbeitsplätze und damit verbunden die Tendenz zur „Frühverrentung“ verschiebt sich das Verhältnis der Arbei-tenden (es steht prinzipiell nur die Zeit vom 16. bis zum 65. Lebensjahr zur Verfügung) zu den Rentenempfän-gern: Immer weniger Arbeitende müssen immer mehr Rentner finanzieren. Wegen der Arbeitgeberbeiträge (Stichwort: Lohnnebenkosten) lassen sich die Beiträge nicht (wie in jeder Privatversicherung ohne Diskussion üblich) dem vermehrten Finanzbedarf entsprechend steigern. Es besteht deshalb die Tendenz, die Eigenanteile der Versicherten zu erhöhen (also: tendenziell die Arbeitgeberbeiträge zu reduzieren) und die Eigenvorsorge zu fördern (Stichwort: Riesterrente). Die vor allem ausschlaggebende demographische Entwicklung lässt sich ziem-lich genau vorhersagen, deshalb sind auch langfristige Planungen möglich und erforderlich. Letztlich lässt sich

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der vermehrte Altersbedarf nur durch gegenwärtigen Konsumverzicht finanzieren, was sich aber wieder auf die Konjunktur auswirkt. Auf die Dauer muss mit einem Sinken des Rentenniveaus gerechnet werden, sei es durch Veränderung der Formel zur Berechnung des aktuellen Rentenwertes, durch Verlängerung der Wartezeiten, durch Anhebung des Rentenalters (was verbunden sein wird mit Abschlägen bei früherem Renteneintritt), durch Reduzierung der Anrechnungszeiten oder Veränderungen in der Berechnung der diesen zuzuordnenden Ent-geltpunkte. s. i.ü. auch o. V. (Krankenversicherung) Nr. 7. G. Neuere Reformgesetze a) Altersvermögensgesetz (sog. „Riesterrente“ - Anhang 1a)) Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Al-tersvorsorgevermögens (Altersvermögensgesetz - AVmG“ - v. 6.6.2001, BGBl. I S. 1310). Zweck der gesetzlichen Regelung ist es, die Konsequenzen aus dem durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbei-träge im Wege der Umlage finanzierten Rentensystem zu ziehen, die sich aus dem Umstand ergeben, daß bei allenfalls gleichbleibenden, möglicherweise aber insbesondere durch anhaltende Arbeitslosigkeit weiter reduzier-te Anzahl der berufstätigen Personen, denen dafür im wesentlichen nur die Zeit vom 16. bis zum 65. Lebensjahr zur Verfügung steht, angesichts der gestiegenen Lebenserwartung für immer mehr Rentner immer länger Renten zu zahlen sind. Von den beiden Alternativen - Beitragserhöhung oder Rentenkürzung - kommt aus wirtschaftli-chen Gründen (Lohnnebenkosten!) die eine überhaupt nicht und die andere nur begrenzt in Betracht. Zwar muß aus dem genannten Grund das beitragsfinanzierte Rentenniveau gesenkt werden. Zum Ausgleich dafür wird die private Altersvorsorge durch Zuschüsse staatlich gefördert. Gleichzeitig erreicht man (bzw. hofft zu erreichen) eine Belebung des Versicherungs-, Aktien- und Kapitalmarkts. Neben den staatlichen Zuschüssen müssen von den Versicherten eigene Mittel - aus dem Arbeitsentgelt gewonnen - herangezogen werden. Soweit die Regelun-gen vorsehen, daß diese Gelder nicht versteuert werden müssen, ist dies nur ein vordergründiger Vorteil. Denn zum einen verringert sich dadurch entsprechend das beitragspflichtige Entgelt, damit die Entgeltpunkte und damit die spätere SV-Rente. Zum anderen muß diese Rente - soweit sei Kapitalerträge enthält - später versteuert wer-den. Ein weiterer Nachteil besteht darin, daß diese Rente nur unter Verlust der staatlichen Zuschüsse kapitali-siert werden kann, obgleich dies - gemessen an seiner Funktion, eine laufenden Rente zu ergänzen - konse-quent ist. Insgesamt erscheint aber der eingeschlagene Weg richtig, denn er macht den Arbeitnehmer ein Stück unabhängiger vom Einfluß der Arbeitgeber auf seine Alterssicherung, die allein Angelegenheit jedes einzelnen sein sollte.

b) Ehegattensplitting (Anhang 1c)

Diese Regelung ist eine Alternative zum System der Witwen-/ Witwer-Rente, denn die in einer Ehe erworbenen Ansprüchen werden von vornherein geteilt. Der Nachteil macht sich beim frühen Tod eines Ehepartners bemerk-bar: dieser nimmt die auf sie/ ihn übertragenen Ansprüche mit ins Grab. Ähnlich wie beim Versorgungsausgleich sind sie für die abgebende Person endgültig verloren. Die zwar im Prinzip nun höhere Witwenrente wird sich vielfach wegen Einkommensanrechnung nicht auswirken. c) Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG - s. Anhang 2)

§ 2 Abs. 1 formuliert der Grundsatz des Gesetzes: Anspruch auf Leistungen der beitragsun-abhängigen Grund-sicherung habe Antragsberechtigte, soweit sie ihren Lebensunterhalt nicht aus ihrem Einkommen und Vermögen beschaffen können. die Regelungen von § 3 über die Höhe der Grundsicherung zeigt, daß es sich hier um eine besondere Form der Sozialhilfe handelt. Demgemäß wird, was den Einsatz von Einkommen und Vermögen be-trifft, auf die entsprechenden Vorschriften des BSHG verwiesen (§ 2 Abs. 2) und es sind auch - wie bei der Sozi-

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alhilfe - Kreis und kreisfreie Städte die Träger dieser Grundsicherung (§ 4). Die Leistung wird jeweils für ein Jahr (1. Juli bis 30. Juni) gewährt (§ 6).

Anschauungsmaterial (nicht prüfungsrelevant)

ANHANG 1

Auszug aus den Gesetzesmaterialien

Überblick

Ziel der Rentenreform ist es, die Alterssicherung zukunftsfähig zu machen und auf die demografische Entwicklung vorzube-reiten. Es geht um eine langfristig sichere und bezahlbare Alterssicherung. Das bedeutet: Die heutigen und künftigen Bei-tragszahler nicht zu überfordern und das Leistungsniveau auch für die künftigen Rentnerinnen und Rentner auf einem an-gemessenen Standard zu halten. Mit den Gesetzesbeschlüssen des Deutschen Bundestags vom 26. Januar 2001 zum Altersvermögensgesetz und zum Alters-vermögensergänzungsgesetz sind die für die Alterssicherung äußerst wichtigen Reformprojekte in der Zielgerade ange-kommen. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung bleibt danach bis zum Jahre 2020 unter 20 Prozent und steigt trotz der abzusehenden demographischen Entwicklung bis zum Jahre 2030 nicht über 22 Prozent. Das Rentenniveau wird 2030 zwi-schen 67 und 68 Prozent liegen. Zudem wird der ergänzende Aufbau eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens staatlich massiv gefördert - mit dem größten Programm zum Aufbau von Altersvorsorgevermögen, das es je gab. Der Bundesrat wird sich am 16. Februar 2001 im 2. Durchgang mit den Gesetzen befassen. Das Altersvermögensgesetz bedarf seiner Zustimmung; dabei ist noch mit intensiven Diskussionen zu rechnen. Das Altersvermögensergänzungsgesetz kann der Bundestag auch gegen den Bundesrat durchsetzen. Das zustimmungspflichtige Altersvermögensgesetz regelt folgende Bereiche:

• Mit dem Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge wird die Alterssicherung auf eine breitere finan-zielle Grundlage gestellt. Die ermöglicht, den im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard im Alter zu gewährleisten.

• In das Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG) wird ein individueller Anspruch des Arbeitnehmers auf betriebliche Altersversorgung durch Entgeltumwandlung mit sofortiger gesetzlicher Unverfallbar-keit aufgenommen.

• Um verschämte Armut insbesondere im Alter zu verhindern, wird eine bedarfsorientierte Grundsicherung eingeführt.

• Die Rentenversicherungsträger werden in Zukunft allen Versicherten jährlich Informationen über den Stand ihrer Ren-tenanwartschaften zusenden.

Im zustimmungsfreien Altersvermögensergänzungsgesetz sind folgende Bereiche geregelt:

• Die Rentenanpassung orientiert sich wieder an der Lohnentwicklung. Mit der veränderten Anpassungsformel wird zugleich gewährleistet, dass für die heutigen Rentner und Rentnerinnen und die Rentenzugänge ein einheitliches Ren-tenniveau gewährleistet ist.

• Die Witwen- und Witwerrenten werden reformiert und um eine Kinderkomponente ergänzt. Pflichtbeitragszeiten in den ersten 10 Lebensjahren eines Kindes werden bis zu 50% höher als nach geltendem Recht bewertet. Ehegatten wird die Möglichkeit eingeräumt, ihre in der Ehezeit erworbenen Rentenansprüche partnerschaftlich aufzuteilen.

• Die rentenrechtliche Absicherung jüngerer Versicherter mit lückenhaften Erwerbsverläufen wird verbessert.

Die für die gesetzliche Rentenversicherung vorgesehenen Reformmaßnahmen werden auf die Alterssicherung der Landwirte übertragen. Die wirkungsgleiche Übertragung auf die Beamtenversorgung wird in ein anschließendes Geset-zesvorhaben aufgenommen. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass die Bundesregierung auch bisher schon in der Rentenpoli-tik auf gutem Kurs war.

• Mit dem zum 01. Januar 2001 in Kraft getretenen Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wurden die unsozialen Eingriffe der alten Regierung bei Erwerbsgeminderten und Schwerbehinderten korrigiert.

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• Auf der Einnahmeseite wurde viel bewegt: Eine der ersten Entscheidungen war, den früheren Zustand der Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben durch die Beitragszahler zu ändern. Es wurde sichergestellt, dass nicht durch Beiträge ge-deckte Leistungen aus Steuermitteln finanziert werden. In einem enormen Kraftakt ist zudem die Zahl der Beitragszah-ler erhöht worden. Durch die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sind 4 Mio. Arbeitsverhältnis-se neu in die Rentenversicherung einbezogen worden. Es wurden gegen viele Widerstände die arbeitnehmerähnlichen Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen. Mit all diesen Maßnahmen konnte der Beitragssatz von 20,3% über 19,5% und 19,3% auf heute 19,1% gesenkt werden.

Mit den jetzt beschlossenen Gesetzen sind die Voraussetzungen für einen breiten gesellschaftlichen Konsens bei der Reform der Alterssicherung weiter verbessert worden. Die Gewerkschaften unterstützen den Kurs von Bundesregierung und Koalition. Er findet ein hohes Maß an Zustimmung in Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Die notwendigen Voraussetzungen für einen überparteilichen und gesellschaftlichen Konsens sind erfüllt.

ANHANG 1a

Altersvermögensgesetz Förderung der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge Der Aufbau einer privaten oder betrieblichen Altersvorsorge wird durch steuerliche Fördermaßnahmen flankiert, die auch und gerade Bezieher kleiner Einkommen und Familien mit Kindern besonders unterstützen sollen. Es sollen besondere Sparanreize gesetzt werden. Die gesetzlichen Regelungen hierzu werden - ähnlich wie bei der Kindergeldregelung - im Einkommensteuergesetz als kombinierte Zulagen- / Sonderausgabenregelung verankert. Insgesamt werden für die Förderung der Altersvorsorge in der Endstufe im Jahr 2008 knapp 20 Milliarden DM bereitge-stellt. Das Gesetz über die zusätzliche private Altersvorsorge soll zum 01.01.2002 in Kraft treten. Die Rentenversicherungspflich-tigen sollen ausreichend Zeit haben, sich eingehend über geeignete Alterssicherungsanlagen zu informieren. Auch die Tarif-parteien haben so die Gelegenheit, ohne Zeitdruck bestehende Vereinbarungen über betriebliche Altersversorgung zu über-prüfen und gegebenenfalls zu modifizieren oder neue Tarifvereinbarungen zu schließen. Geförderter Personenkreis Zum Kreis der Begünstigten gehören alle Personen, die Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zahlen. Zu dieser Gruppe gehören neben Arbeitnehmern auch Behinderte in Werkstätten, Versicherte während einer anzurechnenden Kindererziehungszeit (Dauer: 3 Jahre), Pflegepersonen, Wehr- und Zivildienstleistende, geringfügig Beschäftigte, die auf die Versicherungsfreiheit verzichtet haben, und Bezieher von Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosen- oder Krankengeld einschließlich der Arbeitslosenhilfeberechtigten, auch wenn deren Leistungen auf Grund der Anrechnung von Einkommen und Vermögen ruht, sowie Kraft Gesetz oder auf Antrag versicherungspflichtige Selbständige. Nicht zum Kreis der Begünstigten gehören im wesentlichen Beamte sowie die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, Rich-ter, Soldaten, Selbständige, die eine eigene private Altersvorsorge aufbauen, Freiwillig Versicherte und die überwiegende Zahl der geringfügig Beschäftigten. Nicht begünstigt sind auch die in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung Pflichtversicherten. Die Begründung zum Gesetz sieht jedoch vor, den Personenkreis um Beamte und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes zu erweitern, wenn für sie eine wirkungsgleiche Übertragung der Reformmaßnahmen mit der Folge der Absenkung des Alterssicherungsniveaus vorgenommen wird. Grundsätze der Förderung Die staatliche Förderung unterliegt Richtlinien. Diese sind im Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz geregelt. Nach diesem Gesetz wird das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen als Zertifizierungsbehörde vorab prüfen, ob ange-botene Altersvorsorgeprodukte die vorgeschriebenen Förderkriterien erfüllen. Dieses Zertifikat stellt ausdrücklich kein staatliches Gütesiegel dar, das die Qualität des Produktes hinsichtlich Rentabilität und Sicherheit bestätigt. Die Finanz-dienstleister können bei der Zertifizierungsstelle für Muster- oder Einzelverträge ein Zertifikat erhalten, das bescheinigt, dass ihr Produkt den staatlichen Förderkriterien entspricht und damit steuerlich gefördert werden kann.

• Gefördert werden nach diesem Gesetz Anlagen, die bis zur Vollendung des 60. Lebensjahrs oder bis zum Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder Altersrente des Anlegers aus der gesetzli-chen Rentenversicherung gebunden sind und nicht beliehen oder anderweitig verwendet werden können.

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• Die Anlageformen müssen ab Auszahlungsbeginn eine lebenslange steigende oder gleichbleibende monatliche Leibren-te zusichern; auch entsprechende Auszahlungen aus Fonds- oder Bankguthaben, die in der Leistungsphase ab Alter 85 mit einer Rentenversicherung verbunden sind, werden zugelassen.

• Zu Beginn der Auszahlungsphase müssen mindestens die eingezahlten Beträge und während der Auszahlungsphase die laufenden monatlichen Zahlungen garantiert sein. Förderungsunschädlich können die Anlageverträge bis zu einer be-stimmten Höhe mit einer Erwerbsminderungsrente und/oder einer Hinterbliebenenrente verbunden werden. Die Anla-gen sind während der Ansparphase gesetzlich vor Pfändung sowie Anrechnung in Sozial- und Arbeitslosenhilfe ge-schützt.

Förderfähige Anlageformen Förderfähig ist die Betriebliche Alterversorgung in Form von Direktversicherungen, Pensionskassen und Pensionsfonds (soweit die Voraussetzungen für geförderte Anlagen erfüllt sind und die Beiträge aus individuell versteuerten und ver-beitragten Arbeitsentgelten erbracht werden) sowie als private kapitalgedeckte Altervorsorge Rentenversicherungen, Fonds- und Banksparpläne. Fonds- und Banksparpläne müssen mit Auszahlungsplänen und einer Restverrentungspflicht für die oberste Altersphase verbunden sein. Auch Altverträge oder Wohneigentum können unter bestimmten Voraussetzungen in die Förderung einbezogen werden. Die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten die Möglichkeit, Auskünfte zum Aufbau einer geförderten zusätz-lichen Altersvorsorge zu erteilen. Förderkonzept Der Altersvorsorgeaufwand setzt sich aus Eigenbeiträgen und Zulagen zusammen. Zur Entlastung der Bürger zahlt der Berechtigte nur seine Eigenbeiträge, die staatliche Zulage wird vom zuständigen Finanzamt nach Antragstellung des Be-rechtigten unmittelbar auf den begünstigten Vertrag gutgeschrieben. Die Höhe der Zulage ist abhängig von Familienstand und Kinderzahl. Bei höheren Einkommen oder Eigenbeiträgen, die die Mindesteigenbeiträge (s. u.) übersteigen, kann es günstiger sein, den Altersvorsorgeaufwand im Rahmen des Sonderausgabenabzugs geltend zu machen. Dies wird vom Fi-nanzamt von Amts wegen im Rahmen eines "Günstigervergleichs" geprüft. Ist die Steuerersparnis durch den Sonderausga-benabzug höher als die Zulage, wird die Differenz dem Steuerpflichtigen gutgeschrieben. Die gezahlte Zulage verbleibt auf dem Anlagekonto. Als Sonderausgabenabzug geltend gemacht werden können unabhängig vom individuellen Einkommen nachfolgende Al-tersvorsorgeaufwendungen (Eigenbeiträge + Zulage): in den Veranlagungszeiträumen 2002 und 2003 Bis zu 1,0 vom Hundert, in den Veranlagungszeiträumen 2004 und 2005 Bis zu 2,0 vom Hundert, in den Veranlagungszeiträumen 2006 und 2007 Bis zu 3,0 vom Hundert, ab dem Veranlagungszeitraum 2008 jährlich Bis zu 4,0 vom Hundert der Beitragsbemessungsgrenze (z. Z. 104.400 DM/Jahr) zur gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten.

Der Aufbau der Altersvorsorge erfolgt aus nicht versteuertem Einkommen. Daher unterliegen die späteren Auszahlungen der Steuerpflicht. Höhe der Zulage Die Zulage setzt sich zusammen aus einer Grundzulage und einer Kinderzulage. Die Grundzulage beträgt in den Veranlagungszeiträumen 2002 und 2003 rd. 75 DM, (38 Euro), in den Veranlagungszeiträumen 2004 und 2005 rd. 150 DM, (76 Euro), in den Veranlagungszeiträumen 2006 und 2007 rd. 225 DM, (114 Euro), ab dem Veranlagungszeitraum 2008 jährlich rd. 300 DM, (154 Euro).

Im Falle der Zusammenveranlagung von Ehegatten steht die Grundzulage jedem gesondert zu, wenn beide Ehepartner ei-genständige Altersversorgungsansprüche erwerben. Das gilt auch, wenn zwar nur ein Ehepartner steuer- und versicherungs-pflichtige Einnahmen hat, dieser aber seinen Mindesteigenbeitrag (s. u.) leistet. Die Kinderzulage beträgt je Kind in den Veranlagungszeiträumen 2002 und 2003 rd. 90 DM, (46 Euro),

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in den Veranlagungszeiträumen 2004 und 2005 rd. 180 DM, (92 Euro) in den Veranlagungszeiträumen 2006 und 2007 rd. 270 DM, (138 Euro) ab dem Veranlagungszeitraum 2008 jährlich rd. 360 DM, (185 Euro). Die vorstehenden Zulagen vermindern sich entsprechend, wenn nicht der nachfolgende Altersvorsorgeaufwand (Eigenbei-träge +Zulage) aufgebracht wird:

in den Veranlagungszeiträumen 2002 und 2003 in Höhe von 1,0 vom Hundert, in den Veranlagungszeiträumen 2004 und 2005 in Höhe von 2,0 vom Hundert, in den Veranlagungszeiträumen 2006 und 2007 in Höhe von 3,0 vom Hundert, ab dem Veranlagungszeitraum 2008 jährlich in Höhe von 4,0 vom Hundert des in der Rentenversicherung beitragspflichtigen Vorjahreseinkommens bis maximal zur westdeutschen Beitragsbemes-sungsgrenze (derzeit 104.400 DM/Jahr). Bei Ehepaaren werden die gemeinsamen Einkommen bis zur doppelten Beitrags-bemessungsgrenze zu Grunde gelegt. Auch für den Fall, dass bereits alleine die Zulagen den 4% Aufwendungen entsprechen oder sie sogar übersteigen, muss zur Erlangung der vollen Zulage immer ein bestimmter Mindesteigenbeitrag geleistet werden. Dieser Mindesteigenbeitrag be-trägt in jedem der Veranlagungszeiträume von 2002 bis 2004 mindestens rd. 88 DM (45 Euro) für Steuerpflichtige, bei denen kein Kind zu berücksichtigen ist, rd. 74 DM (38 Euro) für Steuerpflichtige, bei denen ein Kind zu berücksichtigen ist, rd. 59 DM (30 Euro) für Steuerpflichtige, bei denen zwei oder mehr Kinder zu berücksichtigen sind und ab dem Veranlagungszeitraum 2005 in jedem Veranlagungszeitraum mindestens jeweils rd. 176 DM (90 Euro) für Steuerpflichtige, bei denen kein Kind zu berücksichtigen ist, rd. 147 DM (75 Euro) für Steuerpflichtige, bei denen ein Kind zu berücksichtigen ist und rd. 117 DM (60 Euro) für Steuerpflichtige, bei denen zwei oder mehr Kinder zu berücksichtigen sind. Beispiele: Ein Alleinverdiener-Ehepaar mit zwei Kindern und 50.000 DM Bruttoverdienst erhält im Jahre 2008 für eigene Aufwen-dungen in Höhe von 680 DM vom Staat eine Zulage von 1.320 DM (300 DM + 300 DM + 360 DM + 360 DM) jährlich und erreicht so eine jährliche Sparleistung von 2000 DM (= 4% von 50.000). Eine alleinerziehende Angestellte mit einem Kind, die im Erziehungsurlaub kein rentenversicherungspflichtiges Einkommen bezieht, erhält im Jahre 2008 für einen Mindesteigenbeitrag von 147 DM jährlich vom Staat eine Zulage von 660 DM (300 DM + 360 DM) und erreicht eine jährliche Sparleistung von 807 DM. Die staatliche Zulage macht dabei über 80% der gesamten Sparleistung aus. Stärkung der betrieblichen Altersversorgung 1. Verbesserung der Rahmenbedingungen Zum Ausbau einer betrieblichen Altersversorgung werden die arbeits- und steuerrechtlichen Rahmenbedingungen erheblich verbessert. Den Tarifvertragsparteien werden Möglichkeiten geboten, durch neue Tarifabschlüsse und Betriebsvereinbarun-gen die betriebliche Altersvorsorge der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auf breiter Grundlage zu fördern. 2. Anspruch auf betriebliche Altersversorgung Arbeitnehmer erhalten einen individuellen Anspruch auf betriebliche Altersversorgung durch Entgeltumwandlung. Die Durchführung dieses Anspruchs unterliegt der Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern. Besteht eine Pensi-onskasse oder ein Pensionsfonds, darf der Arbeitgeber die Durchführung des Anspruchs hierauf beschränken. Andernfalls kann der Arbeitnehmer den Abschluss einer Direktversicherung verlangen. 3. Unverfallbarkeit und Mitnahme von Anwartschaften Bei den auf der Basis von Entgeltumwandlung erworbenen Anwartschaften tritt sofortige gesetzliche Unverfallbarkeit ein, so dass diese beim Betriebswechsel nicht verloren gehen. Außerdem werden die gesetzlichen Fristen für die Unverfallbar-keit von Anwartschaften auf Grund von Zusagen des Arbeitgebers ohne Entgeltumwandlung auf 5 Jahre und das 30. Le-bensjahr verkürzt. Die Möglichkeit der Mitnahme von Anwartschaften zu einem neuen Arbeitgeber wird ebenfalls verbes-sert. Durch die sofortige Unverfallbarkeit wird die Mobilität der Beschäftigten und die Mitnahme von Ansprüchen erheblich verbessert. Die Verkürzung der allgemeinen Fristen zur Unverfallbarkeit bei Zusagen von Arbeitgebern beseitigt vor allem Nachteile von Frauen durch Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit wegen Erziehung von Kindern.

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4. Steuer- und Beitragsfreiheit des Aufwands Der Aufwand zur betrieblichen Altersvorsorge wird vom Arbeitgeber geleistet. Seit einiger Zeit erfolgt die Finanzierung verstärkt aus der Umwandlung von Entgelt. Anreiz dazu besteht in der Ersparnis von Beiträgen zur Sozialversicherung und in steuerlichen Vorteilen. Damit die Beiträge zur Sozialversicherung stabil gehalten werden können und das Beitragsauf-kommen nicht geschmälert wird, soll diese Möglichkeit mittelfristig abgeschafft werden. Beitragsfreie Entgeltumwandlung wird für alle Durchführungen auf 4% der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten begrenzt und nur noch bis Ende 2008 zugelassen. Für die Förderung der betrieblichen Altersvorsorge kann die steuerliche Förderung aus Zulagen bzw. Sonderausgabenabzug mit Beitragspflicht des Aufwands in Anspruch genommen werden. Zuführungen in einen Pensionsfonds oder in eine Pensionskasse sind für den Arbeitgeber bis zu der Grenze von 4% dauer-haft steuer- und beitragsfrei gestellt. Eine Änderung erfolgt dagegen nicht bei der Möglichkeit der Pauschalversteuerung mit Beitragsfreiheit des Aufwands bis zu 3408 bzw. 4200 DM im Jahr und bei der Finanzierung von Direktzusagen und Zusa-gen über Unterstützungskassen durch Rückstellung bzw. Abzug von Betriebsausgaben durch den Arbeitgeber. 5. Einführung von Pensionsfonds Das Ziel, die betriebliche Altersvorsorge in die neue steuerliche Förderung mit Zulagen bzw. Sonderausgabenabzug einzu-beziehen, wird durch Einführung von Pensionsfonds verbessert. Die Förderung wird damit indirekt auch für die internen Durchführungswege Direktzusage und Unterstützungskasse geöffnet. Anwartschaften in den internen Durchführungen kön-nen steuer- und beitragsfrei in den Pensionsfonds übertragen werden. Mit der Möglichkeit der Auslagerung von Rückstel-lungen für Direktzusagen wird Unternehmen ein Angebot gemacht, ihre Bilanzen und damit ihre Stellung auf dem internati-onalen Kapitalmarkt zu verbessern. Für Arbeitnehmer ist damit der Vorteil verbunden, dass sie einen Rechtsanspruch ge-genüber dem Pensionsfonds als externen Träger der betrieblichen Altersvorsorge erhalten und ihre Ansprüche bei einem Wechsel des Arbeitgebers mitnehmen können. Der Pensionsfonds bietet Arbeitgebern zudem den Vorzug, betriebliche Altersvorsorge durch Beitragszusagen mit einer Mindestgarantie beschränkt auf den Nominalwert der eingezahlten Beiträge besser kalkulieren zu können und nicht mehr allein mit höheren Risiken verbundene langfristige Verpflichtungen aus Leistungszusagen eingehen zu müssen. Der Pensi-onsfonds zahlt lebenslange Altersrenten mit der Möglichkeit der Abdeckung des Invaliditäts- und Hinterbliebenenrisikos. Renten aus dem Pensionsfonds unterliegen der nachgelagerten Besteuerung. Mit der größeren Freiheit bei der Vermögensanlage ist für den Pensionsfonds die Verpflichtung verbunden, ein internatio-nalen Standards entsprechendes Risiko-Management einzurichten, um die Anlagestrategie auf das Profil der Verpflichtun-gen gegenüber Versorgungsanwärtern bzw. Rentnern abzustimmen. Um die Sicherheit der für die Vermögensanwärter ange-legten Gelder zu gewährleisten, müssen Geschäftsbetrieb und die Ausstattung mit Eigenkapital (Solvabilität) durch das Bundesauf-sichtsamt für das Versicherungswesen überwacht werden. Pensionsfonds werden den Finanzplatz Deutschland stärken. Aufgrund des eher langfristigen Charakters von Anlagen wird sich der Pensionsfonds stärker an Substanzwerten wie Aktien und anderen Beteiligungswerten orientieren, die dem Kapi-talmarkt und damit auch Wachstum und Beschäftigung zusätzliche Impulse geben werden.

Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

Vor allem ältere Menschen machen Sozialhilfeansprüche oft nicht geltend, weil sie Furcht vor dem Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder haben. Dies ist eine wichtige Ursache für verschämte Armut, die die Bundesregierung verhindern will. Deshalb ist im Rahmen der Rentenreform die Einführung eines eigenständigen Gesetzes über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG) vorgesehen. Das Gesetz soll durch die Kreise und kreisfreien Städte als Träger der Grundsicherung durchgeführt werden. Die Regelungen der bedarfsorientierten Grundsicherung sind nunmehr im Rahmen eines eigenständigen, dem Bundessozi-

alhilfegesetz vorgelagerten Leistungsgesetzes vorgesehen. Dieses ist Bestandteil des Altersvermögensgesetzes und damit auch Bestandteil der Rentenreform. Inhaltlich entsprechen die Regelungen den bisherigen Vorstellungen der Bundesre-gierung zur Verhinderung von Armut im Alter und bei dauerhaft voller Erwerbsminderung:

• Antragsberechtigt sind über 65-Jährige und aus medizinischen Gründen dauerhaft voll erwerbsgeminderte Volljährige, soweit sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

• Die Leistung ist abhängig von der Bedürftigkeit. Ein Unterhaltsrückgriff gegenüber Kindern und Eltern der Grundsiche-rungsberechtigten findet nicht statt.

• Die Leistung wird so bemessen, dass sie der Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen nach dem Bundes-sozialhilfegesetz entspricht, wobei die einmaligen Leistungen pauschaliert werden.

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• Die Rentenversicherungsträger sind verpflichtet, antragsberechtigte Personen über die Leistungsvoraussetzungen des neuen Gesetzes zu informieren, zu beraten und bei der Antragstellung auf Grundsicherung - auch durch Weiterleitung von Anträgen an den Träger der Grundsicherung - zu unterstützen.

• Die Finanzierung der Grundsicherung erfolgt aus Steuermitteln, wobei der Bund den Ländern die Mehrausgaben auf-grund dieses Gesetzes in Höhe von 600 Mio. DM über den bereits vorgesehenen Transfermechanismus im Rahmen des Wohngeldgesetzes ausgleicht.

Durch die genannten Maßnahmen wird es für ältere Menschen sehr viel leichter, ihre berechtigten Ansprüche auch geltend zu machen. Außerdem wird die Lebenssituation erwerbsgeminderter Menschen, gerade auch derjenigen, die von Geburt oder früher Jugend an schwerstbehindert sind, deutlich verbessert.

Verbesserung des Auskunftsservice durch die Rentenversicherungsträger Die Rentenversicherungsträger sollen in Zukunft allen Versicherten, die das 27. Lebensjahr vollendet haben, jährlich Aus-künfte über den Stand ihrer Rentenanwartschaften erteilen. Hierdurch wird allen Versicherten die Möglichkeit gegeben, ihre jeweiligen Entscheidungen im Rahmen des Aufbaus der kapitalgedeckten Altersvorsorge zu überprüfen und gegebenenfalls die weitere Anlagestrategie im Hinblick auf das für das Alter gewünschte Versorgungsniveau zu optimieren. Darüber hinaus erhalten die Rentenversicherungsträger die Möglichkeit, Auskünfte im Sinne einer Wegweiserfunktion zum Aufbau einer kapitalgedeckten Altervorsorge zu geben.

ANHANG 1b

Altersvermögensergänzungsgesetz

Rückkehr zur lohnorientierten Rentenanpassung Mit der Rückkehr zur lohnorientierten Renteanpassung wird sichergestellt, dass die Rentnerinnen und Rentner am Wachs-tum der Wirtschaft beteiligt werden, wie es in der Lohnentwicklung zum Ausdruck kommt. Veränderungen der Abgabenbe-lastung, die nicht die Alterssicherung betreffen, bleiben in der Anpassungsformel künftig unberücksichtigt. Damit wird die Rentenanpassung durch Steuerrechtsänderungen nicht mehr tangiert. Da langfristig ein angemessener Lebensstandard im Alter nur mit zusätzlicher Altersvorsorge erreicht werden kann, ist es folgerichtig, die Aufwendungen für die zusätzliche Altersvorsorge in der Anpassungsformel zu berücksichtigen. In der Sachverständigenanhörung im Deutschen Bundestag vom 11. bis 13. Dezember 2000 wurde trotz überwiegender Zustimmung zur Notwendigkeit der Reform sowie zu den Reformzielen kritische Stellungnahmen insbesondere das zukünf-tig zu erwartende Rentenniveau der jüngeren Generation durch die ursprünglich vorgesehene Einführung des "Ausgleichs-faktors" bemängelt. Im Interesse eines möglichst breiten Konsenses wurde daher ein Vorschlag des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) aufgegriffen, der in der Anhörung eine breite Zustimmung fand. Danach wird die bisher mit dem Ausgleichsfaktor, der nur Rentenneuzugänge ab 2011 betroffen hätte, vorgesehene beitragssatzdämpfende Wir-kung ab 2011 in die Rentenanpassungsformel integriert. Bei Wahrung der Beitragssatzstabilität wird so ein höheres Renten-niveau für die jüngere Generation ermöglicht. Die veränderte Formel beteiligt sowohl die Bestandsrentner wie auch die künftigen Rentnerjahrgänge durch einen etwas flacheren Rentenanstieg an den notwendigen Einsparungen. Da die Beteili-gung breiter erfolgt, ist die Wirkung für den Einzelnen deutlich geringer und ein einheitliches Rentenniveau von Zugangs- und Bestandsrentnern gewahrt. Das Rentenniveau wird 2030 zwischen 67 und 68 Prozent liegen. Der Beitragssatz bleibt bis zum Jahre 2020 unter 20 Prozent und steigt bis zum Jahre 2030 nicht über 22 Prozent. Kindbezogene Höherbewertung von Beitragszeiten bei der Rentenberechnung Um die rentenrechtlichen Folgen geringer Entgelte abzumildern, sollen die Rentenanwartschaften von Erziehungspersonen, die während der ersten 10 Lebensjahre des Kindes erwerbstätig sind, diese Tätigkeit aber wegen der Kindererziehung vor allem in Form von Teilzeitarbeit ausüben und deshalb unterdurchschnittlich verdienen, bei der Rentenberechnung nach den Grundsätzen der so genannten Rente nach Mindesteinkommen aufgewertet werden und zwar für Zeiten ab 1992. Dabei erfolgt eine Erhöhung der individuellen Entgelte um 50% auf maximal 100% des Durchschnittseinkommens, wenn insge-samt 25 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vorliegen. Damit wird ein Anreiz geschaffen, kindererziehungsbedingte Lücken in der Versicherungsbiographie möglichst kurz zu halten und bald nach der Kindererziehungszeit zumindest eine Teilzeit-beschäftigung aufzunehmen. Dies wird insbesondere Frauen zu gute kommen, die eine Teilzeitbeschäftigung aufnehmen, wenn das jüngste Kind in den Kindergarten kommt.

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Diese Begünstigung kommt auch Erziehungspersonen zugute, die wegen der Betreuung eines pflegebedürftigen Kindes vielfach nicht erwerbstätig sein können. Auch hier wird die für die Pflegeperson anzuerkennende Pflichtbeitragszeit ab 1992 bei der Berechnung der Rente um 50% - maximal jedoch auf den Wert, der sich aus 100% des Durchschnittsverdienstes ergibt - aufgewertet, und zwar sogar bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des pflegebedürftigen Kindes. Zusätzliche Begünstigung bei Erziehung mehrerer Kinder Für Erziehungspersonen, die wegen gleichzeitiger Erziehung von zwei oder mehr Kindern unter zehn Jahren regelmäßig auch keine Teilzeitbeschäftigung aufnehmen können und deshalb eine Höherbewertung von Beitragszeiten nicht erhalten, wird als Ausgleich nach Auslaufen der Kindererziehungszeit (also ab dem 4. Lebensjahr des Kindes) bis zum 10. Lebens-jahr eine rentenrechtliche Gutschrift von Entgeltpunkten gewährt und zwar für Zeiten ab 1992. Diese Gutschrift entspricht regelmäßig der höchstmöglichen Förderung bei der kindbezogenen Höherbewertung von Beitragszeiten für erwerbstätige Erziehungspersonen (also ein Drittel Entgeltpunkt pro Jahr). Ein Entgeltpunkt entspricht der Rente für 1 Jahr Erwerbstätig-keit mit einem Durchschnittsverdienst (z. Z. in den alten Bundesländern 48,58 DM mtl., in den neuen Bundesländern 42,26 DM). Reform des Hinterbliebenenrenterechts Auch in der Hinterbliebenenversorgung wird künftig Kindererziehung berücksichtigt. Aus diesem Grunde wird der der Witwen-/Witwerrente zugrunde liegende allgemeine Versorgungssatz moderat von 60% auf 55% gesenkt und die Rente gleichzeitig für jedes erzogene Kind um einen Zuschlag von einem Entgeltpunkt erhöht. Diese Umschichtung im Bereich der Hinterbliebenenversorgung ist deshalb gerechtfertigt, weil Frauen, die Kinder erziehen, wesentlich größere erziehungs-bedingte Lücken in der Erwerbsbiografie aufweisen als Frauen und Männer, die keine Kinder erzogen haben. Sie führt be-reits für die Witwe mit durchschnittlicher Witwenrente, die zwei Kinder erzogen hat, zu einer kleinen Verbesserung ihrer Witwenrente. Im Übrigen werden Ungerechtigkeiten hinsichtlich der Anrechnung von Einkünften auf die Hinterbliebenenrente beseitigt. Zukünftig sollen grundsätzlich alle Einkunftsarten (auch Vermögenseinkünfte) angerechnet werden, weil die bisherigen Beschränkungen auf Einkommen aus Erwerbstätigkeit sowie aus Versichertenrenten der Rentenversicherung und Versor-gungsbezüge - das typische Einkommen kleiner Leute - sozialpolitisch unbefriedigend ist. Allerdings sind Renten aus der neu zu fördernden zusätzlichen Altersversorgung, die ja gerade dazu bestimmt sind, zusammen mit der gesetzlichen Rente ein gutes Auskommen im Alter zu sichern, hiervon ausgenommen worden. Bei der Einkommensanrechnung wird für den kindbezogenen Freibetrag die Dynamik dauerhaft beibehalten, so dass das Anliegen des Gesetzgebers, die Kindererziehung durch vielfältige Regelungen zu fördern, auch hier zum Ausdruck kommt. Allerdings wird der Grundfreibetrag für die Einkommensanrechnung in der Höhe bei Inkrafttreten des Gesetzes festge-schrieben, in Euro umgerechnet und aufgerundet (675 Euro). Für die neuen Bundesländer bleibt es bei der bisherigen Dy-namisierung, bis der Freibetrag der alten Länder erreicht ist. Auf diesem Niveau wird er dann ebenfalls angehalten. Nach 10 Jahren soll eine Überprüfung der Freibetragsfestschreibung erfolgen. Die Reform der Hinterbliebenenversorgung wird unter Wahrung eines langjährigen Vertrauensschutzes nur für Ehepaare, bei denen beide Partner jünger als 40 Jahre sind, eingeführt werden. Hiermit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass alle älteren Paare bei ihrer Lebensplanung an den derzeit geltenden Regelungen orientiert haben und eine Änderung der Lebensplanung nur schwer zu realisieren sein dürfte. Die vorgesehenen Einschränkungen (wie z. B. das Einfrieren des Frei-betrages) kommen daher nur langfristig zum Tragen und wirken somit erst, wenn die Erwerbsbeteiligung von Frauen weiter angestiegen und die Bedeutung der Hinterbliebenenversorgung gegenüber einer eigenständigen Alterssicherung der Frau zurückgegangen sein dürfte. Bei der Witwenrente für nicht erwerbsgeminderte Frauen, die keine Kinder erziehen und jünger als 45 Jahre sind (kleine Witwenrente), wird die Bezugsdauer auf eine Übergangszeit von 2 Jahren befristet.

ANHANG 1c

Rentensplitting unter Ehegatten Zum Ausbau der eigenständigen Alterssicherung der Frauen soll jüngeren Ehegatten die Möglichkeit eingeräumt werden, ihre in der Ehezeit erworbenen Rentenansprüche partnerschaftlich aufzuteilen. Anstelle der herkömmlichen Versorgung von Verheirateten und Verwitweten (zu Lebzeiten beider Ehegatten erhält jeder seine eigene Versichertenrente und beim Tod des ersten Ehegatten wird dem/der Überlebenden zusätzlich zu seiner/ihrer eigenen Rente eine subsidiäre abgeleitete Hin-terbliebenenrente gewährt) kann durch eine übereinstimmende Erklärung beider Ehegatten ein Rentensplitting der gemein-sam in der Ehezeit erworbenen Rentenanwartschaften erreicht werden. Die Wirkung dieser partnerschaftlichen Teilung tritt regelmäßig bereits zu Lebzeiten beider Ehegatten (nämlich bei der Gewährung einer Vollrente wegen Alters auch für den

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zweiten Ehegatten) ein. Das Rentensplitting führt regelmäßig zu höheren eigenständigen Rentenleistungen für die Frau, die auch im Hinterbliebenenfall nicht der Einkommensanrechnung unterliegen und bei Wiederheirat nicht wegfallen. Ein Splitting wird allerdings nur durchgeführt, wenn bei beiden Ehegatten jeweils 25 Jahre an rentenrechtlichen Zeiten vorhanden sind. Damit wird eine ungerechtfertigte Begünstigung für Personen vermieden, die den Schwerpunkt ihrer Ver-sorgung außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung haben. Schließung rentenrechtlicher Lücken zu Beginn der Versi-cherungsbiografie Die rentenrechtliche Absicherung jüngerer Versicherter mit lückenhaften Erwerbsverläufen wird verbes-sert. Wie bei Zeiten der schulischen Ausbildung, die in aller Regel vor Eintritt in das Erwerbsleben liegen, sollen etwa auch Zeiten der Krankheit oder der Arbeitslosigkeit ohne die Unterbrechung eines Pflichtversicherungsverhältnisses angerechnet werden. Damit werden sich insbesondere im Falle von Frühinvalidität bzw. frühem Tod für den Versicherten selbst bzw. seine Hinterbliebenen teils erhebliche Verbesserungen in der Rentenhöhe ergeben.

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VIII. Arbeitsförderung - Sozialgesetzbuch 3 (SGB III) von 1998 A. Allgemeines Das zum 1.1.1998 in Kraft getretene SGB III hat das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 (AFG) abgelöst, das seinerseits an die Stelle des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 und die Neufassung von 1957 getreten war. Die Grundzüge sind im wesentlichen erhalten geblieben. Die Arbeitsförde-rung liegt in den Händen des Bundesanstalt für Arbeit (BA). Sie besteht aus Leistungen an Arbeitnehmer, Arbeit-geber und Träger von Arbeitsförderungsmaßnahmen (§ 3 Abs. 1 bis 3 SGB III), insbesondere: - Berufsberatung - Arbeitsvermittlung - Überbrückungsgeld zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit - Förderung der beruflichen Bildung - Gewährung von berufsfördernden Leistungen der Rehabilitation (neben anderen Sozialleistungsträgern) - Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) und Teilarbeitslosengeld - Kurzarbeitergeld bei Arbeitsausfall - Gewährung von Insolvenzgeld bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (früher „Konkursausfallgeld“ - Kaug) - Leistungen an Arbeitgeber (Zuschüsse, Erstattung von Arbeitsentgelt) zur Schaffung und Erhaltung von Ar-beitsplätzen

- Darlehen und Zuschüsse insbesondere zur Aus- und Weiterbildung durch Bildungseinrichtungen Außerdem gewährte die BA im Auftrag des Bundes Arbeitslosenhilfe (Alhi). Diese Leistung war ihrer Struktur nach (Gewährung nur bei Bedürftigkeit) eine Leistung der Sozialhilfe, keine (im Prinzip stets einkommensunab-hängige) Versicherungsleistung. Sie wurde allerdings nur bis Ende 2004 erbracht und danach – im Zuge der „Hartz 4- Gesetzgebung“ durch das sog. „Arbeitslosengeld II“ abgelöst (SGB II). Der BA steht nicht mehr das Monopol der Arbeitsvermittlung zu. Praktisch liegt bei ihr jedoch nach wie vor das Hauptgericht. Anderen (natürlichen und juristischen) Personen kann die Erlaubnis zur Arbeitsvermittlung erteilt werden (§ 291) Schon bisher lag jedoch die Vermittlung von "Führungskräften" für die Wirtschaft fest in den Händen von Unternehmensberatungen . Die Finanzierung der Aufgaben erfolgt durch Beiträge ( Arbeitnehmer und Arbeitgeber zur Hälfte je 1,65 % des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts). Ähnlich wie bei der Rentenversicherung trägt der Bund die Liquiditätsgarantie (§ 364). Die Kosten für die Alhi und das Arbeitslosengeld II trägt der Bund voll (nicht aus Beitragsmitteln). Ähnlich wie Rentenleistungen genießen Leistung der Arbeitsförderung (in begrenzten Umfang) Eigentumsschutz, sofern sie auf Beitragsleistungen beruhen. Wichtigste Folge: Nachträgliche Kürzung einmal bewilligter Leistun-gen ist in der Regel unzulässig. Neben Arbeitsberatung und Arbeitsvermittlung besteht die Hauptaufgabe der BA in der Verwaltung und Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg). B. Leistungsrecht 1. Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld (§ 118): Anspruch auf Alg hat ,wer > arbeitslos ist (§ 119 Abs. 1 und eine Beschäftigung sucht insbesondere dadurch, daß er der Arbeitsvermitt-

lung zur Verfügung steht (§ 119 Abs. 3 ,

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> sich arbeitslos gemeldet hat (§ 122) > die Anwartschaftszeit erfüllt hat (§ 123), Ferner müssen Arbeitslose beim Arbeitsamt ihres Wohnsitzes (§§ 323) das Arbeits-losengeld beantragen, was grundsätzlich vor der Leistung erfolgen muß (keine rückwirkende Gewährung von Alg). Aber: Alg und Alhi gelten mit der persönlichen Arbeitslosmeldung als beantragt (wenn keine andere Erklärung abgegeben wird: § 323 Abs. 1 S. 2) Nur wenn alle diese Erfordernisse erfüllt sind, wird Alg bewilligt. Da der Anspruch auf Alg als Versicherungsleistung auf eigenen Beiträgen beruht, ist er verfassungsrechtlich als Eigentum gem. Art. 14 GG gegen Verschlechterungen geschützt. Laufende und künftige Leistungen aus ei-nem bereits erworbenen Anspruch dürfen nicht gekürzt werden. Neuregelungen sind daher stets nur für solche Ansprüche zulässig, die vom Zeitpunkt des Inkrafttretens neu entstehen. 2. Arbeitslosigkeit (§ 119-121) Arbeitslos ist jemand nicht bereits durch das Fehlen einer Beschäftigung, sondern erst dann, wenn die betreffen-de Person sich auch um eine neue Arbeitsstelle bemüht. Erforderlich ist daher sowohl die vorübergehende Be-schäftigungslosigkeit (passives Element) als auch die Beschäftigungssuche (aktives Element). Wer die Absicht hat, eine abhängige Beschäftigung nicht mehr aufzunehmen (z.B. weil er sich selbständig machen will), ist nicht arbeitslos. Eine geringfügige, versicherungsfreie Beschäftigung (§ 27 Abs. 5: weniger als 15 Stunden wöchent-lich) beendet nicht die Arbeitslosigkeit (der erzielte Verdienst wird jedoch gem. § 141 - nach Abzug eines Freibe-trags von mindestens 165 € - auf das Alg angerechnet). Eine Beschäftigung sucht, wer alle Möglichkeiten nutzt und nutzen will, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden und der Vermittlung des Arbeitsamts zur Verfügung steht. Verfügbar sind nur diejenigen, die bereit und in der Lage sind, eine zumutbare (d.h. ihrer körperlichen und intellektuellen Leistungsfähigkeit gemäße) Be-schäftigung (s.u. zu § 121) auszuüben. Sie müssen außerdem die zuständige Agentur für Arbeit (AA) täglich aufsuchen können und für das Arbeitsamt jederzeit erreichbar (d.h. zum Zeitpunkt des Eintreffens der Briefpost - bei der sich ein Vermittlungsvorschlag des Arbeitsamts befinden könnte, auf den sofort reagiert werden muß - zu Hause) sein. § 121 Zumutbare Beschäftigung: Der Kern der Vorschrift ist in Abs. 3 enthalten. Er enthält eine stufenweise Verringerung der Zumutbarkeitsanfor-derungen. Vom 7. Monat der Arbeitslosigkeit an ist nur noch eine solche Arbeit unzumutbar, deren Nettoentgelt niedriger ist als das (bisher bezogene oder zustehende) Alg. Ein „Durchreichen“ in niedrigstes Alg bei Aufnahme einer derartigen Beschäftigung (wird diese - nach 1 Jahr Beschäftigungsdauer - zur Grundlage eines erneuten Anspruchs auf Alg, dann läge das neue Bemessungsentgelt (s.u. Nr. 5) nur wenig über dem bisherigen Alg, das neue Alg aber betrüge wieder kaum mehr als 50 % des ohnehin schon niedrigen neuen Bemessungsentgelts) wird durch § 133 Abs. 1 verhindert: Maßgebend ist auf jeden Fall mindestens das - höhere - frühere Bemes-sungsentgelt, wenn innerhalb der letzten drei Jahre vor Entstehung des Anspruchs Alg bezogen wurde. Beispiel: bisheriges Bruttoarbeitsentgelt: 2004,14 € mtl. 462,49 € wöchtl. Bemessungsentgelt 460,00 € wöchtl. Leistungsentgelt I/IV* 295,07 € wöchtl. Arbeitslosengeld 177,03 € wöchtl.

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Der Betrag des auf den Monat hochgerechneten wöchentlichen Alg von 767,03 € ist zugleich das Nettoentgelt der noch zumutbaren neuen Beschäftigung. Diesem entspricht ein Brutto-Arbeitsentgelt von 996,67 € mtl. Es ist also nach 7 Monaten Arbeitslosigkeit eine Beschäftigung zumutbar, bei der man nunmehr die Hälfte des bisherigen Entgelts verdient. Das führt zu folgender Alg-Berechnung:

neues Bruttoarbeitsentgelt: 996,67 € mtl. 230,00 € wöchtl. Bemessungsentgelt: 230,00 € wöchtl.

Leistungsentgelt I/IV* 178,77 € wöchtl. Arbeitslosengeld (464,71 € mtl.)107,24 € wöchtl. * s. §§ 136, 137 (s. u. Nr. 5: abhängig von der Steuerklasse) Ohne die Regelung von § 133 müßte man sich, wenn man die neue Arbeit nach 1 Jahr (Entstehung eines neuen Anspruchs!) wieder verliert, mit einem rd. 40% niedrigerem Alg zufriedengeben. Dies könnte sich bei den nächs-ten Beschäftigungen fortsetzen (wöchentliches Alg: 62,64 €, 37,58 € usw.). Tatsächlich aber verbleibt es bei den bisherigen 177,03 € wöchentlich. 3. Erfüllung der Anwartschaftszeit (§ 123) Die Anwartschaftszeit entspricht - mit bestimmten Unterschieden - der Wartezeit in der Rentenversicherung. Ausgangspunkt ist die sog. "Rahmenfrist". Das ist ein Zeitraum von zwei Jahren vom Tag der Arbeitslosmeldung (mit Antragstellung) an zurückgerechnet (Recht bis 2003: drei Jahre). Beispiel: Tag der Arbeitslosmeldung 1.2.2008; Rahmenfrist vom 1.2.2006 bis 31.1.2008. Innerhalb dieser Frist müssen Antragsteller insgesamt 360 einzelne oder zusammenhängende Kalendertage (die Wochenenden zäh-len mit: z.B. Beschäftigung von Dienstag bis Montag nächster Woche sind 7 anrechenbare Kalendertage) in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden haben. Das sind solche Personen, die a) als Beschäftigte oder b) aus sonstigen Gründen nach den §§ 24, 25 versicherungspflichtig sind. Personen, die in ihrer Beschäftigung versicherungsfrei waren (s.u.) können damit keine Anwartschaftszeit erfüllen. Gem. § 25 sind versicherungspflichtig solche Personen, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind (abhängige Beschäftigung, Direktionsrecht eines Arbeitgebers!). Es kommt nicht darauf an, ob Beiträge gezahlt wurden oder nicht, sondern darauf, ob sie tatsächlich beitragspflichtig war (u.U. nachträgliche Korrekturen zu Gunsten oder zu Lasten des Betreffenden möglich!). Gem. § 26 sind weitere Personengruppen versicherungspflichtig, u.a. Wehr- oder Zivildienstleistende - beson-ders wichtig! - Personen in der Zeit für die sie eine laufende Geldersatzleistung bezogen haben (z.B. Kranken-geld oder Verletztengeld - Abs. 2 Nr. 5). Gem. § 27 Abs. 2 sind Personen in einer geringfügigen Beschäftigung nach § 8 SGB IV versicherungsfrei. Ab-weichend von dieser Vorschrift werden geringfügige und nicht geringfügige Beschäftigungen nicht zusammenge-zählt. Folge: Die geringfügige Beschäftigung bleibt bei der Berechnung der Höhe des Alg unberücksichtigt und: für den Verlust einer geringfügigen Beschäftigung gibt es kein Alg. Ist diese Mindestdauer der Beschäftigung erfüllt, dann besteht ein Mindestanspruch auf Alg für die Dauer von 6 Monaten (§ 127). Da das Alg für die 7 Tage der Woche, gezahlt wird (§ 139), entspricht dies den 26 Wochen des halben Jahres.

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Die "Grundrahmenfrist" von zwei Jahren wird in § 127 um 1 Jahr auf 3 Jahre erweitert (diese ab 1.1.2004 gel-tende Regelung stellt eine erhebliche Verschlechterung gegenüber dem bisherigen Recht dar, wonach die Frist sieben Jahre betrug). Je länger die Beschäftigung innerhalb dieses Rahmens und je älter der Arbeitnehmer desto länger ist die Anspruchsdauer. Faustregel: Alg-Anspruchsdauer = halbe Beschäftigungsdauer (vgl. die Tabelle in § 127). Die 2-Jahre-Rahmenfrist endet in die Vergangenheit hinein aber auf jeden Fall mit dem Tag, an dem eine frühere Rahmenfrist für einen vorherigen Anspruch auf Arbeitslosengeld beginnt. Damit wird verhindert, dass Zeiten ei-ner Rahmenfrist wiederholt für die Begründung eines Anspruchs herangezogen werden. Beispiel: Beschäftigung seit 2000, Arbeitslosigkeit ab 1.1.2007; Rahmenfrist: 31.12.2006 zurück bis 1.1.2005; 6

Monate Alg-Bezug ab 1.1.2007, dann neue Beschäftigungen ab 1.7.2007 bis 31.10.2007. Erneute Arbeits-losmeldung am 1.11.2007. Rahmenfrist vom 31.10.2007 - an sich - bis 1.11.2005. Aber: Alte Rahmenfrist be-gann am 31.12.2006, deshalb endet die neue bereits nach 10 Monaten am 31.12.2006.

Finden sich in dieser Zeit keine 12 Monate Pflichtversicherungsverhältnis, dann werden die u.U. vom alten An-spruch übrig gebliebenen Anspruchstage aufgebraucht. Ist dagegen ein neuer Anspruch entstanden, z.B. weil die neue Beschäftigung mehr als 12 Monate lang ausgeübt wurde (oder weil z.B. Zeiten mit Anspruch auf Kran-kengeld zur Verfügung stehen), dann richtet sich die neue Anspruchsdauer zunächst nach den neuen Gegeben-heiten, die Zeiten des nach § 147 Abs. 1 Nr. 1 (s.u. Nr. 7) erloschenen Anspruchs werden jedoch auf den neuen übertragen (wie wenn man ein altes Sparbuch auflöst und das Geld gleich auf ein anderes einzahlt, auf dem bereits ein Guthaben besteht). Beispiel (s.o.): Hatte die frühere Beschäftigung vor der Meldung zum 1.1.2007 wenigstens 2 Jahre gedauert, dann war daraus ein Anspruch auf Alg für die Dauer von 12 Monaten entstanden. Durch den Alg-Bezug waren davon 6 Monate verbraucht, es blieb ein Restbestand von 6 Monaten. In der neuen Rahmenfrist war kein neuer Anspruch entstanden, deshalb wird bei der erneuten Meldung am 1.11.2007 der verbliebene Rest weiter aufge-braucht. Hätte die Arbeit bis zum 31.12.2007 gedauert, dann enthielte die Rahmenfrist vom 31.12.2007 zurück bis zum 1.1.2006 volle 12 Monate mit Beschäftigungszeit und ein neuer Anspruch auf Alg wäre entstanden mit einer Anspruchsdauer von 6 Monaten. Der alte Anspruch aber wäre gem. § 147 Abs. 1 Nr.1 SGB III erloschen. Doch sorgt § 127 Abs.4 SGB III dafür, dass der Restbestand von 6 Monaten erhalten bleibt, so dass die Ge-samtdauer (6 + 6 =) 12 Monate beträgt. 4. Meldung und Antragstellung (§§ 122 u. 323) Die Meldung muß durch persönliche Vorsprache bei Arbeitsamt des Wohnsitzes erfolgen. SCHRIFTLICHE MELDUNG GENÜGT NIE. Anspruch auf Alg erst vom Tag der Meldung und Antragstellung an! Meldung für die nahe Zukunft ist zulässig (z.B. am 15.1. zum 31.1.). Aber: Alg und Alhi gelten mit der persönlichen Arbeitslos-meldung als beantragt (wenn keine andere Erklärung abgegeben wird: § 323 Abs. 1 S. 2). Ab 1.7.2003 neu eingeführt: § 37b über die „frühzeitige Arbeitssuche“): Verpflichtung, sich sofort nach Kenntnis des Endes des Versicherungspflichtverhältnisses arbeitsuchend zu melden, und zwar auch dann, wenn z.B. über die Wirksamkeit der Kündigung ein Arbeitsgerichtsprozeß geführt wird. Sanktion bei verspäteter Meldung: § 140: Kürzung des Arbeitslosengeld gestaffelt nach der Höhe des Bemessungsentgelt zwischen 7 und 50 EUR für jeden Tag der verspäteten Meldung begrenzt auf eine Verspätung von 30 Tagen. 5. Die Höhe des Arbeitslosengeldes (§§ 129 ff.)

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Sie ist unabhängig von Vermögen und Einkünften (z.B. aus Vermietung, Zinsen u.s.w.) und richtet sich nach a) dem zuvor im letzten Jahr - zurückgerechnet vom letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses

(dem „Bemessungsrahmen“ - § 130 Abs. 1) - durchschnittlich auf den Tag entfallenden Arbeitsentgelt, das der Erhebung der Beiträge zugrunde lag ("Bemessungsentgelt", § 131);

b) der Steuerklasse (Faustregel: je ungünstiger die Steuerklasse, desto niedriger das Alg; die günstigste ist Klas-se III, d.i. für Alg: Leistungsgruppe C § 133 Abs. 1 Nr. 2 u. 3, Abs. 2, Abs. 3);

c) dem Vorhandensein unterhaltsberechtigter Kinder. Die Grundlage für die Höhe des Alg ist das Bemessungsentgelt, das ist im Prinzip dasjenige Entgelt, das vor Eintritt der Arbeitslosigkeit verdient wurde. Um Schwankung des Arbeitsentgelts auszugleichen (wie sie bei Arbei-tern - Bezahlung nach Stunden, kein Festgehalt - häufig vorkommen), wird der Berechnung ein möglichst langer (1-Jahres)Zeitraum - der Bemessungszeitraum - zugrundegelegt. Es werden sog. „Entgeltabrechungszeiträume“ herangezogen, dass sind die realen Zahlungsperioden des zugrundliegenden Arbeitsverhältnisses. Die Arbeits-entgelte, die in dem Bemessungsrahmen liegen, werden addiert und durch die Zahl der Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt (regelmäßig die Werktage Montag bis Freitag und die bezahlten Feier- und Urlaubstage) dividiert. Fehlt es in diesem letzten Jahr an einer durchgängigen Beschäftigung, dann reichen auch 150 Tage mit An-spruch auf Arbeitsentgelt (d.s. 30 Wochen) aus. Finden sich auch solche 150 Tage nicht, dann wird zunächst der Bemessungsrahmen auf zwei Jahre erweitert. Fehlt es noch immer an diesen 150 Tagen (wie es vorkommen kann, wenn die Anwartschaftszeit im wesentlichen oder allein durch ein sonstiges Versicherungspflichtverhältnis gem. § 26 - z.B. Bezug von Krankengeld - erfüllt wurde), dann kommt die sog. „fiktive Bemessung“ nach §132 zum Tragen, die sich nach Bruchteilen der Bezugsgröße gem. § 18 SGB IV richtet (und im allgemeinen wesent-lich geringer ist als etwa ein zuvor bezogenes tarifliches Arbeitsentgelt). Finden sich bei der Rückrechnung z.B. 200 Arbeitstage, dann wird das in diesen 200 Tagen verdiente Gesamt-Entgelt durch 200 geteilt, um das maßgebende Bemessungsentgelt nach § 131 zu erhalten, so daß es für die Höhe des Alg gleichgültig ist, ob 20.000 € verdientes Arbeitsentgelt durch 200 oder 15.000 € durch 150 geteilt werden, in beiden Fällen ergibt sich eine Bemessungsentgelt von 100 €. Die Höhe des Alg beträgt 60 % des letzten Nettoarbeitsentgelts, wenn kein Kind zu berücksichtigen ist, sonst 67 % (§ 129). Die Berechnung erfolgt nach pauschalierten Abzügen gemäß den Leistungstabellen. Unmittelbare Berechungsgrundlage ist das „Leistungsentgelt“ (§ 136). Dabei handelt es sich um ein - unabhängig von den Besonderheiten des Einzelfalls - pauschaliertes Netto-Arbeitsentgelt. Da die Sozialversicherungsbeiträge prozen-tual für alle Versicherten weitestgehend identisch sind, ergeben sich die eigentlichen Unterschiede durch die jeweiligen Steuerklassen. Deshalb ist - bei gleichem Bruttoentgelt - das Alg bei Steuerklasse III an höchsten (Beispiel 2004 € mtl.: Alg bei Leistungsgruppe C (Steuerklasse III [verh. höheres Einkommen]: 237,30 €; und bei Leistungsgruppe E (St.-Klasse V [verh. geringeres Einkommen] mit 139,09 € am niedrigsten (rd. 40% weniger). Der naheliegende Versuch, die Steuerklasse zu wechseln, ist nur unter den einschränkenden Bedingungen von § 133 Abs. 3 erfolgreich. 6. Das Ruhen von Leistungen (§§ 142 - 146) Bedeutung: - Vermeidung von Doppelleistungen mit gleicher Zielsetzung (2 Entgeltersatzleistungen aus unterschiedlichen aber gleichzeitig erfüllten Anspruchsvoraussetzungen, z.B. Alg und Krankengeld oder Alg bei fortbestehendem Arbeitsentgeltanspruch);

- Sanktion für Verhalten, das die Leistung herbeiführt oder die Leistungsdauer verlängert (Herbeiführen der Ar-beitslosigkeit, Versäumen einer Meldepflicht);

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- Vermeidung der Entlastung von Streikkassen bei Arbeitskämpfen (sog. „Neutralitätspflicht“ der Bundesanstalt). Systematisch bedeutet „Ruhen“ das Bestehen eines Anspruchs dem Grunde nach (d.h.: es sind alle gesetzli-chen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt), aber wegen der Erfüllung weiterer Konkurrenz- oder Hinderungsnor-men kommt es nicht zur Realisierung des Anspruchs (d.h. konkret: die Zahlung der Leistung unterbleibt - in der Regel - vorübergehend).

a) Ruhen des Anspruchs bei Zuerkennung anderer Sozialleistungen (§ 142)

u.a. bei Krankengeld und Rente wegen voller Erwerbsminderung aber: § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V: Ruhen des Krankengeldes während des Bezugs von Alg; § 95 Abs. 4 Nr. 3

SGB VI: Anrechnung von Alg auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.

b) Ruhen des Anspruchs bei Arbeitsentgelt und Urlaubsabgeltung (§ 143)

Voraussetzung: Die Leistungen werden erhalten, aber es genügt auch, daß ein Anspruch darauf besteht. Dauer des Ruhens bei der Urlaubsabgeltung = Zahl der abzugeltenden Urlaubstage. Problem: Arbeitgeber zahlt nicht. Lösung: Abs. 3: Die Arbeitslosen erhalten Alg, der Anspruch auf Arbeitsent-gelt geht gem. § 115 SGB X in Höhe des gezahlten Alg auf das Arbeitsamt über. Hauptfall: Zahlung von Alg während eines (erfolgreichen) Kündigungsschutzprozesses.

c) Entlassungsentschädigung - EE - (§ 143a)

Voraussetzung: Es wird ohne Einhaltung der maßgebenden Kündigungsfrist oder trotz Unkündbarkeit gekün-digt. Wird in einem solchen Fall eine EE gezahlt, dann besteht die gesetzliche Vermutung, daß ein Teil der EE einen (verdeckten) Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält, der damit abgegolten werden soll. Kein Ruhen bei fristloser Kündigung, weil dann kein (weiteres) Arbeitsentgelt zu zahlen ist. Wird trotz bestehenden Anspruchs die EE tatsächlich nicht gezahlt, dann wird gem. Abs. 4 - so wie bei § 143a Abs. 3 - das Alg auch für die Ruhenszeit geleistet. Läßt sich jemand ohne wichtigen Grund auf eine Abkürzung der Kündigungsfrist ein, dann kann dies Anlaß für den Eintritt einer Sperrzeit sein. Wichtig: Im Unterschied zum Ruhen des Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen Eintritts einer Sperrzeit (s.u. d) wird hier die Anspruchsdauer nicht gemindert, d.h. insbesondere bei längerer Arbeitslosigkeit verschiebt sich lediglich der Leistungsrahmen um die Ruhensdauer.

d) Sperrzeit (§ 144) Sperrzeiten sind Zeiten, in denen Arbeitslose trotz der Erfüllung der Leistungs-Voraussetzungen kein Arbeitslo-sengeld erhalten, weil sie vorwerfbar diese Bedürfnislage selbst herbeigeführt haben, sei es, dass durch ihr Ver-halten die Arbeitslosigkeit überhaupt erst entstanden ist, sie aktuell weiter fortbesteht oder aber (bei angebotener Bildungsmaßnahme) sie nicht künftige Arbeitslosigkeit verhindern. Grundsatz: Gibt eine Beschäftigte ihren Arbeitsplatz auf und wird dadurch wenigsten grob fahrlässig ihre Ar-beitslosigkeit herbeigeführt (Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe), oder nimmt ein Arbeitsloser eine angebotene Ar-beit nicht an (Sperrzeit wegen Arbeitsablehnung) oder weigert sich wer, an einer beruflichen Weiterbildung o.ä teilzunehmen, oder bricht jemand die Teilnahme ab bzw. veranlaßt den Abbruch (Sperrzeit Ablehnung oder Ab-bruchs einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme), in allen diesen Fällen ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben, so tritt eine Sperrzeit ein. Die Dauer der Sperrzeit ist unterschiedlich. Bei Arbeitsaufgabe erhalten sie das Alg erst nach Ablauf von 12 Wochen gerechnet vom Tag der Arbeitslosigkeit an, in den übrigen Fällen nach sechs bzw. drei Wochen (s. die detaillierten Regelungen von Abs. 3 u. 4. Die Dauer der Sperrzeit bei Arbeitsab-

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lehnung verlängert sich schrittweise von drei Wochen nach der ersten, auf sechs Wochen nach der zweiten und um zwölf Wochen nach der dritten Ablehnung). Während dieser Zeit "ruht" der Anspruch auf Alg (vorausgesetzt, sie haben sich gemeldet und einen Antrag gestellt), d.h. der Anspruch besteht dem Grunde nach (im Prinzip), nur wird er 12 Wochen lang nicht realisiert. Weitere Folge: Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld verkürzt sich in bestimmen Fällen um die Sperrzeit, mindestens jedoch um ein Viertel der originären Anspruchsdauer gem. § 127 SGB III und nicht etwa bloß der Restdauer (§ 128 Abs. 1 Nr. 3) und wird auch nicht etwa bloß um 12 Wochen verschoben. Bei der Feststellung, was ein wichtiger Grund ist, kommt es auf eine Abwägung der Inte-ressen des einzelnen auf der einen und der Interessen der Allgemeinheit (der Beitragszahler) auf der anderen Seite an, die – wenigstens der Idee nach – das Beitragsaufkommen nicht an Unberechtigte ausgeben will. Wichtiger Grund - für die Aufgabe des Arbeitsplatzes z.B.: grobe Beleidigung durch den Chef, nicht nur belanglose Verletzung des Arbeitsvertrags durch den Arbeitgeber, Aufforderung zur Verletzung von Vorschriften (etwa bei Fernfahrern), gefährliche Mängel des Arbeitsschutzes; - für die Ablehnung eines Arbeitsangebotes z.B.: untertarifliche Bezahlung, Überforderung, mehr als drei Stun-den tägliches Pendeln erforderlich; fester Arbeitsvertrag mit Arbeitsbeginn in naher Zukunft u.a. kein wichtiger Grund - für die Aufgabe (den Verlust) des Arbeitsplatzes: generell, wenn der Arbeitnehmer Anlaß zur fristlosen Kündi-gung gegeben hat; ferner: Weigerung eine andere Aufgabe zu übernehmen, obgleich der Chef dazu weisungs-berechtigt war; bloß vage Aussicht auf eine bessere Stelle ohne feste vertragliche Vereinbarung; - für die Ablehnung eines Arbeitsangebots: geringerer (aber noch tarifgerechter) Lohn als zuvor; nicht optimale, aber doch ausreichende Verkehrsverbindung; Antipathie gegenüber einem künftigen Arbeitskollegen; Hoffnung, eine bessere Stelle zu finden u.s.w. Die auf den Verlust (die Aufgabe) des Arbeitsplatzes folgende Arbeitslosigkeit muß vorsätzlich oder grob fahr-lässig herbeigeführt worden sein. D.h. mit einer einfachsten Überlegung hätte man sich sagen können: wenn ich mich so verhalte, dann werde ich entlassen bzw. nicht eingestellt und dadurch arbeitslos werden bzw. weiterhin bleiben. Bei Ablehnung eines Arbeitsangebots müssen die Arbeitslosen auf die Folgen der Ablehnung (nämlich den Ein-tritt der Sperrzeit) von den Bediensteten des Arbeitsamts hingewiesen werden. Ist das unterblieben, dann tritt keine Sperrzeit ein. Lehnt jemand ein zweites Mal ein Angebot ab oder wird er ein zweites Mal ohne wichtigen Grund (durch eigenes Verschulden) arbeitslos, so erlischt der Anspruch auf Alg vollständig (§ 147 Abs. 1 Nr. 2). Auch auf diese Folge muß er zuvor hingewiesen worden sein ("Belehrung über die Rechtsfolgen"). Die Betref-fenden müssen erneut wenigstens 12 Monate lang beschäftigt gewesen sein, um einen neuen Anspruch zu er-langen. Verfassungsrechtliche Grenzen des Ruhens bei Arbeitsaufgabe oder Ablehnung einer angebotenen Be-schäftigung. „An sich“ ist das Erhalten einer Leistung für einen Versicherungsfall, den man selbst herbeigeführt hat, system-fremd (vergleichbar: Feuerversicherung zahlt, obgleich der Versicherungsnehmer das Haus selbst in Brand ge-setzt hat). Aus Art. 12 Abs. 1 GG - freie Wahl des Arbeitsplatzes - folgt aber das Recht, einen Arbeitsplatz auch willkürlich (freie Wahl!) aufgeben zu können, ohne seine Existenzgrundlage zu verlieren. Auf der anderen Seite muss das System „Arbeitslosenversicherung“ funktionsfähig, d.h. finanzierbar bleiben. Das setzt der Aus-übung des Wahlrechts (verfassungsimmanente Grenzen. Folgerung: Der Gesetzgeber darf die Aufgabe eines Arbeitsplatzes sanktionieren, doch darf der damit verbundene Nachteil nicht so groß sein, dass die Ausübung

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des Wahlrechts praktisch nicht möglich wird. Eine Sperrzeit für die Dauer von 12 Wochen wird diesen Anforde-rungen gerecht. Sie ist überschaubar und auch finanzierbar. e) Ruhen bei Arbeitskämpfen (§ 146) Zweck der Regelung: Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen. Wenn die Gewerkschaft ge-zielt einzelne wichtige Zulieferungsbetriebe bestreikt und dies zur Folge hat, daß ein anderes Unternehmen aus Materialmangel nicht weiterarbeiten kann und deshalb Entlassungen vornehmen oder Kurzarbeit einführen muß (zu Kurzarbeitergeld bei Streik s. die entsprechende Vorschrift § 174), soll dies zu Lasten der Streikkasse gehen. Problematisch, aber wohl zu bejahen ist die Verfügbarkeit einschließlich der Arbeitssuche während des Streiks als Voraussetzung für die Entstehung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld. Auch hier tritt keine Verkürzung der Anspruchsdauer ein. 7. Erlöschen des Anspruchs (§ 147) Zu unterscheiden sind drei Fallgestaltungen: a) Entstehung eines neuen Anspruchs nach Erfüllung der Grund-Anwartschaftszeit von 12 Monaten (§ 123 Abs.

1 Nr. 1). Der untergegangene Anspruch verlängert die Dauer des neuerworbenen (§ 127 Abs. 4); b) Bei Eintritt einer „zweiten Sperrzeit“ innerhalb desselben Alg-Anspruchs (mit einer Sperrzeitdauer von insge-

samt 21 Wochen), sofern zuvor in dem entsprechenden Bescheid (über die „erste Sperrzeit“) ausdrücklich auf diese Folge hingewiesen wurde;

c) Vier Jahre nach Ablauf seiner Entstehung kann der Anspruch „nicht mehr geltend“ gemacht werden, was auf ein Erlöschen hinausläuft. Aber: wird der Anspruchs vor Fristablauf geltend gemacht (z.B. durch Arbeitslos-meldung), dann bleibt er über diese Frist hinaus erhalten.

8. Teilarbeitslosengeld (§ 150) Diese Leistung ist mit dem SGB III neu eingeführt worden. Die wesentliche Besonderheit besteht darin, daß sie beansprucht werden kann von denen, die eine - neben einer anderen ausgeübten - versicherungspflichtige Teil-zeitbeschäftigung verloren haben. Die Rahmenfrist ist hier auf zwei Jahre verkürzt, die Anspruchsdauer ist auf 6 Monate begrenzt. Der Anspruch erlischt bei Aufnahme einer Tätigkeit von mehr als 5 Stunden wöchentlich und spätestens nach Ablauf eines Jahres nach seiner Entstehung. 9. Arbeitslosenhilfe (früher: §§ 190 bis 196)

Die Arbeitslosenhilfe (Alhi) war schon bisher systematisch keine Versicherungsleistung, sondern der Sozialhilfe zuzuordnen. Sie wurde dementsprechend nicht aus Versicherungsbeiträgen sondern durch einen Zuschuß des Bundes aus Steuermitteln finanziert. Die Besonderheit gegenüber der Sozialhilfe bestand darin, daß sich ihre Höhe nicht am Bedarf, sondern an dem zuvor erzielten Arbeitsentgelt orientiert. Mit 57% bzw. 50% des Leis-tungsentgelts war sie um 10% bzw. um 7% niedriger als das Alg. Im Unterschied zum Alg wurden Leistungen nur bei Bedürftigkeit gewährt (§§ 193,194) Im übrigen sind die Vorschriften über das Alg entsprechend anzuwen-den. Diese Reglungen sind durch das sog. „Alg“ ersetzt worden. Die für die Betroffenen besonders schwerwiegende Neuerung: Die Höhe des Alg II richtet sich nicht mehr am früheren Einkommen sondern nach sozialhilfeähnlichen „Bedarfssätzen.

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IX. SGB II: Grundsicherung für Arbeitsuchende (ab 1.1.2005) Vorbemerkung: Das Folgende dient zur Orientierung und ist nicht prüfungsrelevant. A. Ablösung der Arbeitslosenhilfe durch das Arbeitslosengeld II Ab 1.1.2005 ist die Alhi durch das Arbeitslosengeld II abgelöst worden, die Regelungen dazu finden sich in dem neu geschaffenen SGB II. Die Bezeichnung ist allerdings irreführend (um nicht zu sagen: täuschend). Denn wesentliche Grundzüge für das Alg – insbesondere die Einkommensunabhängigkeit – fehlen. Wie bei der Alhi wird - entsprechend dem Sozialhilfecharakter dieser Leistung - eine Bedürfnisprüfung durchgeführt. Von der Sozialhilfe unterscheiden sich die Leistungen nach dem SGB II dadurch, dass sie nur Erwerbsfähigen (§ 7 Abs. 1 Nr. 2, § 8) erbracht werden. (Daraus folgt, dass Sozialhilfe nach SGB XII für solche Personen vorgesehen ist, die sich das notwendig Existenzminimum auch nicht durch Erwerbstätigkeit beschaffen können). Kern der Regelung ist die Bildung sog. „Bedarfsgemeinschaften“, die u.U. Auch aus einer einzigen Person bestehen können (§ 7 Abs. 2, Abs. 3). Es wird - je Mitglied der Gemeinschaft - ein Bedarf nach § 20 (Regelleis-tung) von 345 EUR bzw (für nicht Erwerbsfähige) ein „Sozialgeld“ gem. § 28 (nach Alter abgestufte Regelleis-tung) ermittelt und aus der Summe der Gesamtbedarf festgestellt. Dem wird das Gesamteinkommen gegen-übergestellt (unter Berücksichtigung eines Freibetrages von je 100 EUR pro erwerbstätige Person). Das eigene Ersparte - Vermögen - muß bis zu einer Grenze aufgebraucht werden. Das gilt auch für die Perso-nen, die mit in der Bedarfsgemeinschaft wohnen, ohne selbst leistungsberechtigt zu sein (zB minderjährige Kin-der). Davon ausgenommen bleiben u.a. Sparverträger zur Riesterrente, selbst genutztes Wohneigentum und sonstiges Vermögen bis zu einer variablen Grenze (z.B. 8.000 € bei 40-Jährigen, 10.000 € bei 50-Jährigen). Die Leistung von bisher 57% bzw. 50% des maßgebenden Nettolohnes wird auf Sozialhilfeniveau gesenkt (Regel-satz: 345 € West, 331 € Ost, hinzu kommen Wohngeld und absinkende Zuschläge in den ersten beiden Jahren). Auch ein sog. „Mini-Job“ gilt als zumutbar, bei Weigerung wird das Alg II um 30% gekürzt (§ 31), maßgebend bleibt immerhin das ortsübliche Lohnniveau. Die Arbeitsvermittlung erfolgt über die Kommunen im Auftrag der Arbeitsagenturen. Die sozialpolitische Problematik der Regelungen der Regelungen besteht darin, das langjährig Beschäftigte ohne ihr Verschulden z.B. im Rahmen eines Stellenabbaus ihren Arbeitsplatz verlieren, die Anspruchsdauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld radikal gekürzt wurde und die davon betroffenen Personen - vom Eigenheim und bestimmten der Altersvorsorge dienenden Beträgen abgesehen - ihre Lebensersparnis aufbrauchen müssen und schließlich im Alter nicht wesentlich besser dastehen als zu Beginn ihrer Berufstätigkeit. Und auch von dem Eigenheim wissen sie, dass es nicht vererbbar ist, sondern dass die Erben davon alles was 15.500 EUR über-steigt, an den Leistungsträger herausgeben müssen (z.B. : mtl. Leistung an die Eltern mit Kosten für Unterkunft und Heizung 1000,00 EUR ergibt im Jahr 12.000 EUR und macht bereits nach fünf Jahren 60.000 EUR aus).

B. Aus der aktuellen Diskussion

Hartz IV - Was bedeutet das für die Arbeitslosen? Die Hartz-Gesetze sollen den Arbeitsmarkt flexibler machen, zu mehr Beschäftigung führen und überflüssige Verwaltungsstrukturen abschaffen. Ich AG, Minijob, PSA und Arbeitslosengeld II – neue Begriffe für eine bessere Zukunft? Ein Überblick. Über die Reformgesetze der rot-grünen Bundesregierung für den Arbeitsmarkt – die so genannten Hartz-Gesetze – hat es in der Vergangenheit schon viel Streit gegeben. Zu lasch, kritisierten Op-

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position und Arbeitgeber. So unsozial, Gewerkschaften und Arbeitslosenvertreter. Über keines der bisher in Kraft getretenen Gesetze ist allerdings so kontrovers debattiert worden, wie über das Hartz-IV-Gesetz. Und man sollte meinen, zu Recht. Denn keines der vorangegangenen Gesetze hat auch so gravierende Auswirkungen für den Arbeitsmarkt. Verändert Hartz-IV doch grundsätz-lich die Betreuung von Menschen in Deutschland, die zum Teil seit Jahren keinen Job mehr ha-ben. Denn das Gesetz regelt die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Ar-beitslosengeld II. Wie viel Geld erhalten Leistungsempfänger? Hartz IV regelt die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer gemeinsamen Leistung, dem Arbeitslosengeld II (ALG II). Dieses wird anders als die Arbeitslosenhilfe nicht mehr vom letzten Einkommen abhängig sein. Im März hat das Kabinett beschlossen, dass in Zu-kunft den ALG-II-Beziehern in den alten Bundesländern 345 Euro monatlich und im Osten 331 Euro monatlich gezahlt werden. Das sind im Westen im Schnitt 11,50 Euro am Tag, im Osten 50 Cent weniger. Familienmitglieder erhalten darüber hinaus ein Sozialgeld, das allerdings niedriger ist. Außerdem gibt es auch weiterhin das Wohngeld. All die Zuschüsse, für Kleidung, Einrich-tung, Urlaub und anderes, die es bisher gibt, fallen aber für die Pauschalen weg. Gewerkschaften und Sozialverbände befürchten nun, dass es eine ganze Reihe von Leistungsempfängern gibt, die ab Januar weniger Geld in der Tasche haben werden. Dafür wird es für einige Jahre Übergangs-gelder geben, gestaffelt nach dem Alter der Betroffenen. Außerdem wird es für einkom-menschwache Familien einen Kinderzuschlag geben und der Bund kommt für die Kranken-, Pfle-ge- und Rentenversicherungsbeiträge auf. Welche Arbeit dürfen Betroffene ablehnen und welche Sanktionen drohen? Ganz allgemein ist ab 2005 jede Arbeit zumutbar, auch ein Minijob. Allerdings darf die Entloh-nung nicht unter der ortsüblichen Entlohnung liegen, sittenwidrig bezahlte Arbeit kann ein Be-troffener ablehnen. Die Gewerkschaften bereiten sich allerdings schon auf Klagen vor, wenn Ar-beitslose von den Jobcentern auf Stellen vermittelt werden, die unter dem Tariflohn liegen, den der neue Arbeitgeber seinen anderen Angestellten bezahlt. Sie fordern ein Mindestlohngesetz. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, muss auch jetzt schon mit der Kürzung von Leistungen rechnen. Die Sanktionen berücksichtigen jedoch die familiären Verhältnisse der Arbeitslosen. Was verändert sich bei der Betreuung und Vermittlung? Die Jobcenter sollen personell besser ausgestattet werden, so dass sich ihre Arbeit nicht, wie es jetzt häufig vorkommt, auf die Verwaltung von Daten der Arbeitslosen beschränkt. Ziel ist, dass ein Betreuer im Jobcenter Verantwortung für 75 Arbeitslose trägt. Das soll dazu führen, dass ein engerer Kontakt hergestellt werden und der Bildungs- und Beschäftigungsplan individueller ges-taltet werden kann. Wer mehr Hilfe braucht, etwa, weil er ein Drogenproblem hat, der soll inten-siv betreut werden. Was ändert sich für Familien und Alleinerziehende ohne Kita-Plätze? Die Verknüpfung der Hartz-Gesetze mit der Verbesserung der Kinderbetreuung ist ein zentraler Teil der Reformen. Denn: Wer nicht weiß, wohin mit den Kleinen, der kann auch keinen Job an-nehmen. Deshalb sollen die Kommunen rund 1,5 Milliarden Euro jährlich in den Ausbau der Kinderbetreuung stecken. Müttern und Vätern, die sich im Jobcenter melden, soll im Idealfall erst einmal ein Betreuungsplatz vermittelt werden, damit sie Bildungs- und Beschäftigungsangebote überhaupt wahrnehmen können. Familienministerin Renate Schmidt (SPD) hat den Kommunen zugesagt, dass sie das Geld „auf jeden Fall“ erhalten werden. Doch die Kommunen sind da nicht so sicher. Sie bezweifeln, dass dieses Kalkül der Bundesregierung aufgehen wird. (Von Antje Sir-

leschtov, tso)

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Hartz IV Arbeitslose im freien Fall Von Achim Pollmeier Die letzte aller Hartz-Reformen ist für viele Betroffene auch die härteste: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II. Das neue Arbeitslosengeld II ist nämlich nicht mehr wie die Arbeitslosenhilfe an die Höhe des früheren Einkommens gekoppelt, sondern be-steht aus so genannten „pauschalierten Regelleistungen“, die sich etwa auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe bewegen. All jene, die bisher Anspruch auf eine relativ hohe Arbeitslosenhilfe haben, weil sie früher gut verdient haben, müssen sich daher auf eine drastische Kürzung ihrer Leistung einstellen. Anrechenbares Einkommen Zudem ist die Anrechnung von Partnereinkommen und Vermögen deutlich verschärft worden. Als Einkommen gelten dabei nahezu alle Einnahmen des Leistungsempfängers oder seines Partners. Ausgenommen davon sind nur einige wenige Leistungen wie Erziehungsgeld sowie Renten und Beihilfen bis zur Höhe einer Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz.

Vom anrechenbaren Einkommen abziehbar sind

⌧ die darauf entrichteten Steuern

⌧ die Beiträge zur Sozialversicherung

⌧ Versicherungsbeiträge

⌧ geförderte Beiträge für die Altersvorsorge (z.B. Riester-Rente)

⌧ alle mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben (Fahrt-kosten,

⌧ Werbungskosten)

⌧ ein spezieller Freibetrag für Erwerbstätige Vermögensanrechnung beachten Für viele Erwerbslose bedeutet dies, dass sie demnächst überhaupt keine Leistungen vom Ar-beitsamt mehr bekommen, bis sie ihr Vermögen bis zu den gesetzlich festgelegten Freigrenzen auf-gebraucht haben. Der Freibetrag für Vermögen liegt bei 200 Euro pro Lebensjahr – bis zu einer O-bergrenze von 13.000 Euro. Für Personen, die vor dem 1. Januar 1948 geboren sind, liegt dieser Freibetrag bei 520 Euro pro Lebensjahr – bis zu einer Obergrenze von 33.800 Euro. Unter diesen Freibetrag fällt alles Bar- und Anlagevermögen, also auch Lebensversicherungen, Bausparverträge und Fondsanlagen - mit Ausnahme bestimmter Altersvorsorge-Produkte (siehe unten). Hinzu kommt ein Freibetrag für notwendige Anschaffungen in Höhe von insgesamt 750 Euro für jeden in der „Bedarfsgemeinschaft“ (also in der Familie) lebenden Hilfebedürftigen. Wer also demnächst Arbeitslosengeld II bezieht und noch etwas auf der hohen Kante hat, sollte sich die Regeln für die Vermögensanrechnung ganz genau anschauen. Denn mit der richtigen Anlage und durchdachten Investitionen lässt sich das Geld sinnvoll verwenden, ohne es für den alltäglichen Bedarf verbrauchen zu müssen. Wohnung und Auto

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Ein selbst genutztes Haus oder eine selbst genutzte Wohnung werden nicht als Vermögen berück-sichtigt, solange sie eine angemessene Größe haben. Bei einer vierköpfigen Familie gilt zum Bei-spiel eine Wohnung von bis zu 120 Quadratmetern als angemessen, ein Haus darf bis zu 130 Quad-ratmeter groß sein. Zudem darf jeder erwerbsfähige Hilfebedürftige ein angemessenes Auto besitzen – wenn er es mit dem Arbeitslosengeld II noch finanzieren kann. Altersvorsorge Neu ist ein zweiter Freibetrag von 200 Euro pro Lebensjahr (max. 13.000 Euro) für die Altersvor-sorge – womit jedoch etwas anderes gemeint ist, als eine beliebige Rücklage für die späten Jahre. Einen Sonderstatus haben alle Anlagen für die Altersvorsorge, die nach Bundesrecht gefördert wer-den. Dies sind bisher Riester-Renten sowie Betriebsrenten, im kommenden Jahr kommt noch die so genannte Rürup-Rente hinzu. Für diese Vermögen gilt die genannte Freigrenze nicht – gleichwohl werden sie auf den Freibetrag angerechnet. Wenn also zum Beispiel das „Riester-Vermögen“ den Freibetrag überschreitet, muss man es zwar nicht auflösen, darf daneben aber keine andere Alters-vorsorge behalten. Streitig ist die Rechtslage dagegen noch bei Renten- und Lebensversicherungen. Nach dem Gesetz darf eine private Altersvorsorge nur dann auf den zweiten Freibetrag angerechnet werden, „soweit der Inhaber sie vor dem Eintritt in den Ruhestand auf Grund einer vertraglichen Vereinbarung nicht verwerten kann“ (SGB II, §12, Abs. 3). Einige Experten wie auch die Gewerkschaften fürchten, dass somit überhaupt keine der gängigen privaten Rentenversicherungen oder Lebensversicherungen unter diesen Freibetrag fallen, da diese kündbar sind und somit auch vor Eintritt in den Ruhestand verwertet werden können. Sowohl das Bundeswirtschaftsministerium wie auch die Bundesagentur für Arbeit haben gegenüber [plusminus jedoch versichert, dass diese Anlagen bis zur Freigrenze geschützt sind, sofern sie laut Vertrag im Ruhestand zur Auszahlung kommen. Anreiz zu Konsum statt Vorsorge? Viele Verbände und Experten kritisieren diese Kriterien für die Vermögensanrechnung als zu rigide und die Freigrenzen als zu niedrig. „Man kann nicht auf der einen Seite Appelle absondern, die Leu-te sollten fürs Alter vorsorgen und ihnen diese Vorsorge dann später wieder wegnehmen“, so Tho-mas Dambier von der Zeitschrift FINANZtest gegenüber [plusminus. Viele Leute, denen jetzt die private Vorsorge genommen werde, würden dann später zu kostspieligen Sozialfällen, weil sie von der gesetzlichen Rente nicht leben könnten. Der Eindruck, Vorsorge lohne sich nicht, sei ein ver-heerendes Signal an die jüngere Generation, so der Experte, der gleichwohl eine Investition in die geschützten Anlageformen wie die Riester-Rente oder eine Betriebsrente empfiehlt. Tipps: Vermögen anrechnungsfrei investieren Wer arbeitslos ist oder von Arbeitslosigkeit bedroht und wegen der Vermögensanrechnung fürchten muss, demnächst keine Leistungen zu beziehen, der sollte sein Vermögen frühzeitig so anlegen, dass er möglichst viel davon behalten kann und es für den alltäglichen Bedarf aufbrauchen muss. Dazu hier die wichtigsten Tipps:

⌧ Auto kaufen Verkaufen Sie ihren alten Spritschlucker und kaufen Sie sich einen angemessenen Neuwa-gen, denn der ist vor der Vermögensanrechnung sicher. So haben Sie später weniger Repara-tur- und Unterhaltskosten und außerdem einen Sachwert, den ihnen keiner nehmen kann.

⌧ Altersvorsorge abschließen Nutzen Sie den zweiten Freibetrag für die Altersvorsorge, zum Beispiel indem Sie Barvermögen oberhalb der Freigrenze in einer Rentenversicherung anlegen. Wichtig: Die Auszahlung der

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Versicherung darf laut Vertrag erst im Ruhestand erfolgen, ansonsten zählt sie bei der Vermö-gensanrechnung nicht als Altersvorsorge.

⌧ In Arbeitsmarktchancen investieren Kaufen Sie sich alles, was ihre Chance verbessert, einen neuen Job zu finden, zum Beispiel Anzüge oder Kleider fürs Bewerbungsgespräch, Literatur oder einen Computer. Doch Vor-sicht: Auch diese Investitionen müssen angemessen sein. Wer noch schnell eine Kreuzfahrt macht oder ansonsten unwirtschaftlich sein Geld verschleudert, dem drohen später Sanktionen und Abzüge seitens des Arbeitsamtes.

⌧ Anlagen beleihen Wenn ihr Vermögen oberhalb der Freigrenze liegt und sie sonst gezwungen wären, zum Bei-spiel ihre Lebensversicherung oder ihren Bausparvertrag aufzulösen, dann sollten Sie zunächst versuchen, diese Anlagen zur Absicherung laufender Kredite zu beleihen. So können Sie zum Beispiel den Rückkaufwert ihrer Lebensversicherung für das Baudarlehen beleihen, anstatt sie mit Verlust aufzulösen.

⌧ Auf Verlustgrenzen pochen Mehrere Sozialgerichtsurteile haben in jüngster Zeit bestätigt, dass eine Auflösung bzw. ein Rückkauf bestehender Lebensversicherungen zumutbar ist, ehe man Anspruch auf Arbeitslo-senhilfe (später Arbeitslosengeld II) hat. Doch es gibt Grenzen: Je jünger der Vertrag, desto größer ist nämlich in der Regel der Verlust beim Rückkauf - das heißt: Man bekommt weniger heraus, als man eingezahlt hat. Verschiedene Sozialgerichtsurteile besagen: Ein Verlust von mehr als zehn Prozent ist unwirtschaftlich und daher unzumutbar.

⌧ Wohneigentum kaufen Auf dem Arbeitsmarkt wird Mobilität groß geschrieben, im Hartz IV–Gesetz dagegen nicht. Wer aus beruflichen Gründen aus seinem Wohneigentum auszieht, um einen Job in einer ande-ren Stadt anzufangen, der hat Pech: Anrechnungsfrei ist nur angemessenes Wohneigentum, das selbst genutzt wird. Wer also arbeitslos wird und noch Wohneigentum in einer anderen Stadt hat, sollte sich früh überlegen, dies zu verkaufen und dafür am Wohnort eine Immobilie zur Selbstnutzung zu erstehen. Damit sollte man nicht zu lange warten, denn bis der Verkauf und der Neukauf über die Bühne sind, kann viel Zeit vergehen. Das gleiche gilt für Kapitalanlagen. Lieber frühzeitig umschichten und Wohneigentum erwerben, als sie später für den Lebensunter-halt verbrauchen zu müssen.

⌧ Selbständig machen Wer sich als Arbeitsloser selbständig macht, bekommt Unterstützung vom Arbeitsamt – zum Beispiel in Form von Zuschüssen zu einer Ich-AG oder als Überbrückungsgeld. Das Überbrü-ckungsgeld sollte man unbedingt noch beantragen, so lange man noch Arbeitslosengeld bezieht – dann ist es nämlich deutlich höher. Beide Zahlungen bekommt man auch noch, wenn der An-spruch auf Arbeitslosengeld schon ausgelaufen wäre. Zudem sind sie von der Vermögensan-

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rechnung nicht betroffen. Wer also ohnehin überlegt, sich selbständig zu machen, sollte sich das Timing gut überlegen.

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X. Die soziale Pflegeversicherung - SGB XI Vorbemerkung: Nicht Prüfungsrelevant!

A. Prinzipien und Merkmale der Pflegeversicherung 1. Einrichtung eines neuen Zweiges als "fünfte Säule" der Sozialversicherung. Sie greift aber über das bisherige

System hinaus, weil praktisch die gesamte (gesetzlich oder privat krankenversicherte) Bevölkerung erfaßt ist. 2. Trotz formaler Selbständigkeit der neu eingeführten "Pflegekassen" liegt die Versicherung voll in der Hand der

Krankenkassen, die auch Organisation und Organe stellen. 3. Es wird kein neues Dienstleistungssystem aufgebaut, sondern es werden privatwirtschaftliche Leistungserb-

ringer herangezogen. Die Dienstleistungen der häuslichen Pflege werden voraussichtlich in hohem Maße von Angehörigen (gegen Zahlung von Pflegegeld) übernommen werden.

4. Freigemeinnützige und private Träger haben Vorrang gegenüber öffentlichen Trägern. 5. Das Gesetz tritt stufenweise in Kraft, die stationäre Pflege wird erst ab 1.7.1996 ein- geführt (gekoppelt mit

einer Beitragserhöhung). 6. Eine Schlüsselstellung kommt der Medizinischen Dienst der Krankenkassen zu, von dem das Vorliegen der

Pflegebedürftigkeit (als Voraussetzung für den Leistungsanspruch) bestätigt werden muß. 7. Für Streitigkeiten ist die Sozialgerichtsbarkeit zuständig. B. Die Grundsätze der Pflegeversicherung (§§ 1-13) 1. Im Vordergrund steht die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen. Sie können zwischen Einrichtungen und

Diensten verschiedener Träger wählen. 2. Vorrang haben die häusliche Pflege durch Angehörige und Nachbarn, die Prävention und Rehabilitation sowie

der Eigenverantwortung. 3. Die Länder sind verantwortlich für die Schaffung einer ausreichenden Versorgungsstruktur C. Leistungsberechtigter Personenkreis (§§ 14-19) 1. Leistungsberechtigt sind die pflegebedürftigen Personen; das sind diejenigen, die wegen einer körperlichen,

geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich aber für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen.

2. Es wird zwischen den drei Stufen I - III der erheblich Pflegebedürftigen, den Schwerpflegebedürftigen und den Schwerstpflegebedürftigen unterschieden.

3. Ob und in welchem Umfang Pflegebedürftigkeit besteht, wird durch den Medizinischen Dienst der Krankenver-sicherung festgestellt.

D. Versicherungspflichtiger Personenkreis (§§ 20-27) 1. Der Kreis der Versicherungspflichtigen stimmt weitgehenden mit dem des Krankenversicherungsrechts über-

ein; dies gilt auch für die Familienversicherung. 2. Personen, die privat krankenversichert sind sowie beihilfeberechtigte Beamtete sind verpflichtet, bei dem Ver-

sicherungsunternehmen eine private Pflegeversicherung abzuschließen. 3. Möglichkeit der Weiterversicherung nach Ausscheiden aus der Versicherungspflicht.

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E. Leistungen der Pflegeversicherung (§§ 28-45) 1. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind Dienst-, Sach- und Geldleistungen sowie Kostenerstattung (§ 4). 2. Es sind insgesamt 10 Leistungen vorgesehen, die sich in häusliche Pflegeleistungen, teil- und vollstationäre

Pflegeleistungen, Pflegehilfsmittel und Leistungen für Pflegepersonen unterscheiden lassen. 3. Auch in der Pflegeversicherung gilt das Sachleistungsprinzip als "Grundpflege" und hauswirtschaftliche Ver-

sorgung, die - je nach den Pflegestufen -in einem monatlichen Gesamtwert von 384 EUR, 921 EUR und 1432 EUR erbracht werden.

4. Die Pflegebedürftigen können anstelle der häuslichen Pflege das Pflegegeld (Pflg) wählen, das - abgestuft - 205 EUR, 410 EUR und 665 EUR ausmacht. Mit diesem Geld müssen Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung sichergestellt werden.

F. Organisation (§§ 46-53) 1. Träger der Pflegeversicherung sind die Pflegekassen als rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts

mit Selbstverwaltung. Sie werden bei den Krankenkassen errichtet, deren Organe zugleich diejenigen der Pflegekassen sind.

2. Die Mitgliedschaft bei der Pflegekasse erfolgt nach dem gleichen Regeln, die für die Krankenkassen gelten, sie beginnt insbesondere für Arbeitnehmer mit Aufnahme der Beschäftigung.

G. Finanzierung (§ 54-68) 1. Nominell wird das bisherige Finanzierungsprinzip der Sozialversicherung beibehalten: Die Versicherten und

ihre Arbeitgeber tragen die nach dem Arbeitsentgelt zu bemessenden Beiträge je zur Hälfte (§ 58 Abs 1 ). Durch die weitere Regelung jedoch, daß zum Ausgleich der mit den Arbeitgeberbeiträgen verbundenen Be-lastungen der Wirtschaft die Länder einen gesetzlichen landesweiten Feiertag, der stets auf einen Werktag fällt, aufheben (Abs 2), erweist sich, daß die Pflegeversicherung tatsächlich allein von den Versicherten finan-ziert wird. Dies ist auch für den Fall ausdrücklich geregelt (Abs 3), daß in einem Land (wie in Sachsen) die Zahl der Feiertage nicht vermindert wird. Die Arbeitnehmer zahlen dann "offiziell" den vollen Beitragssatz.

2. Der volle Beitragssatz beträgt 1,7% der beitrags- pflichtigen Einnahmen nach § 57, d.s. im wesentlichen Ar-beitsentgelt, Krankengeld und Arbeitslosengeld. Familienangehörige sind beitragsfrei. Es gilt die Beitrags-bemessungsgrenze der Rentenversicherung. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001 sind die Regelungen über die Beitragshöhe jedoch z.T. verfassungswidrig, weil Kindererziehungszeiten nicht ausreichend berücksichtigt werden.

3. Freiwillig oder privat Versicherte erhalten wie in der Krankenversicherung einen Beitragszuschuß vom Arbeit-geber (§ 61 ).

H. Beziehungen der Pflegekassen zu den Leistungserbringern (§§ 69-81) 1. Die Pflegeleistungen werden durch Pflegeeinrichtungen erbracht, die ihre Leistungen unter marktwirtschaftli-

chen Wettbewerbsbedingungen anbieten. Bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen haben sie An-spruch auf Abschluß eines "Versorgungsvertrages" mit den Pflegekassen.

2. Pflegeeinrichtungen sind selbständig wirtschaftende Einheiten der ambulanten und stationären Versorgung. Nur über solche darf die Pflegekasse Leistungen erbringen. Sie werden einer Wirtschaftlichkeits- und Wirk-samkeitsprüfung unterworfen.

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3. Bei allen Verträgen gilt der Grundsatz der Wahrung der Beitragssatzstabilität I. Pflegevergütung (§§ 82-92) 1. Die zugelassenen Pflegeheime und Pflegedienste erhalten eine leistungsgerechte Pflegevergütung, die von

den Pflegebedürftigen oder deren Kostenträgern zu tragen ist. Für Unterkunft und Verpflegung bei stationärer Pflege hat der Pflegebedürftige selbst aufzukommen (§ 82 Abs. 1 ).

2. Für voll- oder teilstationäre Pflegeleistungen eines Pflegeheims werden leistungsgerechte Pflegesatzvereinba-rungen zwischen Heim und Pflegekasse, sonstigem Sozialversicherungsträger oder einem Träger der Sozial-hilfe geschlossen.

3. Die Vergütung der ambulanten Pflegeleistungen wird zwischen der Pflegekasse und dem Träger der Pflege-dienstes vereinbart; ihre Höhe muß es diesem möglich machen, bei wirtschaftlicher Betriebsführung seinen Versorgungsauftrag zu erfüllen. Die Sätze richten sich nach einer zu erlassenden Gebührenordnung.

J. Private Pflegeversicherung (§§ 110-111) 1. Für die privaten Krankenversicherungsunternehmen besteht Kontrahierungszwang zum Abschluß eines Pfle-

geversicherungsvertrages. 2. Weder Vorerkrankungen noch bereits bestehende Pflegebedürftigkeit dürfen ausgeschlossen werden. Die

Prämie darf nicht nach Geschlecht Gesundheitszustand gestaffelt sein, Kinder müssen beitragsfrei mitversi-chert werden.

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X. Allgemeine Hinweise zur Klausurbearbeitung Ein allgemeines "Lösungsschema" läßt sich nicht geben, ist aber auch nicht erforderlich. Für die Prüfung im So-zialrecht kommt es nicht darauf an, einen juristischen Fall formgerecht zu lösen. Die BearbeiterInnen sollen viel-mehr zeigen, daß sie sich die Grundzüge des Sozialrechts und der einzelnen in der Vorlesung vorgetragenen Rechtsgebiete zueigen gemacht haben. Die zweckmäßige Vorgehensweise richtet sich nach der jeweiligen Fra-gestellung. Zur Vorbereitung auf die Klausur empfiehlt es sich, sich mit dem Gesetzesaufbau vertraut zu machen und jeden-falls diejenigen Bestimmungen (Paragraphen) unmittelbar im Gesetzestext zu lesen, die auch im Skriptum ge-nannt sind. Auf diese Weise läßt sich die Zeit abkürzen, während der man bei der Klausur nach den einschlägi-gen Normen sucht. Auswendiglernen der Paragraphen ist nicht erforderlich, bei der Klausurbearbeitung soll man sich - soweit erforderlich - an den Gesetzestext halten. Soweit die Aufgabe eine Fallschilderung enthält, empfiehlt sich folgendes Vorgehen: 1. Besonders wichtig ist das genaue Lesen des Aufgabentextes unter dem Gesichtspunkt der Fragestellung. Sind in der Aufgabe Alter, Daten oder Zeiträume genannt (z.B.: " ... war seit fünf Jahren abhängig beschäftigt"), dann kann man daraus den Hinweis entnehmen, daß es für die Leistungsberechtigung auf einen zeitliche Kom-ponente ankommt. Zwar soll in einer Klausur auch Unwesentliches von Wesentlichem abgesondert werden kön-nen, doch das meiste hat doch Bezug zur Fragestellung. 2. Sachverhalt nach einzelnen Personen gliedern und prüfen, welche Leistungen - falls danach gefragt ist - für die einzelnen in Betracht kommen. Heißt es: "Welche Leistungen kann X verlangen?" oder: "... stehen X zu?", oder " ... kommen für X in Betracht?", so soll alles abgehandelt werden, was an sich als gesetzliche Leistung vorgesehen ist, unabhängig davon, ob X diese Leistung dann tatsächlich erhalten kann. In der Klausurbearbei-tung soll gerade auch darauf eingegangen werden, warum bei dieser Fallkonstellation eine sonst mögliche Leis-tung nicht zu gewähren ist. Auf jeden Fall muß in der Bearbeitung klar herausgestellt werden, welche Leistung aus welchem Grund zusteht und welche nicht. Dazu gehört als erstes die Feststellung, ob die betreffende Person überhaupt zum versicherten Personenkreis gehört (z.B. eine Arbeitslose macht Anspruch auf Heilbe-handlung geltend: Versicherungspflicht gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB V: versicherungspflichtig sind Personen in der Zeit, für die sie Arbeitslosengeld beziehen; jemand erleidet als Blutspender einen Unfall: versichert sind Perso-nen, die Blut spenden gem. § 2 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. b SGB VII). 3. Gliederung der möglichen Leistungen nach Sachgebieten (also Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, dazu Leistungen der Arbeitsförderung, eventuell auch allgemeine Rechte und Pflichten nach dem SGB I oder SGB X). 4. Als wichtigster Schritt: Notieren derjenigen Paragraphen, in denen die Leistungsvoraussetzungen genannt sind und prüfen, ob nach dem geschilderten Sachverhalt für die genannte(n) Person(en) diese Voraussetzungen erfüllt sind. Enthält eine gesetzliche Bestimmung mehrere Voraussetzungen (z.B. § 118 SGB III), so müssen alle Voraussetzungen erfüllt sein. Die Bearbeitung soll zeigen, daß alle diese Voraussetzungen geprüft wurden. Liegt die Erfüllung auf der Hand, so genügt eine kurze Bemerkung dazu, ist es problematisch, dann soll gesagt wer-den, worin das Problem besteht, und wie es zu lösen ist. Ist bereits eine der erforderlichen Voraussetzungen klar und eindeutig nicht erfüllt, dann braucht auf die übrigen an sich nicht mehr eingegangen zu werden (denn dann kann die Leistung ja nicht gewährt werden). Ist es aber doch nicht so klar, dann sollte man zur Vorsicht doch noch auf die übrigen eingehen. Auch wenn der Aufgabensteller eine andere Lösung für richtig hält, könnten die übrigen Ausführungen dann noch positiv gewertet werden.

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5. Prüfen, ob die Leistung an eine Person davon abhängt, ob eine andere Person leistungsberechtigt ist (z.B. in der Krankenversicherung die Familienversicherung) 6. Prüfen, ob zu einer Norm, nach der "an sich" die Leistungsberechtigung gegeben wäre, eine "Gegennorm" besteht, nach der die Leistung doch zu versagen ist (z.B.: "an sich" Anspruch auf Alg gegeben, aber: Eintritt ei-ner Sperrzeit, oder: "an sich" Anspruch auf Krankengeld gegeben, weil arbeitsunfähig krank, aber: Blockfrist be-reits abgelaufen oder Eintritt der Erkrankung erst nach Ende der Mitgliedschaft). 7. Soweit die Klausur noch allgemeine Fragen enthält, so schreibt man am besten - im Rahmen der (noch) vorhandenen Zeit, soviel, wie einem dazu einfällt. Die Reihenfolge der Bearbeitung der Aufgaben ist beliebig, es ist durchaus zulässig, Schwerpunkte zu setzen, das ist bei der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit oft gar nicht anders möglich. Allerdings sollte man in diesem Zusammenhang vermeiden, Gesetzestexte abzuschrei-ben. Der Schwerpunkt sollte bei der Darstellung von Sinn und Zweck von bestimmten Regelungen und Begriffen liegen. Wird ein Fall geschildert, so ist er auf jeden Fall zu bearbeiten.

Stand: 14.7.2008