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Studien zur Geschichte des Völkerrechts Begründet von Michael Stelleis Herausgegeben von Wolfgang GrafVitzthum Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen Barde Fassbender Universität der Bundeswehr München Institut für Öffentliches Recht und Völkerrecht MilosVec Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main Band 24 Serge Dauchy/Milos Vec (Hrsg.) Les conflits entre peuples De la resolution libre ä la resolution imposee 0 Nomos

Milos Vec, Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? Beobachtungen und Fragen zu den Strukturen völkerrechtlicher Konfliktaustragung

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Studien zur Geschichte des Völkerrechts

Begründet von Michael Stelleis

Herausgegeben von

Wolfgang GrafVitzthum Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen

Barde Fassbender Universität der Bundeswehr München Institut für Öffentliches Recht und Völkerrecht

MilosVec Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main

Band 24

Serge Dauchy/Milos Vec (Hrsg.)

Les conflits entre peuples

De la resolution libre ä la resolution imposee

0 Nomos

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2011© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011. Printed in Germany. Alle Rechte,auch die des Nachdrucks von Auszügen, der photomechanischen Wiedergabe undder Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Table des matieres / Inhalt

Serge Dauchy

Avant-propos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Milos Vec Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahr­hundert? Beobachtungen und Fragen zu den Strukturenvölkerrecht-licher Konfliktaustragung ............................ .

Martin Kintzinger Rex superior. Die Internationalität der Hofkultur und die Regionalität ihrer Konfliktlösung im westeuropäischen Spätmittelalter ....... .

Jean-Paul Durand

Contribution du droit canonique de l'Eglise catholique romaine dans la resolution des conflits entre peuples. Procedures et etudes de cas

Karl-Heinz Lingens

Der Jay-Vertrag (1794) als Geburtsstunde der modernen internatio­nalen Schiedsgerichtsbarkeit? Zur Entstehung eines undifferenzierten

23

51

Geschichtsbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Sebastian Kneisel ,,par amour" oder „par droit "? Die Verrechtlichung der zwischen-staatlichen Konfliktlösung im 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . 83

Luigi Nuzzo Das Nationalitätsprinzip: der italienische Weg zum Völkerrecht. . . . 93

Jean-Jacques Becker Le sentiment national dans l 'eclatement de la guerre de 1914 123

Annie Deperchin Sortir de la Grande Guerre : Le droit des peuples et la construction de la paix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Clement Millon La definition des droits de la puissance occupante par la Commission allemande d'armistice de Wiesbaden, 1940-1942 . . . . . . . . . . . . . 145

VI Table des matieres /Inhalt

Helene Tigroudja

La competence de guerre des Etats ...............

Mathias Forteau

Le röle de la Cour internationale de Justice dans la resolution des

conflits entre peuples : de la justice a la reconciliation .

Michael Stolleis

Resümee .......... .

159

173

193

Milos Vec

Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? Beobachtungen und Fragen zu den Strukturen

völkerrechtlicher Konfliktaustragung

Dieser Band beschäftigt sich mit Konflikten und Konfliktlösungen, materiell begrenzt auf internationale Beziehungen - ,,entre peuples" wie es im Titel heißt -geografisch aber prinzipiell entgrenzt. Dies wirft Fragen nach den Begrifflich­keiten und den Strukturen der Konflikte und Konfliktlösungen im zwischen­staatlichen Bereich auf.

I. Conflits „entre peuples"?

Die Terminologie, die von Konflikten „entre peuples" spricht, scheint einerseits Missverständnisse zu provozieren, denn gemeint sind eigentlich nicht die „Völker" als Rechtssubjekte der Streitigkeiten, sondern die Staaten. Andererseits dupliziert die Begrifflichkeit gerade den deutschen Sprachgebrauch, wo dieses Rechtsgebiet teilweise in der Vormoderne zunächst auf Deutsch als „Recht der Völker" firmierte 1 und nach wie vor „Völkerrecht" heißt. Das ist sachlich in­soweit nachvollziehbar, als (noch) um 1800 seitens der Völkerrechtswissenschaft ,,Staat" und „Volk" teilweise gleichgesetzt wurden. 2 Später verlor diese Termi­nologie aber mit zunehmenden Entwicklungen in der völkerrechtlichen Doktrin des 19. Jahrhunderts ihre Grundlage und wurde juristisch dementsprechend von

1 HERMANN FRIEDRICH KAHREL, Europäisches Staats= und Völcker=Recht/Worinn nicht allein das Staats=Recht von Teutschland, sondern auch die Staats= Verfassung der übrigen vor­nehmsten Reiche und Republicken von Europa, sowol was ihre Regierungs=Form, Grund=Ge­setze, ihr Staats=lnteresse und dergleichen, als auch was ihre Verbindlichkeiten und Rechte, welche aus dem nothwendigen nicht nur, sondern auch aus dem Gewohnheits=Völcker=Rechte, hauptsächlich aber aus den Bündnissen und Friedens=Schlüssen entspringen, betrifft, in gründli­cher Kürtze abgehandelt werden, Nebst einem kleinen Entwurffe einer Practischen Staats=Wissen­schaji von Europa, Herborn 1750, S. 1: ,,Recht der Völcker".

2 ANONYM, Wa,; nennet man ein Volk?, in: Archiv fiir das natürliche und positive Völkerrecht, angelegt von JOHANN THEODOR RoTH, Erstes Heft (mehr nicht erschienen), Nürnberg und Altdorf 1794, s. 1-12 (S. !); JOHANN LUDWIG KLÜBER, Europäisches Völkerrecht, Stuttgart 1821 , § 1 (S. !). - Zu den sehr komplexen neuzeitlichen Semantiken siehe im Einzelnen: BERND ScHöNE­MANN, Art. ,,Volk, Nation" (VI-XII), in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von ÜTTO BRUNNER, WERNER CoNZE und REIN­HART KOSELLECK, Bd. VII, Stuttgart 1992, S. 281-380.

2 Milos Vec

den Zeitgenossen angegriffen, ,,da nicht die Völker und Nationen als solche, sondern als Staaten in allgemeine Rechtsverhältnisse treten". 3

Tatsächlich geriet der Ausdruck „Völkerrecht" im Verlauf des 19. Jahrhun­derts zunehmend ins Visier der Kritik und erfuhr teilweise Ablehnung seitens der Protagonisten der Völkerrechtslehre. Manche sprachen sich für einen bewussten Wandel des Sprachgebrauchs aus. Das stand auch unter dem Eindruck von Jeremy Benthams terminologischer Innovation des „international law" anstelle des tradierten „law of nations", welches dieses Rechtsgebiet begrifflich in der Vormoderne bezeichnet hatte, zumeist in sichtbarer Nähe zum Naturrecht. 4 Der Südamerikaner Andres Bello, der Bentham während seiner Londoner Zeit (1810-1829) begegnet war, publiziert 1832 in Santiago de Chile sein Völker­rechtslehrbuch zunächst als „Derecho de Jentes", 5 verwendet aber schon in der zweiten Auflage 1844 im Titel „derecho international".6 Auch in Frankreich stellte man sich im 19. Jahrhundert langsam von „droit des gens" auf „droit international" beziehungsweise „droit international public" um oder gebrauchte es jedenfalls synonym und parallel. 7

In Deutschland gab es mehrere terminologische Alternativen zum „Völker­recht", die teils bloß diskutiert, teils tatsächlich verwendet wurden. Manche Autoren sprachen ab ca. 1840 8 vom „International=Recht", 9 was offenkundig mit dem neuen anglo-amerikanischen Sprachgebrauch, mit ausdrücklichen Referenzen auf Bentham, den „Patriarchen aller Rechtsphilosophen unseres

3 So ausdnlcklich Hm,RJCH MORITZ C!iALYBÄUS, Sys1em der speculative11 Ethik, oder Philo­sophie der Familie, des Staates und der religiösen Siue, Bd. 2, Leipzig !850, S. 357.

4 Siehe etwa die Titel von JOHAN DANJEL GRos, No111ral p rinciples ofrectitude. for tim am­d11c1 of man in all ~·tat es and si1uation.r of life: demo11s1ra1ed 011d e.rplai11ed i11 a sys1e1na1ic 1rearue 011 morol philosop/7>: Comprehending The law of Nature - Erhics - Notural Jurispm dence -General Oeconomy - Poli1ics - a11d the Law of Nations, New York 1795; ROBERT WARD, An Enquiry i1110 lhe Fo1111da1ian and History of 1he Law 0/ Nalians i11 Eurape. From the Time o/ the Greeks 011d Romans 10 1he Age of Grotius, 2 Bände, Dublin l 79S. Vgl. ferner die .:eitgenössischen Grotius- und Pufendorf-Übersetzungen: 0/rlte '"'" ofna111re and 11a1io11s. Eigbt books, Written in lat. by PUH'.NDORF. Done into Engl. by BASIL KE1'N ITT. To which are add. all the large notes of ßARBE\"RAC, transl. from lhe best ed., 4th ed., carefuUy corr .• London l 729; ihe Riglus 0/ War And Peace in Tlm!e Books; Wherein are explained. The Low o/ Na111re a11d Nations. And The Principal Poims rela1i11g 10 Govemment. Wriuen in Latin by lhe Leamed Huco GROT1US, And Translated into English. To which are added, AU lhe !arge Notes of Mr. J. BARBEYRAC, Professor of Law at Groningen, London l 738.

5 A[NDRES I B[ELLO ], Principios de Derecho de Jentes. Santiago de Chile I 832. 6 AN DRES ß ELLO, Principios de Den1cho l111ernacio11al. Lima 1844. 7 HEN RY _ßoNFi l.5, Manuel de droil intem atio110/ p ublic (Droir des gens). Destlne ou:c etudi­

onrs des Faculle.s de Droil er au:c aspiranrs mL~fonc1io11s dlplomoriques e1 const1/oires, 5e edition, revuc et mise au courant [ ... ] par PAUL fAUCH IUE, Paris 1908. lntroduction, Ziff. 1-3 (S. 2).

S So auoh die Datierung bei HE!NHARD Srr1GER. Art. ,,Völkerrecht", in: Geschichtliche Grund­begriffe (wie Anm. 2), S. 97-l40 (S. 134 f.).

9 FR!EDRlCli BLUHME, Uehersicht der in Dewsc.hla,,d gelie11den Rechtsquef/e11. Mit einer encyclopaeäischen E inlei111ng, (Encyclopaedie der in Deutschland geltenden Rechte. Erste Abtei­lung. Aeussere Encyclopaedie). 2. Auflage, Bonn 1854, § 32 (S. 27).

Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? 3

Jahrhunderts", einherging. 10 Bei August Otto Krug wiederum bezeichnete „In­ternationalrecht" speziell die zwischen „verschiedenen deutschen Staaten ge­schlossenen Vereinbarungen über die Leistung gegenseitiger Rechtshilfe". 11

Diese Semantik war aber nicht allgemein konsentiert. Andere Autoren bevorzugten den Ausdruck „internationales Staatsrecht". 12

Dritte wiederum fanden diese Begriffe weniger überzeugend als jenen des „Staatemechts", der tatsächlich bisweilen gebraucht wurde. 13 Letzterer knüpfte unmittelbar an Immanuel Kant an, welcher 1797 meinte: ,,Das Recht der Staaten in Verhältniß zu einander [ welches nicht ganz richtig im Deutschen das Völker­recht genannt wird, sondern vielmehr das Staatemecht (ius publicum civitatum) heißen sollte] ist nun dasjenige, was wir unter dem Namen des Völkerrechts zu betrachten haben [ . . . ]." 14 Der Satz wurde im 19. Jahrhundert vielfach rezipiert.15

Noch bei Franz von Liszt finden sich affirmative Stellungnahmen zu diesem Vorstoß. 16

Durchsetzbar schien dieser Begriff den Befürwortern aber nicht. Phonetisch war die Differenz zwischen „Staatsrecht" und „Staatemecht" offenkundig zu gering, was sie auch selbst konzedierten. 1 7 Darüber hinaus war „Staatemecht" auch sachlich missverständlich, wie etwa Holtzendorff fand, da man sich darunter auch das Recht der Mitgliedsstaaten in Staatenbünden vorstellte. 18 Mit der Fokussierung auf „Volk" statt auf „Staat" hatte Holtzendorff hingegen keine

10 CARL ED UARD MoRSTADT, Vorrede des Herausgebers, in: JOHANN LUDWIG KLÜBER , Euro­päisches Völkerrecht, 2. Auflage, Schaffhausen 1851 , S. VII - (Hervorhebung im Original).

11 AUGUST Orro KRUG, Das Internationalrecht der Deutschen. Uebersichtliche Zusammen­stellung der zwischen verschiedenen deutschen Staaten getroffen en Vereinbarungen über die Leis­tung gegenseitiger Rechtshilfe mit Anmerkungen und Erläuterungen, Leipzig 1851, S. 1.

12 CHALYBÄUS, System der specu]ativen Ethik (wie Anm. 3), S. 357; A[LBERT] F[RIEDRICH] BERNER, Art. ,,Völkerrecht", in: Deutsches Staats-Wörterbuch, hg. von JOHANN CASPAR BLUNTSCHLl und KARL BRATER , Bd. 11, Stuttgart und Leipzig 1870, S. 76-96 (S. 76).

13 KLÜBER , Völkerrecht (wie Anm. 10), § 1 (S. l) ; KARL HEINRICH LUDWIG PöLITZ, Die Staatswissenschajien im lichte unsrer Zeit , Erster Theil: das Natur= und Völkerrechl, das Staats= und Staatenrecht {!}, und die Staatskunst, Leipzig 1823; dass., 2. Auflage, Leipzig 1827; CARL BARON VON KALTEN BORN VON ST ACHAU, Kritik des Völkerrechts. Nach dem jelzigen Standpunkte der Wissenschaft, Leipzig !847, S. 261 ; FRIEDRICH Bü LAU, Encyclopädie der Slaatswissenschof ten , 2. Auflage, Leipzig 1856, S. 395.

14 IMMANUEL KANT, Die Metaphysik der Sillen. Erster Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 2. Auflage, Königsberg 1798, § 53 (S. 246) - Hervorhebungen im Original.

15 PöLITZ, Die Staatswissenschaften (wie Anm. 13), 2. Auflage, Leipzig 1827, § 67 (S. 319, Anm.*).

16 FRANZ VON LISZT, Das Völkerrecht, 12. Auflage bearbeitet von MAX FLEISCHMANN, Berlin 1925, § 1 I (S. !).

17 VON KALTENBORN VON STACHAU, Kritik des Völkerrechts (wie Anm. 13), s. 261, spricht sich in der Sache für „Staatemecht" aus, findet es aber angesichts des herrschenden Sprachge­brauchs unzweckmäßig und sehr schwierig, ,,einen neuen einzubürgern".

18 FRANZ VON HoLTZENDORFF, Grundbegriffe, Wesen und Verhältnißbestimmungen des Völkerrechts, in : Handbuch des Völkerrechts. Auf Grundlage Europäischer Staatspraxis , hg. von FRANZ VON HoLTZENDORFF, Erster Band: Einleitung in das Völkerrecht , Berlin 1885, § 2 (S. 8-10): Sprachliche Bezeichnung des Völkerrechts (S. 9).

4 Milos Vec

Schwierigkeiten, seien doch „die im Staat wirkenden Völker" die eigentlichen „Persönlichkeiten und Willenssubjekte des staatlichen Lebens" und daher „charakteristische Träger des Völkerrechts". 19

Diese terminologischen Auseinandersetzungen20 wurden freilich nicht inten­siver verfolgt, sie blieben jedenfalls ohne einen Erfolg für die Befürworter einer Reform. Nach 1900 lassen sich nur noch geringfügige Rekurse auf „Staatenrecht" finden. 21 „Intemationalrecht" erlitt das gleiche Schicksal und wurde nur von Außenseitern verwendet 22 Auch „auswärtiges Staatsrecbt",23 „äußeres Staats­recht"24 bzw. ,.äußeres Staatenrecbt''25 fanden keine praktizierende Mehrheit hier aber stärker aufgrund sachl'icher a'ls sprachästhetischer Überlegungen oder Gewohnheiten: .,Äußeres Staatsrecht" akzentuierte die juristische Eigenständjg­keit gegenüber dem einzelstaatlichen Willen nicht ausreichend stark und zog den Verdacht der ,,Leugnung·' des Völkerrechts auf sich.

Trotz dieser skizzierten begrifflichen Vielfalt setzte sich „Völkerrecht" (bis in die Gegenwart) durch, so dass der zwischenstaatliche Bereich der Konflikte somit auch aus deutscher Perspektive mit der Terminologie „entre peuples" bezeichnet werden darf.

II. Vielzahl und Vielfalt völkerrechtlicher Konflikte

Der epochale Fokus dieses Bandes liegt, wenn man das Inhaltsverzeichnis betrachtet, beinahe ausschließlich auf der neuzeitlichen Geschichte und der Zeitgeschichte, also dem 19. und 20. Jahrhundert und hier wiederum geografisch auf (West-)Europa. Und man könnte noch hinzu:f;ügen, es geht überwiegend um einen bestimmten Modus der zwischenstaatlichen Konfliktlösung, nämlich.jener in rechtsförm.igen Verfahren. Diplomatie spielt ebenso eine nachrangige Rolle wie die ,,.Lösung" von Konflikten durch militärisch ausgeübte Gewalt, die aber rechtlich nicht gedeckt ist.

Schon die Titel lassen die Vielzahl und Vielfalt völkerrechtlicher Konflikte in dieser Zeit erkennen. Die Beiträge spiegeln zunächst die Nationalstaatsbildung

19 Ebenda, § 2 (S. 9). 20 Dazu ein dichter Abriss bei STEIGER, Art. ,,Völkerrecht" (wie Anm. 8), S. 97-140

(S. 126f.). 21 PAUL PoSENER, Einfiihrung in die Rechlswisse11.schafi und Rechtsgeschichte, 2. Auflage,

Berlin 1909, "'Bd. IV: Staats= und Staatenrecht. Volkswirtschaft. Die inhaltliche Darstellung auf S. l 87 ff. übergeht aber den Titelbegriff „Staatenrecht" stillschweigend und spricht wieder von ,, Völkerrecht".

22 PAU L POSENER, Völkerrechr. Jnrema1ionalrech1, (Grundriss des gesamten deutsche.n Rechts in Einzelausgaben 13), Berlin J 901.

23 KtOBER , Völkerrecht (wie Anm. 10), § 2 ($. 3, Anm. a). 24 GEORG Fa1EDRJCH W1tHE.LM H.ECEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin 1821,

§ 330 (S. 337); HEtN'RlCH BERNHARD OPPENHEIM, System des Vii/kerrechls, Frankfurt am Main 1845, § 2 (S. 2).

25 AUGUST W1tHEl.M HEFFn~ Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart, 2. Auflage Berlin 1848, S. 1.

Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? 5

im 19. und 20. Jahrhundert wider, die ihre vereinheitlichenden, ethnisch ex­kludierenden und damit konfliktträchtigen Seiten hat. Die ambivalente Rolle des Nationalitätsprinzips 26 hinsichtlich der Entstehung und Lösung von Konflikten behandelt Luigi Nuzzo (S. 93-122, in diesem Band). Dieses „Prinzip der Natio­nalität" oder (seltener in Pluralform vorkommend) ,,Prinzip der Nationalitäten"

27

ist ein Pfeiler eines Teils der Völkerrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, umstritten in seiner Existenz nicht nur bei Nuzzos Protagonisten Pasquale Mancini28 und kontrovers diskutiert in seiner Reichweite.

29 Andere Völker­

rechtler und Staatswissenschaftler, darunter so prominente Namen wie Johann Caspar Bluntschli30 und August von Bulmerincq,

31 lehnten es hingegen aus­

drücklich ab, 32 und um 1900 scheint es als eine juristische Konstruktion bereits

ad acta gelegt. 33

Denn im Zeitalter des Imperialismus und der Industriellen Revolution mussten Nationalismus und Internationalismus auch durch die Staats- und Völkerrechts­wissenschaft permanent miteinander austariert werden.

34 Kooperationsideen

schienen sich zunächst um 1900 unwiderruflich durchgesetzt zu haben. Doch der Weltkrieg bescherte dem Nationalitätsprinzip auch völkerrechtswissenschaft­lich eine Renaissance. 35 Unmittelbar mit dem Nationalitätsprinzip verwandt ist die Frage, die Jean-Jacques Becker (S. 123-127) aufwirft, nämlich die nach dem Nationalbewusstsein und Nationalgefühl bei Kriegsausbruch 1914. Annie Deper­chin (S. 129-143) behandelt thematisch und chronologisch daran anschließend die Rolle des Völkerrechts bei der Konstruktion des Friedens nach dem „Großen Krieg". Der Frage, wie es um die „competence de guerre" bestellt war, widmet

26 Eine kurze, gehaltvolle Darstellung findet sich bei ARTHUR NUSSBAUM, Geschichle des Viilkerrechts in gedrängter Darstellung, München und Berlin 1960, S. 267- 269.

27 ALPHONSE RIVIER, Lehrbuch des Völkerrechts, 2. Auflage, Stuttgart 1899, § 3 V (S. 30). 28 PAsQUALE STANISLAO MANC!Nt, Della nationalita come fondamento de! dritto delle genti.

Prelezione al corso di dritto intemazionale e marittimo, Torino 1851. 29 [CoNSTANTIN RössLER], Der Grundsatz der Nationaliriil und das europäische S1aa/e11-

system, Berlin 1860; AuGUSTO PIERANTONI, Geschichte der italieni.rclum Vö/ki!.rrechcs-Literatur. Vom Verfasser durch Nachträge bereicherte Uebersetzung von Dr. Leone Roncali, Wien 1872, S. XII (Roncali): Wenn es im Staatenleben eine Rolle spielt, muss sich auch die Wissenschaft damit

auseinandersetzen. 30 J[oHANN] C[ASPAR] BLUNTSCHLI, Die nationale S1aa1e11bild1mg und der moderne dtuusche

Staat. Ein öffentlicher Vortrag, (Sammlung gemeinverständlicher wisse.nscbaftlicher Vorträge, V. Serie, Heft 105), Berlin 1870, S. 6: ,,Weder das Revolutions= noch das Restauralions=Zeimlter hat das Princip der Nationalität als Staatsprinzip anerkannt."

3\ AUGUST [voN] BULMERINCQ, Praxis, Theorie und Codifikation des Völkerrechts, Leipzig

1874, S. 61. 32 C[oNSTA.NTIN] fRANTZ, Kritik aller Parteien, Berlin 1862, S. 254. 33 R1v1ER, Lehrbuch des Völkerrechts (wie Anm. 27), § 3 V (S. 30). 34 MICHAEL STOLLEIS, Nationalität und Internationalität: Rechtsvergleichung im öffentlichen

Recht des 19. Jahrhunderts , (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlun­gen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Jg. 1998, Nr. 4), Stuttgart 1998.

35 ROBERT REDSLOB, Das Problem des Völkerrechts. Eine Studie über den Fortschritt der Nationen zu einem universellen Staatensystem, das die Geltung des Vii/kerrechts verbürgt, Leipzig

1917, S. !, S. 388.

6 Milos Vec

sich Helene Tigroudja (S. 159-171). Sie zeigt dabei die ebenso zentrale wie problematische Stellung des Krieges als Konfliktlösungsinstrument, der durch friedliche Mittel verdrängt werden soll. Clement Millon (S. 145-158) themati­siert die Definition der deutschen Besatzungsrechte in Frankreich durch die Wiesbadener Waffenstillstandskommission.

Mit dem eben angesprochenen Problem des Nationalismus überlagern sich seit je her und besonders im 17. Jahrhundert religiös unterlegte Konflikte und Bürgerkriege. Das „kurze 20. Jahrhundert" als „Zeitalter der Extreme" bringt diese Konflikte in gesteigerter Form hervor, sie unterliegen technisch und medial neuen Bedingungen, die in mehrfacher Hinsicht eine Entgrenzung der Konflikte und des Krieges nach sich ziehen - bis hin zum Weltkrieg und zum organisierten Völkermord.

All das Vorgenannte bildet reichlich Anschauungsmaterial und Koordinaten für völkerrechtshistorische Fragen. Sie könnten lauten: Wie sieht das Recht diese Konflikte, wenn sie einmal entstanden sind, und wie löst es sie? Ist dabei wirklich optimistisch von „friedlicher Ausgleichung"36 und „Beilegung"37 zu reden oder handell sich nicht vielmehr Wl1 „Austragung"38 (mit der Möglichkeit gar einer Verschärfung)? Wie verhält sich dieser Modus der Konfliktlösung zu dem anderer Rechtsbereiche? Die Titel und Themen der Beiträge legen nahe, nach Epochen, nach sachlichen und geografischen Zusammenhängen zu differen­zieren.

Aber wenn man von Epochen spricht, müsste man zuerst die Zäsuren kennen. Sie dürften nicht der allgemeinen Geschichte entnommen sein, sondern nach dem Prinzip der kriteriumsrichtigen Entscheidung gerade diesem Regelungsbereich entstammen. Damit aber, so scheint es, ist es völkerrechtsgeschichtlich im Bereich der Konfliktlösung nun einfach bestellt. Der Jay-Vertrag von 1 794 stellt eine klassische Zäsur in der Geschichte der internationalen Konfliktlösung dar. Er markiert, so heißt es vielfach, den Beginn der modernen Scbiedsgericbts­barkeit. Aber wie es so oft ist: Wenn man genau hinsieht, gerät dieses Bild gehörig ins Wanken. Karl-Heinz Lingens (S. 65-82) betrachtet diese Zuschrei­bung genauer und kommt dabei zu interessanten historiografischen Befunden. Denn die Völkerrechtswissenschaft, die sich stets für die jüngere und jüngste Vergangenheit interessierte, nahm im 19. Jahrhundert bemerkenswerterweise

36 ADOLPH HARTMANN, Institutionen des praktischen Völkerrechts in Friedenszeiten mit Rücksicht auf die Ver/ass1111g. die Verträge und die Gesetzgebung des Deutschen Reichs, Hannover 1874, § 90 (S. 257).

37 LEOPOLD FREIHERR VON NEUMANN, Grundriss des heutigen europäischen Völkerrechtes, 2. Auflage, Wien 1877, § 3 7 (S. 82).

38 So etwa das Titel gebende Stichwort für die Darstellung bei dem - wenig originellen -ANTON SCHUPP, Rechtslehre enthaltend die G'rundzüge des Militär-Strafrechtes, des Militär­Strafverfahrens, des Privat-, Staats- und Völkerrechtes, Wien 1889, S. 134-136: ,,Internationale Streitigkeiten und deren Austragung ohne Krieg".

Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? 7

kaum Notiz davon. Auch die Historiografie der Konfliktlösung, das wird deutlich werden, ist ein ertragreiches Feld der Völkerrechtsgeschichte.

Einfacher ist es vermutlich, der Forderung nach getrennter Behandlung von Sachbereichen und Instrumenten zuzustimmen. Aber wie hat sich das Völker­recht tatsächlich über die internationalen Konflikte ausgebreitet? Woher nahm es die theoretischen Modelle, was waren die Vorbilder? Jean-Paul Durand (S. 51-64) geht in diesem Zusammenhang dem Impuls des kanonischen Rechts nach und fokussiert dabei sowohl auf die Verfahren als auch auf bestimmte Fälle. Martin Kintzinger (S. 23-50) spricht in seinem Beitrag die Konfliktlösung der Hofkultur an: Diese war international und regional zugleich - welche Auswirkungen hatte dies auf die Verfahren, in einer Zeit, in der es sachlich und terminologisch umstritten ist, ob man von „Völkerrecht" sprechen darf?

39

III. Verrechtlichung als heuristisches Konzept

Verbleiben wir noch einen Moment bei den völkerrechtlichen Verfahren der Konfliktlösung. Die Instrumente und Institutionen sind hier zahlreich. Zu er­innern ist an Unterhandlungen, Vermittlung, Untersuchungskommissionen, an die Schiedsgerichtsbarkeit, an den Internationalen Gerichtshof und schließlich besonders an die Selbsthilfe als äußerstes Mittel. 40 Diese Auflistung könnte man erweitern, umgruppieren und differenzieren. Die Zugänge der Völkerrechtslehre waren in ihrer Systematisierung durchaus verschieden, gleich, ob sie das sach­lich weitere Stichwort der zwischenstaatlichen Konflikte oder das engere des ,,Völkerrechtsgericht(s)"41 abhandelten. Aber gibt es vielleicht auch eine Ge­meinsamkeit in ihrer historischen Entwicklung?

Sebastian Kneisel (S. 83-92) beschäftigt sich in diesem Sinne mit der Ver­rechtlichung der zwischenstaatlichen Konfliktlösung und beobachtet die Aus­differenzierung und begriffliche Abgrenzung der einzelnen Konfliktlösungsme­chanismen in der Völkerrechtstheorie vor dem Hintergrund der Staatenpraxis und besonders dem Alabama-Fall. ,,Verrechtlichung" ist ein rechtssoziologischer Begriff, der sehr griffig ist und reizvoll scheint, weil er die moderne Wahrneh­mung, dass sich das Recht auf immer weitere Lebensbereiche ausdehnt, an­schaulich beschreibt. Weil „Ausdehnung" nicht anders als prozesshaft gedacht

39 Zur Semantik des Begriffes im Spätmittelalter: STEIGER, Art. ,,Völkerrecht" (wie Anm. 8), S. 97-140 (S. 103-108). Zum begrifflichen und methodischen Problem: DERS., Die Ordnung der Welt. Eine Völkerrechtsgeschichte des karolingischen Zeitalters (741 bis 840), Köln 2010, S. 15-20; NADINE GROTKAMP , Völkerrecht im Prinzipal. Möglichkeit und Verbreitung, (Studien zur Geschichte des Völkerrechts 21), Baden-Baden 2009, S. 4-19.

40 VON NEUMANN, Grundriss des heutigen europäischen Völkerrechtes (wie Anm. 37), § 37

(S. 83 f.). 41 P. FRÄNZINGER, Grundzüge einer juristischen Construktion des Völkerrechts, Freiburg im

Breisgau 1868, S. 10- 12.

8 Milos Vec

werden kann, ist die Verrechtlichungs-These zugleich potenziell ein heuristisches Konzept für die historische Entwicklung des Rechts auch im Bereich der inter­nationalen Beziehungen. Vielleicht darf man bei dieser Gelegenheit auch auf ein älteres terminologisches Parallelstück zur „Verrechtlichung" hinweisen, nämlich auf den Begriff der „Verrechtung". So lobte schon Heinrich Rettich die Genfer Konvention, denn, so schrieb Rettich 1888, sie „verrechtet die Thatsache der internationalen Interessengemeinschaft gerade in jenem Verhältnis der Staaten zueinander, in welchem die angebliche Gegensätzlichkeit der nationalen Interes­sen zum schärfsten Konflikt gediehen sind[ ... ]". 42 „Verrechtung" erscheint hier in der Variante des Vertragsvölkerrechts für einen bestimmten Bereich; sie wird und wurde im Übrigen aber von den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts nicht als Leitbegriff der Völkerrechtsentwicklung aufgegriffen.

Dennoch scheint die Beobachtung Rettichs nicht unplausibel, und man könnte seinen Begriff mit dem beinahe hundert Jahre später erscheinenden Neologismus Verrechtlichung" kur.lSchließen, der von Rechtstheorie und Rechtssoziologie in

den 1970er und l980er Jahren als analytisches lnstruroenr entwickelt worden ist. 43 Der Referenzrahmen war dabei der Nationalstaat. Hier ließ sich die Ausdehnung des Rechts über weitere Lebensbereiche einfach ausmachen. Neue Rechtsgebiete wie das Umwelt- und Technikrecht44 entstanden als Querschnitts­materien, wobei diese beiden letzt genannten 't>or allem im Bereich des öffent­lichen Rechts zu verorten waren. Im bürgerlichen Recht gestaltete das Vordringen des Verbraucherschutzprinzips das BGB umfassend um; 45 wo vormals die Prin­zipien frei und liberal46 geherrscht hauen, breiteten sich nun zu Lasten der Privatautonomie Zwang und Kontrolle aus. Das Gerichtswesen expandierte ebenso wie sich untergesetzliche Normen stark vermehrten. Dahinter standen vielfach Steuerungszwecke des modernen Interventionsstaates. 47

42 HEINRICH RETTICH, Zur 77,eorie und Geschichte des Rechts wm Kriege. Vöfkellecl1tliche Untersuchungen, Stungan 1888, S. 225. - Ich danke Fm.u srud. iur. Annabellc Ganapol für den Hinweis auf den Fund.

43 GERD ßENDER. Rechtssoziologie in der alten Bundesrepubli,k. Prozesse, Kontexte, Zäsuren. in: Rechtswisse11scho/11m in der Bonner Republik. S111dien wr Wissenschaftsgeschir:/11e der Juris­prudenz, hg. von DIETER SIMON, Frankfun am Main 1994, S. 100-144 (S. 136-143 zur Ver­rechtlicl1ung).

44 M1to~ VEc, Kurze Geschichte de..~ Technikrechts, in: Handbuch des Technikrechts, hg. von RAL'-IER SCHRÖDF;R und MARTW SCH ULTE, (Enzykloplldie der Rechts- und Staatswissenschaften), 2. Auflage. Berlin 2011 (im Druck).

45 MAH11AS ScHMOECKEL. vor §§ 312 ff. Grundlagen der Verbrauchergeschäfte. in: Histo· rlst:h-kritischer Kommemar wm BGB, hg. von MATHIAS ScHMOECKEt, JOACHIM ROCKERT und RE INHARO Z IMME.RMJ\NN, Bd. 2: Sch11/drech1:A//gemeiner Teil§§ 24/-432, 2. Teilband:§§ 305-432, 2007, s. 1581- 1667.

46 ]OACH IM RöcKERT, .,Frei w1d sozial"· als Rechtsprirrzip, (Würzburger Vorträge zur Rechts­philosophie. Rechtstheorie und Rechtssoziologie 34), Baden-Baden 2006; DERS., Das Bürgerliche Gesetzbuch -ein Gesetzbuch ohne Chance?, in: JZ 58 (2003), S. 749-760.\

47 Mu.os Vec, Art . .,Jnterventionss1aa1~, in: Handwörterbuch wr Deutsche11 Rechtsgeschichte, hg. von ALBRECHT CORDES, HEINER LOCK und D1ETIR WERKMÜLLER, 2. Auflage, Berlin 2011 (iin Druck).

Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? 9

Verrechtlichung wurde für die Rechtswissenschaft zu einem Leitbegriff, der diese und andere Entwicklungen rechtspolitisch kritisch begleitete und analy­sierte. 48 Die Autonomie anderer Systeme, etwa der Politik oder der Gesellschaft, mit ihrem eigenen Konfliktregelungspotenzial, schien durch die Ausbreitung des Rechts bedroht. Im Wechselspiel mit empirischen Beobachtungen wurde Ver­rechtlichung dann in die drei Varianten der Vergesetzlichung, Bürokratisierung und Justizialisierung systematisierend aufgespalten.

49 Mittlerweile hat sich die

Diskussion in den juristischen Grundlagenfächern zunehmend vom vormaligen Leitbegriff entfernt. 50 Neuere Beiträge zur Verrechtlichung sind auffallend selten. 51 Hier, in der Rechtswissenschaft, kann man schon aus diesem Grund keine Erweiterung des ursprünglich auf den nationalen Rahmen bezogenen Konzepts erwarten; sie hat im Rahmen der Grundlagenfächer Rechtstheorie und Rechtssoziologie wohl ebenso wenig stattgefunden wie in der Rechtsge-

schichte. Der Transfer des Verrechtlichungskonzepts auf den zwischen- und suprastaat-

lichen Bereich erfolgte stattdessen durch die Disziplinen Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen.52 Der Blick richtet sich dabei insbesondere auf das

48 GUNTHER TEUBNER, Verrechtlichung - Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege, in: Ver­rechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität. Vergleichende Analysen, hg. von FRIEDRICH KüBLER, Baden-Baden 1984, s. 289-344.

49 RüDIGER VoIGT, Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, in: Verrechtlichung. Analysen zu Funktion und Wirkung von Parlamentarisierung, Büro/cratisierung und Justizialisierung sozialer, politischer und ökonomischer Prozesse, hg. von RüDIGER Vo!GT, Königstein 1980, S. 15-37.

50 In den aktuellen Lehrbüchern der Rechtstheorie von Vesting und Röhl / Röhl etwa sucht man im Register das Stichwort vergebens: THOMAS VESTING, Rechtstheorie. Ein Studienbuch, München 2007; KLAUS F. RöHL, HANS CHRISTIAN RöHL, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage, Köln und

München 2008. 51 LARS CHR. BLICHNER, ANDERS MOLANDER, Mapping Juridification, in: European Law

Journal 14/ 1 (2008), S. 36-54; DAVID LEVI-FAUR, The Political Economy ofLegal Globalization: Juridification, Adversaria! Legalism, and Responsive Regulation. A comrnent, in: International Orga11izotion 59 (2005), S. 451-462, sowie ferner das ganze Heft 3 des Jg. 54 (2000), das sich mit ,.legalization'' beschäftigt. Siehe auch noch JOACHL\1 ROcKERT, Die Verrechtlichung der Arbeits­beziehungen in Deutschland seit dem frOhen 19. Jahrhundert, in: Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland. Eine okwelle Problematik in historischer Perspektii,e., bg. von HANS G. NuT­

ZINGER, Marburg 1998, s. 213-229. 52 Transnationale Verrechtlichung. Nationale Demokratien im Kontext globaler Politik, hg.

von REGINA KREIDE und ANDREAS NIEDERBERGER, Frankfurt am Main 2009; JÜRGEN NEYER, Pos/nationale politische Herrschaft. Verrecht/ichung und Vergesellschaftung jenseits des Staates, (Weltpolitik im 21. Jahrhundert 11), Baden-Baden 2004; BERNHARD ZANGL, MICHAEL ZüRN, Make Law, Not War: Internationale und transnationale Verrechtlichung als Baustein für Global Governance, in : Verrechtlichung- Bausteinfar Global Governance?, hg. von MICHAEL ZüRN und BERNHARD ZANGL, (EINE Welt, Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden 18), Bonn 2004, S. 12-45 ; MARTIN LIST, BERNHARD ZANGL, Die Verrechtlichung internationaler Politik, in: Die neuen internationalen Beziehungen, hg. von GUNTHER HELLMANN, KLAUS DIETER WOLF und MICHAEL ZüRN, Baden-Baden 2003, s. 361-399; VOLKER RITTBERGER, Internationale Regime und die Verrechtlichung globaler Beziehungen, Vortrag für den Eröffuungs-Workshop des SEF­Politikforums „Prozesse der internationalen Verrechtlichung - Innovative Wege der globalen Politikgestaltung", 20.-21. September 2001, Gustav-Stresemann-lnstitut (GSI), Bonn, online unter www.sef-bonn.org/download/veranstaltungen/2001/200 l _ ws _rede-rittberger. pdf (8.6.2010).

10 Milo§ Vec

Verhältnis von Völkerrecht und Politik. Verschiebungen in ihrem wechselseitigen Verhältnis werden beobachtet und analysiert. Dabei ist notwendig ein Interesse an dem prozesshaften Verlauf impliziert. Allerdings kann man den Analyserahmen nur bedingt als in einem weiteren Sinne geschichtlich fundiert bezeichnen. Denn das historische Interesse richtet sich beinahe ausschließlich auf das 20. Jahr­hundert, eigentlich oft erst auf die Zeit nach 1945. 53 Der Völkerbund bildet manchmal noch eine Vorgeschichte, frühere Jahrhunderte spielen hingegen keine Rolle.

Damit geraten jedoch nicht nur alle früheren Epochen der Völkerrechts­geschichte aus dem Blick, auch die vergleichende Untersuchung langfristiger Prozesse bleibt hinter der Analyse der letzten Jahrzehnte zurück. Eine informierte Anwendung des Verrechtlichungskonzepts auf die Völkerrechtsgeschichte steht damit immer noch aus und auch dieser Band kann zu ihr nur in Einzelbeob­achtungen beitragen. Dabei müsste man, um den Gegebenheiten dieses Rechts­gebiets angemessen Rechnung zu tragen, weniger auf die Varianten der „Verge­setzlichung" und „Bürokratisierung" abstellen. 54 An ihre Stelle könnten viel­leicht „Verregelung" beziehungsweise „Vernormung" treten. Für den Bereich der zwischenstaatlichen Konfliktlösung wäre hingegen insbesondere auch an die Variante der „Justizialisierung" zu denken. Auch der Untertitel zu diesem Sammelband spricht von einer Entwicklung „De la resolution libre a la resolution imposee".

Diese Verschiebung ist schon terminologisch nicht mit dem Begriff der ,,Verrechtlichung", gleichzusetzen, deutet aber eigentlich parallel gedachte Ent­wicklungsschritte der Völkerrechtsgeschichte an. Doch ist dem tatsächlich so? Ist das theoretische Modell der Verrechtlichung wirklich adäquat, um den histori­schen Prozess zu beschreiben? Welche Rolle spielen Gerichte und die Diploma­tie, gibt es Verschiebungen in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu beobachten?

Eine große Entwicklungslinie nimmt Mathias Forteau (S. 173-191) in seinem Beitrag „De la justice a la reconciliation" auf. Er untersucht diese Linie anhand des Beispiels der „Cour internationale de Justice". In dieser Institution verdichtet sich wie vielleicht in kaum einer anderen ein Wandel der zwischen­staatlichen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die inter­nationalen Beziehungen sind demnach nicht nur verrechtlicht worden, die Ver­dichtung des Rechts hat zur Institutionalisierung eines ständigen Gerichtshofs geführt. Wie beachtlich diese „Vergerichtlichung" war, erkennt man besonders, wenn man die langsame Entwicklung der internationalen Gerichtsbarkeit in

53 Siehe etwa die Studie von PETER BILLING, Eskalation und Deeskalation internationaler Konflikte. Ein Kanfliktmodell auf der Grundlage der empirischen Auswertung von 288 inter­nationalen Konflikten seit 1945, Frankfurt am Main 1992, mit Ausführungen zu Konfliktmanage­ment und Deeskalation, aber auch der Rolle von Gerichten auf S. 231 ff.

54 Zu diesen beiden Begriffen siehe VoIGT, Verrechtlichung (wie Anm. 49), S. 15-37 (S. 18-21).

Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? 11

größeren Zusammenhängen betrachtet: Springen wir hundert Jahre zurück, und sehen wir, wie sich die Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts darstellte.

IV. Die langsame Vergerichtlichung

Wenn es je ein völkerrechtliches Parallelstück zu Gustave Flauberts „Wörterbuch der Gemeinplätze" geben sollte, dann gehörte in dieses gewiss ein Eintrag zu den Koordinaten der zwischenstaatlichen Beziehungen. Gemeint ist jener Satz, den man in vielen völkerrechtlichen Werken findet und der hier stellvertretend aus einem Werk des frühen 19. Jahrhunderts zitiert sei:

,,Le Droit de la guerre et des gens n'est que le Droit nature! applique aux nations. Elles n'ont entr'elles ni lois ni tribunaux, ni juges, ni d'autre garantie de leurs conventions que ce Droit."

So schreibt es der frühere Generalstaatsanwalt aus Douai und Mitglied der Ehrenlegion Claude Louis Samson Michel 1813 in seinem „droit de la nature et des gens". 55 Das ist ein seinem Titel nach naturrechtliches Lehrbuch, aber auch insoweit kennzeichnend für den Stand der französischen Völkerrechtswissen­schaft jener Zeit. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fehlt es hier an selbständigen Systemen des positiven Völkerrechts. 56 Stattdessen erscheinen die sogenannten „Systeme des philosophischen Völkerrechts", also allgemeine Abhandlungen zur Völkerrechtstheorie. Inhaltlich sind es naturrechtliche Dar­stellungen, bei denen es sich oft um Wiederauflagen der bekannten und zuneh­mend betagten Titel von Hugo Grotius, Jean Jacques Burlamaqui, Gerard de Rayneval und Emer de Vattel handelt. 57 Auch diese Aussage ist Gemeingut der Zeit58 (Michel ist ein heute vergessener Autor, und gerade deswegen soll man diese Feststellungen zitieren): Es gibt keinen Richter und keine Gesetze über den Völkern. 59 Das war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Versprechen und ein Lamento. Beides soll kurz ausgeführt werden.

Ein Versprechen war dieser Satz insoweit, als sich darin vor allem die recht­liche Autonomie der Staaten niederschlug. Diese stand - wie allgemein bekannt-

55 C[LAUDE] L[oms] S[AMSON] MICHEL, Considerations nouvel/es sur le droit en general et particulierement sur le droit de la nature et des gens, Paris 1813, S. 132.

56 So die (zutreffende) Beobachtung bei: BERNER, Art. ,,Völkerrecht" (wie Anm. 12), S. 76-96 (S. 91); ebenso: ROBERT VON MoHL, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monographieen dargestellt, Bd. !, Erlangen 1855, S. 403.

57 VON MoHL, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften (wie Anm. 56), S. 385. 58 Die Formel findet sich sehr häufig, siehe etwa FR[ IEDRICH J SAALFELD, Grundriß eines

Systems des europäischen Völkerrechrs. Zum Gebrauche akademischer Vorlesungen, Göttingen 1809, Vorrede, S. V; [THEODOR] Scm,v .. LZ., Das e11ropiiisd1e V6/ker-Rechr: in acht Büchern, Berlin 1817, S. 219; KLüBER , Völken:echt (wie Anm. 2), § 232 (S. 378); FRIE DRICH CARL VON SAVIGNY, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, Berlin 1840, § 11 (S. 33).

59 MICHEL, Considerations nouvelles (wie Anm. 55), S. 132.

12 Milo§ Vec

hoch im Kurs. Die Völkerrechtslehre, mag man sie nun als naturrechtlich oder als positivistisch einschätzen, widmete sich seit der Aufklärung vielfach und leiden­schaftlich der Konstruktion von „Grundrechten der Staaten". Diese sogenannten Grundrechte der Staaten standen in der Tradition des aufklärerischen Denkens und waren ein Parallelstück zu den unverletzlichen Rechten des Individuums, welche die Lumieres identifiziert hatten. Staaten waren demnach rechtlich auto­nom wie der einzelne Mensch. Das natürliche Völkerrecht war aus dem Allge­meinen Naturrecht abgeleitet, und die dem Individuum zuerkannten Rechte wurden dadurch auch ganzen Völkern zugesprochen. Dieser Analogieschluss erfolgt ausdrücklich. Christian Wolff führt aus:

,,Dieweil verschiedene Völker unter einander betrachtet werden als freye Personen, die im natürlichen Zustande leben [ ... ], diese aber sich deswegen, weil sie sich in einen Staat begeben haben, von der natürlichen Verbindlichkeit nicht losmachen

können[ ... ]: so sind sie zu eben denselben Pflichten so wohl gegen sich selbst, als auch gegen andere Völker verbunden, wozu einzelne Personen einander verpflichtet sind; und aus eben dieser entspringen die Rechte, welche allen und jeden im natürlichen Zustande zugehören [. . .}, die ihnen nicht genommen werden [ ... ]; folglich bedienen sie sich unter einander des Naturrechts."60

Ludwig Julius Friedrich Höpfner postuliert den gleichen Sachverhalt knapper: „Ein Volk hat alle Rechte, die ein einzelner freyer Mensch hat [ ... ]."61

Das Völkerrecht folgte dabei inhaltlich primär einem Trennungspostulat: Die Freiheitssphären der Staaten sollten gegeneinander abgegrenzt und rechtlich befestigt werden. Konsequent verbürgten diese Grundrechte dann auch Souve­ränität, Unverletzlichkeit, Nichtintervention, Achtung der Ehre, Selbsterhaltung und dergleichen mehr. Oder um etwa die Liste der „droit absolus des etats" aus Rene Foignets Lehrbuch um 1900 zu zitieren: ,,Droit de souverainete et d'in­dependance", ,,Droit de conservation, de defense et de developpement", ,,Droit d'egalite", ,,Droit de commerce", ,,Droit de respect mutuel". 62 Diese Grundrechte der Staaten mit offensichtlich naturrechtlichem Einschlag sind dem Völkerrecht und seiner Wissenschaft bis in die Gegenwart erhalten geblieben, 63 sie zollen dem Bedürfnis der Staaten nach Normierung der jeweiligen Rechtspositionen Tribut.

60 CHRISTIAN WOLFF, Grundsätze des Natur= und Völkerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständige11 Zusamnumhange hergeleitet werden, 2. Auflage, Halle 1769, § 1088 (S. 780) - Hervorhebungen im Original.

61 LUDWIG Juuus FRIEDRICH HöPFNER, Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesell­sch'{Jen und der Völker, 3. Auflage, Gießen 1785, § 216 (S. 195),

2 REN~ FolCNET, Manuel ilementaire d<! droit in/emotional public a l 'usage des etudiants en droit et de.s canditlatS aux carrieres diplomatique et aonsulaire, sutvi d'un resume en tableaux syn°/itiques et d'un recueil des principales questions d'examen, Se edition, Paris 1905. S. 60-75.

3 J. M. RuDA, Art. ,,States, Fundamental Rights and Duties", in: Encyclopl!dia of Public International Law, hg. von R. BERNHARDT, Volume 4, Amsterdam u. a. 2000, S. 673-682.

Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? 13

Genau in diesem Punkt offenbarte sich aber auch ihre Kehrseite. Was auf den ersten Blick zunächst als Leistung der rechtsförmigen Organisation der Staaten­beziehungen erstrebenswert schien, hatte aus Sicht anderer Zeitgenossen struk­turelle Mängel. Denn das Wesen des Völkerrechts war damit, so diese Stimmen, nur negativ 64 bestimmt worden: Die Normen sagten primär, was die Staaten untereinander nicht tun durften. Über positive Bestimmungen schwiegen sie weitgehend. Die Feststellung, dass es am Richter in den internationalen Bezie­hungen mangelte, war daher auch ein Lamento und sie verband sich oft, klassisch bei Friedrich Carl von Savigny, 65 mit dem Hinweis auf die „unvollendete Rechtsbildung" auf diesem Gebiet beziehungsweise mit grundsätzlichen An­griffen auf die Positivität des Völkerrechts. 66

Ein alternatives Konzept, das darüber hinausging, war theoretisch leicht zu entwickeln, politisch aber heikel. Auch die Frage der Konfliktlösung verdeut­lichte das Problem, ja sie zeigte es sogar klarer als andere Bereiche. Untersucht man etwa die Naturrechtslehrbücher der Jahre 1780 bis 1830, also jener ebenso späten wie produktiven Blüte dieses Fachs, 67 so wird man nämlich im Hinblick auf Aussagen zu den Streitbeilegungsmechanismen durchgehend enttäuscht. Die bekannteren und vielfach aufgelegten Autoren, genannt sei der Gießener Professor Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Mitherausgeber der 23-bändigen ,,Deutschen Encyclopädie", verlieren bisweilen kein Wort über Streitbeilegungs­mechanismen. 68 Das natürliche Völkerrecht jener Zeit existiert demnach ohne ein materielles Völkerkonflikt- oder gar formelles Völkerprozessrecht. Anderen Autoren wie etwa Johann Christoph Hoflbauer ist die Streitbeilegung allenfalls den knappen Satz wert, es gäbe die Möglichkeit der Kompromisse und Ver­gleiche. 69 Von dort aus führt ein Verweis in die Ausführungen zur Mediation. Auch bei Saalfeld heißt es 1809 knapp, die Möglichkeit der Schiedsrichter werde nicht mehr geübt. 70 Schmalz bekundet 1817, von einem Völkergericht habe man

64 So etwa der Ausdruck bei OPPENHEIM, System des Völkerrechts (wie Anm. 24), § 3 (S. 27). 65 VON SAVIGNY, System des heutigen Römischen Rechts (wie Anm. 58), § 11 (S. 33). 66 CARL BERGBOHM, Theorie des Völkerrechts, in: Festgabefar Johann Friedrich von Schulte,

Leipzig 1901, S. 31. Weitere Nachweise bei ADOLF LASSON, Princip und Zukunft des Völker­rechts, Berlin 1871, S. 157-164.

67 JAN SCHRÖDER, INES PIELEMEIER, Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhundert, in : Naturrecht - Spätaufklärung- Revolution, hg. von Orro DANN und DIETHELM KLIPPEL, Hamburg 1995, S. 255-269; DIETHELM KUPPEL, Naturrecht und Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ebenda, S. 270-292; DIETHELM KLIPPEL, Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Naturrechts. Zur Einführung, in: Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität - Inhalt - Funktion - Wirkung, hg. von DIETHELM KLIPPEL, Gold­bach 1997, S. VII-XVI.

68 HöPFNER, Naturrecht des einzelnen Menschen (wie Anm. 61), 3. Auflage, Gießen 1785, 6. Auflage, Gießen 1795.

69 JOHANN CHRISTOPH HOFFBAUER, Naturrecht aus dem Begriffe des Rechts entwickelt, 4. Auflage, Merseburg 1825, § 266 (S. 117).

70 SAALFELD, Grundriß eines Systems des europäischen Völkerrechts (wie Anm. 58), § 110 (S. 76).

14 Milo~ Vec

sich keine Hilfe zu eiwarten, da die notwendigen Zwangsmöglichkeiten fehl­ten.

71 Konsequent schließt er stattdessen die Darstellung von Retorsion, Re­

pressalien und Krieg an. 72

Ergiebiger sind da schon die Entwürfe eines künftigen Völkerrechts. Karl Heinrich von Gros ersehnt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinem ,,Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft" einen „ewigen Frieden" durch ein Bundesgericht. 73 Das veiwies schon terminologisch klar auf Immanuel Kant und seine Friedensschrift, trug aber das Kainsmal der Utopie. Noch weniger populär waren da nur jene Ausführungen, die ein Gericht als Teil einer Zentral­gewalt in einem Weltstaat installieren wollten.

Ob ein solches tatsächlich wünschenswert wäre, haben viele Völkerrechtler und Staatswissenschaftler heftig bezweifelt. Im Hinblick auf die Frage der Streitbeilegung und Konfliktvermeidung wurde dabei auch auf grundsätzliche Grenzen der Vergerichtlichung hingewiesen. Diese könne auch ein Völker­tribunal oder Weltgericht nicht beheben, denn es handele sich um ein strukturelles Problem. Der Hegelianer Albert Friedrich Berner durchmustert 1870 die Schutz­mittel, die das Völkerrecht im Fall der Krise aufrechterhalten sollen und findet zahlreiche Mängel:

,,Hier hat der Bau des Völkerrechts offenbar eine Lücke, durch die noch oft ver­heerende Stürme hereinbrechen werden. Kongresse, Schiedsgerichte und mit be­grenzter Zuständigkeit selbst ein dauerndes Völkertribunal könnten wohl vieles Unheil verhindern und manche Kriegsfrage im Wege der Vernunft und des Friedens erledigen. Darüber indeß, darf man sich nicht täuschen, daß die Kriege hierdurch nur seltener werden, nicht aber ganz verschwinden würden. Denn richterliche Urtheile können immer nur bestehendes Recht anwenden, nicht über die Gestal­tungen der Zukunft entscheiden, die der in der Geschichte waltende und umge­staltende Geist der Menschheit im Laufe der Zeiten heraufführt. So sind die großen Fragen der Nationalitäten Fragen des Wachsthums weltgeschichtlicher Potenzen, die durch den Arm der Rechtspflege nimmer gebändigt werden können. Bei jeder großen geschichtlichen Krise des Staatenlebens arbeitet sich ein neuer Rechtszu­stand aus dem alten hervor, der den alten zerstört und aus dem Gesichtspunkte des alten als illegitim erscheint. Im Wege der Rechtssprechung, die nur auf der Basis des bestehenden Rechtszustandes denkbar ist, den neuen Rechtszustand verurtheilen, weil er gegen den Buchstaben des geltenden Rechts streitet, hieße den Gang der Geschichte hemmen und den Geist der Menschheit zur Mumie machen wollen. Möge denn also immerhin eine Lücke bleiben, die den Völkern und Staaten den frischen Luftzug der Zukunft zuführt und die Atmosphäre im alten Bau reinigt und belebt."74

71 ScHMJ\LZ, Das europäische Völker=-Recht (wie Anm. 58), S. 212. 72 SCHM.ALZ, Das europllische Völker=Recht (wie Anm. 58), S. 213-220. 73 KARL HEt!'IRICH VON Gaos, Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft oder des

Naturrechts, 6. Auflnge, Sruttgart 1841, § 466 (S. 186). 74 BERNER, Art . .,Völkerrecht'' (wie Anm. 12), S. 76- 96 (S. 80).

Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? 15

So gewendet, weist das System der Konfliktlösungsinstrumente im zwischen­staatlichen Bereich bei aller Unvollkommenheit doch auch ein Gutes auf, nämlich die Option der reflektierten Rechtsfortbildung als Reaktion auf erfahrene Krisen im europäischen Staatensystem.

V. Communaute Internationale

Kurz: Die Staaten waren zwar erfreulich autonom, aber sie waren auch dermaßen autonom, dass die wechselseitigen Verbindlichkeiten schwach ausgeprägt waren - und zwar besonders im Konfliktfall. Dieser Zustand wurde im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zunehmend kritisiert und durch ein theoretisches Gegen­modell abgemildert, das die Souveränität wahrte, aber die Rechtsbeziehungen im Hinblick auf ein neues Prinzip modellierte. Die Rede ist von der „Internationalen Gemeinschaft", der „Communaute Internationale". Hier verdichtete sich ein neues Leitbild der Staatenkooperation. Verbindungs- und sogar Einheitsgedanken kannte auch das naturrechtlich geprägte Völkerrecht des 18. Jahrhunderts schon. Bei Christian Wolffund Emer de Vattel lauteten die kosmopolitischen Stichworte ,,civitas maxima" bzw. ,,societe des nations". 75 Das traf aber nicht den über­wiegenden Geschmack der Zeitgenossen, und besonders nicht den der am positiven Völkergewohnheits- und Völkervertragsrecht ausgerichteten Publizis­ten. Es blieb daher eine umstrittene Utopie mit fehlender Rückbindung an reale zwischenstaatliche Bindungen.

Erst mit der sprunghaften Verdichtung der zwischenstaatlichen Beziehungen im 19. Jahrhundert gelangten die Kooperationsideen im Völkerrecht auch in der Wissenschaft auf eine neue Ebene. Diese Staatenkooperation vollzog sich zunächst und sachlich primär auf den scheinbar ebenso banalen wie wichtigen Sektoren von Kommunikation, Wirtschaft und Technik im 19. Jahrhundert. 76

Dies waren unspektakuläre Bereiche insofern, als es sich um sogenannte „un­politische" Materien handelte. Weil diese vergleichsweise unproblematisch zu regulieren waren und die Regulierungen für die Beteiligten allseits vorteilhaft schienen, 77 ließen sich hier leichter als auf anderen Feldern sogar internationale

75 MARC BELrssA, Fraternite universelle et interet national (1713-1795). Les cosrnopolitiques du droit des gens, Paris 1998.

76 MrLO~ VEc, Recht und Normierung in der Industriellen Revolution. Neue Strukturen der Norrnsetzung in Völkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung, (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 200; Recht in der Industriellen Revolution 1 ), Frank­furt am Main 2006, S. 21-164.

77 Siehe etwa das eindrtickliche Beispiel der Universal Postal Union (Weltpostverein): Mrw~ VEc, Die Bindungswirkung von Standards aus rechtsgeschichtlicher Perspektive. Globale Norm­setzung und Normimplementation am Beispiel des Weltpostvereins von 1878, in: Geltung und Faktizität von Standards, hg. von THOMAS M.J. MÖLLERS, (Schriften des Augsburg Center for Global Econornic Law and Regulation - Arbeiten zum internationalen Wirtschaftsrecht und zur Wirtschaftsregulierung), Baden-Baden 2009, S. 221-251 (S. 242-250 zu den begünstigenden Faktoren).

16 Milos Vec

Institutionen 78 grunden, die sogenannten Verwaltungsunionen. Diese beinhalte­ten in ihren Verträgen, den multilateralen, beitrittsoffenen Konventionen, vielfach Schiedsklauseln. Genaueres dazu erfährt man bei Sebastian Kneisel. 79 Hier soll es bei dem Hinweis bleiben, dass es in diesem Bereich, etwa den internationalen Sanitäts- und Flusskommissionen, früh autonome Gerichte mit eigenen Zustän­digkeiten gab. 80

Weitere wesentliche Impulse empfing die internationale Streitbeilegung auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Hier vollzieht sich ein Prozess der Verdichtung der internationalen Gemeinschaft. Er verläuft über Kongresse und Konferenzen, 81 die eine große Bandbreite an Themen, Größe und Bedeutung aufweisen. Sie erstrecken sich von kleinen technisch-wissenschaftlichen Exper­tennetzwerken bis hin zu den beiden hochpolitischen Haager Konferenzen, die eine bedeutende Zäsur in der Geschichte der internationalen Streitbeilegung darstellen. Hinzu kommt die Grundung internationaler Organisationen, privater, staatlicher und halbstaatlicher Art. Auch hier ist eine große Bandbreite fest­zustellen, an deren Spitze im 20. Jahrhundert zunächst der Völkerbund und schließlich die UNO stehen. Diese Stationen seien abgekürzt genannt, weil sie die Muster und größeren Entwicklungslinien abbilden. Das alles war gedanklich teilweise durch das Völkerrecht der Aufklärung 82 vorbereitet worden, aber es wurde nun in einem Zeitalter der tatsächlichen Internationalisierung, jener

78 Unter einem erweite.rten Institutionen-Begriff ist ferner auch an das Europäisohc Konzert zu denken, worauf Mauhias Schulz 7.lllelZI eindrucksvoll hingewiesen bat: MATTlilAS ScauLz, Normen 11nd Praxis. Das E11ropäisc/re Konzert der Großmäcl,rf! a/:, Sidierheir:.rm, 1815-1860, (Studien zur lnten:rntionalen Geschichte 21 ), M!lnchen 2009; DERS., Inremarionale: Pol itik und Friedenskultur. Das Europäische Konzert in poli tikwissenschafUicher Perspektive und his1oriseher Empirie, in: Da.i uuropiiische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolilik vom Wiener Kon­gress 1815 bis wm Krimkrieg /853, hg. von WoLFltAM PYTA, {Stuttgarte( Historische For­schungen 9), Köln,Weimru:, Wien 2009, S. 41- 57 (bes. S. 46 ff.). - Siehe bereits BE"RNER, Art. ,.,Völ.kerrecht" (wie Anm. 12), S. 76-96 (S. 79); .,Seit geraumer Zeil bilden diefon/ Großmächte thatsä.chlich eine An Völkertribunal und Obe1wachen die Beobachtung der großen Staatenverträge und der völkerrechtlichen Gewohnheiten" (Heivorhebung im Original).

79 Einige Beobachtungen in seinem Beitrag in diesem Baod und vor allem bei SE.BASTTAN KNElSEL, Schiedrgerlchtsbarkeir in lllferna1io11a/en Venval111ngsu11io11en (/874- 1914): die •'er­rech1/ichu11g der :r.vischens1aatlichen S11·eilbeifegung, (Stµdien zur Geschichte des Völkerrechts 20), Baden-Baden 2009.

SO Siehe etwa von LISZT, Das Völkerrecht (wie Anm. 16), § 27 Il l (S. 221). 81 RICHARD Gtw\OY GRUJ!ER, ln1erna1io11ale Sraafenkongresse 1mdK011fere112en, ilwe 10rbe­

reitung 1111d Organisorion. Eine vtJ/kerrecl11s-diplomatische Umersuclnmg auf Gnmd der Sraaten­praxis vom Wiener Ko11greß 1814 bis wr Gegenwart, Berlin 1919; VEc, Recht und Normierung in der Industriellen Revolu tion (wie Anm, 76), S. 75-103.

S2 EMMANUELLE JOUANNET, Emer de Vauel e/ l 'emergence doctrfnale du droi/ i111ernorio11ol classique, Paris 1998, bzw. in englis.cher Übersel7.\lng; Voue/ ond 1he emergeJ1ce of classic illfer­notio11al law. Transl. by Gina Bellende, Roben Howse, Oxford 2010; MlLOS VEC, Wie auf­klärerisch war die. Völ.kerrechiswissenschafl des 18. Jahrhunderts?, in : A11jk/6nmg und Wlssen-• fchaft. Meeting des lnl~rdisi!iplinären Zentrums fiJr die E,forschwig der Eur·opäisclum Aujklärung der Uni11ersitii1 Haffe und der leopoldina Halle, hg. voa RAb'>ER ENS.KAT und ANDREAS K LEJNERT, (Acta Historica Leopoldina), Halle 2011 (im Druck).

Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung im 19. und 20. Jahrhundert? 17

Epoche der „Verwandlung der Welt", 83 mit Leben erfüllt, es wurde in Staaten­praxis und Verträgen konkretisiert und fortentwickelt. Das Völkerrecht erschloss sich nach und nach neue Themen, Regelungsfelder und Instrumente, die heute zu seinem Kernbereich gehören; anderes, wie die besonders in der Vormoderne notorischen Konflikte um Rang und Ehre, wurde verdrängt und geriet, wie innigst ersehnt, 84 in den Hintergrund. Die Völkerrechtslehre würdigte diese verdichteten Kooperationsbeziehungen vielfach, besonders aber eben unter Rekurs auf den Leitbegriff der „Communaute Internationale"85 bzw. der „Societe des nations". 86

Trotz alledem zeigen sich aber, und zwar nicht nur in dieser Epoche, die Mühsale einer internationalen Gemeinschaft. Die Verfahren der Streitbeilegung sind zersplittert. Völkerrecht, notierte der deutsche Völkerrechtler Paul Heilborn einmal, ist Ordnung im kleinen, aber Unordnung im großen. 87 Eine zentrale Institution wie der Schiedshof in Den Haag hat seit seiner Gründung nur wenige Verfahren bearbeitet. So es Urteile und Schiedsspruche tatsächlich gibt, ist die Vollstreckung bzw. die Überwachung der Befolgung der Urteile durch die Gerichte ein besonderes Problem dieses Rechtsgebiets. 88 Die Frage der inter­nationalen Gemeinschaft stellt sich nämlich nicht nur bei der Verdichtung des Vertragswesens, der Schaffung von Institutionen und der Vergerichtlichung der Konflikte, sondern schließlich auch bei der Duldung von Zwang bei der Vo11-streckung. Friedrich von Martens formulierte 1886:

„Unter dem Zwangsrecht im objectiven Sinne ist die Gesammtheit derjenigen Rechtsnormen zu verstehen, die der Staat als Glied der internationalen Gemein­schaft bei der Wahrung seiner legitimen Interessen und Rechte zu beobachten hat. Im subjectiven Sinne bedeutet das internationale Zwangsrecht soviel als die Be­fugniss eines jeden Staates, seine im Bereich des Internationalen liegenden Rechte und Interessen mit allen ihm zur Verfügung stehenden erlaubten Mitteln zu vertheidigen und zu veiwirklichen. [ ... ] Die Anwendung des Zwanges ist das letzte und äusserste Mittel, mit Hilfe dessen die auswärtigen Verhältnisse in der den unabweislichen Bedürfnissen der Völker und den Anforderungen der allgemeinen

83 JÜRGEN ÜSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.

84 GEORG FRIEDRICH VON MARTENS, Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet, Göttingen 1796, Vorbericht, S. Xlf.

85 Siehe etwa LEOPOLD BARON DE NEUMANN, Elements du droit des gens moderne europeen , traduit de l'allemand (sur la 3e edition revue et augmentee) et annote par M. A. de Riedmatten, Paris 1886, § 8 (S. 28); PAUL LESEUR, Introduction a un cours de Droit International Public, Paris 1893, § 59 (S. 94).

86 Siehe etwa ALPHONSE RIVIER, Principes du Droit des Gens, Bd. 1, Paris 1896, § 1, Ziff. 2 (S. 7).

87 So zitiert bei JöRG MANFRED MösSNER, Einführung in das Völkerrecht, (Schriftenreihe der Juristischen Schulung 55), München 1977, S. 146 (ohne genaue Fundstellenangabe) .

88 GEORG DAHM, Josr DELBRÜCK, RÜDIGER WOLFRUM, Völkerrecht, Band I/3: Die Formen des völkerrechtlichen Handelns. Die inhaltliche Ordnung der internationalen Gemeinschaft, Berlin 2002, s. 842.

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Rechtsordnung entsprechenden Weise gestaltet werden. [ ... ] Der Umkreis der Staaten, welche das Recht des Zwanges gegen einander gelten lassen und üben, beschränkt sich auf die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft." 89

So finden sich also in der Praxis vielfach Schwierigkeiten, den Imperativ der völkerrechtlichen Theorie umzusetzen, welcher lautet, dass die Staaten die Pflicht haben, ihre Streitigkeiten friedlich beizulegen. 90 Heute müsste man diese und ähnliche Formeln vermutlich pluralisieren und damit die Vorstellung einer internationalen Gemeinschaft relativieren. Denn die empirische Forschung hat eindrucksvoll herausgestellt, dass „eine geradezu explosionsartige Vervielfälti­gung voneinander unabhängiger global agierender und zugleich sektoriell ent­grenzter Gerichte, Quasi-Gerichte und anderer Konfliktlösungsinstanzen zu be­obachten (ist)". 91 Statt, wie bei Martens, von einer internationalen Gemeinschaft zu sprechen, der man angehört, wenn man Zwang duldet, müsste man das Bestehen vieler internationaler Gemeinschaften erwägen, die Ausdruck der Fragmentierung auch der Konfliktlösungsinstitutionen und -mechanismen sind.

Daher kann man also als vorläufiges Fazit festhalten, dass die Streitbeilegung zumal in historischer Perspektive ein besonderes Problem des Völkerrechts darstellt. In ihr spiegeln sich die Strukturmerkmale dieses Rechtsgebiets in besonders kritischer Weise wider. Der Kodifikationsgrad der Streitbeilegungs­mechanismen ist gering. Das soll nicht verschweigen, dass wir es im Ganzen dennoch mit einer gemäßigten Fortschrittsgeschichte des 19. und 20. Jahrhun­derts zu tun haben. Die Ächtung des Krieges und anderer unfriedlicher Mittel der Konfliktlösung schritten zumindest in der Völkerrechtstheorie langsam voran. 92

Das Völkerstrafrecht etwa entwickelt sich stetig weiter, und auch auf anderen Gebieten stehen Normen und Institutionen zur Verfügung. Karl-Heinz Zieglers Buch spricht vielfach von der Verdichtung dieser Rechtsgebiete, 93 und es endet nunmehr mit eher hoffuungsvoll gestimmten Ausblicken auf die Gegenwart als das „Zeitalter der globalen Staatenwelt". 94

Doch die Geschichte der völkerrechtlichen Konfliktlösung ist nicht nur durch die Erfahrung einer besonderen Dürftigkeit und den von mir genannten großen Schwierigkeiten geprägt. Es gibt auch eine andere Seite, die mit diesem Struktur­problem unmittelbar verbunden ist. Denn genau die historische Erfahrung, dass

89 FRIEDRICH VON MARTENS, Yölkerrecht. Das i111emarionale Recht der civilisinen Nationen, Deutsche Ausgabe VOD C..\RL BERGBOH:M, Bd. 2, Berlin 1886, s. 450 f.

90 DAHM, DEI.BRUCK, WOL.l'RUM , Völkerre<:hl (wie Anm. 88), s. 833. 91 ANDREAS F1SCHER·LESCANO, GUNTHER TEUBNER, Rey:ime-Kolfisione11. Zur Fragmentie­

rung de.r globalen Rechui, Frankfu.n am Main 2006, S. 8 rn. w. N. 9l Siebe etwa AUGUST WI LHELM liEFFTRR, Das E11ropäisd1e Völkerrecht der Gegenwor1,

bearbeilel von F. HEINRICH GEFFCK.EN, 8. Auflage, Berlin ] 8881

§ 111 (S. 237-24 J ). 93 KARL-HEINZ ZIEGLER, Völketrechrsgesc/riclue. Ein Srudienb,,ch. 2. Aufl.age, Munchen

2007, § 46 1 (S. 201) und passim. 94 ZrEGLER , Völ.kerrechtsgesohichte (wie Anm. 9i), ij 56 ($. 244).

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Konflikte zwischen Mächten besonders schwer zu lösen sind, hat dazu geführt, dass das Völkerrecht umgekehrt einen reichen Fundus an anderen Instrumenten hervorgebracht hat. Sie wirken in gewisser Weise komplementär und vorgelagert zu den Streitbeilegungsmechanismen, die greifen, wenn der Konflikt bereits ausgebrochen ist.

VI. Diplomatie

Daher sind gerade die vielfältigen Instrumente der präventiven Konfliktver­meidung und -schwächung als besonderes Merkmal des Völkerrechts zu wür­digen. Denn das Völkerrecht hat sich eingedenk der genannten Schwierigkeiten seit jeher darauf eingestellt, besonders gesicherte Verfahrensformen zu entwi­ckeln. Längst bevor die Idee oder der Begriff der internationalen Gemeinschaft entstanden waren, gab es Vorstellungen über die Unverletzlichkeit, juristische Immunität und sogar Heiligkeit der Gesandten. 95 Hier wie auch auf anderen Feldern wurde eine normativ eingehegte Kommunikation zwischen Mächten ermöglicht, welche die beiderseitigen Interessen mitteilen, aushandeln und juristisch verfestigen sollte. Gesandtschaftswesen, 96 Schriftverkehr, Herrscher­treffen, später Kongresse und Konferenzen 97 bildeten eine rechtlich und ethisch hochgradig durchdrungene kommunikative Struktur. 98 Den Gesandten kamen besondere Vorrechte zu, sie wurden mit juristisch normierten, zeremoniellen Ehren empfangen, 99 die denen für ihre Herrscher gleichkamen. Ihre Rollen waren sakral überformt.

Kam es zu Verabredungen, wurden diese wiederum in einer breiten Palette von Formen abgeschlossen. Teilweise waren sie informell und geheim, teils hoch­offiziell und wurden entsprechend prominent publiziert. 100 Die zwischenstaat­liche Kommunikation 101 war also auch völkerrechtlich normiert, und eben diese

9S LINDA FREY, MARSHA FREY, The Hislory of Diplomatie lmmunity, Columbus (Ohio) 1999. 96 TIMOTHY HAMPTON, The Diplomatie Moment: Representing Negotiation in Early Modem

Europe, in: Modern Language Quarler/y 67 (2006), S. 81-102; KARL-HEINZ ZIEGLER, Art. ,,Gesandtschaft", in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 47), 2. Auflage, Bd. 2, Berlin 2009, Sp . 301-302.

97 JöRG ULBERT, Art. ,,Kongresspolitik", in: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. von FRIEDRICH ]ÄGER, Bd, 6, Stuttgart 2007, Sp. 1086-1088.

98 KLAUS BEYRER, Art. ,,Botenwesen", in: Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 97), Bd. 2, Stuttgart 2005, Sp. 361-367; ANusCHKA T1sCHER, Art. ,,Botschafter", ebenda, Sp. 367-370; DIES., Art. Diplomatie, ebenda, Sp. 1028-1041.

99 M1LO~ VEc, ,,Technische" gegen „symbolische" Verfahrensformen? Die Normierung und Ausdifferenzierung der Gesandtenränge nach der juristischen und politischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Vormoderne politische Verfahren, hg. von BARBARA STOLLBERG·RILINGER, (ZHF Beiheft 25), Berlin 2001, S. 559-590.

100 Diese Bandbreite ist bis heute erhalten geblieben: CHARLES LIPSON, Why are Some International Agreements Informal?, in: International Organization 45 (1991), S. 495-538.

101 WOLFGANG BEHRINGER, Art. ,,Kommunikation", in: Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 97), Sp. 995-1018.

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Normen des Staatenverkehrs bildeten über weite Strecken geradezu den positiven Kern dieses Rechtsgebiets.

Das alles ist selbstverständlich hinlänglich bekannt. Ich erwähne es aber trotzdem, weil darin meines Erachtens der leicht zu übersehende, weil vorge­lagerte Schwerpunkt völkerrechtlicher Konfliktlösung liegt. Denn das Völker­recht hat ein großes Erfahrungswissen im Aufbau präventiver und vertrauens­bildender Maßnahmen institutionalisiert. Prävention durch rechtlich geschützte Kommunikation unter autonomen Rechtssubjekten, Konfliktprävention durch Diplomatie ist ein in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzender genuiner Beitrag dieses Rechtsgebiets. Sie sollte den offenen Ausbruch jener Konflikte vermeiden, von denen alle Beteiligten - die Machtinhaber wie die Juristen -wussten, wie schwer sie im Falle tatsächlicher Eskalation mit friedlichen Mitteln zu lösen waren bzw. sind.

Nicht nur die bereits genannte Diplomatie, auch das gesamte Vertragswesen ist als Instrument der Konfliktprävention in Betracht zu ziehen. Hier begegnen sich die autonomen Rechtssubjekte und verhandeln ihre Interessen. Die Perfektion, die dieses Vertragswesen im Verlauf der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert zunehmend erreicht, 102 ist nachhaltig als Beitrag zu einer hoch differenzierten Kultur der Konfliktvermeidung und direkten Konfliktlösung zu sehen. Für die Konflikte der europäischen Großmächte in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts haben Jost Dülffer, Martin Kröger und Rolf-Harald Wippich acht Typen des Konfliktmanagements ausgemacht:

1. die territoriale, politische und ökonomische Kompensation, 2. die präventive oder parallele Krisenlenkung, 3. die kumulative Konfliktschwächung (Konfliktdissoziation), 4. die Suche nach Konvergenz (Gegnerallianz), 5. die Politik der Stärke (Abschreckung), 6. die militärische Parität, 7. die Vertrauensbildung, 8. die fortgesetzte Konfliktschwächung durch Regeln oder Institutionen. 103

Die Betrachtung des Völkerrechts unter dieser Prämisse erscheint auch deswegen besonders zeitgemäß, weil sich klassische rechtstheoretische Fragen der Post­moderne wiederfinden. Nämlich der Fokus auf die rechtliche Selbstorganisa­tion der Subjekte, 104 auf ein Rechtssystem jenseits des Nationalstaates, welches

!02 ZIEGLER, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. 93), bes. § 36 I-V (S. 150-154) und § 42 (S. 180-187).

103 JoST DüLFFER, MARTIN KRÖGER, ROLF-HARALD WIPPICH, Vermiedene Kriege. Deeska­lation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg, München 1997, S. 21.

104 KARL-HEINZ LADEUR, Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz - Selbstorganisation -Prozeduralisierung, (Schriften zur Rechtstheorie 149), 2. Auflage, Berlin 1995.

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gerade keine zentral erlassenen Gesetze kennt. Stattdessen spielen dort Instru­mente wie Vergleiche, Anerkennung und Verzicht 105 eine besondere Rolle.

VII. Resümee

Ich komme damit zum Schluss und fasse unter dem Erkenntnisinteresse einer vergleichenden europäischen Rechtsgeschichte zusammen: Die Konfliktlösung im Bereich der internationalen Beziehungen weist einerseits wesentliche Ge­meinsamkeiten mit anderen Bereichen des Rechts auf. Auch hier ist in den vergangenen Jahrhunderten und besonders in der Neuzeit sowie der juristischen Zeitgeschichte eine signifikante Verdichtung der Regelungen, eine „Verrechtli­chung", zu beobachten. Dabei ist besonders die Variante der Juridifizierung einschlägig: Neue Institutionen werden gegründet, die sich dezidiert und aus­schließlich der völkerrechtlichen Konfliktlösung widmen.

Andererseits sind auch wesentliche Differenzen zur Entwicklung in den anderen Rechtsgebieten des staatlichen Rechts zu konstatieren. Die Konflikt­lösung liegt hier stärker in den Händen der Parteien, sie sind zumeist stärker in das Verfahren eingebunden. Die Vollstreckung bereitet besondere Schwierigkei­ten (siehe etwa das Martens'sche Zitat oben unter V.). Die Lösungen bestehen oft nur sektoral und sind themen- oder gar fallspezifisch ausgeprägt. Auch das Resümee von Michael Stolleis (S. 193-197) verdeutlicht mit der Nennung von Stichworten aus zahlreichen aktuellen internationalen Bereichen die anhaltenden Probleme der Konfliktbereinigung in einer sich globalisierenden Welt, die nicht nur neue Lösungen entwickelt, sondern auch neue Probleme aufweist, oder neutraler gesprochen: Herausforderungen. Insgesamt bleibt der Grad an Juridifi­zierung klar hinter dem anderer, nationaler Regelungsbereiche zurück.

Dennoch sollte man die völkerrechtliche Konfliktlösung in ihren Merkmalen keineswegs nur als ein defizitäres Modell wahrnehmen. Sie weist vielmehr auch Eigentümlichkeiten auf, die positiv zu würdigen und für die Modeme von besonderem Interesse sind. Dazu gehört neben der starken Stellung der Parteien die kaum zu unterschätzende Vielfalt an Instrumenten der Konfliktprävention, die das Völkerrecht entwickelt hat: Die Überformung der zwischenstaatlichen Kommunikation mit rechtlichen Mitteln von Diplomatie, Abkommen und viel­fältigen Arten der Zusammenarbeit. All das sorgt für die Erzeugung eines wertvollen Stoffs, von dem die internationale Staatenwelt lebt und aus dem sie ihren Gemeinschaftsgeist und ihr Solidargefühl zieht: Vertrauen und insbeson­dere die Erwartung der Reziprozität.

105 Siehe die umfangreiche Darstellung bei von Lrszr, Das Völkerrecht (wie Anm. 16), §§ 52 ff. (S. 405 ff.) .