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Med Klin Intensivmed Notfmed 2013 · 108:396–400 DOI 10.1007/s00063-012-0203-1 Eingegangen: 22. März 2013 Überarbeitet: 6. Mai 2013 Angenommen: 8. Mai 2013 Online publiziert: 7. Juni 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 C. Madl 1  · U. Holzinger 2 1 4. Medizinische Abteilung mit Gastroenterologie, Hepatologie und Zentralendoskopie, Krankenanstalt Rudolfstiftung, Wien 2 Universitätsklinik für Innere Medizin 3, Klinische Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie, Intensivstation 13H1, Medizinische Universität Wien Ernährung und  gastrointestinale Intoleranz Die funktionelle Integrität des Gastrointestinaltrakts ist bei Intensiv- patienten eine wesentliche Voraus- setzung für die suffiziente Applika- tion einer enteralen Ernährung. Auf- grund der Bedeutung des Gastro- intestinaltrakts als größtes immu- nologisches Organ spielen Integrität und Funktionalität des Gastrointes- tinaltrakts eine prognostisch wichti- ge Rolle. Intensivpatienten mit einer gastrointestinalen Dysfunktion oder einem gastrointestinalen Versagen haben eine deutlich erhöhte Morbi- dität und Mortalität [1]; sowohl die 28-Tage-, als auch die 90-Tage-Mor- talität sind signifikant erhöht [1]. Abhängig vom Schweregrad entwi- ckeln bis zu 80% aller Intensivpatien- ten eine gastrointestinale Funktions- störung, die gastrointestinale Motili- tätsstörung ist die häufigste Dysfunk- tion [2]. Pathophysiologie der gastrointestinalen Intoleranz beim Intensivpatienten Zahlreiche Studien zeigten, das eine früh- zeitige enterale Ernährung innerhalb von 24–48 h nach Aufnahme auf der Intensiv- station, bei 65% aller Patienten zu Symp- tomen der gastrointestinalen Dysfunktion mit hohen gastrischen Residualvolumen, Erbrechen und abdomineller Distension führt und daraus eine Unterbrechung der enteralen Ernährung resultiert. Der GIF(Gastrointestinal Failure)-Score [1] definiert einen Score für das gastrointes- tinale Versagen, dabei werden Punkte von 0 (normale gastrointestinale Funktion) bis 4 (abdominelles Kompartmentsyndrom) vergeben (. Tab. 1). In einer Studie an 264 Intensivpatienten zeigte sich, dass bei Werten von 3 oder mehr die Mortalität auf über 50% signifikant anstieg [1]. Die Ent- wicklung einer gastrointestinalen Intole- ranz, allen voran einer Störung der gastro- intestinalen Motilität, führt über einer Störung der Darmpassage zu einer Ände- rung der physiologischen Darmflora mit einer Zunahme der intraluminalen Bak- teriendichte und einer Beeinträchtigung der gastrointestinalen Barrierefunktion [3]. Die konsekutive bakterielle Translo- kation ist der entscheidende Faktor für das Konzept des „Gastrointestinaltrakts als Motor der Sepsis“ [4]. In mehreren experimentellen Untersuchungen zeigte sich, dass eine erhöhte intestinale Perme- abilität mit der Entwicklung eines Multi- organversagens bei Intensivpatienten assoziiert ist und die Dünndarmpermea- bilität sehr eng mit einem Organversagen Score korreliert [5]. Darüber hinaus trig- gert eine ausgeprägte exokrine Pankreas- funktion bei Intensivpatienten die gastro- intestinale Intoleranz. Bei Patienten im septischen Schock kommt es bei über 90% der Patienten zu einer reduzierten exo- krinen Pankreasfunktion mit signifikan- ter Abnahme der Amylase, Chymotryp- sin und Trypsinsekretion [6]. Diese exo- krine Einschränkung der Pankreasfunk- tion mit reduzierter Protein- und Kohlen- hydratspaltung korreliert ebenfalls direkt mit dem Schweregrad des Multiorgan- versagens [7]. Die pathophysiologischen Veränderungen der gastrointestinalen Intoleranz und damit die Auswirkungen auf die Toleranz der enteralen Ernährung bei Intensivpatienten können den gesam- ten Gastrointestinaltrakt vom Ösophagus über den Dünndarm bis zum Kolon be- treffen (. Infobox 1). Postpylorische enterale Ernährung Die pathophysiologischen Veränderungen des oberen Gastrointestinaltrakts führen klinisch zu einer massiven Verzögerung Infobox 1 Störungen der gastrointestinalen Toleranz bei Intensivpatienten F   Erhöhter gastroösophagealer Reflux F   Störung der gastralen Motilität mit erhöhten gastralen Residualvolumen F   Erhöhte Motilität des Dünndarms mit duodenogastralem Reflux F   Exokrine Pankreasdysfunktion F   Reduzierung der Enterozytenmasse im Dünndarm F   Störung der Bürstensaumenzymaktivität im Duodenum F   Störung der intestinalen Mikrobiota F   Erhöhung der intestinalen Permeabilität mit Translokation von Darmbakterien F   Störung der „tight junction“ Barrierefunk- tion im Dickdarm F   Störung der autonomen Regulation der Kolonmortalität (akute kolonische Pseudoobstruktion) F   Intestinales Ödem F   Intraabdominelle Hypertension; intra- abdominelles Kompartmentsyndrom Redaktion W. Druml, Wien A. Weimann, Leipzig 396 Leitthema | Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 5 · 2013

Ernährung und gastrointestinale Intoleranz

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Page 1: Ernährung und gastrointestinale Intoleranz

Med Klin Intensivmed Notfmed 2013 · 108:396–400DOI 10.1007/s00063-012-0203-1Eingegangen: 22. März 2013Überarbeitet: 6. Mai 2013Angenommen: 8. Mai 2013Online publiziert: 7. Juni 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

C. Madl1 · U. Holzinger2

1 4. Medizinische Abteilung mit Gastroenterologie, Hepatologie und

Zentralendoskopie, Krankenanstalt Rudolfstiftung, Wien2 Universitätsklinik für Innere Medizin 3, Klinische Abteilung für Gastroenterologie

und Hepatologie, Intensivstation 13H1, Medizinische Universität Wien

Ernährung und gastrointestinale Intoleranz

Die funktionelle Integrität des Gastro intestinaltrakts ist bei Intensiv­patienten eine wesentliche Voraus­setzung für die suffiziente Applika­tion einer enteralen Ernährung. Auf­grund der Bedeutung des Gastro­intestinaltrakts als größtes immu­nologisches Organ spielen Integrität und Funktionalität des Gastrointes­tinaltrakts eine prognostisch wichti­ge Rolle. Intensivpatienten mit einer gastrointestinalen Dysfunktion oder einem gastrointestinalen Versagen haben eine deutlich erhöhte Morbi­

dität und Mortalität [1]; sowohl die 28­Tage­, als auch die 90­Tage­Mor­talität sind signifikant erhöht [1]. Abhängig vom Schweregrad entwi­ckeln bis zu 80% aller Intensivpatien­ten eine gastrointestinale Funktions­störung, die gastrointestinale Motili­tätsstörung ist die häufigste Dysfunk­tion [2].

Pathophysiologie der gastrointestinalen Intoleranz beim Intensivpatienten

Zahlreiche Studien zeigten, das eine früh-zeitige enterale Ernährung innerhalb von 24–48 h nach Aufnahme auf der Intensiv-station, bei 65% aller Patienten zu Symp-tomen der gastrointestinalen Dysfunktion mit hohen gastrischen Residualvolumen, Erbrechen und abdomineller Distension führt und daraus eine Unterbrechung der enteralen Ernährung resultiert. Der GIF(Gastrointestinal Failure)-Score [1] definiert einen Score für das gastrointes-tinale Versagen, dabei werden Punkte von 0 (normale gastrointestinale Funktion) bis 4 (abdominelles Kompartmentsyndrom) vergeben (. Tab. 1). In einer Studie an 264 Intensivpatienten zeigte sich, dass bei Werten von 3 oder mehr die Mortalität auf über 50% signifikant anstieg [1]. Die Ent-wicklung einer gastrointestinalen Intole-ranz, allen voran einer Störung der gastro-intestinalen Motilität, führt über einer Störung der Darmpassage zu einer Ände-rung der physiologischen Darmflora mit einer Zunahme der intraluminalen Bak-teriendichte und einer Beeinträchtigung

der gastrointestinalen Barrierefunktion [3]. Die konsekutive bakterielle Translo-kation ist der entscheidende Faktor für das Konzept des „Gastrointestinaltrakts als Motor der Sepsis“ [4]. In mehreren experimentellen Untersuchungen zeigte sich, dass eine erhöhte intestinale Perme-abilität mit der Entwicklung eines Multi-organversagens bei Intensivpatienten assoziiert ist und die Dünndarmpermea-bilität sehr eng mit einem Organversagen Score korreliert [5]. Darüber hinaus trig-gert eine ausgeprägte exokrine Pankreas-funktion bei Intensivpatienten die gastro-intestinale Intoleranz. Bei Patienten im septischen Schock kommt es bei über 90% der Patienten zu einer reduzierten exo-krinen Pankreasfunktion mit signifikan-ter Abnahme der Amylase, Chymotryp-sin und Trypsinsekretion [6]. Diese exo-krine Einschränkung der Pankreasfunk-tion mit reduzierter Protein- und Kohlen-hydratspaltung korreliert ebenfalls direkt mit dem Schweregrad des Multiorgan-versagens [7]. Die pathophysiologischen Veränderungen der gastrointestinalen Intoleranz und damit die Auswirkungen auf die Toleranz der enteralen Ernährung bei Intensivpatienten können den gesam-ten Gastrointestinaltrakt vom Ösophagus über den Dünndarm bis zum Kolon be-treffen (. Infobox 1).

Postpylorische enterale Ernährung

Die pathophysiologischen Veränderungen des oberen Gastrointestinaltrakts führen klinisch zu einer massiven Verzögerung

Infobox 1 Störungen der gastrointestinalen Toleranz bei Intensivpatienten

F  Erhöhter gastroösophagealer RefluxF  Störung der gastralen Motilität mit

erhöhten gastralen ResidualvolumenF  Erhöhte Motilität des Dünndarms mit

duodenogastralem RefluxF  Exokrine PankreasdysfunktionF  Reduzierung der Enterozytenmasse im

DünndarmF  Störung der Bürstensaumenzymaktivität

im DuodenumF  Störung der intestinalen MikrobiotaF  Erhöhung der intestinalen Permeabilität

mit Translokation von DarmbakterienF  Störung der „tight junction“ Barrierefunk-

tion im DickdarmF  Störung der autonomen Regulation

der Kolonmortalität (akute kolonische Pseudoobstruktion)

F  Intestinales ÖdemF  Intraabdominelle Hypertension; intra-

abdominelles Kompartmentsyndrom

RedaktionW. Druml, WienA. Weimann, Leipzig

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der Magenentleerung und damit zum Bild eines erhöhten gastralen Residual-volumens, konsekutiv zu vermehrtem gastroösophagealen Reflux und schließ-lich zu einer Intoleranz der gastralen enteralen Ernährung. Ein erhöhtes gastra-les Residualvolumen tritt bei bis zu 81% al-ler Intensivpatienten auf [8] und bewirkt, dass maximal 75% der vorgeschriebenen Kalorien an enteraler Ernährung tatsäch-lich zugeführt werden [9]. Sowohl die ESPEN Guidelines zur enteralen Ernäh-rung bei Intensivpatienten [10] als auch die amerikanischen und kanadischen Guidelines der ASPEN [11] empfehlen bei Intoleranz der intragastralen Ernährung eine postpylorische Ernährung über eine Jejunalsonde.

» Über eine Jejunalsonde wird enterale Ernährung deutlich besser toleriert

In einer kürzlich erschienenen kontrol-lierten Studie [12], die 1000 Patienten mit

akutem Lungenversagen einschloss und in und Patienten entweder eine enterale Ernährung mit 1300 kcal pro Tag oder eine Zottenernährung mit etwa 400 kcal pro Tag erhielten, zeigte sich, dass in bei-den Patientengruppen etwa 15% der Pa-tienten postpylorisch ernährt wurden [12]. Eine postpylorische Ernährung über eine Jejunalsonde wurde ab einem gastralen Residualvolumen von mehr als 300 ml pro 6 h begonnen. In mehreren klinischen Studien, die eine gastrale mit einer postpylorischen Ernährung vergli-chen, zeigte sich, dass prinzipiell das Ernährungsziel unter einer postpylori-schen Ernährung rascher erreicht wer-den kann und die Pneumonierate unter einer postpylorischen Ernährung signi-fikant reduziert werden kann (. Tab. 2). Eine rezente Studie bei 428 Intensivpa-tienten zeigte, je weiter distal die post-pylorische Sonde zum Liegen kommt umso geringer ist die Aspirations- und Pneumonie gefahr [13]. Bei tiefer Jejunal-lage konnte die Aspirationsrate um 18% und die Wahrscheinlichkeit eine Pneu-

monie zu entwickeln um 70% signifikant reduziert werden [13]. Als Indikationen für eine frühzeitige nasojejunale Ernäh-rung werden derzeit angesehenF  hohes gastrales Residualvolumen bzw.

schwere Gastroparese, F  schwere Verbrennungen, F  schwere akute Pankreatitis, F  schweres Polytrauma und F  Schädel-Hirn-Trauma.

Der Goldstandard zur Applikation der Nasojejunalsonde ist weiterhin der endoskopische Zugangsweg mit einer Erfolgsrate von über 90%. Bei der endoskopischen Technik besteht gleich-zeitig die Möglichkeit der visuellen Beurteilung des oberen Gastrointesti-naltrakts [14]. Alternativ gibt es mehrere nicht endo skopische, teilweise „bed side“ anwendbare Techniken zur Applika-tion der nasojejunalen Sonde. Dabei er-folgt die Applikation der Sonde teilwei-se EKG- oder EMG-unterstützt, unter direkter Visualisierung im Rahmen einer Durchleuchtung, teilweise sonographisch unterstützt bzw. unter elektromagneti-schen Monitoring. Bestimmte Sonden sind technisch so modifiziert worden, dass ein selbstvorziehender Applikations-modus eine postpylorische Ernährung er-möglichen kann. Nachteile dieser alterna-tiven Techniken sind die teilweise länge-re Applikationsdauer, die Notwendigkeit einer additiven Applikation von Prokine-tika und die mit 40–70% deutlich nied-rigere Erfolgsrate. Rezente technische Entwicklungen, wie die elektromagne-tisch visualisierte Applikation der Jeju-nalsonde mit Hilfe einer elektromagneti-schen Feldes, zeigte in kontrollierten Stu-dien eine Erfolgsrate für eine erfolgreiche postpylorische Lage von 80–95%, bei kur-zer Applikationsdauer von durchschnitt-lich 15 min [15]. Bei dieser Technik kann die Sondenspitze über ein elektromagne-tisches Feld über einen Monitor direkt am Bett dargestellt werden und so die Sonde visualisiert in korrekter Jejunalposition platziert werden. Da es sich dabei jedoch um eine einlumige Sonde handelt, muss bei korrekter postpylorischer Ernährung zur Drainage des Magens eine zusätzliche Sonde intragastral appliziert werden.

Aufgrund der derzeitigen Datenlage erscheint durch die Anwendung einer

Tab. 1 Gastrointestinal Failure Score (GIF-Score). (Adaptiert nach [1])

Punkte Klinische Symptomatik

0 Normale gastrointestinale Funktion

1 Enterale Ernährung <50% der kalkulierten Kalorien oder keine enterale Ernährung innerhalb von 3 Tagen nach abdomineller Operation möglich

2 Intoleranz der enteralen Ernährung (hohes gastrales Residualvolumen, Erbrechen, Darmdistension oder schwere Diarrhoe) oder IAH

3 Intoleranz der enteralen Ernährung und IAH

4 Abdominelles KompartmentsyndromIAH Intraabdominelle Hypertension.

Tab. 2 Vergleichsstudien: gastrale vs. postpylorische Ernährung

Patienten Ernährungsziel Pneumonie Mortalität, LOS

Studie

121 MICU Postpylorisch schneller und mehr Kalorien

Weniger Erbrechen, weniger VAP

Gleich Hsu, Crit Care Med 2009

181 MICU und SICU

Gleich Gleich Gleich Davies, Crit Care Med 2012

104 SHT Postplyorisch mehr

Weniger VAP Gleich Acosta-Escribano, Int Care Med 2010

105 MICU Gastral schneller und mehr (nur in ITT Analyse)

Gleich Gleich White, Crit Care 2009

637 in 11 Studien (Metaanalyse)

k. A. Gleich Gleich Ho, Intensive Care Med 2006

966 in 15 Studien (Metaanalyse)

k. A. Weniger VAP Gleich Jiyong, Clin Nutr 2012

MICU “Medical ICU“; VAP “ventilator associated pneumonia“; SICU “surgical ICU“; LOS “length of stay“; SHT Schädel-Hirn-Trauma.

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Leitthema

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Jejunalsonde bei über 90% der Intensiv-patienten eine adäquate postpylorische enterale Ernährung möglich zu sein. Neben der deutlich besseren Toleranz der enteralen Ernährung kommt es durch die Applikation der Jejunalsonde zu einer Abnahme des gastroösophagealen Reflu-xes und der Inzidenz der beatmungsasso-ziierten Pneumonie. In den letzten Jahren wurden mehrere Techniken entwickelt, die eine schnelle und komplikationsarme Platzierung einer Jejunalsonde ermögli-chen.

Therapieoptionen zur Verbesserung der enteralen Ernährung bei gastrointestinalen Motilitätsstörungen

Prinzipiell kann man zwischen Allge-meinmaßnahmen und speziellen thera-peutischen Optionen zur Behandlung der gastrointestinalen Motilitätsstörungen bei Intensivpatienten unterscheiden.

Allgemeinmaßnahmen

Kalium- und Magnesiumplasmaspie-gel im oberen Normbereich verkür-zen postoperative Motilitätsstörungen und sollten daher regelmäßig kontrol-liert werden [16]. Aufgrund des negati-ven Effekts von großen Flüssigkeitsvolu-mina auf die Entwicklung eines Darm-wandödems sollte die Flüssigkeitsbilan-zierung zielgerichtet und individuell bei Intensivpatienten eingesetzt werden [17]. Prinzipiell ist eine restriktive Flüssig-keitstherapie bei gastro intestinaler Mo-tilitätsstörung günstiger zu sehen, wo-bei die Gefahr einer Mikrozirkulations-störung bzw. Verminderung der gastro-intestinalen Perfusion bei zu restriktiver Politik wiederum negative Motilitäts-effekte hervorrufen könnte. Auch eine Katecholamintherapie kann über einen Shift des Blutflusses die gastrointestinale Perfusion verschlechtern und damit die gastrointestinale Motilität zusätzlich ne-gativ beeinflussen und dadurch die In-toleranz der enteralen Ernährung ver-ursachen [17]. Ferner hat die Analgose-dierung ausgeprägte negative Effekte auf die gastrointestinale Motilität und führt zu einer Intoleranz der enteralen Ernäh-

rung. Den positiven Effekt individueller Sedoanalgesiekonzepte mit Applikation kurz wirksamer Medikamente, „On-de-mand-Therapie“, tägliches Pausieren der Sedoanalgesie bzw. Umstellung auf Subs-tanzen mit geringerer inhibitorischer Wirkung sind eine der wichtigsten Maß-nahmen zur Behandlung bzw. Präven-tion einer gastrointestinalen Motilitäts-

störung mit Intoleranz der enteralen Er-nährung [3].

Die frühzeitige enterale Ernährung stellt per se einen Eckpfeiler in der Prä-vention, aber auch in der Therapie von gastrointestinalen Motilitätsstörungen dar. Die enterale Ernährung hat einen wesentlichen Effekt auf die Integration des Gastrointestinaltrakts und führt zu

Zusammenfassung · Abstract

Med Klin Intensivmed Notfmed 2013 · 108:396–400 DOI 10.1007/s00063-012-0203-1© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

C. Madl · U. Holzinger

Ernährung und gastrointestinale Intoleranz

ZusammenfassungDie funktionelle Integrität des Gastrointes-tinaltrakts ist bei Intensivpatienten eine wesentliche Voraussetzung für die suffiziente Applikation einer enteralen Ernährung. Bis zu 65% aller Patienten auf der Intensivsta-tion entwickeln Symptome einer gastroin-testinalen Dysfunktion mit hohem gastralem Residualvolumen, Erbrechen und abdominel-ler Distension. Die pathophysiologischen Ver-änderungen der gastrointestinalen Intoleranz und damit die Auswirkung auf die Toleranz der enteralen Ernährung, können den ge-samten Gastrointestinaltrakt betreffen. Vor allem gastroduodenale Motilitätsstörungen mit vermehrtem gastroösophagealen Reflux führen zu einer Intoleranz. Bei über 90% der Intensivpatienten mit gastrointestinaler Mo-tilitätsstörung kann durch die Anwendung einer Jejunalsonde eine adäquate postpylo-rische enterale Ernährung durchgeführt wer-den. Dies führt neben der besseren Toleranz

der enteralen Ernährung zu einer Abnahme des gastroösophagealen Reflux und der Inzi-denz der beatmungsassoziierten Pneumonie. Neben der Möglichkeit einer endoskopischen Applikation der Jejunalsonde wurden alter-native Techniken entwickelt, die eine schnel-le, komplikationsarme Platzierung einer Jeju-nalsonde ermöglichen. Darüber hinaus gibt therapeutische Optionen zur Verbesserung der gastrointestinalen Motilitätsstörungen, neben Allgemeinmaßnahmen bestehen me-dikamentöse Optionen zur Behandlung der gastrointestinalen Intoleranz, die eine suffi-ziente enterale Ernährung bei Intensivpatien-ten ermöglichen.

SchlüsselwörterGastrointestinale Motilitätsstörungen · Enterale Ernährung · Gastrisches Residualvolumen · Jejunalsonde · Postpylorische Ernährung

Nutrition and gastrointestinal intolerance

AbstractThe functional integrity of the gastroin-testinal tract is an essential prerequisite in intensive care patients for the sufficient ad-ministration of enteral nutrition. Up to 65% of patients in intensive care units develop symptoms of gastrointestinal dysfunction with high residual gastric volume, vomiting and abdominal distension. The pathophysio-logical alterations of gastrointestinal intoler-ance and the subsequent effect on the toler-ance of enteral nutrition can affect the whole gastrointestinal tract. Gastroduodenal mo-tility disorders in particular, with increased gastroesophageal reflux lead to intolerance. In more than 90% of intensive care patients with gastrointestinal motility disorders an adequate postpyloric enteral nutrition can be carried out using a jejunal tube. In addition to improved tolerance of enteral nutrition

this leads to a reduction of gastroesophageal reflux and the incidence of ventilation-asso-ciated pneumonia. Apart from the possibility of endoscopic application of the jejunal tube, alternative techniques were developed which allow a faster positioning of the jejunal tube with less complications. Furthermore, there are therapeutic options for improvement of gastrointestinal motility disorders and apart from general measures, also medicinal op-tions for treatment of gastrointestinal intoler-ance which allow a sufficient enteral nutrition for intensive care patients.

KeywordsGastrointestinal motility disorders · Enteral nutrition · Gastric residual volume · Jejunal tube · Postpyloric nutrition

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einer Aufrechterhaltung der physiolo-gischen Darmfunktion, allen voran der Aufrechterhaltung der Darmbarriere [4]. Zahlreiche Studien zeigten, dass eine frühzeitige enterale Ernährung bei Inten-sivpatienten infektiöse Komplikationen, die Liegedauer auf der Intensivstation und auch die Mortalität reduzieren kann, sodass auch bei schwerer gastrointestina-len Intoleranz eine minimale Zufuhr an enteraler Ernährung beibehalten werden sollte. Die absoluten und relativen Kontra-indikationen für eine enterale Ernährung aus gastroenterologischen Gründen sind in . Infobox 2 angegeben.

Spezifische therapeutische Optionen

Aufgrund der komplexen multifaktoriel-len Genese der gastrointestinalen Moti-litätsstörungen stehen unterschiedliche spezifische medikamentöse Optionen zur Behandlung der gastrointestinalen Into-leranz und damit zur Verbesserung der Toleranz der enteralen Ernährung bei Intensivpatienten zur Verfügung [3].

Metoclopramid wirkt als Dopamin- und Serotoninrezeptantagonist antieme-tisch und über die agonistische Wirkung auf periphere Serotoninrezeptoren im enterischen Nervensystem motilitätsstei-gernd im Bereich des Magens und Dünn-darms [3]. Auf die Dickdarmperistal-tik hat Metoclopramid keinen Einfluss. Die Standarddosierung beträgt 3×10 mg intra venös pro Tag, bei niereninsuffizien-ten Patienten jedoch lediglich 1×10 mg pro Tag. Als Nebenwirkungen sind, bei zu ho-her Dosierung, extrapyramidale Störun-

gen mit Dyskinesie und Dystonie sowie Herzrhythmusstörungen und Hypertonie beschrieben [18].

Das Makrolidantibiotikum Erythro-mycin wirkt über eine Aktivierung der Motilinrezeptoren der glatten Muskelzel-len auf die Motilität stimulierend [3]. Die Anwendung von Erythromycin in einer Dosis von 100–200 mg 3× täglich führt zu einer deutlichen Verbesserung der gastro-intestinalen Motilität der Intensivpatien-ten. Der Effekt ist jedoch nur kurzfris-tig und sollte daher nur auf wenige Tage beschränkt bleiben. Eine Studie zeigte auch, dass die Erythromycin-Metoclopra-mid-Kombination den einzelnen Thera-piemöglichkeiten überlegen ist [19].

Die prokinetische Kombinations-therapie mit Erythromycin und Metaclo-pramid sollte jedoch nicht prophylaktisch, sondern erst bei erhöhten gastralen Resi-dualvolumen bzw. Erbrechen eingesetzt werden.

Cholinesterasehemmer, wie Neostig-min und Distigminbromid, wirken über eine Hemmung der Cholinesterase und reduzieren dadurch den Abbau des freige-setzten Acetylcholins [18]. Dies führt über eine Stimulation des Parasympathikus zu einer verbesserten Peristaltik. Aufgrund der geringen therapeutischen Breite führt eine Überdosierung rasch zu Spasmen der glatten Darmmuskulatur und damit zu einer Hemmung der gastrointestina-len Peristaltik [18].

Caerulein ist ein Cholecystokininago-nist der mit Cholecystokininrezeptoren der glatten Darmmuskelzellen stimulie-rend auf die intestinale Motilität wirkt. Es kommt zu einer Ausschüttung von Ace-tylcholin und Substanz P aus den ent-erischen Neuronen und wirkt sowohl im Dünn- als auch im Dickdarm [18]. Caerulein ist derzeit in Deutschland und Österreich nicht verfügbar.

Selektive Serotoninrezeptoragonisten (STH4-Rezeptoragonisten), wie Cisaprid, Tegaserod oder Prucaloprid, wirken über-wiegend über die peripheren Serotonin-rezeptoren im enterischen Nervensystem. Über eine entsprechende Rezeptorensti-mulation kommt es zu einer Verbesse-rung der gastrointestinalen Motilität, wo-bei STH4-Rezeptoragonisten sowohl die gastrale als auch die Dünn- und Dick-darmmotilität verbessert. Teilweise wur-

den die selektiven Serotoninrezeptorago-nisten (Tegaserod und Cisaprid) aufgrund schwerer Rhythmusstörungen (Verlän-gerung der QT-Zeit) wieder vom Markt genommen [3].

Eine weitere Therapieoption sind Laxantien, die durch Erhöhung des Stuhl-volumens und Überdehnung der Darm-wand propulsive Darmaktivitäten bewir-ken. Vor allem Macrogole wie Polyethy-lenglykol (PEG) entfalten über ihre osmo-tische Wirkung einen positiven Effekt auf Darmentleerung und Motilität [3]. Die Wirkung tritt erst nach frühestens 24–48 h ein. Darüber hinaus finden stimulie-rende Laxantien wie Senna oder Bisacodyl ihre Anwendung, die häufig in Kombina-tion mit osmotisch wirksamen Laxantien eingesetzt werden [18].

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. C. Madl4. Medizinische Abteilung mit Gastroenterologie, Hepatologie und Zentralendoskopie, Krankenanstalt RudolfstiftungJuchgasse 25, 1030 WienÖ[email protected]

Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt für sich und seinen Koautor an, dass kein Interes-senkonflikt besteht.

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Infobox 2 Absolute und relative gastroenterologische Kontraindikationen für eine enterale Ernährung

Absolute KontraindikationenF  Schwere intestinale IschämieF  Intestinale PerforationF  Akute gastrointestinale BlutungF  Mechanischer Ileus

Relative KontraindikationenF  Schwere therapierefraktäre DiarrhöF  Intraabdominelle Hypertension (intra-

abdomineller Druck >15 mmHg)

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23. White H, Sosnowski K, Tran K et al (2009) A ran-domised controlled comparison of early post-py-loric versus early gastric feeding to meet nutritio-nal targets in ventilated intensive care patients. Crit Care 13(6):R187

24. Ho KM, Dobb GJ, Webb SA (2006) A comparison of early gastric and post-pyloric feeding in cri-tically ill patients: a meta-analysis. Int Care Med 32(5):639-649

25. Jiyong J, Tiancha H, Huiqin W, Jingfen J (2013) Effect of gastric versus post-pyloric feeding on the incidence of pneumonia in critically ill pati-ents: observations from traditional and Bayesian random-effects meta-analysis. Clin Nutr 32(1):8-15

26. bis 27. September 2013  |  Langenbeck-Virchow-Haus, Berlin

6 Deutscher Internistentag

Freitag  27.09.2013  |  Hörsaal  15.15 –16.45 Uhr

Vorsitz    Dr. med. K.-F. Bodmann, EberswaldeProf. Dr. med. H. M. Hoffmeister, Solingen

Der Berufsverband Deutscher Internisten e. V. lädt Sie herzlich 

zum 6. Deutschen Internistentag nach Berlin ein.

D   Neue ACS-Leitlinie

Prof. Dr. med. H. M. Hoff meister, Solingen

D   Diagnostik und Therapie endokrinologischer Notfälle

Prof. Dr. med. Petra-Maria Schumm-Draeger, München

D   Kalkulierte Antibiotikatherapie auf der ICU

Dr. med. K.-F. Bodmann, Eberswalde

Veranstalter Berufsverband Deutscher Internisten e. V. | Mehr Informationen unter www.internistentag.de

Fortbildung: IntensivmedizinInformieren Sie sich über wichtige

berufspolitische Themen mit Bezug zur

Inneren Medizin, und nutzen Sie gleich-

zeitig die breiten Möglichkeiten zur

internistischen Fortbildung auf hohem

klinisch-wissenschaftlichen Niveau.

BDI Kids Cornerkostenfreie Kinderbetreuung

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Leitthema

|  Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 5 · 2013