Siewerth Die christliche Erbsündelehre

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    GUSTAV SIEWERTHwww.gustav-siewerth.de

    DIE CHRISTLICHEERBSNDELEHRE

    TRIALOGO VerlagD-78421 Konstanz

  • 8/2/2019 Siewerth Die christliche Erbsndelehre

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    Print-On-Demand-VersionAuflage : 2003/06

    Alle Rechte vorbehalten!Copyright 2003 by TRIALOGO

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    GELEITWORT

    Die Neuauflage dieser Schrift kommt fast einer Erstausgabe gleich. Sie erschien erstmals anonym - da

    unter eigenem Namen zu publizieren Gustav Siewerth verboten worden war - als zweite Hlfte eines vonseinem todkranken Freund Georg Feuerer gezeichneten Buches: Adam und Christus als Gestaltkrfte

    und ihr Vermchtnis an die Menschheit. Zur christlichen Erbsndelehre, Herder 1939. Feuerer

    handelte in einem ersten Teil von der Bibel, vornehmlich von Paulus her; Siewerth ergnzte diese mehr

    positiv-theologische Sicht durch die an Thomas von Aquin geschulte ratio theologica. Er, der

    Philosoph, hat kaum je so zentral und dabei so selbstverstndlich, mhelos und bequem aus der Mitte

    der christlichen Offenbarung heraus geredet, die ihm freilich in allen seinen Schriften als der

    unentbehrliche berhhende Abschlu der Philosophie erschien und zu der er auch in schwierigsten und

    gefhrlichsten Lagen mit offenstem Bekennermut gestanden hat.Auch diese Schrift ist beides: hohe spekulative Leistung des Denkers und schlichtes Bekenntnis

    des Menschen. Sie wagt sich an ein Problem, das die Theologen seit Jahrtausenden qult, mehr als sie

    es oft zugeben, ber dem sich seit Augustinus und erst recht seit Luther die Lager scheiden, das gerade

    auch in den heutigen Diskussionen und Fragestellungen berall unterirdisch fortschwelt, ohne da es

    bisher gelang, die gegenstzlichen Aspekte des allgegenwrtigen, alles angreifenden und durchwaltenden

    Problems miteinander zu vershnen, die relative Berechtigung der scheinbar widersprchlichen

    Meinungen - von Augustin und Thomas, von Luther und Tridentinum, von christlichem und

    nichtchristlichem Humanismus - in einer glaubhaften Einheitsschau zu erweisen. In der Tat sind die

    Schwierigkeiten einer spekulativen Durchdringung und innern Erhellung wohl bei keinem Dogma so

    gro wie bei diesem; es verwundert deshalb nicht, wenn dieser Lehrsatz in der Geistesgeschichte - man

    denke etwa an Pascal - oft als das Mysterium schlechthin, unerklrlich, furchtbar, beinah absurd und

    deshalb den reinen blinden Glauben herausfordernd, hingestellt worden ist. Anla genug, einen

    Denker wie Siewerth zu reizen, zumal, wie gesagt, dieser Lehrsatz sich durch alle Lebensgebiete hin

    auswirkt und berall unmittelbar, je nach der Auslegung, die er erfhrt, hchst praktische Folgen

    zeitigt.

    Siewerths synthetische Denkkraft, die, an Aristoteles, Thomas und Hegel geschult, kein Detail zu

    bersehen oder geringzuachten gewillt ist, war zur geforderten Gesamtschau prdestiniert. Mit dem

    groen Verstand paart sich aber auch hier, wie zunehmend durch sein ganzes Schrifttum hindurch - ein

    groes Herz, das die vom Verstand dialektisch ausgetragenen Gesetze auch liebend in sich

    auszuhalten und schmerzvoll in sich zu vershnen bereit war. Wenn der Denker unbekmmert (wie er

    sagt) bei Thomas einsetzt und erst einmal die Natur in ihrer Kraft und substantiellen Unversehrtheit

    auch unter der Erbsnde rettet, wird er von der Denkbewegung weiter zu den augustinischen,

    scheinbar pessimistischen Sichten gefhrt; die Dialektik verschrft sich in der Neuzeit ins

    Unvershnliche zwischen einem weltlosen Lutheranismus, der auf Freiheit des Willens und sogar auf

    Gotteserkenntnis des Verstandes verzichtet, um alles auf die Gnade allein zu setzen, und

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    nachchristlichem Humanismus, der, ans Antike anknpfend, emprt die angebliche Herab-

    wrdigung des Menschen durch das Christentum verwirft. (Wir spren durch die Formulierungen

    der Abhandlung oft den nazistischen Gegner im Nahkampf: hier erhlt die Schrift ihre

    existentielle Schrfe und Treffsicherheit.) Das alles war auszutragen, ja mehr noch: auch die

    Spannung zwischen geisthafter Freiheit der Menschennatur und ihrer bernatrlichen Berufung, und

    dies geschieht hier in labilem Gleichgewicht, das zunchst mehr auf die Seite derer auszuschlagen

    scheint, welche bei Thomas verharren und nicht meinen, zu einer Natura-pura-Theorie (die

    Thomas nicht kennt) Zuflucht nehmen zu sollen, um die volle Gratuitt der Gnade zu sichern; das aber

    doch im Verlauf der Denkbewegung mit jeder wnschbaren Klarheit auch die Gegenseite

    herausstellt: weder vor noch nach dem Sndenfall gibt es einen Anspruch der Natur auf die

    gndige Selbsterschlieung des Herzens Gottes. Wenn zu Beginn einige Formeln an

    Baianismus anzuklingen scheinen, so stellt sie der Zusammenhang eindeutig richtig; Siewerth

    spekuliert nicht im Abstrakten, er denkt als christlicher Philosoph das Konkrete, denkt den Menschen,

    wie er einzig existiert, und mit seine heutige Wirklichkeit an dem einzigen exemplarischen Ur-

    bild, dem paradiesischen, immer schon in die Gnade hineingeschaffenen Adam. Die Zusammenschau aller

    im Denkgang durchlaufenen Aspekte nennt Siewerth dialektisch, aber seine Dialektik ist nicht

    gegenseitige Aufhebung der Wahrheiten, sie ruht auf einem ursprnglichen Schauen (intuitus), das

    durch die hinzustoenden gegenstzlichen Aspekte sich ausweitet und anreichert, es ist Dialektik als

    Integration, ein lichtender, sehen- und verstehen-lassender Vorgang.

    Siewerths Gesamtwerk hat sich als ganzes steigend in dieser Richtung entwickelt; vielleicht kann man sagen,

    da sich eine steigende Integration des Herzens (des Gesamtmenschlichen) in den Verstand hinein

    ereignet hat, ohne da die dialektische Schrfe der Spekulation darunter zu leiden hatte. Man darf die

    Vermutung uern, da bei dieser - in Wahrheit christlich zu nennenden - Durchlichtung auch die

    Entwrfe und Schriften Ferdinand Ulrichs nicht ohne Einflu geblieben sind, in einer hnlich

    leisen und unverkennbaren Weise anregend wie Franz von Baader Schellings spteres Denken

    befruchtet hat.

    Man mchte wnschen, da diese unbekannte Schrift des groen, viel zu frh abberufenen Denkers

    mit ihrer berlegenen Einheitsschau sowohl die katholischen wie die protestantischen Theologen anregeund zu tieferem eigenem wie gegenseitigem Verstndnis bringe. Ihre kumenische Tragweite

    knnte gro sein. Aber sie schlgt den Bogen noch weiter: sie kann dem, der dem Christentum fernsteht,

    einen Begriff des Christlichen vermitteln, dem Christen aber klarmachen, wie in guten Treuen das

    Christliche abgelehnt werden kann, welches die lichte und auch die tragische Gre der reinen

    Menschlichkeit ist, und wie sehr der Christ und Nichtchrist in einer gemeinsamen Schickung immerdar

    solidarisch bleiben.

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    Die Abhandlung setzt mit einem Rckverweis auf den ersten biblischen Teil des Buches ein. Dieser

    Rckverweis ist in der franzsischen Ausgabe1 natrlich weggefallen. Da Siewerth sich eben an eine

    Durchsicht fr die neue deutsche Ausgabe machen wollte (an der ihm viel lag), als er vom Tod berrascht

    wurde, schien es uns angemessen, die ersten Stze nach der selbstndigen franzsischen Ausgabe zu ge-

    stalten. Im brigen ist der Text, von der bernahme geringfgiger Zustze des Autors fr die franzsische

    Ausgabe abgesehen, unverndert.

    Hans Urs von Balthasar

    1 Le Pch. Etudes de Marc Oraison, Francois Coudreau, Henri Niel S.J., de Baciocchi, S.M., Gustav Siewerth. Descle deBrouwer 1959

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    EINFHRUNG

    1. Absicht dieses Buches

    Die Lehre von der Erbsnde ist in der Geschichte der Christenheit immer wieder hervorgetreten als Stein

    des Anstoes oder als ein Abgrund der Verwirrung, der die Geister entzweite. Wer einmal in der

    Gesamtheit der biblischen Aussagen die ungeheure geistige Weite durchmessen hat, in welche die

    Wahrheit der Erbsnde eingespannt ist, hat damit zugleich erkannt, da die Tatsache nicht zufllig ist,

    sondern im Wesen der Erbsndenlehre wurzelt.

    Jede Unstimmigkeit im Gottesverhltnis des erlsten Menschen mu ja mit Notwendigkeit an jener

    empfindlichen Stelle zum Ausdruck kommen, wo die verschiedenen Ebenen des urstndigen, gefallenen

    und erlsten Menschen zusammentreffen: in der Wahrheit ber die Erbsnde. Das Folgende setzt voraus,

    da der Leser den Klang der Offenbarungsaussagen im Ohr hat und versucht, das ganze vielschichtige

    Gefge der Erbsndenlehre in einen einheitlichen Gedankenzug zu entfalten. Die Darstellung hat ihre

    Eigenart darin, da sie zunchst ohne bestimmte Methode beginnt und mit einer gewissen

    unbekmmerten Unmittelbarkeit dem Irrtum, die Erbsnde einer moralischen Verderbnis

    gleichzuachten, den positiven Standpunkt der unzerstrten, ungebrochenen reinen Natur und sittlichen

    Persnlichkeit des Menschen entgegensetzt, deren Erbsndigkeit wesenhaft im privativen Verlust der

    ungeschuldeten, bernatrlichen Gnade besteht. Dieser erste Ansatz, der zunchst Haltung und Stil der

    Abhandlung bestimmt, verfllt jedoch selbst irgendwie einer immanenten Regulierung und Wandlung.

    Dies geschieht dadurch, da die Fortentwicklung der Bestimmungen auf das vielschichtige Wesensgefge

    der ganzen Wahrheit stt, sich den ganzen Reichtum der Strukturen enthllt und die ersten

    Bestimmungen dem Ganzen einbaut. Die volle Wahrheit ber die Erbsnde erschliet sich daher nur

    dem, welcher der ganzen Entwicklung folgt und alle Schritte als gleich gewichtig und wesentlich

    mitvollzieht. Nur in diesem Falle reift er zur Erkenntnis, da die verschiedenen gegenstzlichen Lehren

    ber die Erbsnde, die in der gesamtchristlichen Theologie eine so verwirrende Rolle spielen, in

    Wahrheit doch nur verschiedene Seiten eines vielschichtigen verschlungenen Ganzen darstellen.

    Sie sind daher in ihren wesentlichen Anliegen im reichen Gefge der Wahrheit eingeschlossen,whrend der Irrtum in einer Einseitigkeit besteht.

    Die Entwicklung des Gedankens geschieht so, da die verschiedenen Grundzge der (dialektischen)

    vielschichtigen Wahrheit nacheinander herausgearbeitet und zum Ganzen gefgt werden. Sie

    beginnt mit einer betonten Entgegensetzung gegen die Verderbtheitslehre und hebt die sittliche

    Unversehrtheit des natrlichen Menschen hervor. Das Wesen der Erbsnde aber wird entscheidend aus

    dem privativen Verlust der Gnade hergeleitet. Die Entwicklung dieser Lehre stellt uns zum wenigsten vor

    die begrndete Mglichkeit der entgegengesetzten Hypothese, welche eine positive innere

    Verletzung der sittlichen Menschennatur behauptet. Zugleich aber fhrt sie unter voller Wahrungihrer ursprnglichen Position zu Folgerungen, in welchen das abgrndige Geheimnis der

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    erlsungsbedrftigen Verfallenheit des Menschen an die Snde und eines irgendwie habituellen

    Unvermgens in seinem erschtternden Ernst zutage tritt.

    Dabei zeigt es sich, da die Erbsnde nicht eine bloe Theorie ist, sondern eine Grundkategorie der

    religisen Existenz, deren volle Entfaltung dem glubigen Zublick das geschichtliche Dasein des

    Menschen in seinen wesenhaften Mglichkeiten und das Geheimnis der Erlsung erschliet.

    Besondere Aufmerksamkeit wurde der Frage der Teilhabe an der Urverschuldung und ihrer

    Konkretisierung im Einzelmenschen geschenkt. Um dem Widerspruch zu entgehen, galt es, eine

    wenigstens teilhafte Mitverschuldung des persnlichen, geistigen Willens an der naturhaften

    Erbbelastung herauszuarbeiten und die Schuld irgendwie in die ursprnglichste, vllig integre

    Willentlichkeit des Menschen zu verlegen. Die Tatsache, da dies aus thomistischen Prinzipien mglich

    ist, drfte das Verstndnis vom Wesen der erbsndigen Verschuldung bedeutend bereichern. Diese

    Verschuldung fhrt schlielich dazu, die Snde trotz ihrer Bedingtheit durch Freiheit einer

    gewohnheitsgemen (habituellen) Verfangenheit des Menschen entspringen zu lassen. Damit aber

    treffen wir auf einen erschtternden Menschheitszustand, dessen Erkenntnis viele mit Augustinus

    dazu gefhrt haben mag, die Taten der nicht getauften Menschheit fr verdammenswrdig verderbt

    zu halten.

    Diese innere Vielschichtigkeit der Erbsndenlehre lenkt schlielich unsern Blick auf die

    Schwierigkeiten und Wesensmerkmale ihrer Erfassung und stellt uns vor die Aufgabe, die

    dialektische Struktur ihrer Wahrheit zu enthllen.

    Wiewohl die Ausfhrungen wissenschaftlichen Charakter haben, verzichten sie auf eine

    systematisch-strenge Entfaltung zugunsten einer lebendigen Abfolge und Durchdringung. Das

    bedeutet nicht, da sie sich nicht der vollen Strenge des Gedankens und seiner geschichtlichen Gestalt

    verpflichtet wuten. Es wurden den Ausfhrungen die Abhandlungen des hl. Thomas von Aquin ber die

    Erbsnde aus der Theologischen Summe und den Qustionen ber das Bse zugrunde gelegt. Die

    meisten Zitate sind diesen Werken entnommen.

    2. Vollendetes Menschentum - die Grundlehre der Neuzeit

    Wer das Geistesleben der letzten zweihundert Jahre verfolgt, wird gewahren, da die Lehre von der

    Erbsnde, die im 16. und 17. Jahrhundert im Mittelpunkt der Glaubenskmpfe stand, der

    eigentliche Stein des Anstoes wurde fr die wesentlichen Grundhaltungen des neuzeitlichen

    Geistes. Denn weder der pantheistische Spiritualismus, der alles unmittelbar von Gott her ableitete, noch

    der rationalistische Deismus, der die Welt in sich selbst wohlgeordnet und von Gottes unmittelbarem

    Wirken unabhngig glaubte, noch der gottlose Materialismus, dem alles der starren Gesetzlichkeit des

    freiheitlosen Stoffes entspringt, konnten die Ursnde der Menschheit und ihre Folgen mit ihren

    Grundlagen vereinbaren. Darum erhebt sich nicht zufllig an der Schwelle der beginnenden

    Verwirklichung und Gestaltwerdung der Neuen Zeit, der Franzsischen Revolution, fast wie ein

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    Kampfruf laut und aufrttelnd die Lehre Rousseaus: Der Mensch ist gut. Was man euch von seiner

    Sndigkeit sagte, von der Schwche seiner Natur, ist in Wahrheit nur die Ausgeburt eines unseligen

    Fortschrittes, einer naturwidrigen Zivilisation, einer geheimen Unordnung der Gesellschaft. Man braucht

    diese nur zu beseitigen, um den Menschen, dies Kind einer gttlichen Natur und ihrer Ordnung, wieder zur

    Reinheit und Gte seines Ur- und Naturzustandes zurckzufhren. Denn was von Natur gut ist, mu es

    wieder werden, wenn es sich auf sein ursprngliches Wesen zurckbesinnt und ihm treu bleibt.

    Und diese Lehre verhallte nicht mehr. Sie blieb der eigentliche Glaubenshintergrund des liberalistischen 19.

    Jahrhunderts. Alle jene, welche eine schrankenlose Freiheit des Individuums predigten, glaubten an eine

    ursprngliche, unaustilgbare Gte der Menschennatur. Sie braucht sich nur ungehemmt, sei es

    wirtschaftlich, politisch, wissenschaftlich oder knstlerisch zu entfalten, so bringt sie Gutes, Ntzliches,

    Fortschrittliches, Sittlich-Schnes hervor. Was es an Bsem, Gefhrdendem, Niedrigem,

    Schmerzlichem gibt, entspringt mehr oder minder dem gegenwrtigen geschichtlichen Zustand einer

    sich entwickelnden Menschheit. Man gedulde sich, und es wird sich zeigen, da der Fortschritt der

    Wissenschaften, die versittlichende Kraft einer dem Schnen und Reinen zugewandten Kultur, die

    Erkenntnis und Technisierung der Natur, die Steigerung des wirtschaftlichen und industriellen Fleies und

    Ertrages das traurige Erbe der Armut, der Dumpfheit, der Rohheit, des Aberglaubens und der

    schmerzvollen Nte aus der Welt schafft und den Endzustand einer guten, glcklichen Menschheit bereiten

    hilft.

    Ja, der Mensch ist gut! Seine Not und Armut sind eine geschichtliche Zugabe, die einst wieder

    schwinden wird, wenn die gttliche Vollendung und Gte des Endzieles erreicht ist und der Menschheit

    wahres Wesen offenbar geworden ist. Mit dem liberalen Fortschrittsglauben verband sich die Lehre des

    materialistischen Marxismus, der die Welt durch die Herrschaft der bislang unterdrckten Klassen in ein

    Paradies der Freiheit, Gleichheit und Brderlichkeit und des gemeinsamen Genusses einer durch

    Wissenschaft und Technik unermelich ergiebigen Natur zu verwandeln hoffte.

    Vor Marx aber hatten die deutschen Denker des pantheistischen Idealismus die Erbsnde geleugnet. Fr

    sie war der Abfall des Menschen von Gott nur die Selbstentfremdung des absoluten Gottgeistes selbst,

    der sich in sich selbst von sich scheidet in Geist und Natur, der sich notwendig verliert in die Dumpfheit,

    die Geistlosigkeit und sinnliche Verworrenheit eines primitiven Naturzustandes, um sich dann ingewaltigem geschichtlichem Proze von Phase zu Phase durch alle Reiche der Bildung und Kultur bis zum

    Endzustand eines absoluten Gottesstaates der Wissenschaft und sittlichen Ordnung emporzuarbeiten

    und seine Einheit wieder herzustellen.

    Am schrfsten aber hat Nietzsche die Lehre von der Erbsnde abgetan. Sie ist ihm so etwas wie eine

    Selbstentmannung des Menschen, eine raffinierte Rache des degenerierten Menschentypus und seines

    verborgenen, boshaft verkehrten Willens zur Macht; ein Betrug jenes priesterlichen Machtwillens,

    der den Menschen entwrdigt vor Gott, um den begnadenden priesterlichen Mittler um so mehr zu er-

    heben; eine Ausgeburt der sittlich gebrochenen, vital geschwchten, biologisch minderwertigen

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    Menschenseele, um in dieser Lehre das verhate Edle der reinen Natur zu demtigen, zu besudeln, zu

    unterjochen unter die Ansprche und Wertungen des Kraftlosen und Verschmutzten.

    Und nicht viel anders klingt das, was heute gegen die Erbsnde ins Feld gefhrt wird. Sie erscheint wie ein

    schleichendes Gift, das seit 2000 Jahren der Menschheit eingeimpft wird. Sie habe den Menschen

    verzagt und kraftlos, aberglubisch und sittlich untchtig gemacht, zu einem traurig gefgigen Werkzeug

    priesterlicher Mchte, die ihm durch ihre Vermittlung Erlsung und Gnade sicherten. Als wenn der

    Mensch der Gnade bedrfte! War er doch von vornherein durch die Mitgift seiner Natur von vollendet sitt-

    licher Selbstbeherrschung, von jenem freiheitlichen, selbstverantwortlichen Adel, dem seine Taten aus

    reinem Herzen entspringen, der zu ihnen selbstverantwortlich steht und deshalb zu keinem Gott um

    Vergebung seiner Snden fleht. Dieser verantwortungsfreudigen, freien Mannhaftigkeit wird die Lehre

    von der Erbsnde gegenbergesetzt, wie man sie heute auffat. Und da hren wir, da der Mensch zum

    Guten vllig unntz, da er im tiefsten Herzen verdorben sei. Snde sei all sein natrliches Streben,

    verderbt seine Kultur, kraftlos und verkehrt sein Wollen, niedrig seine natrlichen Antriebe, schmutzig

    die Quellen seines sinnlichen Begehrens. Aus sich allein sei der Mensch Snder, verworfen, gnadelos-

    verfallen, ein winselnder Wurm, der bettelnd vor Gottes Richterstuhl stehe. Und deshalb braucht der

    Mensch einen Mittler, Christus, der ihn erlst von seinen Snden, ja von all seinem Tun und Wirken,

    das, sndig vor Gott, nun durch Christus erst das Siegel der gttlichen Duldung und Besttigung

    erhlt. Ist der Mensch aber in all seinem sittlichen Wollen gebrochen, so ist es bequem, die Verantwor-

    tung auf einen Mittler zu schieben und sich selbst der Snde zu berlassen. Ja es scheint sogar gefhrlich, das

    Gute berhaupt zu wollen, weil es dann scheint, als bedrfe man des vermittelnden und des

    berweltlichen, gnadespendenden Gottes nicht mehr. Darum sei der sittlich wertvolle, verant-

    wortungsbereite Mensch dem Christengott gegenber ablehnend und stehe um seiner Gte willen stets im

    Verdacht der Gottlosigkeit.

    Man braucht nicht viel von der Lehre von der Erbsnde zu wissen, um die Irrtmer dieser Anwrfe, die

    wir nicht leichtnehmen wollen, zu durchschauen. Da aber die Tiefe der Erbsndenlehre immer wieder

    zu Miverstndnissen fhrt und auch fr die Glubigen oft genug in der Geschichte zum Ausgangspunkt

    der Verwirrung wurde, so ist es notwendig, gerade sie, soweit es eine geoffenbarte Wahrheit zult, zu

    erfassen. Einer klaren, positiven Antwort auf die Grundfragen einer Zeit wohnt allemal vershnendeKraft inne.

    Da wre denn zunchst zu sagen, da die Beziehung des Menschen zu Gott an sich unabhngig ist von

    der Erbsnde. Nicht weil wir ohne ihn nichts vermgen, sind wir mit unserem Sein auf Gott bezogen,

    sondern weil wir mit all unserem Sein und dem Adel unserer Natur von ihm geschaffen wurden. Der

    Mensch ohne Erbsnde wie Adam im Paradiese, oder auch wir selbst, so wir sittlich handeln, stehen daher

    nicht unbezogen neben Gott, sondern umgekehrt ist der sittliche, selbstbeherrschte, innerlich wahrhaftige

    Mensch von sich aus Gott nher als der sittlich schwache. Denn er vermag Gott, den Urgrund des Seins

    und des Menschen ungetrbter zu erfassen und sein Leben nach dem gttlichen Gesetz des Gewissensauszurichten. Notwendig ist er geneigter, Gott als den Gesetzgeber des Sittlichen anzuerkennen und ihn als

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    Quellgrund seines geistigen Lebens dankbar zu verehren. Ohne Erbsnde wre unser Gutsein

    ursprnglicher in uns selbst begrndet, und unser sittliches Selbstbewutsein wre irgendwie erhht.

    Zugleich aber wre auch die klare Erkenntnis und adelige Demut grer, mit welcher wir in Gott den

    schpferischen, spendenden Lebensgrund unseres Geistes und unserer Freiheit verehrten.

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    I. DAS WESEN DER ERBSNDE

    1. Die Erbsnde als Verlust der urstndigen Gnade

    Das eigentliche Miverstndnis gegenber der Erbsnde liegt jedoch darin, da in ihr eine persnlich

    gewirkte Snde und darber hinaus eine allgemeine Sndhaftigkeit der menschlichen Natur gesehen

    wird. So als kmen wir als bse, unsittliche Geschpfe zur Welt und entfalteten uns, wenn wir nicht getauft

    wrden, zu immer grerer, verdammungswrdiger Verkommenheit, unfhig zu einer Tat der Gte,

    einem reinen Gefhl der Liebe, einem edlen Genu des Schnen. Dann entsteht freilich die bittere Frage

    nach der Gerechtigkeit Gottes, die den Menschen um der Snde Adams willen, fr die wir nichts knnen,

    dem Bsen und der Hlle berantwortet.

    Nein, so kann es nicht sein. Die Erbsnde ist nicht persnlich gewirkte Snde, die nur der Freiheit einespersnlichen Willens entspringen kann. Sie ist auch im eigentlichen Sinne nicht einmal eine Neigung zur

    Snde, wie vielfach zu hren ist. Ihr eigentliches Wesen besteht vielmehr in der Aufhebung der

    ursprnglichen gnadenhaften Vereinigung unseres Wesens mit Gott, im Erlschen jener reinen, gtt-lichen Liebe, kraft der wir zu allem Guten im vollendetsten gttlichen Sinne befhigt und geneigt und

    der Anschauung Gottes wrdigwaren. Durch die Ursnde aber ist dieses Liebesband der Gnade zerrissen,

    jene ursprngliche Herzensfreundschaft und Geistesgemeinschaft mit Gott, unserem tief erkannten,

    inniggeliebten, heilig verehrten Vater und Schpfer, ist aus unserer Seele gewichen. Wir sind aus der

    Gnadenheimat eines gottebenbildlichen Urstandes herausgetreten. Wir haben uns auf uns selbst gestellt,

    indem wir das heilige Gesetz der in Gott gegrndeten Gnadenordnung nicht anerkennen wollten. Sind

    wir damit bse, verdorben, verworfen geworden? Wie folgte solches aus dieser Voraussetzung?Nein, wir

    sind aus Gotteskindern Menschenkinder geworden, aus Brgern und Erben des Himmels Glieder der

    irdischen, natrlichen Menschengemeinschaft. Aus dem sen Liebesband der Gottesfreundschaft sind

    wir irgendwie herausgetreten in die Indifferenz und Khle des einfachen irdischen Menschendaseins. Statt

    Gottes Liebeswesen und persnliche Vaterschaft, die wir einst in unserem inneren Gebets- und

    Geistesleben erfuhren, sieht unser Geist nur noch die nchterne, in sich selbst gegrndete, weithin

    selbstndige Ordnung des Seins und der Menschennatur. Er erkennt Gott eigentlich nur noch als den fernen

    verborgenen Seinsgrund, den Weltenschpfer und absoluten Herrn der sittlichen Ordnung unseres Gewis-

    sens. Statt die Welt aus der seligen Herzenstiefe heiliger Liebe verklrt anzuschauen und den Zauber

    himmlischer Schnheit ber alle Dinge auszugieen, stehen wir vor der Nchternheit und Kargheit, vor

    der herben kalten Prosa der Geschpfe, deren Schnheit der bittere Wermut der Endlichkeit und des

    Vergngnisses beigegeben ist. Statt fr Gott, den Vater und Freund, in berirdischer Liebe zu erglhen

    und das Gottesreich der Gnadenkindschaft und -gemeinschaft in ungebrochener Hingabe zu gestalten

    und aus seliger Herzensleidenschaft zu beleben, ist unser Wollen unmittelbar ein einfaches Streben zur

    irdischen Ordnung und zu irdischen Gtern geworden, die berdies, begrenzt und schwer erreichbar,

    oft genug die Schwungkraft der Seele ermatten lassen. So ist die Erbsnde wesentlich und eigentlich kein

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    Verderben der Natur, sondern ein Heraustreten aus dem heiligen Leben der bernatur, aus der Innigkeit,

    der geistigen Helle, der bermenschlichen Entschlossenheit, Freiheit und Reinheit gttlich vollendeten

    Liebeslebens.Die Menschen sind nicht eigentlich der Snde verfallen, sondern der Gnadengemeinschaft

    mit Gott entfallen.

    Es mu freilich hier schon gesagt werden, da dieses Herausfallen keine indifferente, sndlose Mglichkeit,

    sondern die Ursnde der Menschheit darstellt, durch die sie in Adam schuldig geworden ist.

    Denn die frei geschenkte Gnadengemeinschaft mit Gott ist doch irgendwie eine Notwendigkeit

    der gttlichen Liebe, weil nur sie dem Bilde der gttlichen Liebe entspricht und seiner Heiligkeit

    wrdig ist. Sie wird deshalb als ursprngliche Gerechtigkeitbezeichnet, d. h. als eine Ordnung,

    die allein vor den Ansprchen, den Maen und dem Gericht des absoluten heiligen Willens

    Gottes bestehen kann.

    Das natrliche Dasein des Menschen ist deshalb zwar keine Snde, wohl aber etwas, das, wie wirspter eingehend betrachten werden, vor Gott nicht sein soll. Es ist deshalb nur als frei

    verschuldete Daseinsmglichkeit zu begreifen. Es wird eine Schuld genannt, weil der Zustand

    unseres natrlichen Daseins durch eine freie Tat herbeigefhrt wurde, und weil wir mit unserem

    ursprnglichsten innern Ja zu unserer Existenz diesen Zustand selber auf uns nehmen. ber das Wesen

    dieser Verschuldung wird spter gesprochen werden.

    Wie das Schuldigwerden aller in Adam zu denken ist, und warum gerade Adams Tat im Unterschied zu

    unserem heutigen sndigen Tun die ganze Menschheit bestimmend traf, ist eine tiefgehende

    Frage, die in den vorausgehenden Ausfhrungen ihre theologische Antwort erhielt. Sie hngt mitder wesenhaften Vollkommenheit und einzigartigen Stellung Adams als Vater und Erstling aller

    Menschen zusammen.

    Aber ist es fr uns Menschen denn wirklich unmglich, von uns aus zu Gott zurckzukehren,

    wenn der Mensch von Natur gut ist? Wer solches einwendet, wei nicht darum, was es um Gott

    und seine heilige Liebe ist; er wei nicht, was es heit, Gott um Seiner selbst willen nach den

    Maen Seines Wesens zu lieben, was es bedeutet, da alles auf dieser Welt auf Ihn als auf den letzten

    Grund hingeordnet sei, da sich unser sprdes Menschenwesen nach Seinem Bilde gestalte und sich

    erhebe zum Adel Seiner Liebe und Seines Geistes. Wer es unternhme, von sich aus Gott wie den Vater zulieben, er stnde bald mit Schauern vor einer Ordnung der Natur, die in ihrer Hrte und

    Eigengesetzlichkeit so schwer und gottfern erschiene, da es ber Menschenkrfte geht, in ihr zu leben

    und doch das Bild des liebenden Schpfervaters im Herzen zu bewahren. Er stnde so vor der

    Herzenshrte, Begrenztheit und Selbstsucht des Menschen, da er vor seinem Ziel, der Grndung

    des Gottesreiches der Liebe, verzagen und, verzweifelnd an Gott selbst, bald seinen traurigen

    Tribut an die Armut und Hrte des Lebens zahlen mte. Er mte, so er wahrhaftig wre, erkennen,

    da es ber seine Krfte geht, inmitten einer gottabgewandten oder gleichgltigen Welt Gottes

    Willen und Gesetz zu erfllen.

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    Ist also die Liebe des Urstandes aus der Menschenseele gewichen, so ist auch ihre Erkenntnis nicht

    mehr von dieser Liebe durchlichtet, noch ihr Wille von ihr belebt und gespeist. Da aber die

    Liebe ursprnglich Neigung, Hingabe, Opfer, selbstlose Bereitschaft und absolute Entschlossenheit

    fr Gott, den Vater, und die Gemeinschaft seiner Kinder war, so ist der Zustand der Erbsndigkeit

    am besten gekennzeichnet (nicht mit Abneigung, was Snde wre, sondern) mit einem innerlichen

    Erlschen unserer heiligsten und hchsten Kraft, dem eine verstrkte Wende und Hinkehr zum

    Geschpf folgte. Darum sagt der hl. Thomas, die Erbsnde bestehe wesentlich in einer Abkehr

    des Willens von Gott. Diese Abkehr ist nicht eine positive Abneigung gegen den heiligen

    Vatergott, sondern eine Unfhigkeit, sein heiliges Wesen zu begreifen und das Leben aus ihm und sei-

    ner Gnade zu leben; sie ist ein inneres Versagen vor dem hheren Ziel und im eigentlichen

    Sinne eine Ablsung des Willens.

    Der theologische Begriff der Abkehr von Gott und Hinkehr zum Geschpf, der das Wesen

    der persnlichen Snde kennzeichnet, ist daher nur mit Einschrnkungen auf die Erbsnde

    anwendbar. Da in der Erbsnde keine persnliche Entscheidung und freiheitliche Auswahl von

    Gtern statthat, in welcher sich der Mensch von Gott ab- und dem Endlichen zukehrt, so ist mit

    dieser Abkehr keine entsprechende Hinkehr verbunden, ja sie ist im Grunde berhaupt kein formeller

    sittlicher Akt, der sich bewut aus einer vorgngigen Einheit mit Gott abstiee und darin eine irgend-

    wie fluchtartige Hinwendung auf ein anderes, geschpfliches Ziel bedeutet Liegt aber keine Hinwendung

    auf ein endliches Ziel vor, so ist es auch unmglich, da die innerliche Ferne unmittelbar ins Bewutsein

    tritt und die Existenz als solche bestimmt Diese ist daher irgendwie von Gott entfernt, ohne dieses

    Fernsein in die persnliche sittliche Entscheidung aufgenommen und absolut im Sinne einer Snde

    radikalisiert zu haben. Thomas spricht deshalb von einer einfachen Abkehr (aversio sola), oder noch

    schrfer kennzeichnend von etwas, das der Abkehr entspricht, nmlich derLoslsung der Seele (destitutio)

    von der urstndigen Rechtfertigung.

    Ein Vergleich wird das Gesagte verdeutlichen. Denken wir uns, wir besen den Mut und die Kraft,

    den hchsten Berg der Erde zu erklimmen. Nun aber wird durch die Unbilden der Witterung der Gipfel

    unseren Blicken entzogen. Wir werden verwirrt, der Mut sinkt, die Krfte erlahmen. Da uns aber die

    Ersteigung weiter lockt, so wenden wir uns leichter ersteigbaren Hhen zu. Wir kehren uns ab vonunserem ersten Ziele, das wir, je weiter wir uns von ihm entfernen, immer mehr aus den Augen verlieren.

    Aber diese Abkehr ist so wenig eine Abneigung, da vielmehr im Gegenteil die Neigung als

    Sehnsucht und Wunsch in unseren Herzen verbleiben kann, auch wenn der Wille sich endgltig von

    diesem Ziel abgelst hat.

    Nicht anders ist es mit dem erbsndigen Willen. Er ist von der heiligen, gttlichen Liebe innerlich gelst, er

    ist niedrigeren Gtern zugekehrt. Aber damit ist er als Wille und Freiheit nicht verderbt, wenn auch die

    gttlichste Mglichkeit in ihm erloschen ist, wie ja auch den Bergsteigern das Steigen berhaupt

    keineswegs unmglich geworden ist.

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    2. Die Erbsnde und die Lehren vom Gewissen und von der Erlsung

    Verweilen wir ein wenig bei dieser wesenhaften, wenn auch noch nicht vollstndigen Kennzeichnung

    der Erbsnde, so wird sich uns ein Verhltnis zum Guten wie zur Erlsung ergeben, das nichts mehr zu tunhat mit den oben ausgesprochenen Anwrfen gegen die christliche Lehre.

    Da ist zunchst zu sagen, da aus der Erbsnde weder eine vllige Unfhigkeit zum Guten noch auch die

    Verneinung einer Verpflichtung zum Natrlich-Guten folgen kann. Der Mensch ist vielmehr auch als

    erbsndiger eine in sich gegrndete, freie Natur, die Gott (wenn auch nur geschwcht) zu erkennen

    vermag und dem Gesetz seiner Natur, verpflichtet ist. Dieses Gesetz zeigt sich im Gewissen an, und zwar

    als gttlich gegebene, absolute Verpflichtung. Der Mensch existiert daher nicht als verworfener,

    unvermgender Snder, der sich dem sittlichen Auftrag gegenber hinter seiner Schwche verstecken

    knnte, um hemmungslos dem Unsittlichen zu frnen, sondern er wei sich durch den Anruf seines

    Gewissens ursprnglich in der Lage, das Naturgesetz der Sittlichkeit zu erfllen. Er ist deshalb auch voll

    verantwortlich fr seine Taten. Es wird ihm kein Quentchen von Gott geschenkt, sondern er ist

    unabdingbar an das innere Gesetz des Gewissens und der Natur gebunden.

    Notwendig ist der katholische Christ daher weit entfernt, den Nichtchristen von vornherein der

    Unsittlichkeit und Verworfenheit zu zeihen. Er begegnet in ihm vielmehr einer sittlichen Persnlichkeit,

    die von sich aus zum Guten in der natrlichen Ordnung verpflichtet ist und die auf Grund dieser

    natrlichen Anlage auch durch Gottes Gnade jederzeit zu bernatrlichem Leben berufen werden kann.

    Diese Lehre ist wichtig fr die Gegenwart, weil sie das Verhltnis des Christen zu jenen klrt, die sich

    mit natrlicher Hingabe um die irdische Ordnung des Vaterlandes und Staates bemhen. Wir wissen jetzt,

    wie tricht und wie frivol es wre, solches irdisches Trachten, auch wenn es von Nichtchristen und

    Unglubigen geschhe, Snde zu nennen, oder es mit einem negativen Vorzeichen zu versehen. Es be-

    deutet vielmehr ein gutes, edles Tun, zu welchem jeder Mensch kraft seiner sittlichen Natur von

    Gott verpflichtet und auch im wesentlichen befhigt ist. Eine ganz andere Frage ist es, ob dieses

    Tun als solches schon das Leben heiliger, bernatrlicher Liebe sei, jener Liebe, welcher der Himmel offen

    steht - und da mu denn freilich gesagt werden, da die Hhe dieses Lebens ohne Gnade und

    Glaube nicht erreichbar ist. Das bedeutet wiederum nicht, da nicht der Dienst am Vaterland der

    bernatrlichen Liebe entspringen knnte, da nicht der natrliche Adel sittlichen Lebens in das

    Geheimnis gnadeerfllten, heiligen Dienstes erhoben werden knnte.

    Des weiteren folgt aus dieser Lehre, da die Erlsung von der Erbsnde durch Christus nicht einfachhin

    den Sinn haben kann, da wir gleichsam aus der Hlle und der Verworfenheit zu Gott zurckgeholt worden

    seien. Nein, sie bedeutet vor allem, da in Christus die urstndige Gnadengemeinschaft Gottes mit den

    Menschen wiedererstand, da das Liebes- und Freundschaftsband des Vaters zu seinen Kindern sich

    wieder knpfte, da wir unser Leben nun nicht mehr allein fr den Bestand nur irdischer Ordnungen,

    sondern fr die Grndung und Gestaltung eines ewigen Reiches seliger Gottgemeinschaft im

    Himmel zu leben imstande seien. Christus ist fr den erbsndigen Menschen nicht der Wie-

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    derhersteller seiner sittlichen Befhigung und persnlichen Verantwortlichkeit, sondern er ist das

    groe Tor zur Liebesgemeinschaft mit dem Vater, er ist die wundersame berhhung unserer

    Erdennatur in den Lichtglanz himmlischer Liebe, er ist jene wunderbare Bereicherung der Seele,

    gegenber der alles nur irdische Bemhen sich wie eine Vorstufe ausnimmt, ein endliches Sinnbild

    fr eine unendliche Wirklichkeit. Weil diese Einigung mit Gott in Christus, seinem Sohne, noch

    weit hinausgeht ber die Liebesgemeinschaft im Paradies, weil wir nicht nur Mitliebende,

    sondern Mitkmpfende, Mitleidende, Mitsterbende Gottes wurden, begraben in den Tod Christi

    zur Herrlichkeit seiner Auferstehung, deshalb ist uns Christus nicht nur der Wiederhersteller

    unserer Gnadennatur und der Erlser von der Erbsnde, sondern viel wesenhafter jene freie,

    ungeschuldete, durch nichts Menschliches begrenzte Mitteilung der innergttlichen, ewigen

    Liebe, jenes berwallen des innersten Quell- und Lebensgrundes der dreifaltigen Gottheit im

    Freundschafts- und Liebesbund des mystischen Christusleibes. Die da glauben, da man Christus

    einzig wegen der erbsndigen Verfallenheit unserer Natur bentigte, vergessen oft, da Gott nicht

    erschien, um uns als sittlich-tchtige Menschen zu strken (dazu wre das Opfer auf Golgotha nicht

    ntig gewesen), sondern um das Leben der absoluten heiligen Liebe der Gottheit selbst als

    menschliche Macht und Mglichkeit unter uns und in uns aufgehen zu lassen. Sie befhigt uns,

    auf das Beispiel Christi hin, in Gemeinschaft mit seinem heiligen Herzen, getragen und geschtzt

    von dem Abgrund seiner Liebe, die alle ngste und Nte vor uns bestand, erleuchtet von seiner

    nun in unseren Herzen sich verwirklichenden Offenbarung, das Chaos dieser Welt und ihre

    unterirdische Gottverfeindung, ihren Ha, ihre Schwermut, ihre Verworrenheit, ihre

    versucherischen Blendungen und den Taumel ihrer Gtzen zu berwinden und unsere Herzen zu

    jener Liebesgestalt auszuprgen, die Gott selber ist. Nicht um uns zu tchtigen Menschen zu ma-

    chen, ward uns Christus gesandt, sondern um uns zu vergttlichen, auf da wir Kinder und

    Abbilder der ewigen Liebe selber seien.

    Darum lehren katholische Theologen, wie der groe Dun Scotus, da Christus auch erschienen wre,

    wenn wir nie aus dem Paradiese vertrieben worden wren, weil die reine, begnadete

    Liebesgemeinschaft in Adam noch der berhhung und Vertiefung fhig war durch die

    mystische Herzensgemeinschaft des ewigen Gottessohnes. Freilich nicht als Erlser wre Christusdann erschienen, sondern als der Vollender der Gottesschpfung, als die hchste Gabe des groherzig

    schenkenden Vaters, als die se, heilige Verinnerlichung und Vergttlichung des reinen

    Menschenwesens.

    Es folgt aber aus dieser Lehre von der Erbsnde, da sie in ihrem Wesentlichsten ein Geheimnis des

    Glaubens sei, nur dem zugnglich, der um den unendlichen Abstand von nur irdischem sittlichem

    Bemhen zum innerlichen Reichtum und zur Tiefe der christlichen Caritas wei. Wer hingegen nur

    die sittliche Naturordnung kennt, eine persnliche Geistesgemeinschaft mit dem Vatergott aber fr ein

    unwirkliches Gebilde hlt, der kann seinen Zustand auch nicht als erbsndig erkennen. Im Gegenteilwird er oft im Erlebnis der Quellkraft der Jugend oder im Gelingen eines groen Werkes an die

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    Vollendung der Menschennatur glauben und Hheres nicht wnschen, als ihm gegeben ist. Solche

    Menschen sind nicht zu tadeln, wofern sie nur sich innerlich nicht gegen die Wahrheit sperren, da auch

    der selige berschwang der Jugend und die Kraft zu mannhaftem Wirken nicht selbstverstndlich sind,

    sondern als Gaben der gttlichen Gte uns zu dankbarer Verehrung verpflichten.

    Wird jedoch die Erbsnde in ihren wesentlichen Folgen betrachtet, oder anders ausgedrckt, wird nun die

    Frage gestellt, was die Ablsung des Willens von Gott fr das sittliche Vermgen des Menschen selbst

    bedeutet, so tritt die Lehre von der Erbsnde in den unmittelbaren Erfahrungsbereich jedes, auch des

    natrlichen Menschen. Im Folgenden kann deshalb in der Antwort zugleich eine lebendige

    Auseinandersetzung versucht werden.

    3. Die urstndige Gnade als Wesensteil des exemplarischen Menschenwesens. Das

    Unvermgen der reinen Natur

    Um die Lehre von der Erbsnde in ihrer vollen Tragweite zu verstehen, bedarf es einer tiefen Einsicht in

    die Natur des Menschen als eines geistigen Geschpfes. Nach der Lehre der groen katholischen

    Theologen hat Gott die geistigen Wesen geschaffen zur Teilnahme an seiner seligen Liebe und zur

    verherrlichenden Offenbarung seiner Majestt. Darum prgte er das Geschpf nach seinem Bilde, da es

    sich zu ihm hinkehren und sich angleichend in ihn einwandeln knne. Gott aber ist die ewige,

    unendliche Liebe, der freie, souverne, selbstmchtige und allmchtige ewige Schpfer-, Herrscher-

    und Liebeswille der dreifaltigen Wesenseinheit. Notwendig kommt daher dem nachbildlichen Geschpfwesenhaft eine unendliche Liebesneigung zu seinem gttlichen Ursprung zu, wie es zugleich eine freie,

    sich selbst bestimmende, sich aus sich bewegende, selbstmchtig entscheidende Willensursache darstellt.

    Nur wenn es, von keinem ueren Zwang gebeugt, seine Liebe und seine Neigung aus sich selbst

    hervorbringt oder seinem Herzen entspringen lt, ist seine Bewegung auf Gott hin ein wahres Bild

    der ewigen Liebe, die zugleich lautere, heilige Freiheit ist.

    Es ist leicht zu erkennen, da in der selbstmchtigen Freiheit und hingebenden Liebe eine doppelte

    Zielrichtung des Strebens angezeigt ist. Denn die Liebe der Seele bewegt sich irgendwie von ihrem Trger

    weg oder neigt diesen selbst hin zu Gott, dem Liebesziel des Herzens. Alle Liebe ist schenkendesSichverlieren und Sicheinwandeln in das geliebte Herz. Anders die freie Selbstbestimmung des Willens.

    Auch diese kann als Liebe begriffen werden, oder doch als der Liebe Grund; aber wenn wir von Freiheit

    und Selbstbestimmung sprechen, so beziehen wir das dieser entspringende Tun nicht wie in der Liebe auf

    ein anderes Wesen hin, sondern primr und wesenhaft auf uns selbst. In der Freiheit sind wir

    erkannt als Wesen, die nicht von auen gezwungen oder gehemmt, sondern die ganz wir selber

    sind, Herren des eigenen Herzens, verantwortliche Erzeuger, Leiter und Vollbringer unserer Taten,

    selbstmchtige, souverne Besitzhalter unserer Vermgen, unabsetzbare Verwalter unserer

    seelischen Reichtmer - wir sind mit einem Wort als selbstbewute Persnlichkeiten erkannt.

    Gehrt also beides zu unserem Wesen, unendliche Liebesneigung und freiheitlicher Selbstbesitz,

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    so mu auch die Gnade der paradiesischen Menschennatur auf beide ursprnglich bezogen

    gewesen sein. Gnade bedeutet daher als gttliche Vollendung und berhhung unseres Wesens

    eine besondere Nhe des Gttlichen in unserer Seele, eine Steigerung ihrer ursprnglichen

    Neigung, da unser Herz berflo von seliger Erkenntnis. Indem es die gttliche Vatergte

    unmittelbar erfuhr und seine Schpfergre vor Augen hatte, mute es danach trachten, immer

    tieferen Anteil zu gewinnen an Gottes Leben und seinem Willen zu dienen. Gnade bedeutete

    aber zugleich eine Besttigung und Erhhung unseres freiheitlichen Bewutseins, das sein auf

    Gott bezogenes Tun in wunderbarer innerer Ruhe und Gefatheit als Ausflu eines starken,

    reichen Herzens erlebte. Selbstbestimmung und Hingabe erwiesen sich als eine wesenhafte

    Einheit, in der sie miteinander wuchsen und auseinander Leben hatten. Je grer die Liebe zu Gott,

    um so tiefer die Erkenntnis seines Wesens, seines Willens und seiner Welt. Um so reicher die

    Mglichkeiten der Erfahrung, der schpferischen Gestaltung und Vertiefung des Lebens, um so

    khner die Aufgaben, groherziger die Erfllung, um so lebendiger die Beziehung zur Gemeinschaft der

    Brder und Schwestern, um so kstlicher aber auch der Genu des Daseins, um so gesteigerter das

    Selbstbewutsein, um so souverner und groartiger der freie Selbstbesitz und die Selbstverwaltung

    unseres eigenen Wesens und seiner Kostbarkeiten! Diese Einheit von Liebe und Freiheit ist das

    urstndige Menschenwesen, das im Anteil an Gottes heiliger Gnade das darstellt, wozu jedes

    geistige Geschpf ursprnglich aus Gottes Vaterherzen berufen und aus seinen Schpferhnden gestaltet

    war, zweifach beschenkt durch die Kostbarkeit seines geschaffenen Eigenwesens und durch das

    Wunder seines berwesenhaften, gottentsprungenen Liebeslebens.

    Daher ist es dem geistigen Geschpf eigen, auf Gott und seine Liebe hin geschaffen zu sein.

    Dieses Hinsein auf Gott aber geschieht durch die gnadenhafte offenbarende Nhe der gttlichen

    Gte und die berhhende Belebung des menschlichen Seelengrundes selbst. Ist daher das

    Menschenwesen ganz auf sich selbst gestellt und hat es an Gottes Gnade keinen Anteil mehr, so folgt,

    da es nicht mehr das ist, was es ursprnglich sein sollte, was es als Abbild der gttlichen Liebe,

    d. h. als Gotteskind notwendig sein mu. Wir stehen aber mit dieser Folgerung vor der

    berraschenden Tatsache, da der Mensch als Abbild1 Gottes zugleich unvollendet erscheint, je

    mehr er auf seine eigene Natur gestellt ist, je mehr er als ganzes, in sich vollendetes Eigenwesen be- griffen wird. Er ist von seinem Ziel abgeirrt und darin irgendwie in sich selbst verwirrt und

    beunruhigt. Denn es gehrt zum Abbild Gottes, mehr zu sein als bloer Mensch, weil es

    gottentsprungen und deshalb in seinem tiefsten Seelengrunde auf Gott und seine Gnade hin

    angelegt ist. Darum ist der Mensch in seinem blo menschlichen Selbstsein, so vollkommen er

    immer gedacht und begriffen werde, ein unvollkommenes, abgeirrtes, schwankendes und

    geschwchtes Geschpf, weil Gott ihm eine bernatrliche Bestimmung zuwies.

    Seine Beziehung zu Gott ist es nicht allein, die durch den Verlust der Gnade zerstrt wurde. Denn

    diese kann nicht so gedacht werden, als sei sie seiner Natur uerlich beigefgt, sondern sie gehrt

    1 Abbild (imago) der gttlichen Liebe ist in der Hochscholastik fast immer das bernatrlich bekleidete Geschpf.

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    im selben Mae, wie sie den Menschen auf seinen Urgrund hin bezieht, dem ganzen Menschsein

    zu, in allem, was es ist und was es erstrebt. Das ganze Sein, die Einheit aller Geschpfe, die Menschheit

    und die Natur sind gottgebrtig. Ihr Wesen ist es, aus Gott Sein und Leben zu haben. Darum gibt es

    keine Ordnung der Natur, keine Erkenntnis ihrer Gesetze, keine Gestaltung ihrer Aufgaben, keine

    Belebung und volle Befriedigung ihrer Gemeinschaft, keine letzte Beseligung der Herzen, wenn die Natur

    und die Menschheit nicht aus Gott erkannt, aus und in ihm geliebt, aus ihm gestaltet, auferbaut und

    geistig verwandelt werden. Wenn also der Mensch ganz auf sich selbst gestellt ist, wenn er mit seinen, nur

    ihm zugehrigen Krften die Welt gestalten und das vollbringen und erfllen will, was er seiner

    urbildlichen Natur gem soll, so mu er ohne Gnade notwendig versagen. Denn die Aufgabe ist, im

    ganzen gesehen, immer eine gttliche und bermenschliche. Wie daher oben die selbstmchtige

    Freiheit des Menschen sich in Einheit mit dem Gnadenakt gttlicher Liebe in wunderbarer Weise

    erhhte, so ergibt sich jetzt das berraschende, da dieses menschliche Selbstsein als Selbstbesitz und

    Selbstmchtigkeit des eigenen Wesens im selben Mae verloren geht, als der Mensch sich ausschlielich

    sich selber zuwendet und ganz nur aus sich und seinen Krften das Leben gestalten will. Es erfllt sich

    hier in ursprnglicher Weise die Wahrheit des groen Wortes, da jener, der sein Leben retten will, es

    verliert, da jener, der seine Kraft nur auf sich selbst stellt, an sich selbst schwach und schwankend

    werden mu.

    Damit aber haben wir das erfat, was unter Erbsnde zu verstehen ist. Sie hat mit Snde im Sinne

    persnlicher Entscheidung an sich selbst gar nichts zu tun. Sie ist vielmehr jene Schwche (destitutio,

    desolutio) unserer Natur, die notwendig entsteht, wenn ein gottbezogenes Geschpf aus seiner

    gnadenhaften Gottbeziehung heraustritt und nur als das wirkt und lebt, was es aus sich ist. Aus dieser Er-

    kenntnis ergibt sich aber auch unmittelbar, da Gott kein Unrecht begeht, wenn er den Menschen

    erbsndig geboren sein lt. Denn es kann niemals einen Grund geben, Gott zu verpflichten, einem

    Geschpf mehr zu geben, als es aus seiner Natur und seinem Willen gem sein will. Es gengt, da das

    natrliche Sein jeweils so sei, da es von seinem Trger geliebt, angenommen und auch bestanden

    werden kann, wenn auch dieses Letzte nie mglich sein wird ohne die demtige Anerkennung

    schuldhaften Versagens.

    Erbsnde ist daher weder eine Snde noch einfachhin eine Neigung zur Snde, wie vielfach flschlichoder doch sehr miverstndlich gelehrt wird. Sie ist ein innerer Mangel oder eine Schwche der Seele. Nicht

    eine Schwche in dem Sinne, als fehle der Natur etwas, was als Teil zu ihr gehrt, sondern eine

    Schwche, welche ein geistiges Geschpf berkommt, sofern es aus seiner Ursprungsordnung heraustritt.

    Ein von Gott abgelstes, auf sich selbst gestelltes Wesen ist notwendig erbsndig belastet(wenn es nicht

    dmonisch bse ist), weil es der Gottestiefe des Seins nicht mehr gewachsen ist. Deshalb ist eine reine,

    gnadelose Naturordnung ein Zustand, der vor Gott nicht sein soll und sein darf.

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    4. Die Erbsnde als verderbter Habitus

    Wenn daher nicht von einer Neigung zum schlechten Tun bei der Erbsnde die Rede sein kann, wie z.B.

    der Aquinate unmiverstndlich lehrt, so doch von einer herabgeminderten Bereitschaft zum Guten oderGegnerschaft gegen das Bse. Diese Herabminderung kann als schlechte Disposition der Seele

    begriffen werden, die ihrerseits wiederum aus einer Auflsung jener Harmonie von Gott und Seele,

    Gnade und Freiheit, Liebe und Selbstsein entspringt, die oben gekennzeichnet wurde.

    In gewisser Weise kann daher gesagt werden, da die bernatrliche Gnade oder die urstndige

    Rechtfertigung der Menschennatur beigehrt, nicht freilich sofern sie in ihrer erfahrbaren

    Unmittelbarkeit oder in ihrem psychologischen Selbstsein betrachtet wird, sondern in ihrer exem-

    plarischen Wesensganzheit, in welcher ihre Gottgebrtigkeit eingeschlossen ist. Dieser Sachverhalt kann

    von Thomas her unmittelbar erhrtet werden. Seine Lehre ist nmlich, da die Sinne des Menschen, ohne

    positiv verderbt oder in ihren Neigungen gesteigert zu sein, der natrlichen Vernunft und dem

    natrlichen Willen nicht vollkommen unterworfen sind. Da die sittliche Beherrschung der sinnlichen

    Neigungen aber wesenhaft zum Menschen gehrt, diese aber der zgelnden Kraft der urstndigen

    Rechtfertigung bedarf, so ist der Naturbereich des Menschen ohne die Gnade nicht als in sich

    abgeschlossene, vollkommen auf sich selbst gestellte Wesenheit begreifbar. Die Gnade gehrt daher in

    dem Sinne zum Menschen, als sie diesen zu seiner wesenhaften Vollkommenheit erkrftigt.

    Das Gesagte klrt sich, wenn wir uns wieder dem Bilde der Bergsteiger zuwenden. Nehmen wir an, es

    gehrte zu deren eigentlicher Aufgabe, den hchsten Punkt eines Gebirges zu erklimmen, weil sich nur

    von dort das Gelnde vllig bersehen lt, was zur Orientierung und Durchfhrung einer

    lebenswichtigen (vielleicht strategischen) Aufgabe notwendig ist. Indem nun ihre Kraft versagt,

    wenden sie sich niedrigeren Hhen zu, die sie noch ersteigen knnen. Sie erreichen zwar auch jetzt noch

    etwas von ihrem Ziel, aber die vllige berschau ber das Land ist ihnen versagt. Sie sind mglichen

    Tuschungen ausgesetzt, es verbleiben Rtsel und Unsicherheiten. Ein strategischer Aufmarsch aber, der

    sich auf diese Erkundungen sttzte, knnte nur unter mannigfachen Behinderungen, unter

    fragwrdigen Mutmaungen oder auf gut Glck vollzogen werden. Vielleicht ist es gerade diese

    Unsicherheit, die am Ende zu einer Niederlage fhrt.

    Diesem Bilde gem knnen wir sagen: So wir nicht Gott, den hchsten Halte- und Orientierungspunkt des

    Seins, erreichen und von ihm her unser Leben ordnen, so mgen wir immerhin eine Flle guter

    Einsichten gewinnen und ntzliche Manahmen treffen, im ganzen wird es nicht ohne schweres

    Versagen abgehen. Je weiter wir aber Blick und Herz von der Gotteshhe des Lebens abkehren, um so

    verworrener wird das Leben, um so aufgelster die Harmonie der menschlichen Krfte, um so grer

    unsere Schwchung und Beirrung, um so trauriger unser Versagen.

    Da mit der Beziehung zu Gott die letzte Einheit der Seele aufgehoben ist, so kommt die Erbsnde einer

    Auflockerung unseres Seelenlebens gleich, einer gewissen Unstimmigkeit unserer Vermgen, die nur

    aus der Kraft und Helle gotterleuchteter Liebe zur Einheit gebunden werden knnen. Wird daher auf

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    jene Tiefe der Seele geblickt, die in der Gnadeneinheit mit Gott aus seiner Liebe sich selbst in geistiger

    Strke und Gre beherrscht und das ganze menschliche Dasein willensmig gestaltet, so kann die

    Erbsnde als eine verdorbene Mchtigkeit, als habitus corruptus bezeichnet werden. Aber diese

    Verdorbenheit ist keine Zerstrung oder gemeine Verkehrung des Menschenwesens, sondern ein

    Erlschen oder Sichmindern einer wunderbaren, gttlich-menschlichen Mglichkeit, unterhalb

    welcher dem Naturwesen Mensch immer noch Kostbares und Wunderbares die Flle von Gott zu Lehen

    gegeben ward.

    In gewisser Weise kann freilich auch, so sagt der heilige Lehrer, von einer Neigung zur Snde die Rede

    sein, aber nur indirekt und in einem bertragenen Sinn. Denn die Snde kann nur aus dem freien

    Willen entspringen, und in diesem selbst ist keinerlei erbsndliche Neigung zum Bsen anzutreffen.

    Wohl aber wohnt den niederen Krften der Seele nun eine Neigung inne, sich endlichen Gtern wider

    Gebhr und Ordnung zuzuwenden, da sie nicht mehr vollkommen von der geistigen, persnlichen Mitte

    des Menschen bewegt, geleitet, abgezweckt und beherrscht werden. Diese Unordnung im Krftespiel des

    Herzens, die Ablsung niederer Strebungen ist als solche erbsndlich - aber nicht sndhaft.

    Nach den ausdrcklichen Lehren des Aquinaten ist es nmlich unmglich, die triebhaften Regungen

    des Herzens, des Gemtes oder der Sinne als solche schon als sndig, verdorben oder

    gottwidrig zu bezeichnen. Solche Lehren beflecken die christliche Wahrheit und rufen mit Recht

    den schrfsten Widerspruch des natrlich empfindsamen Menschen hervor. Sie sind aber nicht

    minder auch dem christlichen Empfinden und Denken zuwider. Denn christliche Lehre ist, da

    das Begehren dem Menschen natrlich ist, sofern es in der Ordnung der Vernunft steht. Das heit: es

    stellt an sich ein Gut der menschlichen Natur dar, ohne welches diese gar nicht denkbar ist.

    Darum ist nicht der Mensch der tiefen Herzensleidenschaft oder der sinnenhaften Triebgewalt

    von niedriger Art oder von grerer erbsndlicher Belastung, sondern jener, bei welchem die

    Triebregungen am weitesten ber die Grenzen und Mglichkeiten eines sittlichen, vernunftgemen

    Lebens hinaus verlangen und streben. Auch die sinnlichen Neigungen sind als gut anzusehen;

    sie sind, so sie an sich selbst betrachtet werden, mit keinerlei Bsem behaftet.

    Wird aber bedacht, da viele unserer Neigungen ohne Rcksicht auf die Ordnung des

    Gewissens bestehen, so ergibt sich, da in ihnen so etwas wie ein Angebot an den vernnftigenWillen vorliegt, sie sich selbst zu berlassen und diese Freiheit mit zu genieen. Diesem Angebot

    entspricht keine Neigung des Willens. Da aber seine Kraft durch die Ablsung von Gott und Seiner

    Gnade geschwcht ist, so liegt doch eine verminderte Hemmung vor, dem Angebot der Neigungen

    stattzugeben. Diese Schwche, sich der Unordnung der Triebe zu erwehren, nennt Thomas eine

    indirekte Neigung. Die Erbsnde liegt also nicht im Trieb, noch im Willen als solchen, so

    als sei er von sich aus auf irgendeine Unordnung ausgerichtet, sondern in einem Mangel an

    starkem, selbstmchtigem Leben, an hemmenden, ordnenden und gestaltenden Krften, die sich dem

    Angebot der Leidenschaften absolut widersetzen und sie auf wahrhafte Gter ausrichten knnten.

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    Aber auch hier ist der Wille von jeder sndigen Bosheit und Verdorbenheit noch unermelich

    weit entfernt. Er ist weit eher ein nicht in jeder Hinsicht vollendeter, ein geschwchter Wille,whrend er vom Bsen, dem er sich nur in freier Entscheidung zuwenden knnte, noch vllig frei ist.

    Da aber weder der Wille noch der Krper erbsndig im Sinne eine Schuld sein knnen, erhellt

    notwendig aus folgenden berlegungen. Wre der Wille an sich erbsndig, so mte er als geistige

    Kraft unmittelbar von den Eltern herstammen, oder aber Gott, sein Schpfer, htte ihn erbsndig ins

    Leben gerufen. Beides aber ist unmglich. Der Krper ist als solcher gar nicht in der Lage, bse

    oder schuldhaft zu sein, weil er fr sich keine moralische Existenz besitzt. Er kann daher nach

    Thomas auch nicht als das Subjekt der Erbsnde angesehen werden. Ist also weder die Seele noch der

    Krper der eigentliche Trger der Erbsnde, so kann diese offenbar nur in der inneren

    Disharmonie der Einheit beider Seinsprinzipien bestehen. Da diese Einheit aber fr beide

    wesentlich ist, so ist zwar weder die Seele noch der Krper fr sich selbst, wohl aber das

    Wesensganze Mensch erbsndig belastet. Es hat aber, so wir der Lehre des Aquinaten ber das

    Verhltnis von Leib und Seele folgen, keinen rechten Sinn, die beiden Wesensgrnde Leib und

    Seele in ihrer Isolierung zu betrachten. Denn der Krper ist nur wirklich als der Leib dieser

    Seele und die Seele nur als die Seele dieses Leibes, so da das Mangelhafte ihrer bereinstim-

    mung und Einheit unmittelbar vom Wesensganzen beider ausgesagt werden kann. Sofern es aber zum

    Wesen des Krpers gehrt, der Leib dieser Seele zu sein, so mu notwendig eine Strung der Einigung von

    seiten des Krpers dessen Vollkommenheit selbst betreffen. Der Krper ist durch die erbsndige

    Auflockerung des Seelenganzen in sich selbst geschwcht und erbsndig disponiert, indem er

    die ihn informierende und bestimmende Seele nicht zu dem kommen lt, was ihr als reinem

    Gottgeschpf aufgegeben ist.

    5. Die Hypothese von der erbsndigen Belastung der Sinnenlust

    Wenn von der natrlichen Gte der sinnlichen Strebungen die Rede ist, so scheint damit am

    schrfsten jene Lehre abgewiesen, die mit Augustin in der Begierlichkeit des Menschen die eigentliche

    erbsndliche Belastung erblicken mchte. Fr Thomas ist diese Lehre schon deshalb unmglich,

    weil die Erbsnde das Ganze der Seele frher als ihre Vermgen betrifft und daher erst da zum

    Ausdruck kommen kann, wo die Seele ganzheitlich in Erscheinung tritt. Wir werden deshalb

    dieser Lehre gem die erbsndliche habituelle Verschuldung, an welcher jeder teilhat, aus der

    ganzheitlichen, unmittelbaren sittlichen Existenz des Menschen aufzuzeigen versuchen.

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    Trotzdem will es scheinen, als tue sich, den ausdrcklichen Erklrungen des Aquinaten entgegen, im

    Ganzen seiner Lehre eine Seite kund, die zum mindesten das Problem der erbsndlich belasteten

    Sinnlichkeit offen lt1.

    Ist nmlich die Erbsnde wesentlich in der Ablsung des Willens und der Vernunft von der

    urstndigen Gnade zu sehen, und bedeutet die Neigung der Sinne eine Folge des Verlustes zgelnder

    und hemmender Krfte, so ist zu fragen, worin es gelegen sei, da die ur-sprngliche gnadenhafte

    Beherrschung durch die Taufe nicht wiederhergestellt wird, wiewohl doch Vernunft und Willen sich

    wiederum mit Gott im Glauben und in der Liebe innigst verbinden.

    Eine Antwort wre gegeben, wenn die Gnade der Taufe eine irgendwie geringere Erkrftigung

    des Geistes vermittelte, als sie die urstndige Gnade darstellte. Da dies aber unmglich ist, so mu der

    Grund in der besonderen Verfassung des erbsndigen Menschen zu suchen sein. Wre nmlich

    die erbsndige Schwche schuldhafter und sittlicher Art, so knnte eine Heilung an einem

    freiheitlichen Einsatz des schuldigen Subjektes und an einer innerlichen Entscheidung nicht

    vorbergehen. Diese sittliche Verschuldung aber drfte in der Erbsnde vorliegen.

    Allein hier entsteht die Frage, ob eine solche Verschuldung anderswo als im willentlichen Zentrum

    des Menschen angetroffen werden knnte. Wenn dies verneint wird, so wre faktisch mit der

    Wandlung und Neubelebung des Willens die Schuld getilgt, und es lt sich kein Grund mehr angeben,

    weshalb die Wandlung sich nicht auf die ganze Natur erstreckt und diese in die heilende

    Erkrftigung unmittelbar einbezieht. Wenn dies aber faktisch nicht geschieht, so scheint doch im

    Zustand der Natur etwas zu liegen, das sich einer unmittelbaren Reorganisation einer begnadeten,

    geistig-sinnlichen Gesamtexistenz widersetzt und das einfache Wiedererstehen des urstndigen

    Menschenwesens unmglich macht. Dieses Moment knnte aber nur dann sich der unmittelbaren

    Einwandlung durch die Gnade irgendwie entziehen, wenn es der sittlichen und religisen

    Beziehung zu Gott, die in der Gnade grundgelegt ward, irgendwie zuwider ist. Das aber wre nur

    mglich, wenn in der Natur in ihren unmittelbaren Neigungen, Strebungen und Genssen etwas

    formell Geistwidriges lebendig wre.

    Wenn also gesagt wird, da die Erbsndigkeit der Natur darin liege, da sich die sinnlichen

    Neigungen und Erlebnisse der Lust irgendwie der regulativen Kraft des Willens, auch des begnadeten, entziehen, so mu nach dem Grund gefragt werden, woher dieser unaufhebbare

    Eigenwille, diese zhe Widergesetzlichkeit der sinnlichen Sphre stamme. Denn auch wenn die

    Caritas lindernd und veredelnd die menschlichen Beziehungen bestimmt, behlt die Lust in

    ihren intensivsten Formen dennoch etwas von ihrer eigenen Bewegung zurck, welche der

    Ordnung der Vernunft widerstreitet (Thomas).

    Liegt dies nur in der Zerstrung der ursprnglichen sittlichen Einheit, dergestalt, da nur die

    Wachheit und Strke des Verstandes und des Willens fehlen, um den Genu der Lust innerlich

    1 Es sei hier ausdrcklich vermerkt, dass der Verfasser, von den Grundstzen des hl. Thomas ausgehend, eine neue mglicheDeutung der Erbsnde versucht, dass er also ber den hl. Thomas hinausgehend seine persnliche Meinung zum Ausdruckbringt.

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    sittlich abzuzwecken und damit zu einer sittlichen Tat zu machen, so ist nicht einzusehen,

    weshalb die Gnade den Willen nicht zu solcher sittlichenden Kraft erheben knnte. Lge ferner der

    eigentliche moralische Ausfall im blo negativen Versagen der vernnftigen Zgelung, so wre die

    Lust an sich etwas durchaus Indifferentes, ein endliches Gut, das dem Menschen als solchem

    durchaus angemessen wre. Dann befnde sich aber der Mensch ihr gegenber in keiner andern Lage als

    gegenber dem Schlafe, da der Mensch um des Behagens der Regeneration und des Unbehagens der

    Ermdung willen sich seiner willentlichen und verstandesgemen Fhrung begibt und sich

    Erlebnissen und Vorgngen berantwortet, die er nicht bestimmen kann.

    Da beides nicht dasselbe ist, liegt klar zu Tage. Es liegt nmlich bei der Lust in ihren intensivsten

    Formen nicht nur eine negative Unbeherrschtheit vor, sondern in ihr ist ein positives Streben

    enthalten, das an sich endliche Gut ber alle Maen, also unendlich, zu erfassen und sich ihm

    hemmungslos hinzugeben. Das aber ist wiederum nur mglich, wenn die Lust in ihrer

    sinnenhaften Aktualitt einen gewissen Anteil der moralischen Existenz zu eigen hat, wenn in ihr

    eine verborgene (unvollkommen sittliche) Neigung eingeschlossen ist, eine habituelle Hingabe

    des Geistes, welcher dieser bei ihrer vollen Aktualisierung wieder anheimfllt.

    Diese Seinsweise der Lust hat zwei Seiten. Als Aktualitt des Geistes ist sie irgendwie absolute,

    rckhaltlose Neigung, die als solche einem endlichen Gute nicht zukommtDiese innerliche Neigung

    ist es, die unmittelbar nicht aufhebbar ist, die nur entweder absterben oder aber durch Einbettung

    in eine sittliche Gesamtordnung (wie in der Ehe) in ihren entgeistigenden Wirkungen

    abgeschwcht oder aufgehoben werden kann. Zweitens ist die Lust so geartet, da sie die

    absolute Neigung rechtfertigt, indem sie wie ein Abbild der absoluten Seligkeit erscheint und

    deshalb als Bonum apparens mit letzter Hingabe geliebt und ergriffen werden kann.

    Aber auch dafr gilt es einen Grund aufzufinden. Denn wie kann in der Natur jener Trug

    statthaben, da ein endliches, vergngliches Erlebnis mit dem Schein eines Absoluten und Letzten

    durch seine intensive Dichte und Erflltheit den sittlichen Selbstbesitz des Geistes zu gefhrden und

    im Erlebnis selbst aufzuheben vermag!

    Dieser Grund knnte zunchst im Wesen der geschlechtlichen Lust als solcher angetroffen

    werden. Denn wenn in ihr die Natur in ihrer vitalen Ganzheit kulminiert, so liegt in ihr offenbar eine Tiefebeschlossen, in der sich der letzte Lebensgrund des Menschseins bekundet. Das Ganze des Menschen

    aber ist berindividuell und gottgebrtig, so da es durchaus begreiflich wre, da es in seiner

    hchsten uerung auch die regulierenden und bestimmenden Krfte des Einzelmenschen

    bersteigt. Es ist daher sehr verstndlich, da es einen natrlichen Einzelwillen gar nicht geben

    kann, der unmittelbar zur vollkommenen Zgelung und Beherrschung seiner Sinnennatur befhigt

    wre. Es bedurfte daher notwendig der Gnade, um den Menschen im Urstand im Zustande sittlicher

    Reife und Reinheit zu erhalten.

    Aus diesem Tatbestand aber ergeben sich weitere Folgerungen, die fr das Wesen dererbsndigen Existenz von hchster Bedeutung sind. Denn wenn es in der Gnade mglich war, den

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    Menschen in vollkommener Beherrschung zu erhalten, so offenbar nur, weil die Krfte des Geistes

    auf die niederen Vermgen und den Krper selber berstrmten, sie innerlich erhoben, auf das

    geistige Dasein hin aktivierten und dienstbar machten. Dieser innerlichen Durchdringung und

    Belebung dankten der Krper seine Unsterblichkeit und die Sinne ihre geistige Tiefe und Innerlichkeit.

    Es entsteht nun angesichts dieser Lehre des Aquinaten die Frage, ob ein solcher ursprnglicher Zustand

    nicht auf die Seinsweise nach der erbsndigen Auflsung bestimmend hinberwirkte, so da das

    unmittelbare menschliche Dasein doch etwas anderes darstellt als eine reine Natur ohne die Gnade.

    Denn da die ursprngliche Natur zur Unsterblichkeit und zur Reinheit gttlicher Liebe erhht war, so

    bedeutet ihre Abkehr aus diesem Zustand keine einfache Hinkehr zu natrlichen, endlichen Gtern,

    sondern offenbar zu solchen, die in der gnadenhaften Erhhung der Existenz im Widerschein und in der

    Lebenstiefe gttlicher Seligkeit standen. Nhme man also an, ein solches Gut sei in der Ursnde mit

    absoluter Hingabe angestrebt worden, so liegt der Gedanke nahe, da etwas von der ursprnglichen

    absoluten gnadenhaften Prgung dem angestrebten Gut verblieb. Diese Innerlichkeit und Tiefe ist es nun,

    die nach Verlust der gnadenhaften sittlichen Selbstbestimmung wie ein inneres Schwergewicht die

    menschliche Existenz belastet. Sie ist jene innerliche Unendlichkeit der Lust und vielleicht aller

    Liebesneigung, die nicht nur die ganzheitliche Tiefe der Generation gegenber dem Einzelnen enthlt,

    sondern eine gttliche Mitgift birgt, eine absolute Wonne, die, zusammengedrngt in ein zeitlich be-

    schrnktes, untergeistiges Erlebnis, den Menschen bis in die geistigen Tiefen hinein erschttert und in

    ihren Abgrund hineinreit. Durch eine solche Sicht erklrt sich nicht nur die wesenhafte Dmonie der

    Sinnlichkeit, die dann freilich erst zu Tage tritt, wenn der Mensch den betubenden Rausch und

    berschwang willentlich aufnimmt und zu immer grerem Verlust des persnlichen Selbstbesitzes stei-

    gert, sondern vor allem jener Eigenwille der hchsten Sinnenlust, der von keinem von der Gnade

    gesteigerten Willen aufgehoben und in die Ordnung einer menschlichen Tat eingebettet werden kann.

    Dieser Lehre zufolge ist die Sinnenlust nicht etwa verderbt, sondern eher von einer bergemen

    innerlichen Erflltheit und Dichte, die sich dem sittlichen Vermgen notwendig entwindet. Sie ist eher

    eine geheimnisreiche Mitgift einer tieferen, gottgebrtigen Existenz, welcher der Mensch ohne sittlichen

    Schaden nur dann gewachsen ist, wenn er gewillt ist, die sittliche Aufgabe des ganzen Naturbereiches, der

    durch die geschlechtliche Liebe umgrenzt ist, aufzunehmen, wenn er sich dem absoluten Gesetz der ehe-lichen Gemeinschaft unterwirft und hier innerlich jene Caritas steigert, die nach Thomas die aktuelle

    Lust vermindert oder sie dem Geiste unterordnet. Eine erbsndige Verderbtheit liegt allerdings

    vor, sofern jene innerliche Erflltheit der Sinnenlust als widervernnftige Neigung hervortritt, an

    welcher immer der Wille irgendwie beteiligt ist, insofern er in den hchsten Sinnenvermgen mitwirkt

    und deren Aktualitt als die seine hat und geniet. Eine solche innerliche Erflltheit wre eine sittliche

    Bestimmung unserer Existenz. Sie machte es verstndlich, weshalb die willentliche Abkehr und

    Hinkehr zum Geschpf in der Ursnde sich positiv der ganzen Generation mitteilte und sie belastete.

    Auch dann wre nicht die Lust als solche sndig oder verderbt, sondern ihr verborgener absoluterTriebwille.

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    Hieraus erklrt es sich in der Tat, da die Gnade diese erbsndige Zustndlichkeit nicht unmittelbar

    aufheben kann, weil diese nmlich aus einemsittlichen Habitus der Seele sich herleitet. Was sie aber dem

    Menschen bringt, wre eine innerliche Erkrftigung des Willens und des Herzens, den versucherischen

    Neigungen nicht bis zur Snde nachzugeben oder jene sittlichen Aufgaben (wie die Ehe) mit absoluter

    Hingabe und Caritas auf sich zu nehmen und zu erfllen, innerhalb welcher die immanente

    Verworrenheit und Verlorenheit der sinnlichen Erlebnisse sich nicht ausbreiten kann, sondern auf Heilung

    hin in das sittliche Gefge der Gesamtexistenz eingebettet ist. Es erklrt sich auch, weshalb es in diesem

    Leben eine Weise von sittlicher Vollkommenheit ist, jungfrulich zu leben, weil hier offenbar die einzige

    Mglichkeit gegeben ist, die unmittelbare Substanz des Menschen, seine Herzens- und Sinnentiefe in die

    geistige, gnadenhafte Hingabe an Gott ohne Rest einzubeziehen und in einer dem Urstand

    hnlichen Weise innerlich zu verwandeln. Der Zustand der Anfechtung aber, den alle zu teilen haben,

    wre nur eine Anzeige jener innerlichen Tiefe der sinnenhaften Lust, die den Willen absolut bindet und in

    den Abgrund ihrer Wonne versenkt. Schon wenn sie sich daher regt, beunruhigt sie den Willen und

    bereitet ihm das, was wir eine Versuchung nennen. Wie daher der Tod mit dem Verlust der Gnade,

    die den Krper zur Unsterblichkeit bereitet hatte, notwendig eintrat, so wird er nach dem

    Vorausgehenden durch die Gnade Christi nicht wiederum aufgehoben. Denn der innerliche Zwiespalt

    des erbsndigen Daseins, welchem der Tod entspricht, dauert irgendwie an. Dieser Zwiespalt kann

    daher wie der Tod selbst nur von der geistigen Existenz her aufgenommen und berwunden werden. Da

    wir dieses vermgen, ist uns durch Christi Gnade gewi.

    Diese hier hypothetisch vorgetragene Lehre stellt eine mgliche Folgerung aus der Position des Aquinaten

    dar. Ihre Bedeutung scheint mir darin zu liegen, da in ihr die von Thomas verlassene augustinische

    Tradition wieder innerhalb des thomistischen Denkens selber zum Problem gemacht und in ihren

    Mglichkeiten entwickelt wird.

    6. Die habituelle Verschuldung des Einzelmenschen inder Erbsnde

    Die Erbsnde ist jedoch demzufolge, was Thomas ausdrcklich lehrt, keine Neigung zur Snde im

    Sinne eines freien, ersten und leisen Anhebens des aktualen geistigen Willens zur sndigen Tat. Dennoch

    scheint es ber die rein negativen Formulierungen des hl. Thomas hinaus ein positives Charakteristikum

    der Erbsndigkeit zu geben. Denn wrde ein solches nicht zugestanden, so wre offenbar die Lehre der

    Kirche schwierig zu deuten, da in der Erbsnde wirklich eine Snde, die der Tod der Seele ist,

    bertragen wird, da eine wahre Vergebung der Snden bei den (unmndigen) Kindern anzunehmen

    ist, da das Wort des Apostels in seinem vollen Sinn zu gelten hat: Durch einen Menschen trat die

    Snde ein in die Welt und durch die Snde der Tod. ber alle Menschen aber kam der Tod, insofern alle

    gesndigt haben.

    Diese Stze haben nur dann einen Sinn, wenn es eine Weise von Schuld gibt, die nicht persnlich ist,

    aber dennoch der Person irgendwie anhaftet. Die Frage ist, ob es eine solche Zwischenposition geben

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    kann. Nehmen wir einmal an, da der einfache, unmittelbare Lebenswille des Daseins, in welchem es

    sich selbst bejaht, vor jeder sittlichen Entscheidung ein Ja enthielte zum Ganzen seines naturhaften

    Daseins. In diesem Ja kann sinnvoll nichts Sndiges enthalten sein. Da dieses Dasein aber in sich

    geschwcht ist, so ist in diesem seinem Naturakt die indifferente Gnadelosigkeit materiell mitbejaht.

    Der Mensch bernimmt aus seiner Willenstiefe heraus ein Leben, das im Ganzen so vor Gott nicht

    sein soll, weil er es nicht vollkommen bestehen kann. Dieses Ja zur Natur kann niemals eine Snde

    sein, weil die Natur als einfache Einheit und nicht in ihrer Disharmonie willentlich bejaht wird. Der

    Mensch bernimmt etwas, das als bonum apparens, so wie es ihm erscheint, zunchst einfach gut ist. Es

    kann ihm daher nicht persnlich zugerechnet werden.Dennoch ist dieser persnliche, willentliche Akt die

    Voraussetzung zu der ganzen spteren Verschuldung, weil ein Leben bejaht ist, das einmal notwendig

    versagen wird.

    Von diesem Willen wre folgendes zu sagen:

    Erstens, er ist kein Wille, der unter dem Gericht des persnlichen Gewissens steht, weil er diesem

    vorausgeht oder eine mit dem Gewissen immer schon vollendete Wirklichkeit darstellt. Er ist daher nie

    persnlich zurechenbar.

    Zweitens, er ist kein Wille, der etwas Ungutes auf sich nhme. Denn die einfache Wirklichkeit des

    Lebens und der Natur kann nur als Gut erfat werden. Darum liegt in seiner Neigung auch nichts Bses

    im formellen Sinn.

    Wiewohl dieser Wille drittens weder schlecht noch verworfen ist, so besitzt er doch nicht Gottes

    Anerkennung. Denn er bernimmt ein Gut, das er weder rein erhalten noch auf alle Weise verwirklichen

    kann.Nicht weil der Wille formell und materiell etwas Bses wollte, ist er erbsndig, sondern weil er ein

    Gut will, das er nicht erhalten oder wesensgem verwirklichen kann. Der Naturwille des Menschen ist

    daher insofern positiv zum Bsen geneigt, als er ganzheitlich, d. h. ohne jene Einschrnkung, einer

    geschwchten Natur zugeneigt ist, die ihres wesenhaften Guten nicht im vollen Sinn mchtig ist. Deshalb

    hat es seine volle Berechtigung, von einer wahren Vergebung der Snden bei der Taufe unmndiger

    Kinder zu sprechen.

    Da diese Lehre nicht der Lehre des hl. Thomas zuwider ist, sondern ihr selbst immanent zugehrt, wird

    jeder zugestehen, der Einsicht hat von dessen Lehre vom Wesen der vollendeten Geistnatur. Aus dieserTiefe her fllt auch einiges Licht auf die Mglichkeit einer nicht moralischen, dennoch aber persnlichen

    Verschuldung. Wenn nmlich gesagt wird, da dem unmndigen Kinde keine moralische Verantwortung

    fr sein Tun und Lassen zukomme, so bedeutet dies doch nicht, da das Kind ein tierisches,

    untergeistiges Dasein fhre, Auch das kleinste Kind reagiert und bewegt sich, sofern es bewut wirkt,

    aus einer innerlichen geistigen Ganzheit, an welcher die personale Einheit notwendig mitbeteiligt ist.

    Darum hat schon ein kleines Kind ganzheitliche Verhaltungsweisen, wie Trotz, Neid, Liebe und Ha, die

    nicht einfachhin sinnliche (tierhafte) Triebregungen darstellen. Aber sie sind auch keine freien morali-

    schen Taten, weil sie nicht unter dem Gericht des Gewissens stehen und deshalb auch nicht das volleSiegel des Geistes an sich tragen. Es mu also ein Mittleres geben zwischen tierischer Triebhaftigkeit

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    und moralischer Freiheit: eine unmittelbare Neigung und einen inneren Mitvollzug, in welchem das

    geistige Willenszentrum des Menschen unmittelbar an das urtmliche Kindsein in allen seinen positiven

    Mglichkeiten hingegeben ist. Dieses Kindsein aber bedeutet ursprnglich ein reines uneingeschrnktes

    Gut, gegenber welchem es fr den Menschen nur Neigung und Hingabe geben kann. Wenn auch eine

    der genannten Mglichkeiten widervernnftig wre, so trte sie doch als bonum apparens in das

    kindliche Bewutsein. Deshalb verhlt sich der personale Wille des Kindes nicht in einem moralischen,

    freien, wohl aber in einem ganzheitlichen Akt bejahend. Dieses Verhalten ist bse oder sndig in

    dem Sinne, da es sich nicht der Ordnung gem verhlt. Tritt daher ein solches Kind in die Reife der

    sittlichen Selbstbestimmung ein, so hat es sich nicht nur einer sinnlichen Neigung im Sinne eines

    berstarken Angebotes an den Willen zu erwehren, sondern es befindet sich oft genug schon in einer

    ganzheitlichen, habituellen Geneigtheit der Willensnatur, der sich vollkommen zu entwinden fast un-

    mglich ist. In diese Ordnung gehrt die Sndigkeit der Unmndigen, die in den Selbstbekenntnissen

    des heiligen Augustinus begegnet, wo die Migunst von Suglingen bei der Nahrungsaufnahme fast

    wie eine Snde gewertet und vor Gott als solche bekannt wird. In Wahrheit stehen wir hier vor einem

    Zwischenbereich, da eine ursprnglich gute Willens- und Geistnatur in einem naturhaft guten Akt sich

    der wirklichen Unordnung zuneigt und in dieser Unordnung sich verhaltend existiert. Sie neigt sich ihr zu,

    hlt sich darin und verkostet sie, d. h. sie vollfhrt faktisch mit voller Anteilnahme des ganzen Daseins

    das, was der sndige Mensch spter wider sein Gewissen tun wird.

    Wir stehen also hier vor einer erbsndigen Verfallenheit unserer Natur, die nicht persnlich zugerechnet

    werden kann. Sie mindert weder die ursprngliche Gte der Natur noch des moralischen Willens.

    Sie stellt aber gegenber der erwachenden sittlichen Selbstbestimmung eine wirkliche habituelle

    Unordnung dar. Ihre Versuchungen gehen weit ber das triebhafte Angebot sinnlicher Neigungen

    hinaus, sie knnen vielmehr ein habituelles Versenktsein des ganzheitlichen Daseins ins Widergesetzliche

    bedeuten.

    Aber auch das will nicht besagen, da das ganze Dasein solcher Menschen befleckt wre. Denn die

    Unmittelbarkeit kindlichen Lebens entbehrt der geistigen Energie und des radikalisierenden

    Einsatzes. Zugleich aber ist zu beachten, da es mit der gleichen unmittelbaren Geneigtheit auch

    notwendig einer Flle echter wesenhafter Gter zustrebt. Dadurch lebt es sich unmittelbar ineinen Reichtum guter habitueller Verhaltungsweisen hinein (wie die Liebe zu den Eltern,

    Geschwistern, das Ehrgefhl unter Kameraden usw.), auf welche der reife sittliche Wille als

    verantwortlicher innerlich aufruht und sich aus der seelischen Tiefe solcher habitueller

    Mchtigkeiten her zum Guten hin fortentfalten und die Keime des Bsen bekmpfen und

    ausrotten kann. Trotzdem ist in einem solchen Falle offenbar eine grere erbsndliche Belastung

    gegeben, als wenn der Wille in all seinen Verhaltungsweisen zunchst geordnet wre und dann erst

    das Angebot niederer Strebungen erfhre.

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    a) Die unvollendete Sittlichkeit sinnlicher Strebeakte

    Wollte man diese gekennzeichnete Zustndlichkeit von Thomas her verstehen, so bieten sich

    zwei Wege an. Der erste ist jener, in welchem die Sinnlichkeit als Nachprgung und Teilhabe am

    Geiste begriffen wird. Hierber sagt Thomas : Der Akt der Sinnlichkeit steht nicht vollkommenin unserer Gewalt, und zwar deshalb, weil er dem Urteil der Vernunft vorausgeht Er steht aber

    doch irgendwie in unserer Gewalt, sofern die Sinnennatur der Vernunft unterworfen ist. Und

    daher rhrt der Akt an die Wesensart der moralischen Akte, aber unvollkommener. Somit kann

    zwar in der Sinnennatur keine Todsnde sein, die eine vollendete Snde ist, sondern nur eine

    lliche... Die sinnliche Natur als solche wird von Thomas Subjekt der Snde genannt,

    insofern sie irgendwie am Geistwillen teilhat, oder insofern die sinnlichen Krfte vernnftig

    (geistig) sind durch Teilhabe. Wird das kindliche, vormoralische Verhalten unter dieser Rcksicht

    betrachtet, so ergibt sich eine schwer zu kennzeichnende Mitte, in welcher die sinnliche Unmit-

    telbarkeit des Strebens doch irgendwie geistartig gegliedert, geordnet und durch Teilnahme an der

    personalen Einheit des Vollmenschen geistig verinnerlicht ist. Es ist deshalb auch moralisch

    charakterisierbar, wie Thomas es unverkennbar selber tut, indem er es als unvollendete Sittlich-

    keit bezeichnet.

    Diese Teilnahme aber hat ein mehrfaches Wesensgeprge: Erstens ist der sinnliche Akt in sich

    geistartig verlebendigt, d. h. er bezieht sich reflexiv auf sich selbst, ist sich seiner bewut und

    untersteht einer spontanen inneren Leitung. Zweitens ist er in sich auf geistige Gter oder Verhal-

    tungsweisen bezogen, so da er diese durch seine Ordnung oder Unordnung wesenhaft

    mitbestimmt. Drittens aber steht er unmittelbar in einem formellen Zusammenhang mit den

    geistigen Krften, so da diese irgendwie sich in ihn hinein kontinuieren und das Leben der

    Sinne als das eigene innehaben.

    Gerade dies letzte ist es, worauf beim Kinde besonders abzuheben ist. Das Willenszentrum, das sich

    noch nicht zum sittlichen Selbstbewutsein erhob, kontinuiert doch in das unmittelbare Verhalten

    und verhlt sich darin ganzheitlich, wenn auch in der Weise der niedern Sinnenkrfte. Es ist

    jedoch eine willentliche Daseinsweise, die sich nach der Weise eines Habitus zu entfalten und zu

    verfest igen vermag.

    b) Die moralische Verschuldung des Naturwillens

    Damit sind wir zum zweiten Weg gekommen, die vormoralische Existenz von Thomas her zu

    begreifen. Dieser fhrt uns ber die habituelle Vollendung der Geistnatur, ohne die der Mensch sowohl

    als wissendes wie als wollendes Wesen nicht wirklich gedacht werden kann. Wenn gesagt wird,

    die Vernunft existiere stets im Zustand ihrer originren Erkenntnis, d. h. in der Erfassung der ersten

    Prinzipien des Seins, so ist damit eine Vollendung ihrer Urteilskraft gemeint, kraft der sie eines

    absoluten Maes der Wahrheit mchtig ist und alle ihre Erkenntnisttigkeit regelt. Wie aber existiert

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    diese Vernunft im Zustand des unentfalteten kindlichen Seins, wenn sie noch nicht als reflektierter Wahr-

    heitsgrund und Wahrheitsregel wirklich ist? Offenbar in einem unmittelbaren, intuitiven Mitverstehen

    dessen, was einfach im Sinnenbereich gegeben ist, d. h. in einer unmittelbaren, urteilslosen Erfassung des

    positiv Wirklichen. Diese Erfassung ist urteilslos, weil sie jedem Urteil vorausgeht. Da sie jedoch ein

    echtes Verstehen ist, erhellt leicht, wenn wir versuchten, dem Kinde das innerlich Angeeignete solcher

    Erfassungen im Sinne einer beliebigen Vertauschbarkeit oder sinnlosen Verwischung ausreden zu

    wollen. Die Wirklichkeit des Vaters ist dem Kinde nicht ersetzbar durch irgendeine andere, sondern

    sie ist eine nur durch sich selbst gebbare Wirklichkeit. Wenn daher auch ein Kind nicht befhigt ist, das

    Wesen der Vaterschaft sich vorzustellen oder auch nur zu erkennen, da der Vater nicht nicht der

    Vater sein kann, so ist ihm doch das Vatersein irgendwie intelligibel gegeben. Das Kind nimmt

    das Wirkliche in seiner positiven Sinnflle unmittelbar hin, es ist ein Innehaben des sinnlich

    Gegebenen, das weit ber das bloe sinnliche Dabeisein hinausgeht. Ist die Vernunft auch noch nicht

    reflektierte Urteilskraft und Urteilsregel, so ist sie doch eine unmittelbar auffassende

    apprehendierende Vernunft, diesich mit der ihr eigenen Helle und Kraftdem unmittelbar Sinnlichen

    hingibt und dessen Erscheinung irgendwie wesenhaft auffat. Diese Hinnahme ist weder wahr noch

    falsch, weil sie kein Urteil enthlt und keine reine formelle Setzung der Vernunft darstellt. Da diese

    apprehendierte Welt der sinnlichen Erkenntnisse und Gegebenheiten voller faktischer Irrtmer sein

    kann, ist selbstverstndlich.

    Nicht anders verhlt es sich mit dem Willen. Mag auch hier die sittliche Urteilskraft und die

    regulierende geistige Selbstmchtigkeit noch nicht voll verwirklicht sein, so ist es doch unmglich, da

    nicht auf Grund der Einheit der Seele der Strebeakt der Sinnennatur vom Geistwillen aufgefat und

    ganz unmittelbar im Sinne einer positiven Neigung auf ein naturhaft Gutes hin mitvollzogen wrde.

    Dieser Mitvollzug ist ein geistiger Akt, der den Menschen als Ganzen angeht und von ihm als ganzem

    Wesen vollzogen wird, wenn auch nicht in einem vollendeten Sinne. Der Mensch richtet sich

    unmittelbar auf ein Gut, erfat es und bejaht es in seiner positiven Wirklichkeit, ohne jedoch im

    reflektierten Bewutsein von Gut und Bse zu stehen. Dem Erfaten neigt er sich als einem Gut zu, das

    so in seinem positiven Gutsein auch durch das Urteil des Gewissens nicht aufhebbar ist, genau so wenig

    wie die Wirklichkeit der ersten unmittelbaren Erfassungen der Vernunft. Dies grndet in jenerEigentmlichkeit des Geistes, des Willens oder der Vernunft, mit den niederen Vermgen, die ihnen

    entsprangen, in formeller Einheit verbunden zu bleiben und irgendwie unmittelbar in sie zu kontinuieren.

    Das bedeutet, da nach dem Mae des Mglichen auch der geistige Wille in das Verhalten des Kindes

    einstrmt, wie auch der vollendete sittliche Wille auf seine Weise in die Sinnennatur berstrmt

    (redundat) und diese ber sich selbst hinaushebt.

    So ergibt sich eine unmittelbare, willentliche Geneigtheit, die durch und durch positiv und moralisch

    gut ist, weil sie das Wirkliche nurals Gut aufzufassen imstande ist, die aber dennoch in den Schein

    des Guten verfallen kann, indem sie sich in eine faktische Unordnung hinein entfaltet und sich

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    habituell in sie verstrickt. Diese Gefhrdung des Kindes ist es, die das sittliche Schicksal des Kindes

    weitgehend in die Hnde seiner Erzieher gelegen sein lt.

    Nur diese Lehre scheint der vollen, unvollendet moralischen oder unvollendet erkennenden

    Existenzweise des Kindes gerecht zu werden. Man tut aber dem Vorausgehenden gem gut, weder vom

    Willen noch von der Sinnlichkeit als den Grundelementen dieser Seinsweise zu sprechen, weil

    damit das wesenhafte Mittlere notwendig verfehlt wird. Deshalb scheint es besser, auf ein

    Prinzip zurckzugehen, das in seiner Einheit die ganze Wirklichkeit umschreibt und bestimmt.

    Ich glaube, da mit viel Grund das Herz, die lebendige Einheit des Gemtes, auch die Mitte

    der unmittelbaren, naturhaften Existenz bedeutet. Man sagt daher treffender: Nicht der Wille,

    sondern das Herz des Menschen knn