Upload
others
View
1
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Ein Jahr Mindestlohn – Eine Bilanz aus ökonomischer
Sicht
11. Workshop Europäische Tarifpolitik:
Ein Jahr Mindestlohn in Deutschland –
Erfahrungen und Perspektiven
Berlin
28. Januar 2016
Prof. Dr. Dr. h.c.
Joachim Möller
1
Heilserwartungen oder Diabolisierung: Der Mindestlohn polarisiert
„… ein flächendeckender Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro
(würde) dazu führen, dass kaum mehr jemand „Aufstocker“ sein
müsste.“ (http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/mindestlohn-koennte-hartz-iv-aufstocken-
eindaemmen-9001201.php)
Der Mindestlohn schadet den Ärmsten
(Thomas Straubhaar, in Cicero 2013)
„Der Mindestlohn ist des Teufels“
(H.-W. Sinn, SZ 2013)
3 IAB-Prognose 2015/16
Argumente der Mindestlohngegner …
Der Lohn einer Arbeitskraft kann nicht über ihrer
Produktivität liegen
Geringqualifizierte und unerfahrene Arbeitskräfte oder
Menschen mit Handikaps haben eine verminderte
Leistungsfähigkeit;
eine Einstellung „lohnt“ sich nur, wenn der Lohn
ausreichend niedrig ist
Ein Mindestlohn ist demnach in aller Regel
beschäftigungsschädlich
Niedriglohnbeschäftigung besser als Arbeitslosigkeit
Löhne seien oft nur als Einstiegslöhne niedrig
(„Sprungbrettfunktion“ der Niedriglohnjobs)
4 IAB-Prognose 2015/16
Argumente der Mindestlohnbefürworter …
Ein Mindestlohn führt dazu, dass die Leute von ihrer Arbeit leben können, er schützt vor Ausbeutung und ist ein Instrument der Armutsbekämpfung
Er fördert den Qualitätswettbewerb und verhindert ruinöse Konkurrenz, bei der der schlechte Arbeitgeber den guten unterbietet und diesen verdrängt
Ein Mindestlohn schützt vor Billiglohnfirmen aus dem Ausland
Besser bezahlte Arbeitnehmer sind produktiver, die Bindung an den Job steigt
Offene Stellen können schneller besetzt werden
Der Mindestlohn verhindert Geschäftsmodelle, die auf dem Missbrauch von Aufstockerleistungen beruhen
5 IAB-Prognose 2015/16
Warum das Marktmodell der Mindestlohngegner die Realität nicht trifft …
Der Arbeitsmarkt ein unvollkommener Markt, Arbeitssuche mit Kosten verbunden, begrenzte Zahl alternativer Arbeitsplätze
Unternehmen verfügen über Marktmacht
Unternehmen mit Marktmacht können den Lohn unter die Produktivitätsschwelle drücken, ihre Nachfrage nach Arbeitskräften liegt unter der auf einem vollkommenen
Markt
Eine Lohnuntergrenze verhindert dies: Ein gesetzlicher Mindestlohn kann unter bestimmten Bedingungen sowohl den Lohn als auch die Beschäftigung erhöhen
7 IAB-Prognose 2015/16
Erwartete Auswirkungen auf Verhalten und Arbeitsmarktdynamik
Die attraktivere Bezahlung führt zu …
schnellerer Besetzung von offenen Stellen
geringerer Fluktuation stärkerer Identifikation mit dem Job
positive Auswirkungen auf die Produktivität!
8 IAB-Prognose 2015/16
Die rote Linie …
Insofern der Mindestlohn Marktmacht korrigiert, hat er positive Effekte (Lohnerhöhungen ohne Beschäftigungsverluste)
Ein „sehr hoher“ Mindestlohn führt aber unweigerlich zu
Jobverlusten
Wo liegt die rote Linie?
9 IAB-Prognose 2015/16
Mindestlohn-Effekte ein Jahr danach: Was wir wissen …
Kein nennenswerter Beschäftigungseinbruch, keine
Konjunkturdelle (auch nicht in Ostdeutschland)
Signifikanter Rückgang der Minijobs, etwa zur Hälfte
Umwandlung in sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung
Inanspruchnahme der Ausnahmeregelungen bei Einstellung
von Langzeitarbeitslosen offenbar sehr gering
Geringe Auswirkungen auf die Zahl der Aufstocker
12 IAB-Prognose 2015/16
Mindestlohn-Effekte ein Jahr danach: Wofür es Indizien gibt …
Spürbare Lohneffekte bei den begünstigten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
Rückgang der Fluktuation bei den begünstigten
Arbeitnehmern
Verringerung der Lohnungleichheit im unteren Bereich der
Verteilung
13 IAB-Prognose 2015/16
Mindestlohn-Effekte ein Jahr danach: Was man vermuten kann…
Positive Produktivitätseffekte
Insgesamt hohe Einhaltung der Mindestlohnregelungen
Kaum Mehreinstellungen Langzeitarbeitsloser trotz der
Ausnahmeregelungen
Geringe Auswirkungen auf die Größe des Niedriglohnsektors
Positive Effekte auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage
Rückgang der geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede
14 IAB-Prognose 2015/16
Reales Bruttoinlandsprodukt: Keine Konjunkturdelle
IAB-Prognose 2015/16 16
Entwicklungstendenz des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Deutschland
2009 bis 2016
in Mrd. Euro (preis-, saison- und kalenderbereinigte Quartalswerte)
Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des IAB. Stand September 2015.
Arbeitsmarkt
Erwerbstätigkeit steigt weiter
‐ Faktoren: Zuwanderung, Fachkräftebedarf,
Dienstleistungen
‐ geringe Konjunkturabhängigkeit
‐ wenige Entlassungen, mäßiges Einstellungsniveau
Arbeitslosigkeit steigt 2016 leicht an
‐ Fundamentalfaktoren weiter günstig
‐ Effekte der Flüchtlingszuwanderung überkompensieren
positive Entwicklung
17 IAB-Prognose 2015/16
Erwerbstätigkeit: Fortsetzung des positiven Trends
IAB-Prognose 2015/16 18
Entwicklungstendenz der Erwerbstätigkeit in Deutschland 2009 bis 2016
in 1.000 (saisonbereinigte Monatswerte)
Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des IAB. Stand September 2015.
Arbeitslosigkeit: Leichter Rückgang in 2015
IAB-Prognose 2015/16 19
Entwicklungstendenz der Arbeitslosigkeit in Deutschland 2009 bis 2016
in 1.000 (saisonbereinigte Monatswerte)
Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Berechnungen des IAB. Stand September 2015.
Erwerbsformen: Starker Anstieg bei der sv Beschäftigung, Rückgang bei den Minijobs in 2015
20
Entwicklung der Erwerbsformen 2015 und 2016
in 1.000
SVB Beamte geringfügig
Beschäftigte Selbständige
2015 + 590 - 10 - 230 - 100
2016 + 540 - 10 - 80 - 90
IAB-Prognose 2015/16
Mindestlohn-Effekte: Was wir bisher wissen …
Kein nennenswerter Beschäftigungseinbruch, keine
Konjunkturdelle (auch nicht in Ostdeutschland)
Bisher geringe Auswirkungen auf die Zahl der Aufstocker
Rückgang der Minijobs, etwa zur Hälfte Umwandlung in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
Geringe Inanspruchnahme der Ausnahmeregelungen bei Einstellung
von Langzeitarbeitslosen
22 © IAB 2016, IL
Mindestlohn-Effekte: Was wir vermuten, aber noch nicht genau wissen …
Deutliche Lohneffekte bei den begünstigten Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern
Rückgang der Fluktuation bei den begünstigten Arbeitnehmern,
positive Produktivitätseffekte
Insgesamt relativ hohe Einhaltung der Mindestlohnregelungen
Kaum Mehreinstellungen Langzeitarbeitsloser trotz der
Ausnahmeregelungen
Verringerung der Lohnungleichheit im unteren Bereich der
Verteilung, jedoch kaum Auswirkungen auf die Größe des
Niedriglohnsektors
Rückgang der geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede
23 © IAB 2016, IL
Einschätzung der Effekte des Mindestlohns auf die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
25 © IAB 2016, Agenturbefragung der BA; 156 VGs der Agenturen; 118 in West, 38 in Ost, Auswertung J.Möller
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Gesamt West Ost
Dezember 2014
negativ neutral positiv
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Gesamt West Ost
Dezember 2015
negativ neutral positiv
VGs der 156 Arbeitsagenturen
Einschätzung der Effekte des Mindestlohns auf die Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung
26 © IAB 2016, Agenturbefragung der BA; 156 VGs der Agenturen; 118 in West, 38 in Ost, Auswertung J.Möller
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Gesamt West Ost
Dezember 2014
negativ neutral positiv
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Gesamt West Ost
Dezember 2015
negativ neutral positiv
VGs der 156 Arbeitsagenturen
Zu- und Abgangsraten in geringfügige Beschäftigung: Deutlicher Mindestlohneffekt bei den Abgängen
28 © IAB 2016, Aarbeitsmarktspiegel
4,0
4,5
5,0
5,5
6,0
6,5
7,0
7,5
8,0
Ja
n. 1
2
Mrz
. 1
2
Ma
i. 1
2
Ju
l. 1
2
Se
p. 1
2
No
v. 1
2
Ja
n. 1
3
Mrz
. 1
3
Mai. 1
3
Ju
l. 1
3
Se
p. 1
3
No
v. 1
3
Ja
n. 1
4
Mrz
. 1
4
Ma
i. 1
4
Ju
l. 1
4
Se
p. 1
4
No
v. 1
4
Ja
n. 1
5
Mrz
. 1
5
Ma
i. 1
5
Ju
l. 1
5
inflow outflow
Niedriglohnbereiche (unterstes Quintil)
Zu- und Abgangsraten in geringfügige Beschäftigung: Deutlicher Mindestlohneffekt bei den Abgängen
29 © IAB 2016, Aarbeitsmarktspiegel
Hochlohnbereiche (oberstes Quintil)
4,0
4,5
5,0
5,5
6,0
6,5
7,0
7,5
8,0
Ja
n. 1
2
Mrz
. 1
2
Ma
i. 1
2
Ju
l. 1
2
Se
p. 1
2
No
v. 1
2
Ja
n. 1
3
Mrz
. 1
3
Ma
i. 1
3
Ju
l. 1
3
Se
p. 1
3
Nov.
13
Ja
n. 1
4
Mrz
. 1
4
Ma
i. 1
4
Ju
l. 1
4
Se
p. 1
4
No
v. 1
4
Ja
n. 1
5
Mrz
. 1
5
Ma
i. 1
5
Ju
l. 1
5
inflow outflow
Zu- und Abgangsraten in sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigung
31 © IAB 2016, Aarbeitsmarktspiegel
Niedriglohnbereiche (unterstes Quintil)
2,0
2,5
3,0
3,5
4,0
4,5
inflow outflow
Zu- und Abgangsraten in sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigung
32 © IAB 2016, Aarbeitsmarktspiegel
Hochlohnbereiche (oberstes Quintil)
0,5
0,6
0,7
0,8
0,9
1,0
1,1
inflow outflow
Anzeichen für einen Rückgang der Abgangsraten in
Niedriglohnbereichen relativ zu Hochlohnbereichen
33 © IAB 2016, Arbeitsmarktspiegel, gleitende 3-er Durchschnitte der Abgangsraten des untersten Quintils zum obersten Quintil.
Verhältnis von Abgangsraten Niedriglohn- zu
Hochlohnbereich
3,15
3,20
3,25
3,30
3,35
3,40
3,45
Entwicklung der Lohnungleichheit für sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte
34 © IAB 2016, Möller 2016
1,5
1,7
1,9
2,1
2,3
2,5
2,7
2,9
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
20
11
2012
2013
2014
C85/C15 C85/C15
Westdeutschland 1992 bis 2014, C85/C15
Entwicklung der Lohnungleichheit für sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte
35 © IAB 2016, Möller 2016
Ostdeutschland 1992 bis 2014, C85/C15
1,5
1,7
1,9
2,1
2,3
2,5
2,7
2,9
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
20
11
2012
2013
2014
C85/C15 C85/C15
Fazit
Operation „Mindestlohn“ geglückt, Kassandra-Rufe haben
sich nicht bewahrheitet
Änderung der Beschäftigungsformen: Rückgang bei den
Minijobs, Aufwuchs der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung
Erste Indizien für abnehmende Fluktuation im
Niedirglohnbereich
37 IAB-Prognose 2015/16
Die Effekte von Mindestlöhnen: Was wir aus der britischen
Erfahrung wissen (1)
40
Löhne
alle Studien: positive Auswirkungen auf
Lohnentwicklung im Niedriglohnbereich; besonders
auf die Löhne von Frauen
Beschäftigung
alle Studien: generell keine oder allenfalls
verschwindend geringe negative
Beschäftigungseffekte
Die Effekte von Mindestlöhnen: Was wir aus der britischen
Erfahrung wissen (1)
41
Arbeitsstunden (gemischte Evidenz)
Connolly, Gregory 2002: Keine Wirkung
Stewart, Swaffield 2004: Gewisse Reduktion der
Arbeitsstunden
Zweitjobs
Robinson, Wadsworth 2005: Keine Wirkung
Die Effekte von Mindestlöhnen: Was wir aus der britischen
Erfahrung wissen (2)
42
Preise
Moderater Preisauftrieb durch Mindestlöhne
Wadsworth 2007, 2008: Leichte Preissteigerungen
Gewinne, Konkurse
Experian 2007: keine Wirkung des Mindestlohns auf Gewinne
Draca et al. 2004, Machin et al. 2003; Machin, Wilson 2004: Gewinnrückgang in besonderen Sektoren
(z.B. im Home Care Sektor)
Machin et al. 2003; Machin, Wilson 2004; Draca et al. 2004: keine Wirkung auf Konkurse
Die Effekte von Mindestlöhnen: Was wir aus der britischen
Erfahrung wissen (3)
43
Produktivität
Forth, O’Mahoney 2002: Positiver, aber
insignifikanter Effekt
Galinda-Rueda, Pereira 2004: Positive Effekte auf
Produktivität
Aus- und Weiterbildung
Dickerson 2007: weder positive noch negative
Effekte
Arulampalam et al. 2004: gewisse positive Wirkungen